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Realist Phenomenology:
Philosophical Studies of the International Academy for
Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia
Universidad Católica de Chile en Santiago
EDITORS
Professor Juan-Miguel Palacios
With
Professor John F. Crosby and
Professor Czesław Porębski
ASSISTANT EDITORS
Dr. Cheikh Mbacké Gueye
Dr. Matyas Szálay
EDITORIAL BOARD
Professor Rocco Buttiglione, Rom, Italy
Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic
Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile
Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain
Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary
Professor Giovanni Reale, Milan, Italy
Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain
Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile
Professor Tadeusz Styczeî, Lublin, Poland
ISBN 978-3-86838-026-2
ISBN des zweibändigen Gesamtwerks: 978-3-86838-027-9
2009
Printed in Germany
by buch bücher dd ag
Josef Seifert
PROLEGOMENA
DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES
WAHRHEITSBEGRIFFS…………………………………………………….. 25
4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes
der Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis
ihres Wesens voraus……………………………………………………48
TEIL I
WAHRHEIT – EVIDENZ – KOHÄRENZ
KAPITEL 1
FRANZ BRENTANOS EVIDENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE
KRITISCHE ANALYSE
KAPITEL 3
KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT
1. Was ist und was heisst ‚Konsens‘?....................................................... 199
1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als
bloße Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden
und von Personen gefällten Urteils; als objektive
Übereinstimmung der Überzeugungen, und als rein statistisch
erfaßbarer ‚linguistischerKonsens‘………………………………. 202
1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche
Übereinstimmung, die ein einseitiges oder gegenseitiges
Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt…………………… 217
1.3. Konsens als eigener Akt ausdrücklicher gegenseitiger
Übereinstimmung, die über das gegenseitige Wissen der
Gleichheit des Urteils wesenhaft hinausgeht…………………….. 220
1.4. Konsens als bloße implizite Übereinstimmung: Die sokratische
Auffassung von Konsens………………………………………… 221
1.5. Konsens als Frucht und Teil ‚kommunikativen Handelns‘………. 222
1.6. Konsens als „Konsensfähigkeit“: Vier grundsätzlich
verschiedene Bedeutungen von Konsensfähigkeit……………….. 223
1.7. Konsens als intersubjektive „Verifizierbarkeit“,
Falsifizierbarkeit oder „Nachprüfbarkeit“………………………... 226
1.8. Konsens als bloßer Wegfall von Widerspruch…………………… 227
2. Konsens hinsichtlich seiner Subjekte…………………………………227
2.1. Verschiedenheiten der Subjekte hinsichtlich ihrer Zahl…………. 228
2.1.1. Konsens als Übereinstimmung Aller…………………………. 228
3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der
Wahrheit und Einwände gegen dieselbe……………………………... 237
3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit
dem Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der
Verschiedenheit beider…………………………………………… 240
3.2. Argument aus der „logischen Zirkularität“ und Sinnlosigkeit
der Bestimmung des Wesens der Wahrheit durch Konsens,
weil damit jeglicher Sinn des Wortes ‚Konsens‘ zerstört wird…... 243
3.3. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw.
Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit als solcher….. 245
3.4. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw.
Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit durch die
widersprüchlichen Inhalte des Konsenses und aus der
empirischen Evidenz, daß Konsens (Für wahr Halten) nicht
gleich Wahrheit ist……………………………………………….. 246
3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile
aus Konsens ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des
Konsenses im Verhältnis zur Totalität aller wahren Urteile……... 248
3.6. Darlegung und Kritik der Habermas’schen Version der
Konsens-Theorie der Wahrheit – Ist Wahrheit durch rationalen
Diskurs erreichter Konsens?........................................................... 249
4. Konsens als Wahrheitskriterium – Argumente und Einwände………. 256
KAPITEL 4
PRAGMATISCHE, PRAMATIZISTISCHE UND NEOPOSITIVISTISCHE
WAHRHEITSTHEORIEN
KAPITEL 5
IV. TEIL
KAPITEL 7
KRITIK SUBJEKTIVISTISCHER EXISTENTIALISTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN
V. TEIL
WAHRHEIT, KORRESPONDENZ UND ADÄQUATION
KRITIK UNGENÜGENDER VERSIONEN DER KORRESPPONDENZTHEORIE,
SEMANTISCHER UND SYNTAKTISCH STRUKTURELLER THEORIEN DER
WAHRHEIT
KAPITEL 10
ALFRED TARSKIS PHILOSOPHIE DER WAHRHEIT UND VERWANDTE
WAHRHEITSTHEORIEN UND MIT IHNEN VERBUNDENE THEORIEN DER
VERMEIDUNG LOGISCHER ANTINOMIEN (BEI GÖDEL, RUSSELL, MEINONG
UND ANDEREN AUTOREN) – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG
KAPITEL 11
DER KAMPF GEGEN DIE UNGESCHICHTLICHKEIT DER WAHRHEIT UND DIE
GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN ZUR WAHRHEITSTHEORIE HANS-
GEORG GADAMERS
8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der
hermeneutischen Philosophie Gadamers ………….………..…..........593
EPILOG
DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES
WAHRHEITSBEGRIFFS
1
Josef Seifert, Wahrheit und Person. Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntnis-
wahrheit und Urteilswahrheit. De veritate – Über die Wahrheit Bd. I (Frankfurt /
Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009).
2
Vgl. bes. Platon, Theaitetos; Protagoras. Vgl. Auch Martin Cajthaml, Kritik des
Relativismus (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003).
3
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen
und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie, hrsg. v. Paula
Premoli/Josef Seifert (Heidelberg: Carl Winter, 1996).
Erkennens, des Seins, der Kunst und des Lebens auswirken. Doch verdich-
tet sich die philosophische Krise des Wahrheitsbegriffs, schon seit dem 18.
Jahrhundert, immer mehr in einer revolutionären Abwendung vom
klassischen Verständnis der Wahrheit des Urteils als adaequatio.4 Daher
sei in dieser Einleitung nur von diesem Teil der Wahrheits-Krise die Rede.
Mächtiger als die Skeptiker und Relativisten der Antike haben zahl-
reiche Philosophien in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren ausge-
prägte Ideengebäude und Wahrheitstheorien entworfen, welche die
klassische und in diesem Buch neu verteidigte Auffassung der Wahrheit als
einer, grob gesprochen, einzigartigen Form der „Übereinstimmung
zwischen Geist und Sein“ durch andere Richtpunkte des Wahrheitsbegriffs
wie Konsens, Kohärenz, geschichtliche Einheit des Bewußtseins, usf. zu
ersetzen suchen.
Eine Revolution dieses sensibelsten Bereichs einer Philosophie, ihres
Wahrheitsbegriffs, besteht auch dort, wo eine Philosophie nicht ausdrück-
lich, wohl aber durch ihre Implikationen, eine neue Theorie über die
Wahrheit des Urteils einführt.5 Letzteres gilt etwa für Kants Philosophie
der Wahrheit, die sich trotz eines scheinbaren Beibehaltens der klassischen
Theorie der Urteilswahrheit als Adäquatio6 letztendlich im Bereich der
4
Allerdings auch in einer Umdeutung des Erkennens und einem Angriff auf das
angemessene Verständnis der Erkenntniswahrheit. Auf diese Krise werden wir im
zweiten Kapitel eingehen und sind ihr in anderen, dort zitierten, epistemolo-
gischen Werken, aufbauend auf wichtigen Arbeiten anderer Philosophen und
realistischer Phänomenologen, tiefer nachgegangen, in dem Bemühen, sie zu
überwinden.
5
Wir sehen hier von ihrer ebenso bedeutsamen Stellung zur ontologischen und
gnoseologischen Wahrheit ab.
6
So hat Juan-Miguel Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría
de la Verdad (Madrid: Editorial Gredos, 1979) gezeigt, daß Kant explizit die
Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Eine ähnliche Position nimmt R.
Hiltscher in seiner Studie, „Kants Begründung der Adäquationstheorie der
Wahrheit in der transzendentalen Deduktion der Ausgabe B“, Kantstudien (1993),
84 (4), 426-447, ein. Der Autor stützt sich auf die Verteidigung der Adäquations-
theorie der Wahrheit in Kants B-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, in: Kants
Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Kap. 15-
20, wo die Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Objekt
aufgezeigt werden soll. Dabei seien die objektive Synthese des Urteils und die
9
Sicherlich hat Kant, wie J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental:
Teoría de la Verdad, gezeigt hat, explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit
bejaht. Vgl. etwa die Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft B 82 und 83:
B 82 Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte
und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Dialexe mußten
betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen
sollten, ist diese: Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die
Übereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und
vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium
der Wahrheit einer jeden Erkenntniß sei.
B 83... Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntniß mit ihrem Gegenstande
besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine
Erkenntniß ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht
übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten
könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von
allen Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da
man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntniß (Beziehung auf ihr Object) abstrahirt,
und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem
Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein
hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich
angegeben werden könne.
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des
Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976), II. Teil. Für K. Poppers
und A. Tarskis Wahrheitstheorien werden wir in Der Streit um die Wahrheit
Ähnliches zeigen.
10
Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 85.
11
Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52.
12
Vgl. unten, Kap. 2.
13
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302/ 3 Die
zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl. Heinrich von
Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163.
14
Vgl. Kenneth Gergen, papers online:
http://www.swarthmore.edu/SocSci/kgergen1/web/page.phtml?id=manuscripts&st=manuscri
pts#construction.
15
Vgl. George L. Stack, “Kant and Nietzsche’s Analysis of Knowledge,” Dialogos,
(1987), (22), 7-40.
16
Darauf werden wir in Der Streit um die Wahrheit in den Kapiteln über Tarski und
Popper zurückkommen.
Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit
Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit
uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen
Fragen! Was wunder wenn wir endlich einmal mißtrauisch werden, die
Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx
auch unsrerseits das Fragen lernen: Wer ist das eigentlich, der uns hier
Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? – In der Tat, wir
machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir
zuletzt vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir
fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt wir wollen Wahrheit:
warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissendheit?
– Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wir’s,
die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx?
Und sollte man’s glauben, daß es uns schließlich bedünken will, als sei das
Problem noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male
gesehn, ins Auge gefaßt, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei und
vielleicht gibt es kein größres.17
17
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse I, 1.
mus und Kommunismus, sowie des Faschismus lag, wurde von verschie-
denen Denkern nachgewiesen und soll hier nicht näher ausgeführt
werden.18
Häufig wurde bei einer Entthronung der Wahrheitsfrage nicht einfach
die Bedeutung der Wahrheit geleugnet, oder – wie bei Nietzsche – der
Wert des Willens zur Wahrheit überhaupt in Frage gestellt, sondern
vielmehr die Wahrheit umdefiniert, und die Urteilswahrheit, anstatt sie
durch die eigentümliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit den
bestehenden Sachverhalten, als die sie sich erweisen wird, zu bestimmen,
umgedeutet, z.B. als Nützlichkeit. Wahr, so behauptete man, ist etwa „was
der kommunistischen Partei“ oder „was dem Nationalsozialismus nützt,“
„was der arischen Rasse entspricht,“ was dem Fortschritt dient, was uns
befriedigt oder uns zur „Kontingenzbewältigung“ verhilft, was wir in
schöpferischer Selbstgestaltung unseres Lebens wünschen oder als unsere
soziale Realität konstruieren, was mit den Ideen unserer Zeit oder dem
Zeitgeist übereinstimmt, was Konsens erhält oder sich im Diskurs bewährt,
was kohärent ist, usf.
Mit diesen und anderen Namen benennt man jene neuen Maßstäbe, die
den angeblich veralteten und von Nietzsche als zu überwindenden
bezeichneten Maßstab der Wahrheit ersetzen sollen.
Sogar Nietzsche jedoch, obgleich er das „größte Wagnis“ eines
wahrheitslosen Lebens verteidigt, erkennt die Gefährlichkeit dieses Wag-
nisses an, das die ganze Gesellschaft und Rechtsordnung wie eine Flut-
welle mit sich fortreißen und Chaos gebären kann,19 und das tatsächlich
18
Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, in: Dietrich von
Hildebrand, Idolkult und Gotteskult. Gesammelte Werke Band VII, (Regensburg:
Josef Habbel, 1974), S. 309-339); vgl. Rocco Buttiglione, Augusto del Noce.
Biografia di un pensiero (Casale Monserrato: Piemme, 1991); vgl. Josef Seifert,
„Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche
Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unbezweifelbarer Wahrheits-
erkenntnis“ in: Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990.
19
Auch Cicero hat auf dieses „größte Wagnis“ einer von Wahrheit losgeketteten
Gesellschaft und Rechtsordnung hingewiesen. Vgl. Josef Seifert, „Demokratie,
Wahrheit und Gerechtigkeit. Cicero und das Problem des Pluralismus“, in: H.
Schuschnigg, D. Gutsmann, H. Starhemberg (Hrsg.), König und Volk. Demokratie
im Wandel der Zeit, Maximiliana Bd. VI, (Wien-München, Amalthea Verlag,
1992), S. 27-51.
inzwischen zu Millionen Toten geführt hat, und zwar nicht nur in den
Kriegen oder den totalitären Schreckensherrschaften, welche Millionen
Erwachsene hingemordet haben, sondern auch heute in der sogenannten
freien Welt, der „Achse des Guten“, wie Präsident Bush sie (ohne wirk-
liche Rechtfertigung) genannt hat, in der alljährlich Millionen geborene
und ungeborene Menschen Opfer einer Entthronung der Wahrheit sind,
herrsche diese nun in der freien Welt oder in einem von der marxistischen
Ideologie beherrschten Land wie China, dessen Ministerin sich öffentlich
rühmen kann, innerhalb kürzester Zeit durch ihre forcierte und rein
pragmatische Einkind-Familienpolitik 200 Millionen Menschen ermordet
zu haben, wobei in dieser Tat – ebenso wie in einer Art Selbstkritik ihrer
Folgen – nur noch die praktischen und insbesondere die wirtschaftlichen
Folgen dieser Politik bedacht werden (z.B. ein disproportioniertes Absin-
ken der weiblichen Bevölkerung, darauf folgende Mädchenentführungen
und Zwangsheiraten, eine bedrohliche Bevölkerungspyramide, etc.) und
nicht einmal mehr die Frage geprüft wird, ob eine solche Politik der
Wahrheit über den Menschen und seiner Würde widerspricht oder nicht.
Das ‚Wagnis‘ einer derartigen Entthronung der Wahrheit kann jedoch
nicht nur nach den real-politischen Folgen oder sonstigen praktischen
Konsequenzen alleine, die aus der Entthronung der Wahrheit faktisch
erflossen sind, hinreichend ermessen werden. Denn dieselben und ähnliche
realpolitische Konsequenzen könnten auch dogmatisch geglaubten Irrtü-
mern über den Menschen entspringen, die einen Wahrheitsanspruch
enthalten und seine Würde leugnen. Auch wenn etwa die nationalsozialis-
tische Ideologie nicht von einem zynischen Relativismus und einer
versuchten Entthronung der Wahrheit durchzogen, sondern von jemandem
als letzte und objektive Wahrheit geglaubt worden wäre, was ja auch wohl
bei ihren Anhängern vielfach der Fall war, wären ihre Wirkungen im
Wesentlichen gleich schlimm geblieben.
Wir können deshalb die Greuel und Unmoral, die sich aus dem von
Nietzsche angesprochenen „größten Wagnis“ ergeben, nicht als bloße
Historiker und Empiriker daraus ablesen, daß im Namen der schlechthinni-
gen Entthronung der Wahrheit und ihrer Ersetzung durch wahrheitsfremde
Maßstäbe gigantische Archipel Gulags aufgerichtet und Holocauste ins
20
Vgl. Dietrich von Hildebrand, “The Dethronement of Truth,” in: The New Tower of
Babel (London: Burns & Oates, 1954), S. 57-100; übersetzt als „Die Entthronung
der Wahrheit“, S. 309-339. Vgl. ders., Memoiren und Aufsätze gegen den
Nationalsozialismus 1933-1938. Veröffentlichungen der Kommission für
Zeitgeschichte, mit Alice von Hildebrand und Rudolf Ebneth hrsg. v. Ernst
Wenisch (Mainz: Matthias Grünewald Verlag, 1994), sowie Alexander
Solschenizyn, Macht und Moral zu Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v.
Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im
Fürstentum Liechtenstein, Akademie-Reden (Heidelberg: Universitätsverlag C.
Winter, 1994).
21
Wir leben heute sicherlich in einer Gesamtkultur, der Assmanns Ideen vernünftig
erscheinen mögen, in einer Zivilisation, die im Namen grenzenloser Freiheit, die
in Willkür umgedeutet wird, und mit Hilfe einer relativistischen Religionsphiloso-
phie und Religionspsychologie, in zunehmendem Maße die Unterscheidung
zwischen wahrer und falscher Philosophie, Ethik oder Religion, sowie den
Gedanken eines einzigen wahren Gottes als Friedensstörer zurückweist.
Gegen diesen evolvierenden oder sogar explodierenden kulturellen Hintergrund
mit seinen polytheistischen Sympathien fand am 6. Juli 2004 der Einführungs-
vortrag des damaligen Heidelberger Gadamer-Professors Jan Assmann statt, der in
Auch setzt jede Aussage Assmanns Wahrheit und also voraus, daß deren
Gegenteil falsch ist. Assmann läßt sich durch solche Nachweise der Wider-
sprüchlichkeit seiner Position nicht beeindrucken: Ja selbst solche letzte
Einsichten griechischer Philosophen in die ontologischen und logischen
Grundgesetze, welche derartige Widersprüche verbieten, sind für Assmann
Teil des Programms der „mosaischen Unterscheidung“ und jedenfalls
dieser vergleichbar: nichts als Denkzwänge, denen sich zu unterwerfen
ähnlich negative einengende Folgen habe wie die Unterwerfung unter die
„mosaische Unterscheidung“ zwischen dem wahren Gott und falschen
Göttern, die zu einer „Gegenreligion“ führe.22 Und der Preis der
der vor Zuhörermassen platzenden „alten Aula“ der Universität über das Thema
„Ausschließlichkeit – der Preis des Monotheismus“ sprach und dort seine aus
einer Reihe von Büchern bekannten und höchst brisanten Thesen vor dem
Publikum ausbreitete, ja mit sanfter Stimme beschwor:
Während Aristoteles und Darwin erkannt hätten, daß die Natur keine Sprünge mache, habe
es diese in der Geschichte der Menschheit sehr wohl gegeben. Der größte dieser Sprünge
aber sei der Übergang vom alten Polytheismus der primär-religiösen Kulturen zur
„Gegenreligion“ des Monotheismus gewesen, am eindringlichsten durch Moses’ Auszug aus
Ägypten symbolisiert. Auf diesem Exodus gab es auf einmal den einen Gott, dessen Gesetze
das ganze Leben kontrollierten; und ebenso plötzlich sei die ‚mosaische Unterscheidung‘
zwischen wahren und falschen Religionen aufgetaucht, eine von einem Historiker schwer
begreifliche Behauptung.
Assmann, der die Unterscheidung von wahr und falsch „mosaisch“ nennt,
erwähnt selber, daß wir die Unterscheidung zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch
unabhängig von Moses am Anfang der griechischen Philosophie finden. – Etwa
bei Xenophanes, der an Homer und Hesiod aussetzte, sich die Götter wie
Menschen mit menschlicher Stimme und menschlichem Gesicht vorgestellt und
vor allem, ihnen alle Schandtaten angedichtet zu haben, wie „Stehlen, Ehebrechen
und einander Betrügen“, die unter Menschen eine Schande sind, und der gerade
diesen falschen oder menschlich-allzumenschlichen Gottesbildern die Wahrheit
über Gott entgegenstellte, indem er sagte, es herrsche in Wahrheit „nur ein
einziger Gott, unter Menschen und Göttern der Größte, weder an Aussehen den
Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“
Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit in den Religionen ist
aber auch schon deshalb keine mosaische Erfindung, da sie eine simple Folgerung
der Logik ist: einander widersprechende Religionen können evidenterweise nicht
zusammen wahr sein.
22
Ich zitiere Assmann:
Wie ich diese Bezeichnung <Gegenreligion> meine, möchte ich an dem Parallelfall der
Wissenschaft deutlich machen. Wie die monotheistische Religion auf der Mosaischen, so
beruht die Wissenschaft auf der Parmenideischen Unterscheidung. … Die eine unterscheidet
zwischen wahrer und falscher Religion, die andere zwischen wahrem und falschem Wissen.
Diese Unterscheidung, die sich in den Sätzen von der Identität, vom Widerspruch und vom
ausgeschlossenen Dritten (“tertium non datur”) artikuliert, wird gemeinhin mit dem Namen
des Parmenides verbunden, … Mit Recht spricht Werner Jäger von einem ‚Denkzwang‘, der
hier eingeführt wird ‚…, der von der Unvollziehbarkeit des logischen Widerspruchs
ausgeht.‘ Dieser Denkzwang … zieht eine Grenze zwischen dem ‚wilden Denken‘ als den
traditionellen, mythischen Weisen der Welterzeugung und dem logischen Denken, das sich
dem Denkzwang des Satzes vom Widerspruch unterwirft.“
Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus,
(München/Wien: Carl Hanser Verlag, 2003), S. 23-24.
23
Der Professor behauptet dies natürlich nicht ganz offen, sondern flüstert und
insinuiert es bis auf wenige Passagen nur, und ist überhaupt ein Meister darin, das,
was er eben doch gesagt hat und was alle verstanden haben, gleich wieder
aufzuheben, sich sehr erstaunt darüber äußernd, wieviel „Staub seine Bücher doch
immer wieder aufwirbeln“, und dabei den Hörer und Leser, geradeheraus
gesprochen, als simplistischen, Mißverständnissen erliegenden, grobschlächtigen
Menschen darstellt, der sich über irgendwelche Gedanken aufregt, die doch weit
entfernt von Assmanns wirklichen Ideen über Moses den Ägypter seien. Doch
Assmanns Aufzählen der Ausrottung ganzer Städte durch den Makkabäerfürsten,
seine Hermeneutik des Martyriums der sieben Makkabäerbrüder und zahlloser
anderer Märtyrer als „passive Gewalt“ ausübende Menschen, die sich, so kann
man schließen, eher negativ von der Geistigkeit und Friedfertigkeit ihrer Mörder
abheben, und sein Schweigen über die von einem Hannibal, Julius Caesar,
Alexander, begangenen und von ihnen und Tausenden Anderen beschriebenen
Untaten zivilisierter und „wilder“ polytheistischer afrikanischer, germanischer,
amerikanischer oder afrikanischer Stämme, sowie über die von atheistischen
totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts begangenen Greuel, nicht zuletzt auch
sein Nichterwähnen der Zentralbotschaft der Seligpreisungen der Friedfertigen in
den als Quellen der Intoleranz angeprangerten monotheistischen Religionen, läßt
die Botschaft des neuen Professor-Propheten ahnen: der viel geehrte Mann, oder
gar ein Größerer, verheißt uns den neuen Propheten, oder ist gar selber der „Moses
der Ägypter“, der uns an der Hand nehmen und in ein neues und zugleich das
urtümliche Europa, ins gelobte Land der vielen Götter, zurückführen wird. Wer
sich dem Propheten in den Weg stellt – wie ein Zuhörer beim Vortrag, der
entrüstet aufstand und, wenn auch gegen die guten akademischen Manieren, so
doch anerkennenswerter Weise und beherzt öffentlich sagte, nicht Moses, sondern
der polytheistische Pharao, sei der Unterdrücker und Mann der Gewalt gewesen –
wird kurzerhand von drei Männern gepackt und unter dem Applaus der gebannt
dem Preisträger des höchsten deutschen Historikerpreises lauschenden Menge
durch den ganzen Saal getragen und zur Tür hinausgedrängt. Vielleicht ist solches
Verhalten Vorbote des neuen toleranten akademischen Stils, den wir von
polytheistischen Akademikern erwarten dürfen.
Ein Universitätsprofessor und Rektor einer Nachbaruniversität, der nicht an
unerlaubtem Orte wie das unglückliche Opfer besagter Gewalt, sondern dort die
ungeheuerliche Geschichtskonstruktion des Historikers kritisierte, wo dies erlaubt
ist, nämlich beim Gadamer zu Ehren veranstalteten Empfang nebenan, wird keiner
Antwort gewürdigt, sondern muß sich sagen lassen, er habe den Vortragenden so
schlecht verstanden, daß man mit ihm beim besten Willen nicht weiterreden
könne.
Dies ungeachtet der Tatsache, daß auch Zenger, Koch, Kuschel und die andern
Kritiker, die im Anhang des Werks des Ägyptologen, Die mosaische Unter-
scheidung oder der Preis des Monotheismus, zu Worte kommen, die Botschaft des
Autors im wesentlichen gleich hören wie der mit Nichtbeantworten bestrafte
Professor.
Die entrüstete Frage eines Zuhörers kommt mir in den Sinn:
„Sind wir an einem Punkt angelangt, wo mit Preisen ausgezeichnete Ordinarien und
Historiker berühmter Universitäten Unsinn reden dürfen, für die jeder Maturant das Abitur in
Geschichte wiederholen müßte?“
Es war ein beängstigendes Erlebnis.
Ist dies der neue, den Exodus rückwärts gehende Prophet Europas, der große
Historiker, der alle Grausamkeiten, Kriege, Greuel und Menschenopfer der
Baalsdiener, der Antike und heutiger polytheistischer Völker mit keinem Wort
erwähnt?; der die Intoleranz und das Verbrechertum des durch und durch
relativistischen und atheistischen Kommunismus und des Nationalsozialismus
und Faschismus, die die „mosaische Unterscheidung“ zwischen wahr und falsch
abschafften und einem zynischen Pragmatismus frönten, der nur noch die
Unterscheidung „nützlich“ oder „schädlich für die Partei“ machte, vergißt? Der
der Millionen Opfer atheistischer totalitärer Staaten des 20. Jahrhunderts und
zynisch aufgeklärter Herrscher mit keinem Worte gedenkt, aber insinuiert, daß
eigentlich Moses der Jude, als er an die Stelle Moses’ des Ägypters getreten sei,
selber an Eichmanns und Hitlers Verbrechen gegen die Juden schuldig geworden
sei, weil er, „wenn er überhaupt existiert habe“ und nicht eine Fiktion unserer
historischen Erinnerungspur sei, den falschen Weg der radikalen Abgrenzung
eingeschlagen habe, auf dem Hitler nur konsequent weitergegangen wäre? Vgl.
Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un pensiero; ders., Dietrich von
keine Pflicht, keinen Wert und kein Gut mehr, die der Mensch als
verbindlich für eigenes Handeln anzusehen hätte. Ja nicht einmal mehr für
den Inhalt eines neuen Ersatzkriteriums für menschliches Handeln – ob es
die Nazis und der Ku-Klux-Klan oder deren Gegner sein sollten, die uns
die Ersatzrichtlinie für unser Handeln liefern – kann es unter solchen
Voraussetzungen Kriterien geben, deren vorausgesetzter Wahrheits-
anspruch einlösbar wäre. Vielmehr gilt nun als Richtlinie, was immer von
jemandem als solche definiert wird und darf getan werden, was immer
Trieb oder Dämon uns eingeben, Parlamente beschließen oder Macht
erlaubt. Cicero hat in seiner Schrift Über die Gesetze die logischen Konse-
quenzen einer solchen Anschauung mit rhetorischer Brillanz beschrieben
und die ihnen zugrundeliegende Meinung als die eines Wahnsinnigen
bezeichnet (dementis est). Mit diesem starken Ausdruck will er wohl die
ungeheuerlichen und letzten Endes von keinem Menschen, der den Ge-
brauch seiner Vernunft besitzt, akzeptablen Folgen bezeichnen, die aus
dem größten Wagnis, nämlich dem eines Lebens ohne jede vorgegebene
Wahrheit über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, entspringen, bzw. unter
der Voraussetzung des Wertnihilismus gerechtfertigt erscheinen müßten,
wenn die Rede von ‚Rechtfertigung‘ unter dieser Voraussetzung überhaupt
noch Sinn hätte.25
Doch dieses größte „Wagnis“, das eigene Leben von der Bindung an die
Wahrheit loszuketten, ist keineswegs nur wegen seiner Folgen gefährlich,
es ist also nicht nur ein „Wagnis“, dabei aber vielleicht sittlich neutral,
sondern eine derartige Loskettung des Lebens von der Wahrheit ist in sich
selber böse – es ist sogar Teil des Urbösen, und zwar nicht nur wegen
seiner Folgen. Denn die moralische Urverpflichtung jedes denkenden
Wesens besteht der Wahrheit gegenüber und verlangt eine Grundoption:
die Wahrheit zu suchen und nur das zu tun, was in Wahrheit verpflichtend
oder erlaubt ist, und zu unterlassen, was in Wahrheit nicht erlaubt oder
verboten ist. Die hier gebietende und vorausgesetzte Wahrheit aber ist in
erster Linie eine Angemessenheit an die Wirklichkeit und setzt sie voraus.
obwohl objektiv alles Sein und alle Wahrheit von Gott abhängen, so können wir
das Wahre, Gerechte und Gute doch unabhängig von unserer Erkenntnis Gottes
erfassen, weshalb die Aussage Ivans falsch ist. Hingegen gilt sie von der
Abschaffung der Wahrheit und von den meisten alternativen Wahrheitstheorien.
25
Vgl. Cicero De legibus (I, 42 ff.), sowie ders., De re publica, III. xxii, 33.
Dabei richtet sich nicht nur eine Leugnung oder ein Frontalangriff auf
die Urteilswahrheit als angemessenes Verhältnis zum Sein (adaequatio)
oder auf den Wert der Wahrheit gegen diese Urgrundverpflichtung,
sondern auch die vielen alternativen Wahrheitstheorien.
Dies führt uns zu einer weiteren Erkenntnis. Die hier angesprochene
Wurzel derartiger Wahrheitstheorien, die sich als falsch herausstellen
werden, ist nicht eine rein methodologische Schwierigkeit oder die Tiefe
und Komplexität der Wirklichkeit, sondern vielmehr ein Aufstand gegen
jene moralische Urbindung des Philosophen, welche die Bedingung aller
echter Philosophie ist: die Bindung an die Wahrheit, die bereits Platon als
schlechthin notwendige Voraussetzung aller Philosophie bezeichnet hat:
Auch der Relativismus und die von ihm so oft ausgehende Entthronung
der Wahrheitsfrage, selbst wenn wir sie bei vielen der brillantesten Geister
der letzten Jahrhunderte finden, können angesichts ihrer gewaltigen inne-
ren Widersprüche, die es eigentlich einem rational denkenden Menschen
26
Platon, Der Staat 6.485a-d. Dies ist der Text, von dem das Motto der Internationa-
len Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein diligere veritatem
omnem et in omnibus stammt.
27
Siehe Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalso-
zialismus, zit. Vgl. auch Josef Seifert, „Personalistische Philosophie und Wider-
stand gegen Hitler: Zum Kampf Dietrich von Hildebrands gegen die Nationalso-
zialistische Ideologie.“ 12 Artikel in: Liechtensteiner Vaterland (Mai-September
1995), sowie ders., (Hrsg.), Dietrich von Hildebrands Kampf gegen den
Nationalsozialismus; Josef Seifert, “La filosofia personalista di Dietrich von
Hildebrand e la sua opposizione contro il nazionalsocialismo,” Acta Philosophica.
Rivista Internazionale di Filosofia 6 (1997), S. 53-81.
28
Allan Bloom, The Closing of the American Mind (New York: Simon and Schuster,
1987), S. 201 (meine Übersetzung); Dietrich von Hildebrand, The New Tower of
Babel, “The Dethronement of Truth” S. 57 ff. Siehe auch Josef Seifert, „Friedrich
Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“
in: Balduin Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein: Festgabe für Dietrich von
Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: J. Habbel, 1970), S. 183-215.
Nietzsche nennt mit Recht die Frage nach dem Werte der Wahrheit eine
„noch gründlichere Frage“ als die nach der Existenz von Wahrheit. Denn
für unseren Willen und für menschliches Handeln kann Wahrheit nur dann
ein verbindlicher Maßstab sein, wenn sie nicht nur einfach besteht, wie das
neutrale Faktum des Bartwuchses, das wir auch durch Rasieren korrigieren
dürfen, sondern wenn sie einen Wert, und zwar einen sittlich relevanten
Wert besitzt. Und mehr als vom Glauben an die faktische Existenz von
Wahrheit, einem Glauben, dessen Verlust ihn zunächst in Verzweiflung
gestürzt hatte, will Nietzsche uns von der Überzeugung des Wertes der
Wahrheit befreien und damit menschlichem Denken und Handeln alle
Horizonte, jedes „Don Juan Abenteuer“ des Gedankens und Tuns,
eröffnen.29
Und wen lockt nicht irgendwo in seinem Herzen dieser Gedanke? In
dem Maß, in dem uns dieses traurige Kunststück der „Befreiung von der
Wahrheit“ gelingt, wird allerdings unser Leben dunkel und böse. Man
könnte sogar die Urform des Bösen nicht sosehr in einer Verletzung von
bestimmten einzelnen Werten und Gütern erblicken, sondern in dem
Versuch der Loslösung unseres Lebens von der Wahrheit.
29
Friedrich Nietzsche, Morgenröte, 4. Buch, 327.
Eine Fabel. – Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter
entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist,
Kitzel und Genuß an Jagd und Intrige der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten
Sterne der Erkenntnis hinauf! – bis ihm zuletzt nichts mehr zu erjagen übrig bleibt als das
absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und
Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle – es ist die letzte
Erkenntnis, die ihn verführt…
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von
K. Schlechta, I/S. 1198.
Diese radikale Freiheit des Gedankens bringt Nietzsche auch mit dem Tod
Gottes in Verbindung. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 343,
„Wir Furchtlosen“, 5. Buch, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur
Ausgabe von K. Schlechta, II/S. 205/06:
In der Tat, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, daß der „alte
Gott tot“ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von
Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder
frei, ... endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes
Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da,
vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“.
Fassen wir jene Stelle ins Auge, von der Heidegger zu Recht in seinem
Nietzsche-Buch sagt, sie spräche Nietzsches „Grunderfahrung“ aus:
Das Leben. . .geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier
über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des
Erkennenden sein dürfe.30
Doch darf es dies wirklich sein? In dem „sein dürfe“ ist doch wieder als
Rechtfertigung für solches Leben als Experiment die These impliziert, daß
das Leben eben wirklich so ein Experiment sein darf, daß es also wahr ist,
daß weder Wahrheit einen unbedingten Wert besitzt noch der Wille zur
Wahrheit jenen Status der Ehrwürdigkeit trägt, den man ihm von jeher
zugesprochen hatte. Es liegt auf der Hand, daß ohne die Wahrheit dieser
Annahmen Nietzsches Behauptung falsch und seine Aufforderung zu
einem Leben des Irrtums, der Täuschung und Ungewißheit und zu einem
„radikalen Experiment“ unvernünftig und vor allem unsittlich wäre.
Auch Nietzsche kann nicht umhin, bei der Begründung seines neuen,
von Wahrheit befreiten Lebens anzusetzen, daß ein solches Leben wirklich
erlaubt sei, daß Wahrheit tatsächlich keinen Wert besäße. Denn es ist
offenbar: wenn all dies nicht wahr wäre, dann wäre eben das, was
Nietzsche Befreiung nennt, keine Befreiung, und das, was er erlaubt nennt,
nicht wirklich erlaubt.31
So erkennen wir einen Aspekt dessen, was Tadeusz StyczeĔ
verschiedentlich als „Schlinge der Wahrheit“ bezeichnet hat.32 Der Mensch
und sein Handeln ist in der Schlinge der Wahrheit gefangen, in dem Sinne,
30
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, »Viertes Buch: Sanctus Junarius«,
§324, KSA 3, 552f., hier 552/1882.
31
Mit Wahrheit meinen wir hier noch jenes Einfache und ganz Selbstverständliche,
nämlich die Wirklichkeit und noch präziser die Übereinstimmung mit derselben,
kraft deren unser Urteil wahr ist. Wie Aristoteles sagt: „wahr ist die Rede, wenn
sie sagt, daß ist, was wirklich ist und daß nicht ist, was tatsächlich nicht ist, falsch
hingegen, wenn sie sagt, daß ist, was nicht ist und umgekehrt.“
32
Vgl. Tadeusz StyczeĔ, „Karol Wojtyáa – Philosoph der Freiheit im Dienst der
Liebe,“ in: Karol Wojtyáa – Johannes Paul II, Erziehung zur Liebe (Augsburg,
1979), S. 156 ff.; ders., „Zur Frage einer unabhängigen Ethik“, in: Karol Kardinal
Karol Wojtyáa, Andrzej Szostek, Tadeusz StyczeĔ, Der Streit um den Menschen.
Personaler Anspruch des Sittlichen (Kevelaer: Butzon und Bercker, 1979), S. 111-
175.
33
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Der freie Geist“.
34
Augustinus, Bekenntnisse X. 23: X. 26. Übers. G. Graf von Hertling (Freiburg i.B.:
Herder, 1922).
4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes der
Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis ihres
Wesens voraus
35
Vgl. Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5:
Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß nämlich kein Urteil
(contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil (contradictoriam) impliziere, ist zu
erwidern: dies ist wahr, insofern zwei Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen,
daß eine bejahende Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft
deren sie ein Prädikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie behauptet, sie
selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie sich von der negativen Aussage,
die ein Prädikat von einem Subjekt abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die
negative Aussage mit der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die
bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten Behauptungs-
ebene sind die Aussagen kontradiktorisch, nicht auf der zweiten (als solcher). Wenn man
deshalb sagt: es gibt keine Wahrheit, so impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom
Subjekt negiert, nicht ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber
für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, impliziert sie, daß es Wahrheit gibt; dies ist nicht
verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so jedes Falsche die Wahrheit.
Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es keine Wahrheit gibt – da es wegen der
Abtrennung des Prädikats vom Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behauptung, mit
der es behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt – beide Teile
des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht verstehende Intellekt auch
aus jenem Falschen beide Teile des Widerspruchs und damit schließen, daß die These
wesenhaft falsch und nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.(Eingene
Übersetzung, aus dem Lateinischen Original, JS.)
Auch aus dem Nietzsche-Text geht hervor, daß der Sinn der Infragestel-
lung des Willens zur Wahrheit bei Nietzsche eine Adäquationstheorie der
Wahrheit, bzw. die Einsicht, daß Wahrheit eines Urteils in dessen
Wirklichkeitsentsprechung besteht, voraussetzt. Denn es hätte keinen Sinn,
den von Nietzsche kritisierten Willen zur Wahrheit zu verachten, wenn
sich nicht auch Nietzsches Verachtung der Wahrheit auf eine wahre
Einsicht in die Verachtungswürdigkeit eines solchen Willens stützte.
Ebensowenig sinnvoll wäre es, die von uns erstrebte Wahrheit gemäß
manchen modernen Wahrheitstheorien als bloße Nützlichkeit oder als
bloße Kohärenz zu deuten, wenn sich unsere Verachtung ebenfalls auf
diese Kriterien oder Substitute für Wahrheit erstrecken und wir Nützlich-
keit nicht für ein Kriterium oder gar für das Wesen der Wahrheit halten
sollten. Auch ist der Wille zur Wahrheit nach Nietzsche gewiß der Wille,
das zu erkennen und in unseren Urteilen dem zu entsprechen, was wirklich
der Fall ist. Nur weil er diese Einsicht in das objektive Wesen der Wahrheit
als Adäquatio voraussetzt, kann Nietzsche auch in anderen Stellen der
Erkenntnis der Wahrheit den Irrtum oder die Täuschung entgegensetzen.
Denn wenn wir das Wesen der Wahrheit nicht als Zusammentreffen
unserer Urteile mit der Wirklichkeit verstünden, könnten wir auch nicht
den Gegensatz zwischen ihrer Erkenntnis und dem Irrtum erkennen, der
eben darin besteht zu glauben, daß etwas der Fall ist, was nicht der Fall ist:
zu meinen, daß ein Sachverhalt besteht, der in Wirklichkeit nicht besteht,
etwas für wahr zu halten, was es in Wirklichkeit nicht ist.
Um den Willen zur Wahrheit in Frage zu stellen, muß Nietzsche ferner
auch den Unterschied zwischen Täuschung und Lüge einerseits und
Wahrhaftigkeit andererseits verstehen. Doch noch mehr, Nietzsche
kritisiert die Wahrhaftigkeit und stellt sie als hohle Pseudotugend und
Schwäche dar, er reißt ihr die Larve der Ehrwürdigkeit vom Gesicht – doch
wohl nur im Dienste einer tieferen Wahrhaftigkeit, in deren Namen und
mit deren ganzem Pathos Nietzsche spricht.
Dies führt uns zu einem Weiteren. Indem Nietzsche den Wert der
Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Frage stellt, setzt er sie in elementarer
Weise voraus. Denn die Intelligibilität und Freude, die er in seinen Lesern
erwecken will, ist doch die, daß hier endlich einer den Betrug der
Wahrhaftigkeit und des Willens zur Wahrheit durchschaut hat – aber
wodurch hat er sie durchschaut, wenn nicht durch eine Metawahrhaftigkeit,
die selber nur eine tiefere Wahrhaftigkeit sein kann, mit der den Pseudo-
Tugenden die Maske vom Gesicht gerissen oder ihr Schein-Geist entlarvt
werden und folglich eine Wahrheit erkannt werden soll?
Ohne den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erkennen, kann der
Sinn und das Pathos der Nietzsche’schen Texte gar nicht begriffen werden.
Ohne Wahrheit und Wahrhaftigkeit als solche und in ihrer fundamentalen
Bedeutung und ihrem grundlegenden Wert zu erkennen, kann auch das
Wagnis, als das Nietzsche „kein größres“ kennt, niemals als solches
verstanden werden. Auch in der Erkenntnis, daß das Problem des Wertes
der Wahrheit ein tieferes als das der bloßen faktischen Existenz und
Eigenart von Wahrheit ist, liegt eine für seine Position unentbehrliche
Wahrheitserkenntnis Nietzsches, die die Tiefe seiner Fragestellung bedingt
und ohne die seine ganze Infragestellung der Wahrheit in sich zusammen-
bräche. Viele weitere Erkenntnisse und implizite Übereinstimmungen
zwischen unseren Ausführungen und Nietzsches anscheinender radikaler
Antithese zu ihnen könnten entwickelt und damit ein universaler Konsens
besitzender Wahrheitsfundus aufgewiesen werden. Dabei handelt es sich
nicht um einen faden und nichtssagenden gemeinsamen Nenner zwischen
konträren und kontradiktorischen Positionen, sondern vielmehr um solche
Wahrheitserkenntnisse, wie sie ihrer inneren Logik nach den offenen
Thesen Nietzsches widersprechen. Es handelt sich gleichsam um einen
Bestand verdeckter Wahrheitserkenntnis bei Nietzsche, die den offen von
ihm erhobenen Ansprüchen entgegentritt und die Universalität und Allge-
meingültigkeit des Sinnes und der Wahrheit dokumentiert, auf die Heraklit
mit dem Satz hingewiesen hat:
Man sollte dem Richtmaß dessen folgen, was allen gemeinsam ist. Doch
obgleich der Logos (die Wahrheit) allen gemeinsam ist, so leben doch die
Vielen so als besäßen sie eine nur für sie allein geltende (eigene, private)
Vernunft (Denkkraft, Weisheit).36
Auch Nietzsche spricht, als hätte er eine private und von ihm abhängige
Wahrheit und stehe in schlechthinnigem Gegensatz zur abendländischen
Wahrheitstradition. Und doch haben wir entdeckt, daß er genau jenen
Wahrheitsbegriff und jene Wahrhaftigkeit, die er angreifen möchte,
erkennt und für seinen Angriff voraussetzt. Hinter der Ebene des in der Tat
radikalen und von Heidegger geteilten Widerspruchs Nietzsches zum
Gedanken, daß die Wahrheit das Richtmaß menschlichen Handelns sein
solle, verbirgt sich der universale Logos der Wahrheit, von dem Heraklit
spricht und ohne dessen Erkenntnis und implizite Anerkennung Nietzsches
Kampf gegen die Wahrheit unmöglich, ja undenkbar wäre.
Zumindest in einigen wichtigen Fragen gibt es evidente und unbezwei-
felbare, ja selbst noch in der Ablehnung der Wahrheit erfaßte Wahrheiten.
Wenn es aber, wie diese Beispiele zu zeigen suchten, überhaupt Wahrheit
und sogar Gewißheit über Wahrheit gibt, dann ist auch der Mut der über
„Ethik und Entscheidung“ Nachdenkenden begründet, diese Wahrheit dort
zu suchen, wo sie die konkreten Grundlagen unseres Handelns betrifft.
Diese einführenden Überlegungen sollen nur dazu anregen, die zentrale
Bedeutung der Frage nach der objektiven Eigenart und dem Wert der
Wahrheit zu ermessen, sowie nach dem wahren Fundament der Ethik, nach
Wesen und Wert der Person, des Rechtes und der Gerechtigkeit, und vieler
konkreterer Lebensbereiche zu fragen.
Im vorliegenden Werk werden wir uns angesichts des Disputes über die
Wahrheit fragen, ob es möglich ist, eine Gewißheit über das Wesen des
Urteilswahrheit und eine Einsicht in die Einsichten und Irrtümer verschie-
dener Wahrheitstheorien zu gewinnen.
Wenn wir in manchen Fällen unbezweifelbare Gewißheit über Wahrheit
erlangen können, werden wir ferner dazu ermutigt, Wahrheit auch dort zu
suchen, wo sie viel weniger gewiß und offenkundig ist als im Falle von
Einsichten in notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte wie sie
Mathematik, Logik oder auch unsere philosophische Auseinandersetzung
mit verschiedensten Wahrheitstheorien anstreben und wie wir sie zur
Evidenz zu bringen suchen. Dann ist es auch sinnvoll, in der Geschichts-
36
Siehe Heraklit, 32 fr. 2 (eigene Übersetzung).
37
Josef Seifert, Wahrheit und Person.
38
Vgl. Pfänder, ebd., S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des
Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.
39
Zu nicht phänomenologischen modernen Verteidigungen der Adäquations- bzw.
Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Philip Kitcher, “On the Explanatory Role
of Correspondence Truth”, Philosophy and Phenomenological Research, 64 (2),
March 2002, 346-364:
“The focal criticism alleges that appeals to success cannot deliver conclusions that parts of
science are true in the sense of truth-as-correspondence that realists prefer. The paper
responds to that criticism, in versions proposed by Michael Williams, Michael Levin, and,
especially, Paul Horwich, by arguing that critics typically stop at a shallow level of
psychological explanation. If we prove more deeply we discover a genuine explanatory role
for correspondence truth.” (edited)
40
Zwar hat J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la
Verdad, gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht
hat. Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 82, 83 und 85. Vgl.
auch Harold Langsam, “Kant’s Compatibilism and His Two Conceptions of
Truth”, Pacific Philosophical Quarterly, 81(2) June 2000, 164-188. Der Autor
verteidigt die Auffassung, daß, wie wir schon in früheren Kapiteln argumentiert
haben, Kant letztlich von seiner Erkenntnistheorie her zu einer Art der
Kohärenztheorie der Wahrheit gelangt. Vgl. dazu auch Josef Seifert, Erkenntnis
objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil.
Vgl. auch die Kapitel über Tarskis und Poppers Wahrheitstheorien.
41
Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche
Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, sowie Dietrich von Hildebrand, What is
Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London:
Routledge, 1991); Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenolo-
gical Foundation for Classical Realism (London/Boston: Routledge and Kegan
Paul Press, 1987). Zu anderen Formen der Verteidigung der Korrespondenztheorie
der Wahrheit und einer zeitgenössischen Disputation zwischen Verteidigern und
Kritikern der Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Richard Schantz (Hrsg.),
What Is Truth? (Berlin: de Gruyter, 2002). Ein Teil der dort vereinten Aufsätze
kritisieren die Idee, die wir als evidente Grundlage jeder Philosophie der Wahrheit
betrachten: daß nämlich Wahrheit ein Wesen besitzt und einen Inhalt hat, und
deshalb nicht, wie die deflatorischen Wahrheitstheorien, auf die wir zurückkom-
men werden, als eigenständiger Begriff eliminiert werden darf, ja nicht einmal
kann, weil Wahrheit einer jener unleugbaren Urgegebenheiten ist, die man
unmöglich leugnen kann, ohne sie schon wieder vorauszusetzen. Andere
Beitragende verteidigen die These, daß Wahrheit ein Wesen besitzt und daß dieses
in einer Art der Korrespondenz besteht. Vgl. zu einer eher minimalistischen
Verteidigung der Korrespondenztheorie etwa William P. Alston, “Truth: Concept
and Property”, ebd., S. 11-26. Vgl. auch David M. Armstrong, “Truths and
Truthmakers” in: What Is Truth?, ebd., S. 27-37. Zum Thema der ‚Wahrmacher‘
in dem objektiven Sinne irgendwelcher objektiver Faktoren in der Welt, die
bestehen müssen, damit ein Urteil wahr sein könne. Vgl. dazu auch den Beitrag
des Herausgebers Richard Schantz, “Truth, Meaning, and Reference”, in: What Is
Truth?, Richard Schantz (Hrsg.), S. 79-99, sowie Michael Devitt, “The
Metaphysics of Deflationary Truth”, ebd., S. 60-78. Vgl. auch Peter Simon/Barry
Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers”, Philosophy and Phenomenological
Research (1984), 44, 287-322. Interessant ist in diesem Zusammenhang einer
Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit auch Alejandro Llano,
“‘Being as True’ According to Aquinas”, Acta Philosophica, 4 (1) 1995, 73-82.
Dieser argumentiert, daß gerade der ontologische Wahrheitsbegriff bei Thomas
von Aquin erst das Phänomen der Wahrheit als Korrespondenz erklären kann.
Vgl. Auch die Verteidigung der These, daß bei Descartes die Korrepondenz- oder
Adäquationstheorie der Wahrheit in engem Zusammenhang mit seinen Lehren der
klaren und distinkten Ideen und der Evidenz stehen in Georges J. D., Moyal, “Les
structures de la vérité chez Descartes”, Dialogue, (1987); 26, 465-490.
42
Vgl. Günther Pöltner, „Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprächs-
beitrag des Thomas von Aquin zum Problem der Übereinstimmung“, Zeitschrift
für philosophische Forschung (1983); 37: 563-576.
Wesens der Urteilswahrheit, die übrigens Thomas von Aquin schon als
Übereinstimmung mit der dispositio rei (ein Ausdruck, der vielleicht
bereits den Sachverhaltsbegriff vorwegnahm), sowie nicht nur mit der
Sache als solcher, sondern auch mit Privationen,43 deutete, ist nicht falsch,
auch wenn wir die res primär nicht als Sache, sondern als Sachverhalt
auffassen müssen.44 Aber dadurch, daß der intellectus, was hier als Urteil
übersetzt werden muß, mit dem Sachverhalt, der allein unmittelbarer
Gegenstand des Urteils ist, übereinstimmt, stimmt das Urteil auch indirekt
überein mit der Natur der res selbst im buchstäblichen Verständnis dieses
Ausdrucks, d.h. mit den Sachen selbst, von denen das Urteil handelt und
mit denen die Sache eine enge Einheit bildet.45
Je nach der Art des Sachverhalts, z.B. eines Sachverhalts, der in der
Welt eines Romans vorkommt, über den wir urteilen können, oder eines
Sachverhalts der wirklichen Welt, wird freilich noch einmal der Sinn
dieser dem Urteil gegenüber vorliegenden Autonomie des Bestehens eines
Sachverhalts entscheidend modifiziert sein, worauf weder Conrad-Martius
noch Pfänder hinreichend hingewiesen haben, wobei auch hier noch einmal
der fiktive Sachverhalt als Teil der im Roman beschriebenen und von ihm
oft konstituierten gegenständlichen Sphäre und die tatsächlich und ganz
autonom bestehenden Sachverhalte über fiktive Sachverhalte unterschie-
den werden müssen. Der Sachverhalt, daß Shakespeares Figur Hamlet
43
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, [23493] Contra Gentiles, lieb. 1
Cap. 1 n. 5. Vgl. auch: “dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione”
(In Metaphysicam, IX, 11, n. 1897).
Während der Ausdruck “dispositio rei” hier ohne Gewalttätigkeit als
Sachverhalt übersetzt werden kann, bedeutet er oft „Zustand der Sache“ oder auch
„Disposition“ und kann nicht als Sachverhalt übersetzt werden. Vgl. Auch
Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei
Thomas von Aquin (Regensburg: Josef Habbel, 1960). See also Barry Smith,
“Logic and the Sachverhalt,” The Monist, 72:1 (Jan. 1989), pp. 52-69.
44
Pfänder, ebd., S. 79-82, vor allem S. 80: „Die richtige Ausdeutung des Sinnes der
Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten
Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die ‘adaequatio intellectus et rei’, wenn
wir unter dem ‘intellectus’ hier das Urteil und unter der ‘res’ den von dem Urteil
betroffenen Gegenstand verstehen.“
45
Darin liegt wohl auch eine Intention von Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulli-
gan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
nicht der Mohr von Venedig ist, ist nicht selber ein fiktiver Sachverhalt,
auch wenn er nur in Bezug auf eine Fiktion besteht.
Ein Wort noch zu dem eigentümlichen Sinn von ‚Entsprechung‘, die
hier gemeint wird. Es geht selbstverständlich nicht um jene Entsprechung,
die bei ähnlichen Wesen vorliegt, wo die Eigenschaften eines Dinges oder
eines Menschen jenen eines andern genau entsprechen können. Es geht
vielmehr um eine von Ähnlichkeit ganz verschiedene, grundsätzlich
andersartige Entsprechung, die nur vom Wesen des urteilenden Gedanken-
gebildes her begriffen werden kann.46
Schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, ob die adaequatio, in
welcher die Urteilswahrheit besteht, das Urteil selbst in seinem Verhältnis
zum Sachverhalt, oder aber das Verhältnis zwischen dem behaupteten und
dem wirklichen Sachverhalt kennzeichnet. Ich meine, es geht aus verschie-
denen Gründen um eine Entsprechung des Urteilsgebildes bzw. der in ihm
liegenden Behauptung selbst und des ihm transzendenten Sachverhalts.
Deshalb ist der Begriff der ‚Korrespondenz‘ viel zu oberflächlich, um der
Eigenart der logischen Wahrheit des Urteils gerecht zu werden. Alexander
Pfänder kennzeichnet dieses Wesen der Urteilswahrheit als Korrespondenz
folgendermaßen:
Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der
Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit
einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Macht-
spruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem
Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuord-
nen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei
ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen
Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig
anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und sich ihm in
46
Auch hat etwa Roman Ingarden im Literarischen Kunstwerk gezeigt, daß sich die
Entsprechung zwischen einem historischen Roman und den in ihm befindlichen
Quasi-Urteilen und Gegenständen und Sachverhalten der wirklichen Welt ganz
von der Entsprechung zwischen Urteil und behauptetem Sachverhalt unterschei-
det. Es liegt im historischen Roman so etwas wie eine ‘matching intention’ (eine
Intention der Übereinstimmung mit historischen Tatsachen und Persönlichkeiten),
nicht eine Serie von Behauptungen über historische Fakten vor. Vgl. R. Ingarden,
Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontolo-
gie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972.
...es [das Urteil] muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten
Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbst-
herrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut
aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.48
49
Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“ (Vortrag gehalten in der Wiener
Philosophischen Gesellschaft am 27.III.1889), in: Franz Brentano, Wahrheit und
Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, ausgew., erl. u. eingel.
v. Oskar Kraus (Leipzig, F. Meiner 1930; 31979), S. 3-29, S. 6.
Dabei hat zwar Brentano, wenn er das Wort ‚Urteil‘ verwendet, wohl
dasselbe Datum des aus Begriffen gebildeten eigentümlichen Gebildes im
Auge, das wir das Urteil nennen und in einem Behauptungssatz ausdrücken
können, doch besteht bei Brentano noch eine tiefe Unklarheit hinsichtlich
des präzisen, von Edmund Husserl, Adolf Reinach und Alexander Pfänder
entwickelten Unterschiedes zwischen Urteilsakt und Urteil selbst.
Brentano, wie schon Aristoteles, identifiziert das Urteil primär mit dem
Urteilsakt.50 Das logische Urteilsgebilde, dem wir Wahrheit zusprechen,
unterscheidet sich jedoch radikal von einem Urteilsakt, diesem je indivi-
duellen bewußten Akt, in dem eine Person einen Sachverhalt durch das
logische Gebilde des Urteils, das eine bestimmte, von den Akten
unterschiedene und bis zu einem gewissen Grad von ihm „losgelöste“
Existenzform besitzt, hindurch behauptet.
Brentano, der in seiner früheren Philosophie die Adäquationstheorie der
Wahrheit verteidigt hatte, übte in mehreren späteren Schriften über die
Wahrheit51 eine ganze Reihe von Kritiken an der Korrespondenztheorie der
50
Vgl. dazu, außer dem eben zitierten Werk Brentanos, auch Alexander Pfänder,
Logik, (Mariano Crespo, Hrsg.), 4. Aufl., Philosophy and Realist Phenomenology.
Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality
Liechtenstein Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International
Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Hrsg. v. Rocco
Buttiglione und Josef Seifert, Bd. 10 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter,
2000); Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke.
Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische
Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140;
sowie Artur Rojszczak, „Wahrheit und Urteilsevidenz bei Franz Brentano,“
Brentano Studien 5 (1994), 187-218, S. 193 ff. (Ich kann mich hier eines
persönlichen Kommentars nicht enthalten und um ein Gedenken an diesen Autor
bitten, kurze Zeit einer unserer begabtesten polnischen Studenten an der
Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, der nach
seiner Rückkehr nach Krakau wegen einer absurden ungerechten Habsucht eines
Miteigentümers seines Hauses in grausamster Weise zusammen mit seinem Vater
ermordet wurde; seine Frau, die ein Kind erwartete, wurde durch die Schüsse des
Miteigentümers zeitleben querschnittgelähmt und erlag einige Jahre danach ihren
Verletzungen).
51
Siehe Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz, vor allem S. 121-150; auch schon
87-118; 73-83. In diesem Band sind 6 frühe Abhandlungen Brentanos, die seine
frühere Lehre enthalten, drei Schriften der Übergangszeit und – außer einer Reihe
Was sind die Gründe, aus denen heraus Brentano die Auffassung der
Wahrheit des Urteils als einer eigentümlichen Übereinstimmung desselben
mit der Wirklichkeit ablehnte?54 Wir betrachten im folgenden nicht alle
seine Gründe, denen wir zum Teil auch in der Auseinandersetzung mit
anderen Wahrheitstheorien wieder begegnen werden, sondern nur die
charakteristischsten. Seine Hauptgründe für die Annahme der Evidenz-
theorie anstatt der Adäquationstheorie waren die folgenden:
1.1. Existenzialurteile beweisen nach Brentano, daß das wahre Urteil keiner res
entspricht
191-219. Dort findet sich eine kritische, aber letztlich positive Stellungnahme zu
Barry Smith’s Grundthese, daß in der österreichischen Philosophie, vor allem der
von Franz Brentano inspirierten, im Gegensatz zur deutschen, eine realistische
und aristotelische Richtung vorherrsche, die sich besonders in Brentanos
Psychologie und Metaphysik, in Martys Wahrheitstheorie, aber auch bei Meinong,
Witasek, Twardowski, und in Kotarbinskis Reismus, sowie in Ehrenfels’s
Werttheorie, in Menger’s ökonomischen Theorien und anderen nachweisen lasse.
Unbekümmert um die Frage, ob es überhaupt eine spezifisch österreichische
Philosophie gibt und wie sehr Brentano sich in diese einordnen läßt, möchten wir
nur die Frage der Stichhaltigkeit seiner Einwände gegen die Korrespondenztheorie
und die Frage der Wahrheit seiner eigenen Position der Evidenztheorie der
Wahrheit untersuchen.
54
Vgl. dazu Paul Weingartner, “Brentano’s Criticism of the Correspondence Theory
of Truth”, in: Chisholm, R M (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos
(Amsterdam: Rodopi, 1978), S. 183-197.
55
Vgl. auch Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia (Mexico
D.F.: Ed. Limusa, 1982).
56
Vgl. den Text aus einem Schreiben an Anton Marty vom 2. September 1906, WE,
S. 96.
57
Vgl. Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957), die diese
Seinsform als einen ontologischen Sinn der Kopula in jedem Urteil enthalten
sieht, im Unterschied zu Alexander Pfänder, der in seiner Urteilslehre meint, daß
die Kopula nur ein rein funktionierender Begriff sei, dem nichts auf der
Gegenstandsseite entspreche: eine Hinbeziehungsfunktion, die Kopula auch in
Fragen oder Befehlen ausübt und eine Behauptungsfunktion, die ausschließlich
dem Urteil zukomme und gleichsam dessen Seele ausmache. Vgl. Alexander
Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik (Tübingen:
Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963).
58
Vgl. dazu Josef Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes.
Reflexionen über das ontologische Argument“ in: Theologia (Athens 1985), 3-30;
Daneben waren es primär die negativen Urteile wie das Urteil, „es gibt
keine Drachen“, die Brentano zu beweisen schienen, daß es keine Sache
gibt, die hier auf der Objektseite stünde und durch Übereinstimmung mit
der das Urteil wahr würde und daß ferner auch die platonisch-aristotelische
Bestimmung der Urteilswahrheit hier nicht zutreffe, dernach das wahre
Urteil verbinde, was in Wirklichkeit verbunden, oder trenne, was in
Wirklichkeit getrennt sei.
Erst recht etwa, wenn ich sage: „Es gibt keinen Teufel“ oder „Es gibt
keinen Drachen“ (Brentanos Beispiele) oder „Das Nichts ist kein
Gegenstand“, dann ist in diesen negativen Urteilen, deren Subjekt etwas
Nichtseiendes oder das Nichts ist, keine Sache auf der Objektseite
vorhanden, mit der mein Urteil übereinstimmt oder nicht überein-
stimmt. Oder wenn ich mit Gorgias sage: „Es gibt überhaupt nichts“, –
nehmen wir an, dieses Urteil wäre wahr – dann ist Gegenstand dieses
Urteils gerade nicht ein Ding und eine res, sondern die völlige Abwesen-
heit aller Dinge und aller res. Ähnliches gilt von dem Satz, daß die Welt
aus dem Nichts geschaffen wurde, oder von Urteilen über Gewesenes.
In diesem Sinne argumentiert schon der frühere Brentano (1889) zu
Recht, daß nicht immer die res im Sinne einer Sache aufgefunden werden
kann, in Entsprechung zu der ein Urteil wahr genannt wird.
Statt ihn aber ein anderes gegenständliches Korrelat für diese Urteile
oder das Urteil überhaupt suchen und finden zu lassen, führten diese und
andere Schwierigkeiten Brentano schließlich zur Verwerfung der Adäqua-
tionslehre, wenn auch Brentano zunächst (1889) noch meinte, daß es
genüge, die Adäquationstheorie der Wahrheit dahingehend umzuformu-
lieren, daß das richtige Urteilen – zumindest in vielen Fällen – in einem
Anerkennen und Verwerfen von Existenz oder Nichtexistenz, von Sein
oder Nichtsein, bestünde, die dem wirklichen Sein oder Nichtsein der
Dinge entsprächen.59
Sogar in jenem Brentano’schen Spätwerk, das Kraus als Kerndokument
seiner Verwerfung des Adäquationsgedankens der Wahrheit gilt, verwen-
det Brentano noch eine Formulierung, die wie eine Tarskis Wahrheits-
theorie verwandte Neuformulierung der Adäquationslehre aufgefaßt
werden könnte:
Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß
derjenige, der urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei,
von jemandem gedacht, geglaubt, geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß
es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das betreffende Ding ist, nicht ist,
möglich ist, gedacht ist ...usw.60
1.3. Die Verwerfung der Irrealia als dritter Grund der Ablehnung der
Adäquationstheorie durch Brentano
59
Siehe dazu Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, bes. S. 22, 24-27;
und, aus der Vierten Abteilung des Bandes Wahrheit und Evidenz, die O. Kraus
betitelt: „Die neue Lehre, dargestellt in Abhandlungen“: „Über den Sinn des
Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“, in: Franz Brentano, Wahrheit und
Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, S. 131-136, wo
Brentano eine Reihe von Deutungen der adaequatio verwirft, aber immer noch
sagt, was O. Kraus in der Anmerkung bekrittelt „So dürfen wir also an dem alten
Satz [veritas est adaequatio rei et intellectus] festhalten...“ (ebd., S. 136). Siehe
auch ebd., Einleitung von O. Kraus, S. vii-viii; xv.
60
„Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, WE, S. 139.
61
Vgl. Franz Brentano, „Über die Entstehung der irrigen Lehre von den entia irrealia“
(Aufzeichnungen von A. Kastil nach einem Gespräche mit Brentano. Mai 1914 in
Innsbruck), „Wie ich zu dem irrigen Gedanken der Existenz von Nichtrealem
kam“, Wahrheit und Evidenz (im Folgenden abgek. WE), S. 162-164.
62
Siehe Franz Brentano, „Zur Frage der Existenz der Inhalte und von der adaequatio
rei et intellectus“ (20. November 1914), WE, S. 121. Siehe zur Analyse des
einzigartigen, aber wahren Prädikats „Existenz“ J. Seifert, “Essence and
Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of
‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist
Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I,2 (1977), pp. 371-459, sowie die
wesentlich erweiterte deutsche Version dieses Werkes, Sein und Wesen, Kap. 1-3.
keiten usf. die Verwerfung der Adäquationstheorie der Wahrheit, die sich
nur dann halten läßt, wenn man mit Aristoteles63 und mit Thomas von
Aquins De Ente et Essentia64 im Hinblick auf die Wahrheit von der
Existenz von Irrealia bzw. von einem weiteren Begriff des Seins ausgeht,
der allen wahren Aussagen, auch jenen auch über Privationen, Nichtsein
usf. entspricht. Für diese eigentümliche ontische Formation, welche der
Wahrheit jedes Urteils ihr Fundament gibt, und die Edmund Husserl und
Adolf Reinach als solche entdeckt und herausgearbeitet haben: das „a-
Sein-[oder-nicht-a-Sein-]eines-B“ war Brentano zunehmend blind.65
63
Vgl. Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth”, in
Kevin Mulligan, (ed): Mind, Meaning and Metaphysics, (Dordrecht: Kluwer,
1990). Smith behandelt dort die Rolle des aristotelischen Begriffs des Seins als
Wahrheit bei Brentano. Vgl. auch Barry Smith, Austrian Philosophy, The Legacy
of Franz Brentano (Chicago/LaSalle: Open Court, 1995).
64
Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice
thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto
Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587, bes. Den folgenden
Text, die Anfangssätze von Kap. 1:
Sciendum est igitur quod, sicut in V metaphysicae philosophus dicit, ens per se dicitur
dupliciter, uno modo quod dividitur per decem genera, alio modo quod significat
propositionum veritatem. Horum autem differentia est quia secundo modo potest dici ens
omne illud, de quo affirmativa propositio formari potest, etiam si illud in re nihil ponat. Per
quem modum privationes et negationes entia dicuntur; dicimus enim quod affirmatio est
opposita negationi et quod caecitas est in oculo. Sed primo modo non potest dici ens nisi
quod aliquid in re ponit. Unde primo modo caecitas et huiusmodi non sunt entia.
65
Es ist aber auch schwer, bei Thomas von Aquin einen klaren Sachverhaltsbegriff
zu finden – trotz der klaren Texte in De Ente et Essentia. Innerhalb der
thomistischen Philosophie gibt es keinen festen Platz für jene Kategorien von
Gegenständlichkeiten, die Brentano in seiner früheren Phase voraussetzt, die wir
mit Sachverhalten identifizieren, welche sich übrigens innerhalb aller Seinsmodi –
im realen, idealen, rein intentionalen, rein logischen und möglichen Sein –
nachweisen und von Dingen oder Gegenständen unterscheiden lassen. Vgl.
meinen Versuch, die Gegebenheit des Sachverhalts aufzuklären in Josef Seifert,
Sein und Wesen, besonders Kap. 2; sowie Mariano Crespo, “En torno a los estados
de cosas. Una investigación ontológico-formal,” Anuario Filosófico, XXVIII/1
(1995), 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente
necesarios. Tesis doctoral. Departamento de Metafísica y Teoría del
Conocimiento. Universidad Complutense, Madrid 1995.
... Warum doch sollte ... jeder andere Denkende ... derselben Nötigung
unterliegen? ...
... Auch kommt dem Urteile, dessen Wahrheit einer einsieht, immer
Allgemeingültigkeit zu; d.h. es kann von dem, der es einsieht, nicht ein
anderer das Gegenteil einsehen, und jedermann irrt, der das Gegenteil
davon glaubt. Auch mag ... wer etwas als wahr einsieht, erkennen, daß er es
als eine Wahrheit für alle zu betrachten berechtigt ist. Aber es hieße sich
einer starken Begriffsverwechslung schuldig machen, wenn man aus einem
solchen Bewußtsein der Wahrheit für alle das Bewußtsein einer allgemei-
nen Denknötigung machen wollte.66
den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE 133; „Über den
Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, in: Franz Brentano, WE, S. 137-
139. Siehe ebd., Einleitung Kraus, S. xii-xiv.
68
Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, S. 10 ff. Siehe ebd. (Einleitung
Kraus), S. ix.
69
Siehe Brentanos Korrespondenz mit Husserl (1905), in WE, S. 153 ff.; bes. S. 157,
wo er sich gegen den relativistischen Psychologismus verwahrt. Vgl. vor allem die
hervorragenden Ausführungen Brentanos über Evidenz in „Von der Evidenz“ aus
den Anmerkungen zu Sigwart in Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis,
abgedruckt in WE, S. 61-69.
70
Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 22 ff.; „Über den Sinn
des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE, 132 ff.
tigkeit oder Ähnliches ist, schließen zu dürfen, daß man die Urteilswahr-
heit gar nicht mehr als adaequatio bestimmen dürfe.
„Ich weiß, daß ich weiß, daß ich bin; und ich weiß, daß ich dies weiß“, usf.
ad infinitum. Dieser Gedankengang läßt sich auch auf die entsprechenden
Sachverhalte, wenn man diese als Gegenstand des Urteils annimmt,
übertragen.
Nicht zuletzt aus dem Grund, daß er nicht nur unendlich viele
Sachverhalte, sondern auch negative Sachverhalte und Irrealia jeder Art
ablehnt, verwirft Brentano, und das ist ein sehr folgenschwerer Schritt, die
Adäquationstheorie als solche und sagt, wir müßten eine bessere Beschrei-
bung dessen finden, was Wahrheit sei. Brentano meint nun, er könne diese
ihm absurd scheinende Konsequenz durch Einführung seiner Evidenz-
theorie der Wahrheit vermeiden. Dabei ist nicht ganz klar, ob er eine ganz
neue Definition der Wahrheit einführen möchte oder – Tarski vorwegneh-
mend – von dem Versuch abgeht, das Wesen der Wahrheit selbst über-
haupt zu erklären und nur eine bessere operationale Definition der
Wahrheit einführen möchte.
71
Aus der Abhandlung von Brentano, „Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et
intellectus’“, WE, S. 139. Doch geht auch diesem Satz, in welchem Kraus den
Ein Urteil ist also dann wahr, wenn es die Dinge, oder was immer sonst
ist oder nicht ist, so beurteilt wie derjenige, der sein Urteil mit Evidenz
fällt, urteilen würde. So führt also Brentano diesen neuen Gesichtspunkt
der vollkommenen Evidenz des Urteils, oder besser der vollendeten
Evidenz der Erkenntnis eines Urteilenden, als neues und ideales Maß und
als Bestimmungsgrund der Urteilswahrheit ein.
Dabei kommt es für die Wahrheit eines Urteils nicht darauf an, ob die
Erkenntnis des Urteilenden nun tatsächlich Evidenz besitzt oder nicht,
nicht darauf, ob das Urteil mit eigener Evidenz geurteilt wird, sondern nur
darauf, ob ein Urteil objektiv mit jenem Urteile übereinstimmt, der mit
Erkenntnisevidenz urteilt.
Man könnte im Hinblick auf das „reine Ideal der absoluten Evidenz“ als
Maß jeder Urteilswahrheit von einem Platonismus in Brentanos Evidenz-
theorie sprechen. Denn für Brentano ist das „reine Ideal“ der Evidenz der
Erkenntnis das beste Bestimmungsmerkmal der Wahrheit oder der Falsch-
heit von Urteilen. Ein falsches Urteil ist eines, das ein mit Evidenz
Urteilender verwerfen würde, ein wahres Urteil eines, das ein mit Evidenz
Urteilender für wahr halten würde. Dieser neue Bestimmungsgrund der
Wahrheit durch den Bezug auf Evidenz ist daher keine Aussage über ein
Wahrheitskriterium oder über tatsächlich vorliegende Evidenz, sondern
über eine neue Form der Übereinstimmung des Urteils mit etwas, das
größtenteils jedem Menschen unerreichbar ist.
So meint Brentano, die Schwierigkeiten der Adäquationstheorie voll-
ständig vermieden zu haben, weil er eben die Wahrheit von der Evidenz
her bestimmt und daher alle genannten Schwierigkeiten umschifft.
Kern der neuen Lehre Brentanos über die Wahrheit sieht, noch ein anderer
unmittelbar voraus, der eigentlich eine differenziertere Form der Adäquations-
theorie impliziert und deshalb einen anderen Folgesatz erwarten ließe:
Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß derjenige, der
urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei, von jemandem gedacht, geglaubt,
geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das
betreffende Ding ist, nicht ist, möglich ist, gedacht ist ...usw. (Ebd., S. 139).
3.1. Die verlorene ‘res’ als ‚Sachverhalt‘: sobald ‘res’ als Sachverhalt geklärt
ist, erübrigt sich Brentanos Verwerfung der Adäquationstheorie – Die ‘res’
in negativen Urteilen und Existentialurteilen
72
Siehe Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 3-29; bes. S. 24
(Nr. 48-49).
als adaequatio neu begründet werden kann und die Verwerfung der
Adäquationstheorie auf Grund der von Brentano aufgedeckten Schwierig-
keiten unnötig wird. Denn die These, daß das „irgendetwas“ auf der
Objektseite, an das sich das wahre Urteil angleicht oder mit dem das wahre
Urteil in bestimmtem Sinne übereinstimmt, Sachverhalte und nicht Dinge
sind, deckt alle Fälle, von denen Brentano spricht und die in der Tat für
jede „dinglich“ verstandene Adäquationstheorie unübersteigliche Hinder-
nisse errichten.73
73
Vgl. dazu auch Jan Wolenski, “Brentano’s criticism of the correspondence con-
ception of truth and Tarski’s semantic theory”, Topoi, 8, 105-110. Auch Wolenski
meint, daß eine adäquate Wahrheitstheorie alle Einwände Brentanos gegen die
Korrespondenztheorie der Wahrheit zu entkräften vermag. Allerdings kann ich
Wolenskis Meinung nicht zustimmen, Tarskis „semantische Wahrheitstheorie“
habe alle Einwände Brentanos und Probleme der Zirkularität überwunden.
74
Alexius Meinong hat in Form der „Objektive“ ähnliche gegenständliche Korrelate
des Urteils wie Sachverhalte anerkannt, wie wir schon im Kapitel 3 von Wahrheit
und Person ausgeführt haben. Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in:
Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akkad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977),
Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff. Vgl. auch Reinhardt Grossmann, “Thoughts, Objectives
and States of Affairs”, Grazer Phil Stud (1995), 50, 163-169. Vgl. dazu ferner
Josef Seifert, „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis zwischen Satz, Urteil und
Sachverhalt“, in: Alex Burri (Hrsg.), Sprache und Denken/ Language and Thought
(Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997), S. 301-324.
75
Zu einer ausführlichen Analyse des Sachverhalts vgl. Mariano Crespo, Mariano
Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,”
143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente
necesarios, sowie mein Sein und Wesen, Kap. 2-3.
76
Siehe dazu Adriano Bausola, Coscienza e Moralità in Franz Brentano, a.a.O., S.
27 ff., wo dieser (ebd., S. 30 ff.) neben vielen ausgezeichneten Kritiken am
„Dualismus“, der insbesondere in Brentanos kriteriologischem Argument liegt,
das Dinge und Erkenntnis hoffnungslos von einander trennt, zu wenig die
Transzendenz des Erkennens hervorhebt und statt dessen eine Art „im Geist
Seins“ (être objectif) trotz esse formale behauptet, also eine Art Identitätsthese
verteidigt.
In eine derartige Richtung geht auch die Kritik, die Roman Ingarden77
schon an jener Theorie der negativen Sachverhalte geübt hat, welche Adolf
Reinach in seinem Aufsatz „Zur Theorie des negativen Urteils“ entwickelt
hatte. Reinach meint, daß es positive und negative Sachverhalte gibt, die
beide gleichermaßen bestehen und die entsprechenden Urteile wahr
machen.78
Ingarden entwickelt den Standpunkt, daß die „negativen Sachverhalte“
nicht wie die positiven einfach bestehen, sondern daß sie gleichsam erst,
wenn sie als solche denkend „entworfen“ werden, aus allen möglichen
Sachverhalten „herausgehoben“ und damit gleichsam vom Denken, das sie
überhaupt erst als solche faßt, mitkonstituiert werden, allerdings so daß sie
als solche ein fundamentum in re besitzen. Die Tatsache, daß in einem
Raum 3 Stühle und nicht mehr sind, macht es möglich, von diesem
objektiv vorgegebenen Sachverhalt ausgehend, unendlich viele negative
denkend zu entwerfen und wahrheitsgemäß auszuschließen: Es sind nicht
vier, nicht fünf etc. Stühle in diesem Raum.
Barry Smith, Peter Simon, and Kevin Mulligan haben eine ähnliche,
aber noch weitergehende Theorie der Sachverhalte im Verhältnis zur
Wahrheit entworfen, nach der die Sachverhalte zwar objektiv in den
Dingen gründen, aber nicht von sich aus schon als solche bestehen,
sondern gleichsam erst durch die Heraushebung aus den unendlich vielen
möglichen Sachverhaltspotentialitäten zu eigentlichen Sachverhalten
werden.79
Nun liegt in alledem zweifellos viel Wahres und jedenfalls besteht hier
ein sehr schwieriges Problem, ob alle Sachverhalte gleich objektiv
schlechthin „im Sein vorgebildet“ sind oder ob es Sachverhalte gibt (wie
die unendlich vielen negativen Sachverhalte, die in Bezug auf jedes Ding
bestehen), die nicht schon einfach fix und fertig in der Wirklichkeit vor uns
liegen, sondern die erst, indem wir sie denken und als solche entwerfen,
gleichsam als Gegenstand von Urteilen auftauchen und nicht schon in der
77
Siehe R. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I, Existentialontologie
(Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965).
78
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.
79
Siehe Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
Wirklichkeit so fest vorgegeben sind wie jene, die im Dasein und Wesen
eines Dinges gleichsam fest verankert sind.
Auch wenn wir die Meinung teilen, daß es verschiedene Stufen der
Verwurzelung von Sachverhalten im Sein und Wesen der Dinge gibt und
daß negative Sachverhalte wie daß Professor Heidegger nicht auf der Zahl
3 oder 4 ad infinitum in der Luft herumreitet, nicht auf derselben Stufe der
Verbundenheit mit Heidegger stehen wie andere nicht-künstlich ausge-
dachte, ohne die zu erkennen wir weder Heidegger noch sonst einen
Gegenstand erkennen können, so werden wir dennoch die Vorgegebenheit
aller unendlich vielen Sachverhalte, auf die sich wahre Urteile beziehen
können, behaupten und uns von dieser Unzahl negativer Sachverhalte,
auch solcher, die Absurditäten ausschließen, ebensowenig schrecken lassen
wir von der unendlichen Anzahl der Zahlen der natürlichen und anderer
Zahlenreihen wie der Primzahlen oder der Punkte auf einer Linie. Die
Konsequenz der These, daß jedes wahre Urteil mit der Wirklichkeit
übereinstimmen muß, daß es nämlich in diesem Falle auch eine unendliche
Anzahl von res (nämlich Sachverhalten) geben muß, auf Grund deren
Brentano die Korrespondenztheorie verwirft, nehmen wir also bewußt an.
Damit will ich nicht behaupten, daß die von Ingarden herausgearbeiteten
Differenzierungen unnötig seien, auch wenn ich meine, daß diese nicht
dazu führen dürfen, jedes vom Urteil unabhängige Bestehen jener
Sachverhalte zu bestreiten, die ontologisches Korrelat der Urteilswahrheit
sind, auch wenn sie noch so an den Haaren herbeigezogen wirken wie der
Sachverhalt, daß der (nach einer langen komischen Diskussion Karl
Valentins in einem Beispiel von als „saudumm“ bezeichneten Annahme
gedachte) Sachverhalt, „daß jemand sich die Hand vor die Augen halten
und dadurch sehen kann, was der andere riecht“, nicht besteht oder gar
nicht bestehen kann.
3.3. Das eindeutig gegebene Bestehen von unabhängig vom Urteil bestehenden
Gegenständlichkeiten, die nicht Dinge sind, ist Bedingung jeder
Adäquationstheorie der Wahrheit und macht Brentanos Position unnötig
Es wird nicht nötig sein, hier eine so fundierte Analyse der von
Brentano Irrealia genannten Gegenständlichkeiten zu entwickeln, wie wir
80
Wenn wir auch mit dessen Ausdehnung dieses Begriffes auf die ganze Sphäre
idealer Wesenheiten und eide, und seiner ontologischen Deutung derselben, der
zufolge etwa fiktive und rein intentionale Gegenstände schlechthin nicht sind,
nicht übereinstimmen. Vgl. Antonio Millán-Puelles, Teoría del objeto puro, zit.;
The Theory of the Pure Object, English translation by Jorge García-Gómez
(Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). Vgl. auch Josef Seifert,
“Preface” to Antonio Millàn-Puelles, The Theory of the Pure Object, zit., pp. 1-12;
ders. “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón
sufficiente”, Ibáñez-Martín, J.A. (coord.), Realidad e irrealidad. Estudios en
homenaje al Profesor Antonio Millán-Puelles (Madrid: RIALP, 2001), S. 119-
152.
81
Z.B. haben sie Unbestimmtheitsstellen, auf Grund deren das Prinzip vom aus-
geschlossenen Dritten nicht vollkommen auf sie anwendbar ist und sie eine eigene
Logik verlangen. Vgl. dazu Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
die des Sachverhalts, hat auch Thomas von Aquin in De Ente et Essentia
hingewiesen, wenn er sagt, das Sein, das für die Wahrheit ausschlaggebend
sei (im Unterschied zum Sein, das in die zehn Kategorien zerfalle),
schließe auch das Nichtsein und alle Privationen ein, und „sachverhalts-
ähnliche“ Begriffe wie dispositio rei eingeführt hat.82 Gerade auch in
diesem Punkte der Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit zeigt sich die
Relevanz der Philosophie der Wahrheit des Aquinaten.
Im übrigen hat die Einführung des Sachverhalts als einzigen direkten
Objekts des Urteils nichts mit der Behauptung zu tun, Urteile handelten
nicht indirekt von Sachen, mit denen sie, oder zumindest die meisten von
ihnen, ja in gegenseitig unlösbarer Weise verknüpft sind.
82
Vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und
bei Thomas von Aquin, sowie Barry Smith, “Acta cum Fundamentis in Re”,
Dialectica, 38 (1984), 157-178; ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69.
83
Vgl. den überraschend klassischen und phänomenologischen Text Johann Gottlieb
Fichtes, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797):
I463 Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des
Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das
unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich
etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung
gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen
entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen
lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles
wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass
er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen.
Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen,
dass diese intellectuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewusstseyns vorkomme.
Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle
Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung
weiss ich, dass ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben
mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit
zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie
ist der Tod.
Auch Entsprechung mit der Wirklichkeit läßt sich nicht als ein solches
Kriterium einführen, da es schon wieder die Evidenz der Feststellung
dieser Entsprechung voraussetzen würde.
Doch woher soll ein ähnlicher absurder Regreß aus der Bestimmung des
Wesens der Wahrheit als adaequatio herkommen, wie er aus einem
evidenter Einsicht äußerlichen Kriterium der Wahrheit aus einer
Ähnlichkeit zwischen Urteil und res tatsächlich entspränge? Denn diese
Evidenz, die letztes Kriterium der Wahrheit ist, läßt uns gerade einsehen,
daß der Inhalt unseres Urteils mit dem selbst bestehenden Sachverhalt
zusammentrifft, daß sich die Dinge wirklich so verhalten, wie wir urteilen,
daß sie sich verhalten, und daß deshalb unser Urteil wahr ist. Nichts
rechtfertigt also eine derartige Parallele, wie Brentano sie zwischen dem
Zirkelschluß eines der Evidenz äußeren Kriteriums und der Annahme der
Adäquationstheorie der Wahrheit behauptet!
Zweitens übersieht Brentano, daß Evidenz als Kriterium Adäquation als
Wesen der Wahrheit voraussetzt. Daraus, daß die Entsprechung eines
Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen nicht Kriterium von Wahrheit
sein kann, folgt weder, daß Adäquation nicht das Wesen der Urteilswahr-
heit ausmacht noch daß es für das Zusammentreffen der urteilsmäßigen
Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen kein Kriterium
geben könne. Noch weniger folgt aus der Tatsache, daß Evidenz höchstes
Kriterium der Wahrheit ist, daß Evidenz bzw. der Bezug auf sie das Wesen
der Wahrheit ausmache.
Darauf müssen wir im Rahmen des Aufweises des inneren Wider-
spruchs der Evidenztheorie des Wesens der Wahrheit noch ausführlicher
zurückkommen.
stimmung des Urteils mit der Wirklichkeit oder mit bestehenden Sachver-
halten aufzuklären. Offensichtlich sind z.B. Urteil und Sachverhalt nicht
ähnlich und entsprechen sich nicht in dieser Form des einander
Ähnlichseins: Das Urteil besteht aus Begriffen, der Sachverhalt nicht, das
Urteil vollzieht eine Setzung, wird vom Intellekt gefällt und geformt, der
Sachverhalt nicht, usf.
Ebenso deutlich unterscheidet sich das Verhältnis zwischen Urteil und
Sachverhalt von einem Abbildverhältnis, wie es auch zwischen unähnli-
chen Dingen (etwa einem menschlichen Gesicht und einem Bild)
vorkommt. Das Urteil ist kein Bild eines Sachverhalts, wie Wittgenstein
annimmt.
Hunderte andere Arten von Entsprechungen – wie etwa die von Tönen
verschiedener Oktaven, Farben, Proportionen, intentionalem Akt und
Gegenstand, Wirklichkeit und Möglichkeit, realem Seiendem und korres-
pondierendem rein intentionalem Objekt usf. – kommen gleich wenig als
Vergleichspunkte für jenes unzurückführbare Phänomen der Entsprechung
zwischen wahrem Urteil und bestehendem Sachverhalt in Frage.
Also bedarf es eines Eindringens in die unvergleichbare und eigenartige
Entsprechung, die in nichts anderem besteht als in dem Zusammentreffen
der behauptenden Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der
Sachen.84 Diese Form präziser Entsprechung ist nicht weniger einleuchtend
gegeben als irgendeine der anderen genannten Formen der Entsprechung
und es bleibt rätselhaft, wie Brentano darin, daß sie nicht in Form einer der
anderen Entsprechungen ausgedrückt werden kann, einen Grund dafür
erblicken wollte, daß sie überhaupt unbegreiflich oder unerklärbar sei.
Will man ein solches Argument anerkennen, könnte man auch sagen, daß
man die Entsprechung zweier ähnlicher oder genau gleichartiger Dinge
nicht erkennen könne, weil deren Gleichheit und Ähnlichkeit nicht jener
präzisen Entsprechung zwischen wahrem Urteil und geurteiltem Sachver-
halt gleich sei.
84
Vgl. dazu Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander,
(Mariano Crespo, Hg.), Logik. Vgl. auch Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap.
3.
3.6. Ist die Annahme unendlich vieler Sachverhalte für den Philosophen
alarmierend? Über die Notwendigkeit einer realistischen Grundlegung der
Urteilswahrheit in der ‚Wirklichkeit‘ im weitesten Wortsinn
85
WE, S. 96 (An Marty, zit.).
86
Dieser Gedanke wurde in einem philosophischen Briefwechsel mit Barry Smith
und Kevin Mulligan eingehend von mir erörtert. Vgl. auch Josef Seifert, Sein und
Wesen, Kap. 2 und 3, sowie P. Simon/B. Smith/K. Mulligan, “Truth-Makers”.
Vgl. Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Auch in anderer
Hinsicht, etwa der These, Alexander Pfänder habe die Logik nicht als Wissen-
schaft von Begriffen, Urteilen, und Schlüssen, sondern – wie Reinach – von
Sachverhalten, aufgefaßt, kann ich weder historisch noch systematisch zustimmen.
Pfänder jedenfalls erkennt die gegenüber Sachverhalten eigenständige, wenn-
gleich in ihnen fundierte, Sphäre der Begriffe, Urteile und Schlüsse an, die erst
spezifisch logische Prädikate wie Mehrdeutigkeit (quaternio terminorum), Wahr-
heit, Falschheit, oder Schlüssigkeit, besitzen. Das hindert nicht, daß es auch eine
Logik von Sachverhaltsbeziehungen gibt, die den logischen Beziehungen von
Wahrheit und Falschheit sowie den logischen Gesetzen zugrundeliegen. Die These
einer solchen Begründung der logischen in ontologischen Gesetzen vertritt
Alexander Pfänder überzeugend. Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo,
Hrsg.), Logik.
Auf alle Fälle ließe sich jedoch auch – in Einklang mit dem früheren
Brentano – eine Form der realistischen Adäquationstheorie der Wahrheit
entwickeln, die eine Übereinstimmung des Urteils in seiner Setzung mit so
etwas wie Sachverhalten annimmt, auch wenn diese Theorie nicht
behauptet, daß alle Sachverhalte schlechthin und einfach in der Wirklich-
keit bestehen, sondern gleichsam erst in ihrer Heraushebung aus den
unendlichen Sachverhaltspotentialitäten „entstehen“ – aber nicht so, als
würden sie ohne Wirklichkeitsfundament von uns geschaffen, sondern in
einer mit der Tatsache vereinbaren Weise, daß sie eine objektive
Grundlage in der Wirklichkeit besitzen.
Auch wenn man die schwierige formalontologische Frage offenläßt, ob
die ungezählten künstlich angenommenen negativen Sachverhalte, als
solche, schon vor jedem Denkakt abgegrenzt bestehen, oder ob sie viel-
mehr erst aus den unendlich vielen möglichen und als solche willkürlich
abgrenzbaren Sachverhalten gleichsam jeweils herausgehoben werden,
kann man die Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigen. Denn solange
Dinge aller Art, ihre Eigenschaften und die direkt in ihnen wurzelnden
Sachverhalte bestehen, und bestimmen, welche im Denken hervorgeho-
benen Sachverhalte der Wirklichkeit entsprechen, läßt sich die Überein-
stimmung des Urteils mit dem Ding begründen, wie Ingarden dies vorhat,
auch wenn eine solche Position letztlich ein in abgestufter Weise dem
Urteil vorausgehendes Bestehen aller Sachverhalte zugeben muß.
Ich selber halte ein vom Geist durchaus unabhängiges Bestehen aller
Sachverhalte für gegeben, obwohl ich verschiedene Stufen der natürlichen
und objektiven Verwurzelung dieser Sachverhalte in der Wirklichkeit
sowie in den verschiedenen Seinsmodi anerkenne. Auch auf dem Boden
Ingardens und verwandter Positionen über negative Sachverhalte aber
können die Einwände, die Brentano bewogen haben, die Adäquationstheo-
rie der Wahrheit zu verwerfen, überwunden werden und können wir die
Einführung der Evidenztheorie der Wahrheit als unbegründet erkennen.
Wenn wir uns nun von einer Kritik der Brentano’schen Einwände gegen
die Adäquationstheorie der Wahrheit einer Kritik der Evidenztheorie der
Wie sollte jedoch Evidenz diese Feststellung der Wahrheit leisten, wenn
sie nicht den Sachverhalt erkennen könnte, auf den das Urteil abzielt,
sondern nur ein subjektiver Charakter, ein inneres psychisches Erlebnis
87
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten
Auflage, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg.v. E. Holenstein,
Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen
zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2:
Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer,
Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Bd. I, § 6, Zeile
7-9, S. 29.
wäre, anstatt ein Erlebnis der Wahrheit bzw. des sie erfassenden
transzendierenden Begreifens zu sein?
Vom „Besitzen der Wahrheit in der Erkenntnis“ ist anderswo bei
Husserl in seiner Kennzeichnung des Wesens der Evidenz die Rede:
Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir
uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen
Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus....88
In der Tat, nur weil evidente Erkenntnis über den eigenen Akt hinaus-
geht, aber in und durch ihn etwas erfaßt, was den Bezugspunkt unseres
Urteils und sein Richtmaß ausmacht, wie Thomas trefflich formuliert, ist
evidente Erkenntnis evident! Ohne daß Adäquation das Wesen der
Wahrheit ausmacht, gibt es auch keine Evidenz als Wahrheitskriterium,
können wir kurz und bündig formulieren.
4.2. Wenn der evidente Charakter des Urteils dessen Wahrheit ausmacht,
gelangen wir zu einem circulus vitiosus der Wahrheitsdefinition
Wenn wir von einem Menschen, der mit Evidenz urteilt, annehmen, daß
sein Urteil wahr ist, wie soll ein solcher Mensch Evidenz über die
Wahrheit seines Urteils gewinnen, wenn er nicht auch das Wesen dieser
Wahrheit, über deren Präsenz er in seinem Urteil Evidenz gewinnt,
voraussetzt? Wenn er nicht wüßte, worin die Wahrheit eines Urteils,
dessen Wahrheit er mit Evidenz erkennt, besteht, könnte er unmöglich die
Wahrheit seines Urteils mit Evidenz erkennen.
88
Vgl. Edmund Husserl, ebd., S. 28, Zeile 16-18.
89
Ebd., S. 28, Zeile 21-25.
theorie daher schon wieder ein von Evidenz verschiedenes Wahrsein des
Urteils als Bedingung ihrer selbst vorausgesetzt.
4.3. Die Evidenztheorie der Wahrheit als Tor zum radikalen Subjektivismus in
der Erkenntnistheorie
Wenn nämlich, und dies führt mich zum dritten Punkt der Widerlegung
Brentanos, die Evidenztheorie nicht schon wieder die Adäquation als das
Wesen der Wahrheit voraussetzt, und wenn sie behaupten will, „Evident
Wahrsein heißt nichts anderes als evident sein oder mit dem Urteil des mit
Evidenz Urteilenden zusammenzufallen“, dann dreht sich die Evidenz-
theorie nicht nur im Kreis, sondern dann gleitet sie – ganz den Intentionen
Brentanos entgegen – als Wesenstheorie der Wahrheit in einen reinen
Subjektivismus ab, indem nämlich die Evidenz dann nur mehr eine
subjektive Erfahrung sein kann, in welcher eine subjektive Sicherheit
irgendwelcher Art postuliert wird oder eine subjektive Denknotwendigkeit
besteht. Ohne Voraussetzung der Adäquationstheorie kann Evidenz nicht
die tatsächliche objektive Evidenz sein, daß mein Urteil wahr ist, d.h. daß
die Sachen sich so verhalten, wie ich dies im Urteil behaupte.
Denn das ist gerade Evidenz: mit unbezweifelbarer Gewißheit und
tatsächlich erkennen, wie sich die Sachen verhalten. Mit Evidenz urteilen
heißt daher „erkennen, daß auf Grund dieses evidenten Selbstverhaltens
der Sachen auch das mit den objektiv bestehenden Sachverhalten überein-
stimmende Urteil evident wahr ist.“
Also liegt einerseits in der Evidenztheorie der Wahrheit als ihre logische
Voraussetzung das Wesen der Wahrheit als Adäquatio. Andererseits steckt
in der Evidenztheorie der Wahrheit eine Gefahr des radikalen Subjektivis-
mus, sobald man das Wesen der Wahrheit als adaequatio aufgibt. Denn in
demselben Moment muß Evidenz mit eherner materiallogischer Konse-
quenz zu einem rein subjektiven Gefühl der Sicherheit oder zu irgendetwas
anderem, das an die Stelle der objektiven Evidenz über Wahrheit tritt,
degenerieren.
Denn, ausgehend von Husserl‘s Einsicht, der in den Logischen Untersu-
chungen den schönen Satz geprägt hat, „Evidenz ist das unmittelbare
Innewerden der Wahrheit des Urteils“, fügen wir hinzu: „Evidenz ist
sowohl Erfahrung der Wahrheit als auch die Erfahrung des Sachverhalts“,
dem das wahre Urteil entspricht und den es behauptet. Wie soll ich etwa
die evidente Wahrheit des Widerspruchssatzes erkennen, wenn ich das
Seins- und Wesensgesetz, das dieser Satz behauptet, nicht erkenne?
Wenn daher die Wahrheit als Adäquation, die der Gegenstand dieser
Evidenzerfahrung ist, fallengelassen und nur noch diese Evidenzerfahrung
allein als Bezugspunkt für die Definition der Wahrheit festgehalten wird,
dann behält die Evidenz nicht mehr ihren Bezug zur Wahrheit und sinkt
daher zu einem subjektiven Kriterium ab. Evident sein, daß ein Urteil wahr
ist, heißt dann nur noch, daß jemand ein Urteil als evident erlebt. Evidenz
wird also eine Art reines Erlebniskriterium, was an Brentanos, ihrerseits
an Windelband gemahnende, kantianisierende Äußerung gemahnt, Evidenz
und Wahrheit sei nur der Charakter eines Urteils als „Gemäßheit den
Regeln der Vernunft“ oder als „ein Urteil mit dem subjektiven Charakter
der Evidenz“ und nicht die Frucht eines den eigenen Akt transzendierenden
Erfassens des Sachverhalts und der Wahrheit selbst.
Es ist damit ähnlich bewandt wie mit Brentanos Definition des Guten in
seinem Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, wo er einerseits einen Objekti-
vismus der Ethik und eine scharfe Kritik des ethischen Relativismus
einführen will und von dem Guten als von der „als richtig charakterisierten
Liebe“ redet, aber andererseits die sinngemäße Fundierung einer solchen
„richtigen“ Liebe in einem Wert (Guten) auf der Objektseite, dem eine
solche Liebe angemessen wäre, bestreitet, wie Juan-Miguel Palacios
besonders scharf herausgearbeitet hat.90 Obwohl eine als richtig gekenn-
90
Vgl. Franz Brentano, El origen del conocimiento moral, traducción de Manuel
García Morente (Madrid, Tecnos, 2002), and Juan-Miguel Palacios, “Estudio
preliminar de: Franz Brentano, El origen del conocimiento moral,” Traducción de
Manuel García Morente. Madrid, Tecnos, 2002, págs. XI-XXX. Vgl. auch die
Originalschrift, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, zit., sowie die englische
Version: Franz Brentano. The Origin of the Knowledge of Right and Wrong,
English translation by Cecil Hague, formerly Lector at Prague University, with a
zeichnete Liebe, der kein objektives Gut, dem sie angemessen ist,
entspräche, undenkbar ist, führt Brentano diese Idee ein, ohne zu
bemerken, daß hier ein Ding der Unmöglichkeit vorliegt. Ähnlich ist ein
als richtig oder evident gekennzeichnetes Urteil, das nicht einem objektiv
bestehenden Sachverhalt entspräche, ein Ding der Unmöglichkeit.
(Eigentlich kennzeichnet Evidenz weder das wahre Urteil selbst noch den
Irrtumsakt, sondern den Erkenntnisakt bzw. den Akt des Erkennens eines
Sachverhalts.)
Wenn wir die Evidenztheorie der Wahrheit von einem anderen, nicht
streng Brentano‘schen Gesichtspunkte aus betrachten, so ist selbst bei
Brentano oft nicht klar, ob seine Evidenztheorie schlechthin einen Verzicht
auf die Adäquationstheorie der Wahrheit als solche beinhaltet. Dies legt
zwar Brentano selber sehr stark nahe, aber wir könnten seine Theorie, die
nie ganz klar formuliert wird, auch einfach als seinen Versuch deuten, die
Wahrheit nicht durch ihr eigenes Wesen, weil ihm dies zu schwierig oder
gar unmöglich zu sein scheint, sondern die Wahrheit durch ihren Bezug auf
etwas anderes zu bestimmen, nämlich auf Evidenz. In diesem Fall wäre die
Evidenztheorie der Wahrheit überhaupt keine Beschreibung des Wesens
der Wahrheit, sondern im Popper‘schen Sinn ein Verzicht auf eine „Was
ist?“ Frage bzw. auf deren Beantwortung. Die Evidenztheorie würde dann
nur die anderen Aspekte einer Wahrheitstheorie außer ihrer Wesensbestim-
mung betreffen.
Doch liegt es sehr nahe, daß Brentano selbst sie als einen Ersatz der
Adäquationstheorie der Wahrheit verstanden hat, gegen die sich die
erwähnte zwingende Widerlegung vorbringen läßt.
Biographical Note (Westminster: Archibald Constable & Co., Ltd., 1902), pp. xiv,
125, und G. E. Moore, Review of Franz Brentano’s The Origin of Our Knowledge
of Right and Wrong, International Journal of Ethics, October 1903.
Wenn wir hingegen einen (neben dem einer Theorie über das Wesen der
Wahrheit) zweiten, zuvor erwähnten, Aspekt einer Wahrheitstheorie
betrachten, nämlich die Frage nach den Wahrheitsbedingungen (oder auch
Folgen der Wahrheit, die logisch gesehen auch Wahrheitsbedingungen
sind), dann könnte man durchaus anerkennen, daß was Brentano sagt,
zumindest in gewisser Hinsicht und in bestimmtem Sinne eine Bedingung
der Wahrheit ist: Es kann nämlich kein Urteil wahr sein, welches nicht das
Merkmal Brentanos erfüllte, daß jemand, der volle Evidenz der Erkenntnis
besäße, dieses und jedes andere wahre Urteil auch als wahr anerkennen
würde. Man könnte in der Tat sagen, wenn man das Ideal eines
allwissenden Wesens, das jede Wirklichkeit, ja alles, was in irgendeinem
Sinne ist oder nicht ist, mit völliger Evidenz erkennt, als das von Brentano
gemeinte Subjekt nimmt, das vollkommen evidente Erkenntnis besitzt:
Übereinstimmung mit dem Urteil eines solchen Subjekts ist Bedingung,
und notwendige Folge, der Wahrheit. Es gibt kein einziges wahres Urteil,
von dem nicht gälte, daß ein erkennendes Wesen, das mit vollständiger
Evidenz alles, was in irgendeinem Sinn ist und was nicht ist und das auch
alle negativen Sachverhalte erkennt, jedes wahre Urteil überhaupt als wahr
anerkennen würde. Und es gibt kein falsches Urteil, von dem nicht gälte,
daß ein mit vollständiger Evidenz Erkennender das falsche Urteil
verwerfen würde. Mit anderen Worten: „Wahr urteilen impliziert: mit
einem allwissenden Wesen (Gott) übereinstimmen“.
In diesem Sinne könnte man Brentano sehr wohl darin rechtgeben, daß
die Evidenztheorie der Wahrheit eine notwendige Bedingung von
Wahrheit, oder sagen wir präziser, einen Umstand formuliert, der
notwendig mit der Wahrheit, und einen anderen, der notwendig mit der
Falschheit eines Urteils verknüpft ist und sich einerseits aus dem Wesen
der Wahrheit und Falschheit, andererseits aus dem der evidenten
Erkenntnis ergibt.
91
Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, in : Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles
Adam & Paul Tannery, VI, 1-78, Méditations Métaphysiques. Objections et
réponses suivies de quatre lettres, ed. J.-M. Beyssade et M. Beyssade (Paris:
Garnier-Flammarion, 1979), II; IV; V. Vgl. auch ders., Regulae ad Directionem
Ingenii.
selber evidentes) letztes Kriterium für die Verläßlichkeit der Evidenz der
Wahrheit ablehnt. Wie Aristoteles und andere Autoren sagen, die letzte
Begründung aller anderen Kriterien und Beweise für Wahrheit muß auf
unmittelbare Evidenz zurückgehen. Also ist Evidenz bzw. evident wahre
Erkenntnis die ursprünglichste und letzte Instanz, von der her allein ein
Kriterium dafür, daß etwas wahr ist, gefunden werden kann.
Das schließt nicht aus, daß es im Sinne einer Prüfung echter Evidenz
unserer Erkenntnis Kriterien für wirkliche Evidenz geben kann, die sich
radikal von einer in der Philosophie überaus verbreiteten Scheinselbst-
verständlichkeit und Pseudoevidenz unterscheidet.94 Jede Kritik der
falschen Evidenz jedoch muß, wie Brentano hervorhebt, immer selber auf
in ihrer Verläßlichkeit aufzuklärende evidente Erkenntnisse zurückgehen.
Denn auch wenn man die Evidenz der Erkenntnis als einzig letztes
Kriterium der Wahrheit voll und ganz zugibt, muß und darf man allerdings
dennoch durchaus zugestehen, daß ein bloßes Beharren auf Evidenz und
Einsicht im Dialog nicht genügt noch der Schritt ist, den man vorzeitig
setzen darf, sondern daß es viele Formen der Argumentation und der
Unterscheidungen gibt, durch die anstatt einem trockenen Versichern, das
nach Hegel so gut wie ein anderes ist,95 Antworten auf sich ergebende
Fragen und Schwierigkeiten möglich sind und Voraussetzungen der
eigenen und der gegnerischen Position aufgedeckt werden können. Viele
Arten dialektischer Argumente inklusive von Argumenten ad hominem in
dem Sinne von Nachweisen von Eingeständnissen des Gegners, daß er das
von ihm geleugnete Wahre wieder voraussetzt, müssen entwickelt werden,
durch die die eigenen Evidenzen vom Dialogpartner selbst bekräftigt und
erhärtet und die Erhellung bzw. eine gewisse Bestätigung der Wahrheit
94
Vgl. Alice von Hildebrand-Jourdain, “On the Pseudo-Obvious,” in: Balduin
Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand
zum 80. Geburtstag, S. 25-32.
95
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 87. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15755 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S.
71)]:
Durch jene Versicherung erklärte sie ihr Sein für ihre Kraft; aber das unwahre Wissen
beruft sich ebenso darauf, daß es ist, und versichert, daß ihm die Wissenschaft nichts ist;
ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.
mung oder die geistige Einsicht oder die innere Erfahrung des Bewußtseins
Erkenntnisarten, die alle eine je eigene Evidenz besitzen, die sich auf je
eigene Gegenstandsbereiche bezieht. Diese verschiedenen Erkenntnis-
formen sind mit jeweils anderen besonderen Formen der Evidenz
verknüpft. In dieser Hinsicht ist die Evidenztheorie der Wahrheit nicht eine
Theorie über eine bestimmte Erkenntnisform, mit der wir Wahrheit
erkennen, sondern sie beschreibt ein Merkmal verschiedener Arten von
Erkenntnis, die dieses Merkmal der Evidenz in jeweils eigentümlicher
Weise an sich haben.
8. Während Evidenz ein Kriterium der Wahrheit und ihrer Erkenntnis ist,
ist „Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz Erkennenden“
keinerlei philosophisches Kriterium für Wahrheit und Erkenntnis
Wir müssen unsere volle Zustimmung mit Brentanos Lehre von der
Evidenz als Wahrheitskriterium allerdings durch die scharfe Kritik
ergänzen, als könne Übereinstimmung unseres Urteils mit jenem eines mit
Evidenz Erkennenden ein philosophisches Wahrheitskriterium sein, sosehr
eine solche Übereinstimmung in anderen juridischen, persönlichen oder
religiösen Bereichen ein Wahrheitskriterium sein kann. Für die Philosophie
aber kann niemals die bloße äußere Übereinstimmung mit einem, von dem
wir glauben oder „wissen“, daß er mit Evidenz erkennt, Kriterium der
Wahrheit sein. Nur die Evidenz der eigenen Erkenntnis kann die Wahrheit
philosophischer Erkenntnis als Kriterium verbürgen, die Übereinstimmung
unseres Urteils mit dem eines anderen, mit Evidenz urteilenden Subjekts,
hingegen bedarf eines Kriteriums.
Wir müssen hier auch auf die tiefe Doppeldeutigkeit der Evidenztheorie
der Wahrheit hinweisen, die sich daraus ergibt, daß man einerseits das
96
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 2.
wahre Urteil mit dem mit Evidenz gefällten Urteil gleichsetzt, andererseits
aber nur die objektive Übereinstimmung mit dem Urteil einer anderen
Person, die mit Evidenz urteilt, als Wesen der Wahrheit ansetzt. Das
letztere ist zwar eine unrichtige Beschreibung des Wesens der Wahrheit,
aber dennoch eine der (als Wesenstheorie der Wahrheit) noch irrigeren
ersten These überlegene Bemerkung, da ja offenbar viele Urteile wahr
sind, die nicht mit Evidenz erkannt und gefällt werden. Daher ist nur eine
Übereinstimmung mit dem Urteil des mit Evidenz Erkennenden, nicht aber
die tatsächliche Evidenz der Erkenntnis eine notwendige Bedingung bzw.
Folge der Wahrheit, während umgekehrt nur die tatsächliche Evidenz ein
letztes Wahrheitskriterium und ein wirkliches Kriterium philosophischer
Erkenntnis und Wahrheit ist, keineswegs die Übereinstimmung mit dem
Urteil eines mit Evidenz Urteilenden.
99
Vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, § 77, V 405:
Es kommt hier also auf das Verhalten unseres Verstandes zur Urtheilskraft an, daß wir
nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese
Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen
anzumerken.
Wenn also unser Verstand und seine synthetisch apriorischen Strukturen im
Verhältnis zu einem anderen Verstand ‚zufällig‘ sind, so ist damit mindestens
gemeint, daß das Gegenteil (also andere Denkformen usf.) möglich sind. Das geht
aus Kants eigenen Erklärungen des Begriffs hervor:
Kant erklärt, was er unter ‚Zufälligkeit‘ versteht, am besten hinsichtlich der
Existenz in seiner vorkritischen Schrift „Vom einzig möglichen Beweisgrund...“
(1763), II/83:
Bis dahin erhellt, daß ein Dasein eines oder mehrerer Dinge selbst aller Möglichkeit zum
Grunde liege, und daß dieses Dasein an sich selbst nothwendig sei. Man kann hieraus auch
leichtlich den Begriff der Zufälligkeit abnehmen. Zufällig ist nach der Worterklärung, dessen
Gegentheil möglich ist. Um aber die Sacherklärung davon zu finden, so muß man auf
folgende Art unterscheiden. Im logischen Verstande ist dasjenige als ein Prädicat an einem
Subjecte zufällig, dessen Gegentheil demselben nicht widerspricht. Z.E. Einem Triangel
überhaupt ist es zufällig, daß er rechtwinklicht sei. Diese Zufälligkeit findet lediglich bei der
Beziehung der Prädicate zu ihren Subjecten statt und leidet, weil das Dasein kein Prädicat
ist, auch gar keine Anwendung auf die Existenz. Dagegen ist im Realverstande zufällig
dasjenige, dessen Nichtsein zu denken ist, das ist, dessen Aufhebung nicht alles Denkliche
aufhebt. Wenn demnach die innere Möglichkeit der Dinge ein gewisses Dasein nicht
voraussetzt, so ist dieses zufällig, weil sein Gegentheil die Möglichkeit nicht aufhebt. Oder:
Dasjenige Dasein, wodurch nicht das Materiale zu allem Denklichen gegeben ist, ohne
welches also noch etwas zu denken, das ist, möglich ist, dessen Gegentheil ist im
Realverstande möglich, und das ist in eben demselben Verstande auch zufällig.
Freilich ist Kants Implikation der ‚transzendentalen Zufälligkeit‘ der subjektiven
apriorischen Formen des Anschauens und Denkens letztlich widersprüchlich, da
Kant hier eine absolute Eigenschaft der subjektiven Denkformen zu erkennen
beansprucht, etwas, was er an anderer Stelle leugnet, etwa in der Kritik der reinen
Vernunft :
Wenn ich zu existirenden Dingen überhaupt etwas Nothwendiges denken muß, kein Ding
aber an sich selbst als nothwendig zu denken befugt bin, so folgt daraus unvermeidlich, daß
Nothwendigkeit und Zufälligkeit nicht die Dinge selbst angehen und treffen müsse, weil
sonst ein Widerspruch vorgehen würde; mithin keiner dieser beiden Grundsätze objectiv sei,
sondern sie allenfalls nur subjective Principien der Vernunft sein können, nämlich einerseits
zu allem, was als existirend gegeben ist, etwas zu suchen, das nothwendig ist, d.i. niemals
anderswo als bei einer a priori vollendeten Erklärung aufzuhören, andererseits aber auch
Dabei beginnt Kant auch nicht schlechthin von vorne, so als ob er das
erste Mal in der Geschichte der Philosophie diese Methode verwendet
hätte. Vielmehr finden wir schon in der Antike, etwa in Platons Diskussion
mit dem Relativisten Protagoras im Dialog Theaetetus oder im vierten
Buch G der Metaphysik des Aristoteles, oder auch bei Augustinus und
Bonaventura, sowie bei vielen anderen Autoren den Versuch, etwa die
Existenz von Wahrheit, die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, usf.
dadurch aufzuweisen, daß gezeigt wird, daß jeder Versuch der Leugnung
dieser Prinzipien notwendig zu einem Widerspruch führt, daß diese
Gegebenheiten und Prinzipien also notwendig und schlechthin in jeder
Erfahrung und in jedem Denken oder Urteilen oder in jeder Unterschei-
dung oder Handlung vorausgesetzt werden.
Gewiß, wenn einmal die Begründung aller philosophischen Erkenntnis
in unmittelbaren, evidenten Einsichten und insbesondere in Einsichten in
notwendige Wesenheiten und Wesensgesetze als Grundmethode der Philo-
sophie erwiesen ist, so kann man unmöglich die bloße notwendige Voraus-
gesetztheit von Gegebenheiten für alle Erfahrung und für alles Denken für
einen hinreichenden Beweis ihrer Wahrheit ansehen. Vielmehr, und darin
geben wir indirekt Kant recht, könnte die notwendige Vorausgesetztheit
dieser Gegebenheiten bloß beweisen, daß das Subjekt nicht anders erfahren
oder denken kann als unter den bestimmten Voraussetzungen.
Sollte es daher nicht gelingen, mehr zu zeigen, und zwar, daß der Grund
für die notwendige Vorausgesetztheit dieser Gegebenheiten ein doppelter
ist, nämlich einmal ihre innere Evidenz und Notwendigkeit, dann aber auch
ihre besondere strukturelle Bedeutung für alles Denken und Erfahren, die
nachzuweisen eben das Besondere einer „transzendentalen Untersuchung“
darstellt, dann würde die „transzendentale Methode“ keinerlei Wahrheits-
beweise liefern. Wir könnten also so formulieren: Ohne mit Brentano die
Evidenz der Erkenntnis als höchstes Wahrheitskriterium anzuerkennen,
wäre eine transzendentale Ableitung absolut wertlos als Wahrheitskrite-
rium.
Wie verschieden Evidenz über etwas von dem Nachweis seiner
transzendentalen Vorausgesetztheit für alles Sein oder Erkennen und
diese Vollendung niemals zu hoffen, d.i. nichts Empirisches als unbedingt anzunehmen, und
sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben.
Erfahren ist, ergibt sich auch aus folgender Einsicht: Nicht alle
Sachverhalte, die in sich notwendig und absolut evident sind, werden
notwendig von allem Erfahren, Urteilen oder Denken vorausgesetzt. Zum
Beispiel ist das Wesensgesetz, das Stumpf, Husserl, Reinach und andere
wiederholt als Beispiel eines wesensnotwendigen Sachverhalts benützt
haben, daß nämlich die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach
zwischen rot und gelb liegt, zwar absolut notwendig und mit Evidenz
einsehbar, wird aber keineswegs überall und von jedem Urteil voraus-
gesetzt, nicht einmal von Urteilen über andere Sachverhalte aus der
Farbenlehre.
So ist also die Wesensnotwendigkeit als solche, das notwendige So-
sein-Müssen und Nicht-anders-sein-Können, sowie dessen Evidenz, scharf
von dem notwendigen Vorausgesetztsein durch jedes denkende Subjekt zu
unterscheiden. Auch umgekehrt ist der Nachweis, daß etwas immer und
überall vorausgesetzt wird, höchstens ein Nachweis dafür, daß etwas eine
notwendige subjektive Bedingung allen Denkens ist und nicht schon ein
Beweis für die objektive Notwendigkeit einer Sache. Auf den Unterschied
zwischen einer Denknötigung und Evidenz weist ja Brentano in obigem
Zitat überzeugend hin.
Dennoch mögen zwischen beiden Dingen, nämlich der Wesensnot-
wendigkeit einerseits und der notwendigen Vorausgesetztheit andererseits,
Beziehungen bestehen. Ja, es mag sich in der Tat umgekehrt als Kant
meint, der eine Einsicht in die subjektive Notwendigkeit einer Sache als
Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung für leichter als die Einsicht hält,
daß ein Sachverhalt in sich notwendig ist, verhalten. Es wird nämlich
gewöhnlich gerade umgekehrt das notwendige und absolute Vorausgesetzt-
sein von etwas für alles Erfahren und Denken erst dann evident, wenn die
innere und absolute Notwendigkeit von Wesensgesetzen in einem mit
Evidenz vollzogenen Erkenntnisakt verstanden wird.
Eine Einsicht in universale subjektive Denknotwendigkeiten als solche
ist nämlich unmöglich, worauf Brentano hinweist, wenn er in der zitierten
Stelle sagt: „kein Bewußtsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte
als solches die Wahrheit sichern.“ Die Verabsolutierung der transzendenta-
len Methode durch Kant ist überhaupt keine gültige Methode philoso-
phischer Erkenntnis geschweige denn die einzige. Ein letztlich gültiger
Nachweis der notwendigen und in sich begründeten, einsichtigen Voraus-
gesetztheit einer Sache für alles Erfahren und Denken schließt deshalb
immer auch die Einsicht ein, daß die betreffenden Wirklichkeitsbereiche
entweder in sich selber notwendige Wesen und Wesenssachverhalte oder
unumgänglich vorausgesetzte reale Tatsachen, wie die eigene Existenz,
sind. Beide Arten von Gegenstand werden mit Evidenz erkannt und sind
gerade nur deshalb zusätzlich auch notwendige Bedingungen aller
Erfahrung.
Wie eine lange Tradition in der Geschichte der Philosophie, die von
Parmenides über Platon und Aristoteles, über Avicenna und Thomas von
Aquin bis Leibniz und Max Scheler reicht,100 betont hat, ist der erste
Gegenstand der Erkenntnis, und zwar ein Gegenstand, der prinzipiell und
immer vorausgesetzt wird, das Sein. Und ich möchte gerade an diesem
Beispiel Brentanos Bestehen auf Evidenz als höchstem Wahrheitskriterium
erweitern und begründen und gegen die transzendentalphilosophische
Behauptung verteidigen, es gäbe in Form der transzendentalen Deduktion
ein höheres Wahrheitskriterium als Evidenz. In der erwähnten evidenten
Erkenntnis sind es genau genommen verschiedene Dinge, die sich dem
Intellekt sowohl mit Evidenz enthüllen als sie auch notwendig von ihm in
jedem Gedanken und jeder Erfahrung vorausgesetzt werden. Da ist einmal
jene Evidenz, von der Leibniz und Scheler dachten, sie sei die erste und
ursprünglichste überhaupt, nämlich „daß es überhaupt etwas gibt und nicht
vielmehr nichts“. Jede Frage, jeder Zweifel, jede Wahrnehmung, jede
Erfahrung und jeder Gedanke überhaupt setzen diese Evidenz voraus, daß
es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.101
100
Vgl. dazu insbesondere Max Scheler, „Lehre von den Drei Tatsachen“, in: Max
Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, 2. Aufl,. hrsg. Maria Scheler (Bern:
Francke, 1957), S. 431-502. Vgl. auch Max Scheler, „Idealismus –Realismus“ in:
Max Scheler, Gesammelte Werke Bd. 9, Späte Schriften, S. 187-188.
101
Siehe Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung
des philosophischen Erkennens“, S. 93-94:
Denn auch im Zweifel sind wir davon überzeugt, daß wir zweifeln und
damit, daß es überhaupt etwas gibt, ganz abgesehen von den vielfältigen
Gegenständen, die wir im Zweifel darüber hinaus noch voraussetzen, wie
Augustinus gezeigt hat.102
Mit dieser von Scheler dargelegten Evidenz, daß es überhaupt etwas
gibt und nicht vielmehr nichts, und der zweiten, daß wir dies wissen und
überall voraussetzen, geraten wir gewiß in Widerspruch mit den radikalen
skeptischen Thesen des Gorgias, der angeblich seine verlorengegangene
Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich diejenige, die schon zur Konstituierung des
Wortes „Zweifel an etwas“ (an dem Sein von etwas, an der Wahrheit eines Satzes usw.) vor-
ausgesetzt ist, ist aber die evidente Einsicht, daß überhaupt Etwas sei oder, noch schärfer
gesagt, daß „nicht Nichts sei“ (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich das Nicht-Etwas
noch das Nicht-Da-sein von Etwas, sondern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen
Seinsnegation im negierten Sein das So-Sein oder Wesen und das Da-Sein noch nicht schei-
det). Der Tatbestand, daß nicht Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und
unmittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen
Verwunderung – wobei diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tatbestandes
freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn ihr unter den die philosophische Haltung
prädisponierenden Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter ... des Tatbestandes
des Seins auslöschende Demutshaltung vorangegangen ist. Also: Gleichgültig, auf welche
Sache ich mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren Seinskategorien schon ge-
nauer bestimmte Sache ... - als da z.B. sind Sosein - Dasein; Bewußtsein - Natursein; reales
Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein – Aktsein, desgleichen
Gegenstandsein – Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes „existentiales“ Sein;
substantielles, attributives, akzidentelles oder Beziehungsein; Möglichsein ... oder
Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-,
Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; aus-
schließlich mentales „fiktives“ Sein (z.B. der nur vorgestellte „goldene Berg“ oder das nur
vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein – ich hinblicke: an jedem
einzelnen beliebig herausgegriffenen Beispiel innerhalb einer oder mehrerer sich je
kreuzender sog. Arten des Seins, wie an jeder dieser herausgegriffenen Arten selbst wieder
wird mir diese Einsicht mit unumstößlicher Evidenz klar – so klar, daß sie an Klarheit alles
überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich gebracht werden kann. Freilich: Wer
gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die
eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts,
vollständig übersehen. Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht minder evidenten, aber der
Evidenz dieser Einsicht doch nachgeordneten Einsichten beginnen ...
Der zitierte Text beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Darum muß auch
jede Erörterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem der ‚Ordnung
der fundamentalsten Evidenzen‘ beginnen.“
102
Augustinus, De Trinitate, X, X, 14. Vgl. auch Augustinus, Contra Academicos, II,
xiii, 29, ebd., III, 23; De Vera Religione, XXXIX, 73, 205-7; De Trinitate, X, X,
14; ebd., XIV, vi, 8; ebd., XV, xii, 21; De Civitate Dei XI, xxvi.
Schrift mit dem Satz einleitete: „Es gibt überhaupt nichts.“ Doch setzt eben
auch Gorgias mit diesem Satz selbst, mit dem Schreiben dieses Satzes, mit
der Überzeugung, die diesem Satz notwendig zugrunde liegen muß, wenn
er sinnvoll sein soll, mit der Sprache und Bedeutung, in der dieses Urteil
ausgesprochen wird, etwas voraus. Es ist völlig unsinnig, diesen Satz
niederzuschreiben, ohne eben diese Urevidenz vorauszusetzen, daß es
überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Es läßt sich leicht dartun,
daß diese Evidenz notwendig vorausgesetzt ist, zumindest von jedem, der
irgend etwas denkt, fragt, bezweifelt, redet. Der absolut Stumme oder
vielmehr nur der absolut Nichtdenkende mag diesen Satz nicht
voraussetzen, wird aber durch diese Absage an alles Denken und Erfahren
zum Zustand eines reinen vegetierenden Daseins reduziert.
Doch ist es noch viel wichtiger, daß die Tatsache, daß überhaupt etwas
ist und nicht vielmehr nichts, auch absolut evident ist, daß es in dieser
Tatsache um etwas geht, was sich als wirklich bestehend erschließt? Und
so ist es in der Tat: Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke
bestätigen uns zunächst diese urevidente Tatsache, daß es überhaupt etwas
gibt und nicht vielmehr nichts.
Mit dieser Evidenz, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr
nichts, ist auch die Evidenz verknüpft, daß sich das, was es gibt, in einer
Weise verhält, die nicht schlechthin von unserem Urteil abhängig bzw.
willkürlich setzbar ist. Diese Evidenz könnte auch als die Evidenz einer
gewissen Seinsautonomie bezeichnet werden, die dem ersten Sinn vom
„Ding an sich“ entspricht, den wir andernorts unterschieden haben.103
Darauf hat Platon in seiner Diskussion mit dem Relativisten Protagoras
hingewiesen, im Kontext der Diskussion der These des Protagoras: der
Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind und der
Nichtseienden, daß sie nicht sind.104 Auch andere Philosophen, unter ihnen
vor allem Augustinus, haben in der Diskussion mit der Skepsis und dem
Relativismus auf die Evidenz einer solchen Seinsautonomie hingewiesen.
Diese notwendig vorausgesetzte Autonomie des Seins ist nicht nur
evident, insofern sie einschließt, daß, wie sich die Dinge verhalten, nicht
103
Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenolological Founda-
tion for Classical Realism, Kap. 5-6.
104
Siehe Platon, Theaetetus, 152a.
willkürlich von unserem Urteil festzulegen ist. (Zum Beispiel wäre auch
der Sachverhalt, daß alles sich bloß nach dem Subjekt richtet, eben dieser,
so daß auch nach der Voraussetzung des Protagoras die gegenteilige These,
daß nämlich der Mensch nicht das Maß aller Dinge sei, zugleich falsch
sein würde als er auch, wenn man sein Prinzip annimmt, wahr sein müßte.)
Vielmehr ist mit dieser Evidenz eines autonomen Sachverhalts gleichfalls
evident, daß Dinge an sich in einem zweiten Sinne dieses Terminus
bestehen, wie andernorts unterschieden wurde: nämlich als Dinge und
Sachverhalte, die nicht bloß irgend etwas sind (wie ja auch Gegenstände
von Träumen), worauf sich unser Urteil als auf ein vorgegebenes Etwas
bezieht, sondern daß es auch Dinge an sich in dem zweiten Sinne gibt, daß
sie prinzipiell nicht ausschließlich Konstituta und Noemata unserer Akte
sind.105 Denn von uns gesetzte Sachverhalte allein, wie sie in Träumen,
Märchen usf. vor uns treten, auch wenn selbst solche bewußtseinsab-
hängige Dinge und Sachverhalte die Seinsautonomie im ersten Sinne
besitzen, können nicht die einzige Realität sein. Auch dies ist strikt
evident. Denn es zeigt sich auf das Deutlichste, daß jedes Träumen,
Konstituieren, Sicheinbilden usf. ausschließlich dann möglich sind, wenn
nichteingebildete, nichtgeträumte, nichtkonstituierte Sachverhalte auch
bestehen, zumindest der, daß wir überhaupt etwas konstituieren und
träumen, sowie das Prinzip der Unterscheidung zwischen konstituierten
und nichtkonstituierten Sachverhalten und Dingen. Es kann wesenhaft kein
konstituiertes und radikal bewußtseinsabhängiges Sein geben, ohne daß es
zugleich auch Dinge und Sachverhalte gibt, wie den Akt des Träumens, die
Existenz des Objekts einer Täuschung, den Sachverhalt, daß so und nicht
anders konstituiert oder geträumt wird usf., die nicht selbst wieder
konstituiert sein können. Ansonsten gäbe es eben überhaupt schlechthin
keine Konstitution. Also auch die Existenz derjenigen Dinge an sich, die in
radikaler Unabhängigkeit vom Bewußtsein bestehen und nicht von ihm
konstituiert sein können, ist, trotz aller gegenteiligen Versicherungen Kants
und Husserls, schlechthin evident und wird notwendig von ihnen
vorausgesetzt, wie an anderer Stelle eingehend dargelegt wurde.106 Dabei
105
Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 5-6.
106
Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?. Che cos’è la filosofia?
(bilingual 4th ed.: engl./ital.), Collana: Testi a fronte n. 46 (Milano: Pompiano,
zeigt sich mit der gleichen Evidenz zweierlei: erstens, daß es überhaupt
nichtkonstituiertes Sein gibt und geben muß und zweitens, daß jedes
Konstituieren und jede Behauptung von Konstitution solches nichtkonsti-
tuiertes Seiendes und seine Erkenntnis notwendig voraussetzen.
Damit sehen wir, daß die ontologischen Evidenzen, daß es überhaupt
etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß das Etwas, das es gibt, gegenüber
unserem Urteil und der Willkür von Urteilen in jedem Falle eine gewisse
Autonomie besitzen muß, und daß es schlechthin seinsautonome Dinge an
sich geben muß, von entsprechenden gnoseologischen Evidenzen begleitet
sind. Denn diese Dinge können uns ja nicht mit Gewißheit als ontische
Sachverhalte und Gegebenheiten zugänglich werden, wenn nicht zugleich
auch unsere Fähigkeit, sie zu erkennen, mit der gleichen Evidenz mitgege-
ben wäre. Denn es ist schlechthin einsichtig und wird auch notwendig von
allen bisherigen Erkenntnissen, sowie von jedem Denken und Behaupten
überhaupt vorausgesetzt, daß diese Sachverhalte nicht nur bestehen,
sondern uns auch als solche in ihrer Evidenz zugänglich werden können.
Ist diese gnoseologische Voraussetzung (wie auch manche ontologische)
nicht in dem Sinne gegeben, daß jeder Denkende notwendig die ausdrück-
liche Erkenntnis dieser Sachverhalte besäße, wären Skepsis und Relativis-
mus überhaupt nicht möglich. Was also mit diesen notwendigen Vorausset-
zungen gemeint ist, ist nicht, daß jeder sie bewußt erschaut, sondern bloß
dies, daß bei genügend eingehender und tiefdringender Untersuchung
dessen, was jeder überhaupt Behauptende und Denkende voraussetzt und
auch als evident vorfindet, diese Evidenzen sich finden.
Also kann man gegen die Grundvorausgesetztheit solcher Sachverhalte
nicht einwenden, daß viele dieselben leugnen. Diese Tatsache ist wohlbe-
kannt und wird hier in keiner Weise in Frage gestellt. Vielmehr handelt es
sich bei diesen notwendigen Vorausgesetztheiten für alles Erfahren und
Denken um Gegebenheiten und Erkenntnisse, die sich erst bei vorurteils-
loser Untersuchung der Fundamente allen Erfahrens und Denkens als
solche enthüllen. Es bedarf eines philosophischen Dialogs und der philoso-
2001), (with Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi and Saggio
integrativo by Josef Seifert), Kap. 4. Siehe Josef Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II, Kap. 1, 2. Siehe
auch Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap 4-5.
9.2. Die volle Berechtigung der These Brentanos, daß Evidenz allein das letzte
und auch von jeder transzendentalen Theorie vorausgesetzte
Wahrheitskriterium ist und die von Brentano übersehene Notwendigkeit,
dieses Brentano’sche Wahrheitskriterium der Evidenz im Licht der
Wahrheit als Adäquatio und der Transzendenz der Erkenntnis neu zu
deuten
Mit all den genannten Evidenzen berühren wir nämlich nicht nur diese
Sachverhalte selber in einem Einsehen und einer Art erkennender Adäqua-
tion, ohne welche Evidenz unmöglich wäre, sondern erfassen auch eine
Reihe weiterer Sachverhalte, die ebenfalls notwendig von jedem Denken
vorausgesetzt werden und die Natur der menschlichen Erkenntnis über-
haupt betreffen. Denn daß wir in diesen notwendigen Voraussetzungen
objektiv bestehende und notwendige Sachverhalte erfassen, erschließt sich
uns nur dann, wenn wir auch den rezeptiv-vorfindenden, den seinsenthül-
lenden, seinsentdeckenden Charakter des Erkennens als solchen erfassen.
Wie immer sich das Sein verhalten mag, wir verstehen, daß es ausschließ-
lich dann erkannt wird, wenn wir nicht einfach setzen und festlegen, wie es
unserer Willkür entspricht, sondern wenn wir es als das auffassen, was es
ist. Auch jede Deutung des Erkennens als spontan-konstitutiven Prozeß
setzt diese Evidenz voraus und setzt sie mit Notwendigkeit voraus. Denn
nehmen wir einmal an, das Erkennen sei nicht rezeptiv, es sei nicht
seinsentdeckend, sondern schlechthin seinssetzend, so fragt es sich, wie
wir diesen Sachverhalt selbst erkennen. Wenn wir ihn bloß setzen, dann ist
er nicht so oder zumindest vielleicht nicht so, wie wir ihn setzen und damit
erkennen wir ihn überhaupt nicht. Auch für die Erkenntnis der konstituti-
ven, seinssetzenden Struktur menschlichen Erkennens setzen wir gerade
das voraus, was wir leugnen, nämlich daß diese seinssetzende Struktur des
Geistes erkannt wird, d.h. daß die objektiv bestehende Erkenntnisstruktur
als seinssetzend erfaßt wird, d.h. daß wir entdecken, daß das Erkennen
tatsächlich eine solche spontan-tätige Struktur besitzt. Würden wir dies
nicht wenigstens entdecken, so wäre die diesbezügliche Erkenntnis eben
keine Erkenntnis mehr. All dies enthüllt sich mit letzter Evidenz als in sich
selbst so seiend und notwendig, aber auch als notwendig von jedem
Denken und Urteilen und insbesondere von jedem evidenten Erkennen
vorausgesetzt.
Mit diesem rezeptiv-entdeckenden und jedenfalls, wenn wir in
transzendentaler Allgemeinheit (im scholastischen Sinne dieses Terminus)
sprechen, dem seinsenthüllenden Charakter des Erkennens, der eben darin
besteht, daß das Seiende so gefaßt und aufgefaßt wird, wie es tatsächlich
ist, ist auch ein weiteres Wesensmerkmal des Erkennens verknüpft. Die
diesbezüglichen Evidenzen setzen zugleich die Transzendenz und die
transzendente Leistung des Erkennens voraus. In dem Erfassen, daß es
überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß von zwei kontradik-
torischen Sachverhalten nicht beide zusammen bestehen können und von
unendlich vielen anderen Sachen und Sachverhalten erkennen wir etwas,
das in seiner strikten Notwendigkeit jenseits und außerhalb unseres
Erkenntnisaktes liegt.
Und doch erkennen wir es ausschließlich, und auch dies ist ein
wesensnotwendiges Gesetz, kraft unserer Erkenntnis, durch den Vollzug
eines bewußten Aktes. Wenn dies beides jedoch zugleich gegeben ist, dann
erweist sich darin dieser staunenswerte Zug des Erkennens, den man als
seine Transzendenz bezeichnen kann, d.h. das Über-sich-selbst-Hinausge-
hen des Erkenntnisaktes zu dem, was ist, ohne welche Transzendenz die
Brentano’sche Lehre, daß Evidenz das höchste Wahrheitskriterium ist,
keine Begründung fände. Wären alle Objekte unseres Bewußtseins bloß in
immanenter Transzendenz, von der Husserl seit 1905 der Meinung war,
daß sie die einzige Transzendenz wäre,107 gegeben, so wäre ein gewisses
Hinausgehen über die immanenten Bewußtseinsvollzüge und Bewußtseins-
zustände zu den Noemata solcher bewußter Akte durchaus möglich, aber
die eigentliche Transzendenz zu einem autonomen Sein, das nicht bloß
Gegenstand unseres Denkens ist, wäre unter dieser Voraussetzung nicht
gegeben. Wenn wir daher eingesehen haben, daß das Widerspruchsprinzip
und unendlich viele andere notwendig vorausgesetzte und in sich
notwendige Wahrheiten im zweiten Sinne dieses Wortes „in sich selber“
bestehen, so haben wir auch eine viel tiefere Transzendenz des Erkennens
eingesehen, nämlich die Fähigkeit des Geistes, nicht bloß zu einem Objekt
hinzugehen, das unseren bewußten Akten als intentionaler Gegenstand
gegenübersteht, sondern über und durch den Prozeß des Bewußtseins
hinauszugehen, oder besser durch und kraft eines bewußten Aktes zu
jenem Sein selbst hinzugehen, das sich in seiner Autonomie gegenüber
unserem Erkenntnisakt erschließt. Gerade diesen Wesenszug bezeichnen
wir als die Transzendenz des Erkennens im tieferen Sinn dieses Wortes,
d.h. dieses über die Grenzen des Bewußtseins zur autonomen Wirklichkeit
der Dinge an sich Hingehenkönnen. Und gerade diese Transzendenz der
Erkenntnis ist Bedingung jener objektiven Evidenz, von der Brentano so
107
Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus
Nijhoff, 1950), Beilagen 2 und 3.
notwendig voraus, daß diese Urteile wahr sind. Sowohl die wahren als
auch die falschen Urteile erheben ferner notwendig einen Wahrheits-
anspruch, den wir als solchen unbedingt voraussetzen, wenn wir urteilen,
den wir aber zugleich als objektiv im Wesen des Urteils selbst notwendig
verwurzelt erkennen.
Ist dieser Wahrheitsanspruch gerechtfertigt, ist das Urteil wahr bzw.
sein Wahrheitsanspruch, in seiner behauptenden Setzung mit dem
Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen, ist dann und nur dann
erfüllt, wenn es wirklich wahr ist.
Wiederum enthüllen sich diese zwei Momente, das notwendige
Vorausgesetztsein von allem Denken und das dieses letztlich begründende
notwendige So-sein-Müssen, in unzertrennlicher Einheit. Indem wir nun
den Wahrheitsanspruch des Urteils erkennen, erkennen wir, daß dieser
eben in dem setzenden, einen Sachverhalt behauptenden Grundzug des
Urteils wurzelt und darin besteht, daß das Urteil von seinem Wesen her,
wie insbesondere Alexander Pfänder ausführlich entfaltet hat, den
Anspruch erheben muß, objektiv zu sein, d.h. in seiner setzenden
Behauptung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst
zusammenzutreffen und durch diese Übereinstimmung bzw. dieses eigen-
tümliche Zusammentreffen selbst wahr zu sein.
Kein Urteil kann gefällt werden, auch nicht das, daß alles zweifelhaft
ist, ja nicht einmal das, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, ohne schon
wieder Wahrheit notwendig vorauszusetzen und ohne mit diesem von jeder
Willkür unsererseits unabhängigen Wesensgesetz und Wesensmerkmal
jeden Urteils und also auch unseres Urteils konfrontiert zu sein, daß dieses
eben wahr zu sein beansprucht. D.h. jedes Urteil, selbst dasjenige, das
Wahrheit leugnen wollte, setzt voraus, daß der in ihm gesetzte Sachverhalt,
in unserem Falle, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, wirklich besteht
und daß das Urteil in seiner setzenden Hinstellung dieses Sachverhalts mit
dem Selbstverhalten der Dinge zusammentrifft, also mit der Tatsache
übereinstimmt, daß es eben überhaupt keine Wahrheit gibt. Und gerade aus
diesem Grunde der notwendigen Vorausgesetztheit von Wahrheit ist die
Position des radikalen Skeptizismus und erst recht die These der
Wahrheitsleugnung in sich widersprüchlich und damit notwendig falsch:
denn wenn wir erkannt haben, daß von zwei kontradiktorischen Sachver-
halten nicht beide bestehen können, dann haben wir damit auch erkannt,
109
Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Wider-
spruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant (Freiburg/München: Karl Alber,
2001).
110
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit.
111
Vgl. Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie
(Stuttgart: Kohlhammer, 1969); “Critique of the Transcendental Metaphysics of
Knowing, Phenomenology and Neo-Scholastic Transcendental Philosophy,”
Aletheia (1978) I,1, 353-69.
Zweifels der falschen Sicherheit der Täuschung und des Irrtums vorzu-
ziehen ist. Wenn ferner die Wahrheit und ihre Erkenntnis kein Gut wären,
das erstrebenswert ist, so wäre auch ohne diese Voraussetzung der Zweifel
absolut sinnlos. Ja, eine nähere Analyse zeigt, daß nicht bloß die Tatsache,
daß Erkenntnis ein Gut ist, sondern auch jene, daß es sowohl für uns, für
die Person, als auch in sich selber im Sinne des Wertes ein Gut ist,
vorausgesetzt ist, vorausgesetzt jedoch gerade, weil es einleuchtenderweise
und evidenterweise notwendig so ist.
Jeder Grund dafür, ein Buch zu schreiben, von einer Erkenntnis zu
überzeugen, sie anderen mitzuteilen, bräche ohne jede axiologische
Voraussetzung zusammen. Denn ohne eine solche Werterkenntnis, die
schon in jedem Denken und Erfahren vorausgesetzt ist, wäre es ja ganz
gleich gut, irgendwelche falschen Dinge zu behaupten wie die Wahrheit zu
sagen, sich im Irrtum zu befinden wie zu erkennen, und also wäre jedes
Streben, jedes Tun, jedes Urteilen, jedes Überzeugenwollen, jedes sich
kraft des Zweifels von Irrtum Freihaltenwollen einer intelligibel-rationalen
Grundlage völlig beraubt. Wenn jemand die Evidenz von Werten bestreiten
wollte und versuchte, uns von deren Nichtexistenz zu überzeugen, so
würde er dennoch gerade in diesem Akt des uns Überzeugenwollens
voraussetzen, daß es Werte gibt. Denn zumindest darin, daß wir unseren
Irrtum von ihrer objektiven Existenz, oder den von unserem Gesprächs-
partner vermeinten Dogmatismus überwinden, muß von ihm als Ziel
unseres Gesprächs und damit als erstrebenswert angesehen werden.
Vielleicht könnte jemand einwenden, daß das Gute, das gewiß in jeder
Handlung vorausgesetzt ist, doch bloß das rein subjektiv Lustvolle sein
mag, da jemand ja rein dadurch motiviert sein könnte, als Ausdruck seiner
subjektiven Herrschsucht uns von einer Tatsache zu überzeugen, daß also
für ihn der Dialog bloß ein Spiel wäre, in dem es darum ginge, die
subjektive Lust intellektueller Superiorität zu erleben. Doch zunächst ließe
sich darauf antworten, daß gewiß auch damit eine irgendwie geachtete
Bedeutsamkeit vorausgesetzt wird und daher Handeln und Denken ohne
irgendeine axiologische Überzeugung unmöglich sind. Ganz abgesehen
davon jedoch erhebt sich die Frage, ob nicht mehr als die subjektive Lust
daran, uns zu überzeugen, bei jedem sinnvollen Gespräch vorausgesetzt
wird, da es ja nicht nur darum geht, daß sowohl der eine als auch der
andere Gesprächspartner diese subjektive Lust erleben, sondern daß in
einem ernsthaften Gespräch beide davon überzeugt sein müssen, daß die
Erkenntnis, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten, wirklich wertvoll ist
und daß die Unwissenheit und der Irrtum über die Wahrheit und
Wirklichkeit ein zu meidendes Übel sind. Mit dieser Erkenntnis wird
jedoch ein Wert vorausgesetzt, der nicht bloß in der subjektiven Lust
besteht, sondern der das objektive Urteil zuläßt, und vor allem einen nicht
bloß für mich sondern in sich bestehenden Wert darstellt.
Es hat sich gezeigt, daß auch die transzendendentale Methode, die als
Kriterium für das Vorliegen von Evidenz und Erkenntnis gelten und sich
über die Evidenz als letztes Wahrheitskriterium und daher über Brentanos
Evidenzlehre erheben will, unhaltbar ist, weil sie ihrerseits zu ihrer
Rechtfertigung unmittelbar evidente Erkenntnis und zwar nicht nur
Evidenz für Vorausgesetztsein oder Bedingung der Möglichkeit Sein,
sondern Evidenz über in sich selber bestehende Sachverhalte voraussetzt
und somit Brentano damit, daß Evidenz das höchste und unhintergehbare
Kriterium für das Vorliegen von Wahrheit darstellt, vollkommen recht
behält, auch wenn wir an wesentlichen Teilen seiner Lehre von der
Evidenz Kritik üben mußten. Unsere Hauptkritik aber bezog sich auf den
Versuch Brentanos, seine Evidenztheorie der Wahrheit als Wesenstheorie
der Urteilswahrheit zu verstehen und von der Wahrheit als Adäquation an
bestehende Sachverhalte loszulösen, was sich als unhaltbarer und
widersprüchlicher Versuch erwiesen hat, der auch der letzten, objektivis-
tisch-realistischen Intention dieses großen Philosophen entgegengesetzt ist.
Die Theorie Franz Brentanos, die wir als zweite neben der Adäquations-
theorie erwähnt haben, ist weder die einzige noch die einflußreichste
Alternative zur Adäquationstheorie als Theorie über Wahrheit, wenn sie
auch vielleicht die tiefsinnigste und am meisten Wahres enthaltende der
unrichtigen Wahrheitstheorien ist. So behandeln wir als nächste mit der
Adäquationslehre der Wahrheit in Konflikt tretende Theorie der Wahrheit
eine viel einflußreichere, aber philosophisch viel ungenügendere Lehre, die
1. Einleitung
Daß Kohärenz ein Wesensmerkmal aller Wahrheit und als solches von
fundamentaler Bedeutung innerhalb einer Theorie der Eigenschaften, der
Bedingungen und Konsequenzen sowie der Kriterien der Wahrheit ist,
wurde von Platon und vielen anderen Philosophen anerkannt. Kohärenz
spielt auch eine entscheidende Rolle in der Logik als Bedingung der
Wahrheit, wie die klassischen Denker übereinstimmend sahen. Diese
Philosophen hätten allerdings niemals eine Identifizierung der Wahrheit
mit Kohärenz akzeptiert, sondern haben eine realistische Wahrheitstheorie
im Sinne einer Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigt und die
Bedeutung der Kohärenz nur innerhalb einer solchen Korrespondenz-
theorie der Wahrheit gesehen. Der Aufweis des Vorhandenseins von
Kohärenz steht bei Platon einerseits im Dienst der Intuition und des
Nachweises der Gültigkeit und Berechtigung von Wahrheitsansprüchen
einer Theorie, ohne allerdings dafür zu genügen, andererseits und vor allem
fungiert der Nachweis des Fehlens von Kohärenz als Kriterium im
negativen Sinne als Beweis der Falschheit einer Aussage oder Theorie, da
von zwei einander widersprechenden Urteilen wenigstens eines falsch sein
muß und ferner eine widersprüchliche Theorie niemals wahr sein kann,
und nur die Wahrheit vollkommen mit sich übereinstimmt. Eine Platon-
Stelle, in der sowohl die Tatsache, daß allein die Wahrheit innerlich
vollkommen mit sich übereinstimmt, während die Menschen sich oft in
ihren Gedanken widersprechen, als auch der Umstand, daß weder
Übereinstimmung mit sich selbst noch mit anderen Menschen (Konsens)
die Wahrheit ausmachen, zum Ausdruck kommt, findet sich in Platons
Gorgias.112 Daher muß eine solche klassische Analyse der Rolle der
112
Platon, Gorgias, 481 d-482 c. Platon spricht auch über die Homologie im Sinne der
Korrespondenztheorie, nämlich als Entsprechung zwischen Wahrheit des Urteils
und Seiendem, etwa im Kratylos, 421 b-c. Vgl. dazu auch etwa Jan Szaif, „Platon
über Wahrheit und Kohärenz“, Archiv für Geschichte der Philosophie, (2000);
82(2): 119-148. Der Autor erforscht die Bedeutung des Begriffs Kohärenz
innerhalb der platonischen Wahrheitstheorie und verbindet Platons Kohärenz-
begriffe (homologia u. ä.) mit seiner dialektischen Methode und seiner realis-
tischen Wahrheitstheorie. Platon selber verwendet die Ausdrücke der Homologie
und Symphonie (den letzteren eigentlich – entgegen der Meinung Zaifs –
ausschließlich in dieser Bedeutung) auch in ihrem musikalischen Sinn und im
Sinne der Harmonie der Liebe, so etwa in Symposium, 187 a-c.
113
Nicolas Rescher, The Coherence Theory of Truth (Oxford: Oxford University
Press, 1973). Vgl. ferner L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren
Philosophie, SS. 182 ff, sowie Julian Nida-Rümelin, „Praktische Kohärenz“,
Zeitschrift für philosophische Forschung (1997); 51(2): 175-192.
114
Nicht alle Autoren finden eine solche Kohärenztheorie bei Bradley. Vgl. etwa
Stewart Candlish, “The Truth About F. H, Bradley”, Mind (1989); 98: 331-348.
115
Vgl. Brand Blanshard, The Nature of Thought (New York: Humanities Press,
1964); ders. “A Reply to my Critics”, Idealistic Studies (1974); 4: 107-130. Vgl.
auch etwa Paul Healy, “Kant, Blanshard, and the Coherence Theory of Truth”,
Idealistic Studies (1988), 18: 266-274.
116
Vgl. Matt Carter, “Ball, Bosanquet and the Legacy of T.H. Green”, History of
Political Thought (1999) Winter; 20 (4): 674-694. Vgl. auch Lawrence Bonjour,
“Coherence Theory of Empirical Knowledge”, Philosophical Studies (1976); 30:
281-312.
117
Man denke etwa an James O. Young, „Coherence, Anti-realism, and the Vienna
Circle,” Synthese (1991): 467-482; ders., Global Anti-realism (Ashgate:
Brookfield, 1995); James A. Ryan, “A Defense of the Coherence Theory of
Berühmt ist die Kontroverse, die im Wiener Kreis ausbrach, als Moritz
Schlick Otto Neurath vorwarf, eine Kohärenztheorie der Wahrheit zu
vertreten.118 Vor allem in der analytischen Philosophie ist diese Kohärenz-
theorie der Wahrheit bis heute weit verbreitet und es gibt nicht wenige, die
sogar Tarski, neben einer neuen Version der Korrespondenztheorie und
einer konsistenten rein semantischen Wahrheitstheorie, auch eine Kohä-
renztheorie zuzuschreiben.119 Donald Davidson verteidigt gleichfalls eine
Kohärenztheorie der Wahrheit. Dieser sieht es auch zu Recht als ihre
Begründung bzw. als ihr notwendiges Korrelat an, daß es keine rationale
Erkenntnisbegründung von Wahrheit im Sinne der adaequatio gibt.120
Gibt es nämlich eine rationale Erkenntnisbegründung von Wahrheit im
Sinne der Adäquation, so macht eben Korrespondenz mit der Wirklichkeit
Wahrheit aus und kann die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht stimmen.
Doch selbst die Anerkennung einer Erkenntnisbegründung im Sinne einer
121
Bemerkenswert sind dazu Puntels Kritiken, nach denen sich Rescher einer Inkon-
sistenz schuldig macht. Rescher, a.a.O., SS. 200 ff. Vgl. dazu gleichfalls die
kritische Studie, die eine ähnliche Inkonsistenz der Wahrheitstheorie Reschers
feststellt: Geo Siegwart, „Korrespondenz und Kohärenz: Fragen an ein Versöh-
nungsprogramm“, Journal for General Philosophy of Science (1993); 24(2): 303-
313.
122
Thomas L. Heath; transl., introd., comm., The Thirteen Books of Euclid’s Elements,
pp. 2-151.
ebenbürtig oder sogar aus pragmatischen oder anderen Gründen für diesen
überlegen. So schien die Evidenz der euklidischen Geometrie und damit
die Evidenz von Wahrheit überhaupt zu fallen. Kline führt in seinem Buch
über Philosophie der Mathematik123 aus, wie ausgehend von solchen
Entwicklungen in den verschiedenen Theorien der modernen Mathematik
der Begriff der Evidenz als Grundlage der Mathematik und der Begriff der
evidenten Wahrheit der Axiome der Mathematik, etwa im Intuitionismus
von de Breuwer und im Formalismus, im Konventionalismus von Poincaré
usw., weitgehend fallengelassen wurden und wie infolgedessen die
Wahrheit selbst als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit radikal in Frage
gestellt wurde.124 Kline führt aus, daß durch diese Entwicklung die
„Heiligkeit der Wahrheit“ verloren gegangen und die Hoffnung auf den
Besitz mathematischer und anderer Wahrheiten zerschmettert und zunichte
gemacht worden sei.125 Solche pauschalen Behauptungen mögen
123
Siehe Morris Kline, Mathematics in Western Culture (London/Oxford/New York:
Oxford University Press, 1974), pp. 410 ff.
124
Morris Kline, ebd., S. 429 f.:
The creation of non-Euclidean geometry cut a devstating swath through the realm of truth.
Like religion in ancient societies mathematics occupied a revered and unchallenged position
in Western thought. In the temple of mathematics reposed all truth, and Euclid was its high
priest. But the cult, its high priest, and all its attendants were stripped of divine sanction by
the work of the unholy three: Bolyai, Lobatchevsky, and Riemann. It is true that in
undertaking their Research those audacious intellects had in mind only the logical problem
of investigating the consequences of a new parallel axiom. It certainly did not occur to them
at the outset that they were challenging Truth itself. And as long as their work was regarded
only as an ingenious bit of mathematical hocus-pocus, no serious questions were raised. The
moment men realized, however, that the non-Euclidean geometries could be valid
descriptions of physical space, an inescapable problem presented itself. How could
mathematics, which had always claimed to present the truth about quantity and space, now
offer several contradictory geometries? No more than one of these could be the truth...
perhaps the truth was different from all these geometries...
In depriving mathematics of its status as a collection of truths, the creation of non-
Euclidean geometries robbed man of his most Respected truths and perhaps even of the hope
of ever attaining certainty about anything...The end of the dominance of Euclidean geometry
was the end of the dominance of all such absolute standards.
125
Vgl. auch Morris Kline, Mathematics in Western Culture, S. 430; ders., Mathema-
tical Thought from Ancient to Modern Times (Oxford: Oxford University Press,
1972, 1990); ders., Mathematics. The Loss of Certainty (Oxford: Oxford
University Press, 1980).
ten scheint, stimmt Kant nicht an allen Stellen der klassischen Wahrheits-
definition zu, sondern bestimmt Wahrheit in vielen Kontexten im Sinne
einer rein subjektiven Kohärenztheorie der Wahrheit, einer „in sich
Stimmigkeit der Vernunft mit sich selber“, so etwa wenn er sagt:
Denn die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung
der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraction von allen
Objecten insgesammt und von allem Unterschiede derselben.127
127
Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52.
Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Objekt zusammenstimme,
muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach)
zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.
128
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. III, Vorrede zur Ausgabe B:
Aber hierin |
BXX liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten
Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen
gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt
liegen lasse. Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller
Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den
Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die
Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere
Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das
Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man
annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach
diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen
richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das
Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an
ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse: so
zeigt sich, daß, was wir Anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet. |
Vgl. auch den folgenden Text aus Kritik der reinen Vernunft, B 453:
Die transscendentale Vernunft also verstattet keinen anderen Probirstein, als den Versuch der
Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst und mithin zuvor des freien und
ungehinderten Wettstreits derselben unter einander, und diesen wollen wir anjetzt anstellen.*
Vgl. zur Kritik dieser Thesen Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen
Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
Der Subjektivismus der Theorie der Erkenntnis, der sich aus Kants
kritischer Philosophie und wiederum in anderer Form auch aus David
Humes Skeptizismus und der analytischen und empiristischen Philosophie
ergibt, sowie der Skeptizismus und Subjektivismus in ihren zahlreichen
anderen idealistischen und empiristischen Ausgestaltungen haben dazu
geführt, daß man den Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung des
Urteils mit der Wirklichkeit fallengelassen und deren Erkenntnis oder ein
Kriterium für solche Übereinstimmung für unmöglich erachtet hat. Daher
hat man nach einem neuen Kriterium, ja nach einer neuen Wahrheits-
definition gesucht und fand manchmal das eine, manchmal die andere in
der bloßen Kohärenz.
Auch Hegels Philosophie könnte man als einen Haupteinfluß anführen,
der zur Kohärenztheorie der Wahrheit beitrug, weil sie eine Philosophie ist,
die die Ganzheit aller Urteile des Weltgeistes und des absoluten Geistes,
aller Erscheinungsformen der Geschichte, aller Systeme, als die Wahrheit
angenommen und übrigens auch Bradleys Kohärenztheorie der Wahrheit
am direktesten beeinflußt hat. Zwar kann man nicht gerade sagen, daß
Hegel ein besonderes Bedürfnis nach Kohärenz hatte, meinte er doch,
wahre Urteile auf der höchsten Ebene der Vernunft können auch einander
widersprechen, was nur auf der untergeordneten Ebene des Verstandes
ausgeschlossen sei. Hegels Idee der Dialektik und der Aufhebung des
Widerspruchsprinzips ist also eigentlich eine Idee, die Anti-Kohärenz zum
Prinzip erhebt, aber immerhin ist die Idee der Wahrheit als des Ganzen
aller Gedanken und aller Systeme und aller menschlichen Erscheinungs-
formen, sowie Hegels Versuch, alle Widersprüche zwischen Philosophien
letzten Endes als Schein zu erklären, da sie sich auf einer tieferen Ebene
alle als Teile der einen und trotz all ihrem Widerspruch kohärenten
Wahrheit erwiesen, sicher mit einer der Gründe, aus denen die Kohärenz-
theorie erwachsen ist. Hegel vertritt sozusagen eine radikale und
dialektische Kohärenztheorie der Wahrheit, welche die Wahrheit nach
Analogie eines lebendigen Organismus als eine Ganzheit versteht, in
welcher auch widersprüchliche Elemente und Systeme als kohärente und
freundlich ergänzende Teile des Ganzen erscheinen.129
129
Vgl. etwa:
Doch gehen wir nicht weiter auf die Geschichte der Kohärenztheorie
ein, sondern konzentrieren uns vielmehr auf das wesentliche Faktum, daß
die Kohärenztheorie der Wahrheit aus einem Zusammenbruch des
Gedankens entsprungen ist, daß die Adäquation zwischen Urteil und
Sachverhalt überhaupt erkannt werden kann und daß diese Adäquation,
selbst wenn sie erkannt werden könnte, mit irgendeinem Kriterium
festgestellt werden müßte, das auf Objektivität Anspruch machen darf.
Das könne aber in nichts anderem liegen als in der Konsistenz und
Kohärenz verschiedener Evidenzen. Deshalb dürfe Wahrheit, oder
zumindest als solche erkannte Wahrheit, nur noch als das Ganze eines
kohärenten Systems von Sätzen verstanden werden.
Insofern ist die Kohärenztheorie unter anderem aus einer Verzweiflung
am Phänomen der Evidenz, das Brentano zum Herzstück seiner Wahrheits-
theorie gemacht hatte, entsprungen. Und weil man überdies keine Erkennt-
nis und kein Kriterium für Wahrheit im Sinn der adaequatio mehr annahm,
suchte man verständlicherweise nach einer anderen Bestimmung der
Wahrheit, die zumindest scheinbar das ganze Problem des Kriteriums und
der Erkenntnis der Übereinstimmung zwischen Urteil und Wirklichkeit
vermeidet: Kohärenz.
So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch
entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu
erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andere zu
sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die
fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den
Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man
könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für
ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von
dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als
unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der
organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig
als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf
diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn
von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und
sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 3-4. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15671-15672 (vgl. Hegel-W Bd.
3, S. 12)].
Deutung des Seins als in sich widersprüchlich ablehnt, wie Hegel und
andere Philosophen, die eine ontologische Dialektik des Widerspruchs
annehmen, dies voraussetzen.130 In der Sphäre der Urteile hingegen besagt
das Widerspruchsprinzip etwas anderes: daß nämlich von zwei kontradik-
torischen Urteilen nicht beide wahr sein können. Daher herrscht das
Widerspruchsprinzip im Reich der Urteile nur, insofern es Widersprüche
innerhalb wahrer Urteile ausschließt, nicht aber insofern es Widersprüche,
die im Reich des Seins nicht existieren können, im Reich der Urteile ganz
ausschlösse. Im Gegenteil, im Reich der Urteile kommen viele Wider-
sprüche vor, sodaß ausschließlich im Reiche wahrer Urteile Widersprüche
ausgeschlossen sind.
Wenn Aristoteles damit recht hat, daß das Sein und Nichtsein ein und
derselben Sache im selben Sinn und zur gleichen Zeit einander
ausschließen, dann folgt daraus, daß die Wirklichkeit selbst, das Seiende
selbst, frei von Widerspruch sein muß. Die schlechthin absolute Gültigkeit
des Widerspruchsprinzips also, das Aristoteles im Buch G der Metaphysik
hervorhebt und als gewissestes aller Prinzipien bezeichnet, garantiert die
Widerspruchsfreiheit des Seins. Nur wenn man, wie etwa Hegel oder
Marx, die universale Anwendbarkeit und Wahrheit des Widerspruchs-
prinzips für alle Wirklichkeit und alles Sein leugnet oder in Frage stellt,
kann man diese Kohärenz der Wirklichkeit im Sinne der Widerspruchs-
freiheit leugnen.
und im selben Sinn) wahr sein. Wenn dieses Prinzip über die Wahrheit, das
seinerseits im ontologischen Widerspruchsprinzip begründet ist, wie
Alexander Pfänder in seiner Logik131 herauszuarbeiten sucht, zutrifft, dann
muß formale Widerspruchsfreiheit auch allen wahren Urteilen zugespro-
chen werden. Im Gegensatz zum Sein, das nicht von Widersprüchen
behaftet sein kann, kann es in Urteilen Widersprüche geben. Deshalb gilt
diese formale logische Widerspruchsfreiheit nur von allen wahren, nicht
von allen Urteilen schlechthin.132
131
Pfänder, Logik.
132
In diesem Sinne kann man auch den Kohärenzbegriff in O. Neuraths „Soziologie
im Physikalismus“ entwickelte Kohärenztheorie verstehen, wenn auch nur von
Sätzen spricht und die ontologische Fundierung der Logik außer Acht läßt.
der entsprechenden Sachen selbst.133 Oder wenn wir schließen, daß ein
Mädchen, das ein Kind erwartet, sexuelle Beziehungen mit einem Mann
(oder, wie die Griechen glaubten, auch mit einem Gott) gehabt haben,
künstlich befruchtet worden oder daß ihr ein in vitro befruchtetes Ovum
bzw. ein Embryo eingepflanzt worden sein oder (wie die Christen dies von
der Jungfrau Maria glauben), vom Hl. Geist direkt empfangen haben muß,
so beruht ein solcher Schluß nicht auf der formallogischen Beziehung
zwischen dem Urteil, daß das Mädchen ein Kind erwartet, und der
Konklusion, die daraus gezogen wird, sondern vielmehr auf der
inhaltlichen Eigenart der menschlichen Fortpflanzung und den künstlichen
oder wunderbaren Formen derselben. Dennoch werden wir eine Rede, in
welcher solchen material-logisch aus einem Urteil folgenden Urteilen
widersprochen wird, als widersprüchlich erkennen. Kohärenz beinhaltet
also auch die Vermeidung von inhaltlich bedingten Widersprüchen und
eine Widerspruchsfreiheit im Sein und im Urteil.
Solange Kohärenz nur bedeutet, daß zwei Urteile, wie zufällig sie auch
verbunden sein mögen, keine solche auf der Natur der Sachen beruhenden
Gesetze verletzen bzw. zu ihnen in Widerspruch stehen dürfen, ist auch
materiallogische Widerspruchsfreiheit eine Eigenschaft, die wir allen
wahren Urteilen, sowie in anderem Sinne allen Sachverhalten, zuschreiben
können, auch wenn wir selbstverständlich dort, wo keine strengen Wesens-
notwendigkeiten vorliegen, mit der Behauptung ausnahmslos gültiger
empirischer Gesetze und damit mit der Forderung der materialen Kohärenz
aller Sachverhalte und aller wahren Urteile mit der allgemeinen Natur der
Dinge vorsichtig sein müssen. Im übrigen bezieht sich der Terminus dieser
Kohärenz nicht notwendig auf allgemeine Naturen der Dinge, sondern er
kann sich auch auf rein faktische und individuelle Umstände beziehen.
133
Es gibt sowohl unmittelbare material bedingte Schlüsse - vgl. Alexander Pfänder,
(Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, IV. Abschn., A, Kap. 7, S. 282-286 – als auch
mittelbare material bedingte Schlüsse wie etwa auf Vergleichsrelationen, auf
räumlichen oder zeitlichen Relationen, auf Zusammengehörigkeitsrelationen, auf
Abhängigkeits- und Kausalrelationen, auf intentionalen Relationen u.a. aufgebaute
Schlüsse, die niemals aus rein formal-logischen Faktoren und Gesetzen, sondern
ausschließlich auf Grund der besonderen materialen Beschaffenheit von
Gegenständen schlüssig sind. Vgl. zu den mittelbaren material bedingten
Schlüssen Alexander Pfänder, Logik, zit., ebd., Abschn. 4 B, Kap. 9, S. 351-354.
Damit kommen wir schon zu einem weiteren und tieferen Sinn von
Kohärenz, der viel mehr bedeutet als bloße Widerspruchsfreiheit.
Unter Kohärenz kann man jedoch auch wesentlich mehr verstehen als
Widerspruchsfreiheit und auch mehr als materiale Kohärenz im Sinne des
„in Einklang mit bekannten Tatsachen und Naturen Stehen“. Man kann
unter diesem Begriff eine intelligible und verstehbare, eine sinnvolle
Beziehung meinen, in der verschiedene Sachen, Sachverhalte, oder auch
Urteile zueinander stehen. In diesem Sinne entspricht Kohärenz dem, was
wir früher im Rahmen der ontologischen Wahrheit als sinnvolle
Soseinseinheiten bezeichnet und bereits diskutiert haben. Insoferne etwa
der menschliche Körper eine sinnvolle Einheit von Organen, Funktionen,
usf. darstellt, ist er ein kohärentes Ganzes, im Gegensatz zu den Stücken
und Fetzen eines menschlichen Leibes, der von einer Bombe zerrissen
wurde und dessen Glieder und Teile verstreut im Raum liegen.
Wo immer eine solche sinnvolle Einheit der Dinge auch in Urteilen
formuliert wird, besteht auch innerhalb derselben eine sinnhafte, von den
Sachen selbst her verstehbare Einheit. In diesem Sinn könnte man von der
Kohärenz eines Romans, einer psychologischen Beschreibung oder einer
Interpretation eines Verbrechens durch einen Detektiv sprechen und dann
meinen, daß die verschiedenen Urteile und Sätze, die ein solches Ganzes
bilden, untereinander in sinnvoller und verstehbarer Weise verknüpft
sind. Eine inkohärente Darstellung wäre eine solche, in der jedes innere
verstehbare Band zwischen den einzelnen Urteilen fehlen würde.
Auch von Erkenntnissen oder Erfahrungen könnte man sagen, daß sie
nicht nur nicht widersprüchlich sein, sondern auch in sinnvoller
gegenseitiger Beziehung zueinander stehen können.
Dieser Begriff von Kohärenz liegt auch dem sogenannten Kohärenz-
prinzip, dem Grundsatz, daß alles mit einander zusammenhänge, zugrunde.
Die Schichtentheorie etwa behauptet ontologische Kohärenzgesetze in
diesem Sinn. Auch die Kohärenzfaktoren und Kohärenzmotive, die die
Psychologie annimmt, d.h. Teile der Bewußtseinsinhalte oder Bewußt-
Schließlich kann man unter Kohärenz noch mehr verstehen, was uns
wieder auf die Diskussion der ontologischen Wahrheit zurückführt,
nämlich eine schlechthin notwendige Verknüpfung verschiedener Merk-
male und Eigenschaften einer Sache oder Wesenheit. Selbstverständlich
findet auch eine solche notwendige Wesensbeziehung ihren Widerhall auf
der Ebene der Urteile, deren Wahrheit in einer notwendigen gegenseitigen
Beziehung stehen kann.
In wieder anderer Weise bestehen notwendige Beziehungen in
verschiedener Art auch auf der Ebene der Erkenntnis.
Wenn man anerkennt, daß es so etwas wie notwendige Wesenssach-
verhalte und notwendige Wesenheiten gibt, so muß man auch diese tiefere
Stufe der Kohärenz, ja diese prinzipiell neue Bedeutung von Kohärenz
anerkennen.
Wenn man sogar meint, daß alle Dinge, inklusive aller historischen
Fakten, letzten Endes in notwendiger Beziehung zueinander stehen, wie
dies etwa dem Hegelschen System oder gewissen deterministischen und
immanentistischen Gesamtsystemen in der Philosophie entspricht, so
behauptet man Kohärenz in diesem stärksten Sinn des Ausdrucks für alle
Dinge überhaupt. Man kann sagen, daß eine solche Auffassung der
Kohärenz der Wirklichkeit Freiheit, Kontingenz (wirkliche Zufälligkeit des
Daseins) und viele andere Daten der Erfahrung leugnen oder radikal
umdeuten muß. Überzeugt davon, daß es wirklich nicht-notwendige
Tatsachen und Freiheit gibt, verwerfen wir eine solche Fassung der
Kohärenz im Sinne einer absolut notwendigen Verknüpfung der gesamten
Wirklichkeit energisch, halten es jedoch zugleich aus den früher erörterten
Gründen für wahr und für notwendig zuzugestehen, daß innerhalb gewisser
Bereiche der Wirklichkeit, und in solcher Weise, daß alle Seienden daran
3.1. Urteile/Sätze
Auf die Frage, was das Subjekt der Kohärenz ist, kann man zunächst
Urteilen oder Sätzen Kohärenz zuschreiben. Dabei ergeben sich noch
einmal verschiedene Möglichkeiten:
Unter Kohärenz versteht man gewöhnlich jedoch nicht die innere Kohä-
renz als eine Eigenschaft eines einzigen Urteils, sondern vielmehr eine
bestimmte Art von Relation zwischen verschiedenen Urteilen. Zunächst
kann man einer Reihe von Urteilen Kohärenz dann zusprechen, wenn das
eine das andere weder leugnet noch ihm per implicationem wider-
spricht. Auch hier können es wieder entweder formallogische Gründe oder
materiallogische Zusammenhänge sein, die eine Reihe einiger Urteile
widersprüchlich oder nicht widersprüchlich machen. Wenn man eine Reihe
von Urteilen nimmt, die entweder direkt oder durch das, was aus ihnen
folgt, anderen Urteilen derselben Reihe direkt widersprechen, so finden wir
einen formallogischen Widerspruch und eine formallogische Inkohärenz
zwischen solchen Urteilen. Wenn hingegen eine Reihe von Urteilen nur
deshalb einen inneren Widerspruch enthält, weil die Natur der Sachen, von
denen sie handeln, einen solchen bedingen, können wir von einem
materiallogischen Widerspruch reden. Wenn etwa Daniel in seinem Urteil
über die Ankläger der Susanna den Widerspruch aufdeckt, der zwischen
ihren Äußerungen, unter welchem Baum der angebliche Ehebruch
stattfand, bestehen, so handelt es sich um materiallogische Widersprü-
che. Denn nur, wenn wir die Natur der Bäume und des Aktes des Ehe-
bruchs sowie die Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeiten der
Menschen kennen und berücksichtigen, zeigt sich die Widersprüchlichkeit,
daß derselbe Ehebruch unter zwei verschiedenen Bäumen statt-
fand. Abstrakt gesprochen könnte ein und dieselbe Handlung unter
verschiedenen Bäumen stattgefunden haben. Man muß hier also etwas über
die Natur menschlichen Handelns und die Eigenart von Bäumen verstehen,
um den von Daniel aufgedeckten Widerspruch zu erkennen.
134
Auf epistemologische Wahrheit als Wesensmerkmal der Erkenntnis im engeren
Sinn sind wir in Kap. 2 von Wahrheit und Person eingegangen.
135
Siehe dazu J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, a.a.O., Teil I, Kap. 3.
oder Irrtum beruhen. Auch hier kann die Kohärenz selbstverständlich eine
formallogische oder eine material-inhaltliche sein.
Selbstverständlich kann man Kohärenz nicht bloß auf der Ebene der
Urteile oder der Erkenntnis und Erfahrung erkennen, sondern auch im
Bereich der objektiven Sachen und Sachverhalte. Haben wir doch bereits
anerkannt, daß das Widerspruchsprinzip alles Seiende und die gesamte
Wirklichkeit beherrscht. Wenn dem jedoch so ist, muß auch alles Seiende
zumindest in dem formalen Sinne widerspruchsfrei sein, daß zwei
136
Diese Art von Kohärenz verteidige ich in Josef Seifert, Überwindung des Skandals
der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
4.4. Kohärenz mit der bereits erkannten Wahrheit, Wirklichkeit oder mit der
bereits gewonnenen Erkenntnis
Kohärenz als Erkenntniskriterium ist, wie wir sehen werden, oft mit
diesem Sinn von Kohärenz befaßt. Wir können von der Widerspruchs-
freiheit, oder sogar von der sinnvollen und notwendigen Einheit
bestimmter Sachverhalte, Wahrheiten, oder Erkenntnisse mit bereits als
wahr erkannten Urteilen oder als wirklich erkannten Sachverhalten
sprechen. Wenn Kohärenz notwendige Verknüpfung bedeutet, so ergibt
sich aus Kohärenz notwendig die Wahrheit dessen, was mit bereits
erkannten Sachverhalten oder Wahrheiten notwendig verknüpft ist. Darauf
beruht u.a. die Logik der formal-logischen Schlüsse. Kohärenz, insoferne
sie eine bloß sinnvolle, aber nicht notwendige Verknüpfung neuer
Sachverhalte, Erkenntnisse oder Urteile mit bereits erkannten Wahrheiten
bedeutet, ist kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit, wie wir sehen
werden, spielt jedoch innerhalb der Kriteriologie der Wahrheit dennoch
eine wichtige Rolle, auf die wir zurückkommen werden. In diesem Sinne
ist jedoch Kohärenz zweifellos kein schlechthin notwendiges Kriterium der
Wahrheit.
Wenn Kohärenz bloße Widerspruchsfreiheit bedeutet, so ist, wie Fichte
glänzend nachweist, auch wenn wir seinen allgemeinen philosophischen
Ansatz in keiner Weise teilen und meinen, dieser widerspreche seinen
diesbezüglichen Ausführungen, Kohärenz keineswegs genug, um Wahrheit
zu garantieren. Denn etwas kann mit allen von uns erkannten Wahrheiten
übereinstimmen, ohne deshalb auch schon wahr zu sein, wie etwa eine
4.5. Kohärenz als Eigenschaft bzw. Relation aller wahren Urteile, aller Fakten,
oder aller Erkenntnisse
5.1. Kohärenz darf nicht mit dem eigentlichen Wesen der Wahrheit identifiziert
werden
Daß die Wahrheit eines Urteils nicht darin besteht, daß dieses Urteil,
isoliert von allen anderen betrachtet, kohärent ist und sich nicht selbst
widerspricht oder daß es nach den Gesetzen einer rein logischen
Grammatik gebaut ist, liegt auf der Hand und dies brauchen wir daher
nicht näher zu erörtern, weil offensichtlich der größte Teil falscher Urteile
weder sich selbst noch einer rein logischen Grammatik widersprechen.
Man denke an die Behauptung: „Die Außentemperatur aller Länder und
Kontinente auf dieser Erde ist 5 Millionen Grad Celsius.“ Darüber, daß
dieses sich offenbar nicht selbst widersprechende Urteil falsch ist,
brauchen wir kein Wort zu verlieren.
Wenn man Kohärenz als Wesen der Wahrheit selbst betrachtet, so wäre
eine erste minimal plausible Form der Kohärenztheorie die, welche ein
System oder ein Ganzes von Sätzen oder von Urteilen dann für wahr
erklärt, wenn diese verschiedenen Sätze oder Urteile keinen logischen
Widerspruch untereinander einschließen, sei es, daß ein solcher logischer
Widerspruch ein rein formallogischer, sei es, daß er materiallogisch
begründet wäre. In diesem Sinne könnte man behaupten, daß ein Ganzes
von Urteilen dann wahr sei, wenn die in ihm enthaltenen Urteile in sich
selbst und miteinander stimmig sind und keinen Widerspruch enthal-
ten. Man könnte diesen Begriff der Kohärenz als Wesensbestimmung der
Wahrheit auch dahingehend ausweiten, daß kein Urteil oder Satz in einem
kohärenten System, und keine Folge eines solches Satzes, mit anderen
Urteilen desselben Gesamtgefüges und mit deren logischen Konsequenzen
im Widerspruch stehen darf. Sei es in diesem Sinn kohärent, sei es auch
wahr.
Nun kann man sich natürlich erstens nach dem näher zu bestimmenden
Subjekt dieser Kohärenz fragen. Was wird hier mit einem System oder
Ganzen von Urteilen (Sätzen) gemeint? Meint man das einzelne Urteil, so
ist zweifellos weder seine logische Widerspruchsfreiheit, noch seine
Gemäßheit den Regeln einer rein logischen Grammatik mit seiner Wahr-
heit zu identifizieren. Denn alle sinnvollen falschen Sätze entsprechen ganz
offensichtlich ebenso diesem Kriterium.
Meint man hingegen jedes Ganze, das aus mehreren (einigen) Urteilen
besteht, und behauptet man dann, daß dasselbe schon deshalb wahr sei,
weil die einzelnen Urteile einander nicht widersprächen, dann könnte man
mit Fichtes Wissenschaftslehre sagen, daß zweifellos Wahrheit nicht in
einer solchen Kohärenz bestehen kann, denn wir könnten, wie Fichte (im
Widerspruch zur oben zitierten radikal kohärenztheoretischen Aussage)
ausführt, ein System von kohärenten Sätzen über Luftgeister entwickeln,
die niemand erkannt hat und für deren Existenz es keinerlei Anhaltspunkt
gibt, weshalb alle diese kohärenten Urteile wahrscheinlich falsch
wären.137 Gleichwohl könnte man ein solches System als ein in sich
stimmiges, kohärentes und nicht widersprüchliches System von zahllosen
Sätzen über diese Luftgeister entwickeln. Ein solches System wäre völlig
widerspruchsfrei und nicht nur in sich, sondern auch mit allen uns
bekannten wahren Urteilen kohärent. Nehmen wir an, daß ein solches
System keinem einzigen als wahr bekannten Urteil widersprechen würde,
so wäre es doch aus diesem Grunde allein in keiner Weise wahr. Im
gegebenen Falle wäre ein solches System von Luftgeistern ein reines
Produkt der Phantasie und jeder müßte zugeben, daß es mit höchster
Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht der Wahrheit der Dinge entspricht,
weil es auf keinerlei Evidenz beruhen würde und völlig willkürlich
wäre. Die Wahrheit eines solches Systems könnte also nur einem äußersten
Zufall zu verdanken sein und deshalb in keiner Weise angenommen
werden.
Nun könnte der Kohärenztheoretiker sagen, er meine mit einem
kohärenten System von Sätzen nicht nur ein bestimmtes partikuläres
Ganzes von Urteilen, er meine vielmehr eine kohärente Einheit aller
Urteile überhaupt.
Aber auch, einen solchen Kohärenzbegriff als Grundlage der Wesens-
definition der Wahrheit einzuführen, geht nicht an. Denn unter allen Sätzen
überhaupt gibt es zweifellos viele, die anderen offensichtlich wider-
sprechen. Deshalb ist es absolut unmöglich zu behaupten, alle Urteile die
je gefällt wurden, seien wahr, weil sie kohärent seien. Denn sie sind ganz
gewiß nicht alle kohärent, sondern widersprechen einander zu einem
137
Siehe Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten
Philosophie, S. 31 ff.
großen Teil. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für das
tägliche Leben, für Lügen, für Gerichtsprozesse und sonstige Urteile.
Daher kann ganz gewiß Kohärenz als Übereinstimmung aller Sätze
überhaupt nicht behauptet werden und erst recht nicht das Wesen der
Wahrheit ausmachen. Allerdings gibt es Philosophen, die Kohärenz als
solche nicht als logische Widerspruchsfreiheit definieren, sondern einer-
seits in einem stärkeren, andererseits in einem schwächeren Sinn als
notwendige Verknüpfung aller Urteile, inklusive widersprüchlicher
Urteile. So etwa nimmt, wie schon bemerkt, Hegel eine Art dialektische
Kohärenz selbst im Widerspruch an und meint, daß alle Gedanken,
einschließlich aller widersprüchlichen Gedanken, notwendig miteinander
innerhalb der Entfaltung des Weltgeistes bestehen, also notwendig
miteinander verknüpft und zugleich widersprüchlich sind.138 Doch ist dies
138
Vielleicht der bekannteste Satz dieses Inhalts stammt aus der “Vorrede” zu
Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3/11:
So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu
anderen Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges
Interesse hereingezogen und das, worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt,
verdunkelt. So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt
sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches
System zu erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das
andere zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als
die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den
Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man
könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für
ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von
dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als
unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der
organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig
als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf
diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn
von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und
sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
Und ebd. 3/23-3/24:
Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich
vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es
erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches,
Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das
Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung
diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es
zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine. Sowenig, wenn ich sage:
alle Tiere, dies Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fällt es auf, daß die Worte des
Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, 3/24 was darin enthalten ist; –
und nur solche Worte drücken in der Tat die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was
mehr ist als ein solches Wort, der Übergang auch nur zu einem Satze, enthält ein
Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung. Diese aber ist das,
was perhorresziert wird, als ob dadurch, daß mehr aus ihr gemacht wird denn nur dies, daß
sie nichts Absolutes und im Absoluten gar nicht sei, die absolute Erkenntnis aufgegeben
wäre.
Dies Perhorreszieren stammt aber in der Tat aus der Unbekanntschaft mit der Natur der
Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst. Denn die Vermittlung ist nichts anderes als
die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das
Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion
herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln
ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare
selbst. — Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren
ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird. Sie ist es, die das
Wahre zum Resultate macht, aber diesen Gegensatz gegen sein Werden ebenso aufhebt,
denn dies Werden ist ebenso einfach und daher von der Form des Wahren, im Resultate sich
als einfach zu zeigen, nicht verschieden; es ist vielmehr eben dies Zurückgegangensein in die
Einfachheit.
Noch drastischer formuliert Hegel diesen Gedanken in seiner Ohlert-Rezension
„Der Idealrealismus. Erster Teil. Auch unter dem besonderen Titel:
Der Idealrealismus als Metaphysik in die Stelle des Idealismus und Realismus
gesetzt. Von Dr. Alb. Leop. Jul. Ohlert“ 11/471-11/472:
Der Herr Verfasser wäre glücklich zu 11/472 preisen, wenn ihm in der Welt, in der Natur
und in dem Tun und Treiben wie im Denken der Menschen noch keine Widersprüche, wenn
ihm noch keine sich selbst widersprechenden Existenzen vorgekommen wären; er sagt mit
Recht, der Widerspruch hebe sich auf, aber daraus folgt nicht, daß „er nicht existiert“; jedes
Verbrechen, wie jeder Irrtum, überhaupt aber jedes endliche Sein und Denken ist ein
Widerspruch; so sehr, daß noch weiter sogar gesagt werden muß, daß es nichts gibt, in dem
nicht ein Widerspruch existiert, der sich aber freilich ebensosehr aufhebt. Allein in dem
selbst, was darüber vorgebracht ist, ist wohl der größte Widerspruch nicht zu verkennen, die
Beschaffenheit des Geistes (Beschaffenheit ist ein Ausdruck, der für den Geist, vollends wo
von der Natur desselben die Rede sein soll, wohl ungeeignet ist), nichts Widersprechendes
denken zu können, soll selbst die Ursache sein, – von was? – davon, daß man Widersprüche
erblickt, nicht mit den leiblichen Augen, die Natur soll keine darbieten, sondern mit den
Augen des Geistes, d. i. daß er solche überhaupt in seinem Bewußtsein hat und sogar denkt;
sie soll Ursache sein, daß man sie zu lösen sucht; wenn sie nicht existierten, wo es sei, in der
äußeren oder inneren Erfahrung des Denkens, würde man nicht in Versuchung kommen
können, sie lösen zu wollen. Wenn auch der Herr Verfasser dieselben auf das Verhältnis von
Geist und Natur, von innerer und äußerer Erfahrung (willkürlich) beschränkt und solche
Widersprüche nachher anführt, so ist er eben damit im Falle, von Widersprüchen zu wissen,
sie zu denken, ihre Quelle anzugeben. – Der Herr Verfasser hat sich gegen das, was er in der
Erfahrung, noch mehr aber im Denken unzähligemal muß vorgefunden haben, durch ein
ein abzulehnender und außerdem überaus obskurer Gedanke, mit dem wir
uns in diesem Kontext nicht näher beschäftigen wollen.
Nach den bisherigen Ergebnissen darf man also gewiß nicht behaupten,
ein kleiner Bereich von Urteilen oder Sätzen, die nicht in Widerspruch
zueinander stehen, die also kohärent sind, wie das System von Sätzen über
Luftgeister, seien damit eo ipso wahr. Man kann zweifellos nicht
behaupten, daß die Kohärenz einiger Urteile miteinander oder auch mit den
als wahr bekannten Urteilen bereits ihre Wahrheit ausmache. Ebensowenig
darf man auch die Wahrheit von Urteilen mit der Kohärenz aller Urteile
identifizieren, denn eine solche Identifizierung würde voraussetzen, daß
alle Urteile überhaupt untereinander kohärent seien. Eine solche universale
Kohärenz aller Urteile und Sätze, die ihre Wahrheit ausmachen soll,
besteht aber offensichtlich nicht.
Gehen wir nun zur inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz zurück und
betrachten eine neue Bedeutung dieses Terminus: Unter Kohärenz können
wir auch, anstatt einer einfachen Übereinstimmung von Sätzen unterei-
nander oder einer Übereinstimmung aller Sätze (die wegen der Wider-
sprüchlichkeit vieler überhaupt nicht möglich ist) oder einer Übereinstim-
mung einiger wahrer Urteile mit einander, die Übereinstimmung aller
wahren Sätze139 untereinander verstehen.
Von dieser umfassenden Nichtwidersprüchlichkeit muß man zwar
zugeben, daß sie Merkmal der Wahrheit ist, doch stellt auch die so
verstandene Kohärenz keine korrekte Theorie des Wesens der Wahrheit
dar. Auch Kohärenz als umfassende Widerspruchsfreiheit der Wahrheit in
sich und als Übereinstimmung mit sämtlichen wahren Urteilen beantwortet
überhaupt nicht die Frage, was die Wahrheit ist und worin die Wahrheit
besteht. Denn indem man die so verstandene Kohärenz der Wahrheit und
ihren Begriff definieren will, setzt man schon wieder Wahrheit im Sinn der
adaequatio voraus, da es nicht nur um umfassende Widerspruchsfreiheit in
sich, sondern um Freiheit des Widerspruchs zu allen wahren Urteilen geht;
um diese aber aus dem Gesamtreich aller Urteile auszusondern, bedarf
man bereits des Verstehens, daß Urteilswahrheit nicht in bloßer Kohärenz
besteht. Und auch aus diesem Grunde kann man sagen, daß Kohärenz im
Sinn der logischen Nichtwidersprüchlichkeit aller wahren Sätze in sich und
mit allen anderen wahren Sätzen nicht das Wesen der Wahrheit, sondern
nur ein Merkmal, eine Folge und, in rein logischer Hinsicht betrachtet, eine
Bedingung von Wahrheit angibt.
Umfassende Widerspruchsfreiheit aller Wahrheit in sich und mit aller
anderen Wahrheit ist nicht bloß ein negatives Kriterium für Wahrheit in
dem Sinne, daß nichts wahr sein kann, das diese Bedingung nicht
erfüllt. Vielmehr ist umfassende innere Widerspruchslosigkeit der
Wahrheit in sich und ihre Freiheit von Widerspruch zur gesamten Welt
wahrer Urteile ein ausschließliches Merkmal der Wahrheit. In diesem
umfassenden Sinne kann kein System von Lügen oder Irrtümern Wider-
spruchsfreiheit und Kohärenz besitzen.
Um aber überhaupt zu bestimmen, welche Kohärenz Bedingung,
ausschließliches Merkmal und teilweises Kriterium der Wahrheit ist, setzt
man schon wieder in vielfacher Weise Wahrheit im Sinn der adaequatio
voraus. Nicht nur beansprucht diese Aussage selbst für sich Wahrheit im
Sinne der Adäquatio. Nicht nur setzt sie die Angemessenheit an die
Wirklichkeit (Adäquation) jener wahren Urteile voraus, mit denen alle
Wahrheit übereinstimmen muß. Vielmehr leuchtet die umfassende und not-
wendige Übereinstimmung aller wahren Urteile untereinander ausschließ-
lich dann ein, wenn man auf Grund der einsichtigen Nichtwidersprüch-
lichkeit des Seins und auf Grund des Wesens der Wahrheit als Überein-
stimmung mit tatsächlich bestehenden Sachverhalten ebenfalls einsieht,
daß Wahrheit widerspruchsfrei sein muß und nur sie allein mit allen
wahren Urteilen im Einklang stehen kann. Außerdem leuchtet das, was
Widersprüchlichkeit und Widerspruchsfreiheit bedeutet, überhaupt erst von
der behauptenden Struktur des Urteils und damit von ihrem Anspruch auf
adaequatio her ein.
140
Siehe N. Rescher, The Coherence Theory of Truth.
Dinge gedacht wird. Und das ist ein Gegenstand für Ausführungen über
Erkenntnistheorie und Ontologie, aber nicht über die logische Definition
oder das Wesen der logischen Wahrheit. Außerdem nähert sich die so
verstandene Kohärenz der Evidenztheorie der Wahrheit, von der wir
ausführlich gehandelt haben, der pragmatistischen oder auch der Konsens-
theorie, von denen wir noch handeln werden. Auf jeden Fall kann die
Wahrheit des Urteils ebensowenig auf die Kohärenz der Erfahrung oder
des Erkenntnisprozesses reduziert werden wie auf Evidenz oder Überein-
stimmung mit derselben, worauf wir bereits hingewiesen haben. In
manchen Versionen fällt diese Interpretation der Kohärenztheorie auch mit
verschiedenen erörterten Bedeutungen ontologischer Wahrheit zusammen.
Es gibt jedoch, wie wir gesehen haben, noch andere Weisen, Kohärenz zu
bestimmen und für das Wesen der Wahrheit zu halten. Man könnte der
inneren Kohärenz eines Urteils die Kohärenz mit anderen Urteilen
gegenüberstellen.
Dabei könnte zunächst Kohärenz als Stimmigkeit eines Urteils mit
manchen anderen Urteilen interpretiert werden. Man könnte dann die
Kohärenz mit manchen anderen Urteilen näher bestimmen, z.B. als
Kohärenz mit den Urteilen der Fachleute oder mit den Urteilen der
Weisen. Wird Kohärenz in dieser Weise verstanden, ergibt sich ein
Übergang von der Kohärenztheorie zur Konsenstheorie der Wahrheit, von
der wir noch ausführlich handeln müssen. Und schließlich könnte man
unter Kohärenz auch nur das Zusammenstimmen mit wahren Urteilen oder
mit schon als wahr erkannten Urteilen verstehen.
Wir sehen leicht, daß Kohärenz in keiner dieser Bedeutungen das
Wesen der Urteilswahrheit ausmachen kann. Denn das Wesen der
Wahrheit ist weder die notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander
noch die Verknüpfung der Wahrheit von Urteilen miteinander. Denn es
gibt ja evidenterweise viele Urteile, die wahr sind und die dennoch nicht
notwendig mit anderen verknüpft sind. Außerdem können wir einsehen,
daß die bloße notwendige Verknüpfung von Wahrheiten als solchen, z.B.
die logische Verknüpfung verschiedener Urteile, die notwendig aus
einander folgen, nichts für die Wahrheit beweist. Jeder Logiker weiß, daß
ein Urteil gültig aus anderen Urteilen erschlossen werden kann, aber daß,
wenn die Prämissen falsch sind, die Tatsache, daß die Konklusion aus den
Prämissen folgt, die Wahrheit dieses Urteils weder beweist noch
141
Siehe A. Pfänder, Logik, a.a.O., Kap. 1.
Akzent auf zwei andere Bedeutungen von Kohärenz legen, von denen die
erste bei Hegel und Bradley eine zentrale Stellung einnimmt, aber auch
unabhängig von Hegels und Bradleys Kohärenztheorie eine wichtige Rolle
spielt. Kohärenz könnte, wie oben erklärt, eine notwendige Verknüpfung
von Urteilen und von deren Wahrheit meinen. Hegel und Bradley nehmen
eine solche notwendige Verknüpfung der gesamten Wirklichkeit und
Wahrheit an. Man könnte jedoch auch sagen, Kohärenz bestehe nicht
ausschließlich in notwendigen Zusammenhängen, sondern auch dort, wo
bloß eine sinnvolle Verknüpfung von verschiedenen Urteilen vorliege. In
diesem Sinn spielt Kohärenz in einem kriminalistischen Fall als Kriterium
eine wichtige Rolle, wenn alle Evidenzen und Zeugenaussagen sinnvoll
miteinander verknüpft sind.
Je nachdem, was man unter Kohärenz eigentlich versteht, ist natürlich
die Frage, ob die Kohärenztheorie der Wahrheit eine gute Theorie
irgendeiner der sieben Aspekte der Wahrheit darstellt, ganz verschieden zu
beantworten, wie wir gleich sehen werden.
Daß Kohärenz nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht, können wir
auch aufgrund einer unmittelbareren Einsicht in die evidente Struktur der
Wahrheit erkennen. Wir können einfach verstehen, daß die notwendige
Verknüpfung von Urteilen untereinander nicht das ist, was wir mit
Wahrheit meinen. Dies geht schon daraus hervor, daß wir weiter fragen
können: „Sind Urteile, die notwendig miteinander verknüpft sind,
wahr?“. Und dies zu fragen hätte gar keinen Sinn, wenn Wahrheit
überhaupt nichts anderes meinen würde, als eine solche notwendige
Verknüpfung. Aber indem wir die Frage nach der Verbürgtheit der
Wahrheit kohärenter Urteile stellen, fragen wir eben, ob kohärente Urteile
auch in ihrer behauptenden Setzung von Sachverhalten mit dem
Selbstverhalten dieser Sachverhalte oder der Sachen selbst zusammen-
treffen. Deshalb zeigt schon die Frage, ob Kohärenz Wahrheit verbürgt,
oder ob kohärente Urteile auch wahr sein müssen, daß es zwei ganz
verschiedene Probleme oder zwei ganz verschiedene Dinge sind, Kohärenz
und die Wahrheit.
5.2. Kohärenz macht nicht das Wesen der Wahrheit aus, stellt aber ein
wichtiges Wesensmerkmal derselben dar
Wenn wir die Kohärenztheorie in all ihren Formen als Theorie über das
Wesen der Wahrheit zwar ablehnen, aber zumindest im Sinne der
Widerspruchsfreiheit als Wesensmerkmal der Wahrheit annehmen, müssen
wir nunmehr noch auf die Frage nach Kohärenz als Wahrheitsbedingung
übergehen. Wiederum hängt die Beantwortung dieser Frage entscheidend
von der inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz ab. Wenn man zunächst
die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen als Kohärenz im Auge hat, so ist
die innere Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils tatsächlich eine
Bedingung für Wahrheit, wenn sie auch nicht das Wesen der Wahrheit
ausmacht. Ein Urteil kann nur dann wahr sein, wenn es sich nicht selbst
widerspricht. Denn wenn es sich selbst widerspricht, verletzt es mit dem
Widerspruchsprinzip die Bedingung jeder Wahrheit.
Wenn das Urteil hingegen als kohärent bezeichnet wird, weil es mit
allen anderen Urteilen nichtwidersprüchlich wäre, so ist solche Kohärenz
unmöglich, weil es eben widersprechende und also wahre und falsche
Urteile gibt. In bezug auf denselben Gegenstand widersprechen sich
kontradiktorische Urteilspaare, die also wahre und falsche Urteile
einschließen. So ist eine Nichtwidersprüchlichkeit aller Urteile unmöglich.
Die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen mit manchen anderen
Urteilen ist eine Bedingung für Wahrheit. Es ist eine Bedingung dafür, daß
ein Urteil wahr ist, daß es anderen wahren Urteilen nicht widerspricht. Das
kann man erkennen, wenn man die Nichtwidersprüchlichkeit der Wahrheit
versteht, d.h. wenn man versteht, daß innerhalb der Wirklichkeit selbst und
deshalb auch innerhalb der Wahrheit, Widersprüche nicht vorkommen.
Hegel und Marx würden dies im Sinne ihrer Auffassung, daß es eine
dialektische widersprüchliche (antinomische) Struktur der Wirklichkeit
gibt, nicht anerkennen können. Aber wenn wir einsehen, daß das Wider-
spruchsprinzip alle Seienden beherrscht, wenn wir also mit Aristoteles zur
begründeten Erkenntnis gelangen, daß es das gewisseste und grundle-
gendste Prinzip ist, daß ein Sachverhalt unmöglich zugleich bestehen und
zugleich nicht bestehen kann, dann folgt daraus auch, daß alle wahren
Urteile, welche Sachverhalte so behaupten, wie sie sind, mit allen anderen
wahren Urteilen in einem nicht-widersprüchlichen Verhältnis stehen. Also
ist es gleichfalls unmöglich, daß aus einem wahren Urteil logisch korrekt
abgeleitete Folgen entspringen, die mit anderen wahren Urteilen in
Widerspruch stehen, weshalb die Kohärenz eines Urteils mit als wahr
erkannten Urteilen Bedingung seiner Wahrheit ist.
Es ist zwar möglich, daß im Falle der Aporien und scheinbaren
Antinomien ein wahres Urteil in scheinbarem Widerspruch zu anderen
wahren Urteilen steht, aber in einem wirklichen Widerspruch kann ein
wahres Urteil zu anderen nicht stehen, wenn das Widerspruchsprinzip als
ein ontologisches und deshalb auch als ein logisches Prinzip jene absolut
grundlegende Bedeutung hat, die Aristoteles ihm zurecht zuerkennt.
Zu einem anderen Sinn von Kohärenz können wir sagen, daß eine
notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander nicht als Bedingung
der Wahrheit anerkannt werden darf, außer wenn man mit Hegel behaupten
wollte, daß alle historischen und kontingenten Urteile letzten Endes mit
schlechthinniger Notwendigkeit aus dem absoluten Geist fließen und daß
wir daher die Notwendigkeit aller Urteile annehmen müssen oder gar
erkennen können.142
Auch Leibniz hat in gewisser Hinsicht die notwendige Kohärenz aller
Urteile behauptet, weil er behauptet, daß die reale Welt die bestmögliche
Welt ist und daß daher alles, was in der Welt ist, notwendig so geschaffen
oder zugelassen werden mußte, wie es ist. Denn jede andere Welt wäre
weniger gut als die Welt, in der wir leben. Insofern könnte man sagen, daß
Leibniz’ metaphysische Theorie der bestmöglichen Welt zumindest dahin
tendiert, daß alle Sachverhalte notwendig so sein müssen, wie sie sind –
trotz seiner Unterscheidung kontingent-faktischer von notwendigen
Vernunftwahrheiten. Gegen diese Version der Systemphilosophie hat
Reinhard Lauth heftig protestiert, wo er meint, unter Berufung auf Fichte
ein doppelt offenes System der Freiheit begründen zu können, das sowohl
auf absolute (göttliche) als auch auf endliche Freiheit hin als auf letzte, auf
keine Notwendigkeit reduzierbare Momente offen sei. Daß sich eine solche
142
Vgl. etwa Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3,
„Einleitung”, 3/349-350:
Daß diese Bedeutung des Gegenständlichen also nicht bloße Einbildung sei, muß sie an sich
sein, d.h. einmal dem Bewußtsein aus dem Begriffe entspringen und in ihrer Notwendigkeit
hervorgehen. So ist uns durch das Erkennen des unmittelbaren Bewußtseins oder des
Bewußtseins des seienden 3/550 Gegenstandes, durch seine notwendige Bewegung der sich
selbst wissende Geist entsprungen. Dieser Begriff, der als unmittelbarer auch die Gestalt der
Unmittelbarkeit für sein Bewußtsein hatte, hat sich zweitens die Gestalt des
Selbstbewußtseins an sich, d.h. nach eben der Notwendigkeit des Begriffes gegeben, als das
Sein oder die Unmittelbarkeit, die der inhaltlose Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins ist,
sich seiner entäußert und Ich für das Bewußtsein wird. – Von dem denkenden Ansich oder
dem Erkennen der Notwendigkeit ist aber das unmittelbare Ansich oder die seiende
Notwendigkeit selbst unterschieden, – ein Unterschied, der zugleich aber nicht außer dem
Begriffe liegt, denn die einfache Einheit des Begriffes ist das unmittelbare Sein selbst; er ist
ebenso das sich selbst Entäußernde oder das Werden der angeschauten Notwendigkeit, als er
in ihr bei sich ist und sie weiß und begreift. – Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich
die Gestalt des Selbstbewußtseins gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist
zu diesem Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein
und als Wahrheit ein.
offene Philosophie auf Fichte stützen dürfe, kann ich nicht anerkennen, so
lobenswert die Idee eines solchermaßen „offenen Systems“ auch ist.
Wenn wir jedenfalls anerkennen, was, so meine ich, mit letzter Evidenz
erkennbar ist, daß eben nicht alle Sachverhalte schlechthin notwendig sind,
daß es kontingente Sachverhalte gibt, daß es also nicht-notwendige Dinge
und wirkliche Freiheit gibt, (was in gewissem Sinne selbst Leibniz zugibt,
der zwar denkt, daß diese Welt notwendig die best-mögliche ist, aber
meint, daß zur bestmöglichen Welt gehört, daß in dieser Welt freie
Subjekte sind und daß dieselben in ihrer Freiheit nicht eingeschränkt
sind),143 so erkennen wir auch, daß endliche freie Personen Übel oder
Böses wie Gutes tun können.
Wenn man also die Freiheit in ihrer innerlich evidenten und aus einer
Reihe von zwingenden Gründen erkannten Existenz erkennt, dann liegt
schon in dieser Freiheit und in der aus ihr fließenden Möglichkeit, neben
Gutem auch das Schlechte zu tun, eine Kontingenz in dem Sinne, daß es
nicht notwendig ist, daß eine bestimmte Handlung so und nicht anders
vollzogen wird, sondern daß dies eben Wirkung freier Entschlüsse und
Taten ist.
Sowohl wenn man also die echte Kontingenz und Nichtnotwendigkeit
der Existenz der Welt und vieler Wesen in ihr anerkennt, als auch wenn
man Freiheit anerkennt, muß man zugeben, daß eine notwendige
Verknüpfung aller wahren Urteile weder besteht noch eine Bedingung für
Wahrheit sein kann. Denn da es eben wirklich zufällige oder nicht-
notwendige Sachverhalte gibt, kann auch die Wahrheit über diese nicht-
notwendigen Sachverhalte nicht notwendig mit allen anderen Wahrheiten
verknüpft sein; sie kann z.B. als Wahrheit über frei und nicht-notwendig
gewählte Taten nicht eine notwendige Wahrheiten oder mit allen anderen
kontingenten Wahrheiten notwendig verknüpft sein.
Deshalb muß man eine Theorie der universalen Notwendigkeit der
Wirklichkeit verwerfen. Wenn man also anerkennt, daß es auch kon-
tingente, nicht-notwendige Sachverhalte gibt, kann man die notwendige
143
Vgl. G. W. Leibniz, Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de
l’homme et l’origine du Mal, in: G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften,
hrsg. v. C. J. Gerhardt (Hildesheim: G. Olms, 1965), in 7 Bänden, Bd. VI, S. 21-
471.
144
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, IV, „Die Lehre von den Schlüssen“.
Sachverhalt) dasselbe wie adaequatio, weshalb wir hier nicht näher auf
diese Theorie einzugehen brauchen.
Wenn wir jetzt zu einer Diskussion der Folgen der Wahrheit übergehen,
lassen sich wiederum verschiedene Fragen stellen. Eine notwendige
Verknüpfung von Urteilen mit allen anderen Urteilen kann ebensowenig
eine Folge der Wahrheit sein, wie sie keine Bedingung derselben ist, weil
es, wie wir schon gesehen haben, überhaupt nicht wirklich so ist, daß alle
Urteile notwendig miteinander verknüpft sind. Dies gilt nicht einmal für
alle wahren Urteile.
Wenn man Kohärenz als notwendige Verknüpfung mit manchen
anderen Urteilen versteht, dann ist es wohl auch nicht berechtigt zu sagen,
daß dieselbe eine Folge ihrer Wahrheit ist. Dabei ist noch einmal zwischen
logischem Grund, Erkenntnisgrund und ontologischem Grund zu unter-
scheiden, die sich oft umgekehrt zu einander verhalten. Das ist eine Frage,
die wir hier nicht weiter zu klären brauchen.
Was ferner die Frage anlangt, ob eine notwendige Verknüpfung eines
wahren Urteils mit einem gegebenen wahren Urteil, wo sie tatsächlich
vorliegt, Folge oder Grund der Wahrheit ist, so würde ich antworten, ohne
hier eine gründliche und präzise Analyse bieten zu können, daß die
notwendige Verknüpfung eines wahren Urteils mit manchen anderen
Wahrheiten in gewissen Fällen eine Folge der Wahrheit ist, in anderen
Fällen wieder der Grund und in wieder anderen Fällen Bedingung von
Wahrheit, wobei zu differenzieren ist, ob wir in einem rein logischen,
ontologischen oder epistemologischen Sinne von einem Grund-Folge-
Verhältnis reden. Ich kann mich hier damit begnügen festzustellen, daß ein
interessantes weiteres philosophisches Forschungsfeld in der Frage liegt,
wann und in welchem Sinne die diskutierten notwendigen Verknüpfungen
Folgen, Gründe oder Bedingungen der Wahrheit sind.
sein. Denn wenn ein Urteil falsch ist, muß es zumindest im Widerspruch
mit jener Wahrheit stehen, die das kontradiktorische Gegenteil von ihm
selbst aussagt, aber außerdem noch mit zahllosen anderen Urteilen, die mit
diesem verknüpft sind oder es voraussetzen.
So ist die Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit allen wahren
Urteilen ein hinreichendes, aber kein praktikables Kriterium für seine
Wahrheit, da kein Mensch alle wahren Urteile kennt.
Wenn man hingegen bloß die Nichtwidersprüchlichkeit mit schon vom
Menschen als wahr erkannten Urteilen nimmt, dann ist dieselbe kein
hinreichendes Kriterium für Wahrheit.
Nichtwidersprüchlichkeit kann dabei zunächst eine formallogische
Nichtwidersprüchlichkeit meinen, d.h. daß ein Urteil nicht mit anderen als
wahr bekannten Urteilen in einem direkten Widerspruch steht und deren
kontradiktorisches Gegenteil behauptet. Wenn ich wahrheitsgemäß sage:
„Am 26. Juni 1987 schien die Sonne in Liechtenstein“ und jemand anderer
sagt: „Nein, an diesem Tag schien sie nicht“, ist offenbar eine der beiden
Behauptungen falsch. Denn hier ist der Widerspruch der beiden Urteile ein
formallogischer. Das eine Urteil besagt genau das kontradiktorische
Gegenteil des anderen.
Im Gegensatz dazu gibt es andere Widersprüche, die man als
materiallogische Widersprüche bezeichnen mag. Wenn etwas anderen
wahren Urteilen nicht formal, aber deshalb widerspricht, weil es im
Gegensatz zum inhaltlichen Wesen einer Sache steht, wenn ich z.B. sage:
„Dieser Mensch ist schwer schuldig, hatte aber überhaupt keine Freiheit,
sondern hat aus purem Zwang heraus gehandelt und ist dadurch schwer
schuldig geworden, daß er aus diesem Zwang heraus jemanden ermordet
hat“, so liegt darin ein Widerspruch, und zwar nicht ein formallo-
gischer. Denn die eine Teilbehauptung besagt, der Mensch habe aus Zwang
gehandelt, die andere, er sei schuldig. Rein aus der Form dieser beiden
Urteile kann man also keinen Widerspruch zwischen ihnen
entdecken. Aber es besteht dennoch ein Widerspruch zwischen ihnen, der
deutlich wird, wenn man die Materie, über die hier geurteilt wird, ins Auge
faßt und erkennt, daß die Wesen der beiden hier bestehenden
Wirklichkeiten, nämlich das von Schuld und das von Zwang, in einem
Gegensatz zueinander stehen. Wenn jemand eine Zwangshandlung
begangen hat, kann er dafür nicht schuldig sein. Also liegt hier ein
Zu Kohärenz als Kriterium der Wahrheit können wir sagen, daß eine
notwendige Verknüpfung von wahren Urteilen mit allen andern Urteilen,
wie sie gar nicht besteht, so auch nicht ein Kriterium der Wahrheit sein
kann. Denn ein wahres Urteil ist nicht mit allen anderen Urteilen
notwendig verknüpft. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil alle andern
Urteile auch die falschen Urteile einschließen. Wenn man die notwendige
Verknüpfung von Urteilen mit manchen anderen Urteilen nimmt, dann
kann dieselbe allerdings ein Kriterium für Wahrheit sein, insoferne ein
Urteil tatsächlich notwendig mit vielen schon als wahr erkannten Urteilen
verknüpft ist. Dann ist die Wahrheit durch die notwendig mit ihr
verknüpften Wahrheiten garantiert und dann können wir es tatsächlich als
Kriterium der Wahrheit ansehen, daß wir zeigen, daß die Wahrheit eines
bestimmten Urteils notwendig mit schon als wahr erkannten Urteilen
verknüpft ist.
Dies geschieht auch im Prozeß jeder logischen Deduktion, etwa in
jedem Syllogismus, in dem man zeigt, daß aus bestimmten Prämissen
notwendig die Wahrheit einer bestimmten Konklusion folgt. Wenn man
dies gezeigt hat, daß also ein notwendiger Wahrheitszusammenhang
zwischen der Wahrheit der Konklusion mit der Wahrheit der Prämissen
besteht und wenn man zusätzlich die Wahrheit dieser Prämissen erkannt
hat, dann ist das ein Kriterium für die Wahrheit der Konklusion.
Mit anderen Worten, wir erkennen die Wahrheit eines Urteils, wenn wir
zeigen, daß dieses Urteil notwendig mit anderen, schon als wahr erkannten,
Urteilen verknüpft ist. Deshalb liegt in dieser Form der Kohärenz ein
Kriterium für Wahrheit. Ja die notwendige Verknüpfung der Wahrheit von
Urteilen mit anderen schon als wahr erkannten Urteilen, die in formaler
Hinsicht ihren Grund in der formalen Syllogistik und im Fundament der
Schlußtheorie und Beweistheorie hat, liegt der ganzen Sphäre angewandter
Logik zugrunde.
Wie Pfänder in seiner Logik herausarbeitet, ist ja ein Beweis nicht
einfach der Nachweis, daß eine Konklusion notwendig aus bestimmten
Prämissen folgt. Mit einem derartigen Nachweis kann man nur die Folge-
richtigkeit einer Deduktion oder eines Syllogismus beweisen. Vielmehr ist
für einen Beweis vorausgesetzt, daß nicht nur die Gültigkeit eines
Schlusses und der notwendige Zusammenhang der Wahrheit der Konklu-
sion mit jener der Prämissen aufgewiesen wird, sondern daß auch die
Wahrheit der Prämissen feststeht. Der Beweis setzt also sowohl die
Folgerichtigkeit des Schlusses als auch die Wahrheit der Prämissen
voraus. So beweist die Folgerichtigkeit des Schlusses die einseitige
notwendige Verknüpfung der Wahrheit der Konklusion mit jener der
Prämissen: Wenn die Prämissen stimmen, stimmt auch die Konklusion. Die
Wahrheit der Konklusion ist garantiert, wenn die Wahrheit der Prämissen
feststeht und bewiesen, wenn überdies ein Begründungszusammenhang
vorliegt.
In diesem Sinne handelt die Logik und Syllogistik weitgehend von
Kohärenz im Sinne der notwendigen Wahrheitsverknüpfung eines
bestimmten Urteils mit anderen schon als wahr erkannten oder angesetzten
Urteilen.
Die Frage, ob Kohärenz als kohärente Verknüpfung mancher Urteile ein
Wahrheitskriterium ist, hängt von dem weiteren Problem einer sinnvollen
Verknüpfung verschiedener Urteile ab. Bei einer solchen hat man viel
weniger im Auge als eine notwendige Verknüpfung. Wenn man z.B. sagt,
daß die verschiedenen Urteile über die Welt, die aus unserer Sinnes-
erfahrung hervorgehen, sinnvoll miteinander verknüpft sind, dann sagt
man, daß diese Urteile einander ergänzen, daß sie nicht nur nicht-wider-
sprüchlich sind, sondern daß sie sich sinnvoll zu einem Ganzen fügen.
Angesichts der Prüfung der Kohärenz der Berichte über eine Tat, wie
sie im Alten Testament bei dem Verhör der Susanna im Bade
belauschenden und des Ehebruchs bezichtigenden beiden Alten durch
Daniel durchgeführt wird, so fragt es sich erstens, ob die Urteile der Alten
sich widersprechen. In diesem Fall haben die Berichte sich direkt
widersprochen, wenn auch aus materiallogischen und nicht aus rein
formallogischen Gründen. Aber es besteht auch die Frage, ob Geschichten,
die zwei oder mehr Zeugen erzählen, nicht nur in dem Sinne kohärent sind,
daß sie einander nicht widersprechen, sondern auch im Sinne, daß ein
ganzes, verständliches und sinnvolles Bild aus diesen verschiedenen
Berichten entsteht. Kohärenz von Berichten heißt dann, daß sie in Einklang
mit der Psychologie eines Menschen, mit der Tatsächlichkeit der Welt und
mit der Wirklichkeit stehen und daß sich aus diesen verschiedenen Urteilen
eine sinnvolle Ganzheit ergibt.
Wenn man Kohärenz in diesem Sinn, also nicht als notwendige
Verknüpfung, aber auch nicht als bloße Widerspruchsfreiheit, sondern als
Kohärenz in diesem Sinn kann daher in jenem Sinne und Maße als
Kriterium der Wahrheit gelten, als kein anderes oder weniger fehlbares
Kriterium vorhanden ist.
Als Theorie der Erkenntnis von Wahrheit scheidet die Theorie der
Kohärenz, im Gegensatz zu jener der Evidenz, aus, denn Kohärenz als
solche ist ja keine Erkenntnisform wie evidente Einsicht. Doch schließt
dies nicht aus, daß auf Grund der Kohärenz verschiedener Erfahrungen und
Erkenntnisse die Evidenz der einzelnen Erkenntnisse gestärkt oder sogar
erst hervorgerufen wird.
Von diesem richtigen Punkt einer Theorie der Hermeneutik aus liegt der
Fehlschluß nahe, daß deshalb, weil sie ein Kriterium für Wahrheit ist,
Kohärenz auch dasselbe sei wie Wahrheit.
Wenn man Kohärenz nicht bloß als Widerspruchslosigkeit annimmt,
sondern wenn man eine innere Einheit oder gar das von Hegel verabsolu-
tierte notwendige Verbundensein verschiedener Elemente in einem
notwendigen Wesen als Kohärenz bezeichnet, dann kann diese Form von
Kohärenz ein hinreichendes Kriterium dafür sein, daß wir etwas für wahr
halten oder daß wir etwas als wahr erkennen. Sogar wenn wir nur ein
Puzzlespiel zusammenfügen und wirklich jeder Teil sich zusammenfügen
läßt und wenn außerdem das Ganze nicht irgendein komisches abstruses
Gebäude ist, sondern ich aus tausend Puzzlestücken etwa genau die Kuppel
des Doms von Florenz zusammenbekomme, dann ist das zumindest für die
Zwecke des Puzzlespielers ein hinreichendes Kriterium dafür, daß er die
rechte Lösung gefunden hat, daß seine Lösung die richtige ist.
Natürlich könnte es prinzipiell sein, daß doch der eine Stein anders
verwendet wird als er gedacht war oder es könnte auch sein, daß man mit
denselben Puzzlestücken zwei verschiedene Formen machen könnte.
In solchen Fällen von Kohärenz ist dennoch das sinnvolle Zusammen-
passen der Teile ein zureichendes Kriterium dafür, daß man etwas für wahr
ansieht, aber es kann natürlich auch sein – vor allem, wenn es nicht so ein
einfaches primitives Ding wie ein Puzzle, sondern etwa ein philoso-
phischer Text ist –, daß eine Theorie, die ein philosophisches Werk wie ein
ganz geschlossenes System, wo alles zusammenstimmt, interpretiert,
weniger berechtigt ist als eine, die Widersprüche in einem Philosophen
zuläßt, aber dafür all den verschiedenen Erkenntnissen tiefer gerecht wird,
die er vielleicht nicht miteinander verbunden und mit manchen Irrtümern
vermischt hat. In diesem Sinn würde ich hinsichtlich der Kohärenztheorie
als hermeneutischer Theorie sagen, daß durchaus eine nicht-kohärente
Interpretation eines Textes richtiger sein kann als eine kohärente.
Und deshalb kann man nicht einmal hier, wo Kohärenz am ehesten ein
gültiges Wahrheitskriterium ist, allgemein sagen, daß Kohärenz ein
hinreichendes Kriterium ist, um die Erkenntnis der Richtigkeit oder
Wahrheit einer Interpretation zu erkennen.
Wenn man die Motive der Kohärenztheorie der Wahrheit prüft oder sich
danach fragt, warum überhaupt die Kohärenztheorie im strengen Sinn als
Theorie über das Wesen der Wahrheit entstanden ist, dann lassen sich
verschiedene Gründe nennen:
Einmal gibt es die bereits erwähnten Schwierigkeiten, die in der
Adäquationstheorie der Wahrheit als solcher und vor allem in der
Erkenntnis der Übereinstimmung von Urteilen mit der Wirklichkeit (in der
Verifizierung) liegen.
Mit dem Skeptizismus von Hume und Kant, nach dem wir die Dinge an
sich, so wie sie in sich selber sind, überhaupt nicht erkennen können, ist
natürlich erst recht eine Erkenntnis, die die Adäquation oder Entsprechung
von Urteilen mit der Wirklichkeit beweist, nicht mehr möglich, zumindest
im letzten Sinne. Es gibt zwar bei Kant noch die Idee der Wahrheit, wie
Palacios nachweist,145 ja Kant setzt in vieler Hinsicht noch die klassische
Adäquationstheorie der Wahrheit voraus, da er Urteile, die mit Erschei-
nungsgegenständen übereinstimmen, als wahr betrachtete.
Das ist sicher richtig, aber in einer anderen Hinsicht folgt daraus, daß
Kant leugnet, daß wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie in sich
ist, daß diese Position zumindest leicht zu derjenigen führt, daß wir letzten
Endes nur noch eine Kohärenz unserer Erfahrung, das sinnvolle
Zusammenspielen unserer Erfahrung, feststellen können, an der Stelle von
Wahrheit.
Denn erstens setzt selbst die Anwendung der Adäquationstheorie auf
unsere Urteile über Erscheinungen – entgegen Kants Leugnung der
Erkennbarkeit des Dings an sich – an sich bestehende Sachverhalte über
Erscheinungen voraus, mit denen unsere Urteile über sie übereinstimmen
müssen, um wahr zu sein. So ist mit Wahrheit als der wirklichen
Adäquation von Urteilen mit dem Selbstverhalten der Erscheinungen ein
Ding an sich, ein absoluter Punkt gegeben, sowie man Wahrheit im Sinn
der Übereinstimmung auffaßt, da für jede Wahrheit über Erscheinungen
145
Siehe J.M. Palacios, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, S. 19 ff.,
155 ff.
146
Siehe Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken (Ges. Werke 16. Abteilung) Teil I und II.
(Düsseldorf/Köln, Diederichs, 1957/1958), Bd. I, I. Teil, VII, 22, Anm., S. 29-30.
Zweiter Teil, 1. Abschnitt, Kap. 1, 2, 4, bes. S. 98 ff., vgl. auch ebd., S. 318 (244).
wieder nur kohärent und deshalb wahr sein, sondern hier muß der
Kohärenztheoretiker den Anspruch erheben zu erkennen, daß wirklich das
eine Urteil mit dem anderen in einem nichtwidersprüchlichen Verhältnis
steht. Und für diese These wenigstens beansprucht er wieder Wahrheit als
Adäquatio. Darum setzt jede Kohärenztheorie der Wahrheit und jede
andere, von der Adäquationstheorie abweichende Theorie der Urteilswahr-
heit überhaupt, sofern sie eine Theorie über das Wesen der Wahrheit ist,
wieder die Urgegebenheit von Wahrheit als adaequatio voraus, was wir in
diesem Teil für die Brentanosche Evidenztheorie der Wahrheit und für die
Kohärenztheorie der Wahrheit gezeigt zu haben hoffen.
Dies schließt keineswegs aus, daß letztendlich vollkommene Kohärenz
ausschließlich in der Wahrheit im Sinne der adaequatio besteht. Es ließe
sich zeigen, daß auch bei philosophischen (und teilweise sogar bei
dichterischen) Texten und in der Geschichte der Philosophie insgesamt
Kohärenz nur zwischen allen jeweiligen wahren Erkenntnissen und
Urteilen liegt, wie sie bei jedem Philosophen zu finden sind. Nur diese gibt
das wirklich kohärente Bild, nicht das Ganze all der Meinungen und
Äußerungen oder irriger Systeme von Philosophen, sondern nur das Ganze
dessen, was sie wirklich gesehen haben, was sie wirklich eingesehen
haben, was wirklich wahr ist.
In diesem Sinn kann man gerade durch die Auffassung des Wesens der
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erst jene wirkliche
innere Einheit und Kohärenz finden, die das Skandalon der Widersprüche,
wenn nicht beseitigt, so doch erklärt. Es sind nämlich nicht ausschließlich
diese Widersprüche zu betrachten, sondern all die vielen Einzeleinsichten,
die meist sogar von großen Irrtümern vorausgesetzt sind. Wenn man diese
Erkenntnisse, diese überall verstreuten wahren Urteile oder Spermata tou
logou (Bruchstücke des einen Logos), von ihren falschen Verallgemeine-
rungen oder von falschen Thesen, die sich an sie angeschlossen haben,
befreien könnte, dann würde man ein wirklich kohärentes Ganzes der
Philosophie bekommen, weil dasselbe nur in der Wahrheit möglich ist.
Die letzte Kohärenz aller wahren Urteile ist nur in der Wahrheit
gegeben. Denn jedes falsche System und jeder einzelne Irrtum, wenn man
sie mit wahren Urteilen konfrontiert, erweisen sich letzten Endes als nicht-
kohärent – durch innere Widersprüchlichkeit oder durch Widerspruch mit
anderen Wahrheiten.
Mit anderen Worten: Die Wahrheit als Übereinstimmung der Urteile mit
der Wirklichkeit ist die einzige Erklärung eines wirklich kohärenten und
vollständigen Systems bzw. einer summa veritatis, denn in jedem anderen,
auch noch so kohärenten Teilsystem oder in jeder Theorie, auch wenn ihre
Teile völlig miteinander und auch mit anderen allgemeinen Wahrheiten
zusammenstimmen sollten, ist, wenn sie falsch sind, doch irgendwo ein
Widerspruch zu irgendwelchen Wahrheiten verborgen. Es ist unmöglich,
daß es ein vollständig kohärentes System, das auch mit allen anderen
wahren Sätzen kohärent ist, geben könnte, das falsch wäre. In diesem
Sinne kann nur die Wahrheit in ihrer Ganzheit volle Kohärenz besitzen.147
147
Aber da wir natürlich nicht alle wahren Urteile kennen, genügt für uns die
Kohärenz einer auch noch so entwickelten Theorie mit anderen bekannten
Inhalten nicht, um zu beweisen, daß sie wahr ist.
148
Vgl. Mitchel Berbrier, “From Logos to Pathos in Social Psychology and Academic
Argumentation: Reconciling Postmodernism and Positivism in a Sociology of
Persuasion”, Argumentation, (1997); 11(1): 35-50. In der Zusammenfassung des
Papers durch den Autor im Philosopher’s Index heißt es: “Postmodern
perspectives hold knowledge and truth to be intersubjective, consensus-driven
social constructions... Abandoning these artificial distinctions in both
Bei Charles S. Peirce verbindet sich ein Verständnis des Wesens der
Wahrheit als Konsens mit einem Moment des Pragmatizismus, sodaß man
seine Wahrheitstheorie als Verbindung zwischen Konsenstheorie und einer
ausgeprägten pragmatistischen Handlungstheorie der Wahrheit ansehen
kann. Das letztere Moment kommt im folgenden Satz sehr deutlich zum
Vorschein:
...Wahrheit besteht weder in mehr noch in weniger als in jenem Charakter
eines Satzes (Urteils), welcher nichts anderes ist als daß der Glaube an den
Satz uns, bei hinreichender Erfahrung und Reflexion, zu einem solchen
Verhalten (Handeln) führen würde, wie es zu einer Erfüllung der Wünsche,
die wir zum gegebenen Zeitpunkt haben, dienlich wäre. Zu behaupten, daß
Wahrheit mehr als dies meint, heißt, daß sie überhaupt keinen Sinn hat.149
keit treten.150 Bevor wir auf die Konsenstheorie der Wahrheit und ihre
vielfältigen Varianten als solche eingehen, d.h. auf die Theorie, daß
Wahrheit ihrem Wesen nach im Konsens bestehe oder daß Konsens ihre
Bedingung, ihre Folge oder ihr geeignetes Kriterium sei, wollen wir
zunächst einmal fragen, was Konsens heißt und seinem Wesen nach ist.
150
Vgl. Dietmar Koveker, „Zwischen ‚objektiver Gültigkeit‘ und ‚subjektiv-
notwendigem Probierstein‘ der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische
Forschung, (1995); 49 (2): 274-293.
151
Vgl. Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken, zit.
vollziehen oder auch die von ihnen für wahr gehaltenen Urteile öffentlich
in einem bewußten Konsens zum Ausdruck bringen oder bekennen.
Dabei ist es, insbesondere im Kontext einer Diskussion der Konsens-
theorie der Wahrheit, wichtig festzuhalten, daß die bewußten Akte, die
einem Konsens, insbesondere im zweiten Sinne, zugrundeliegen, nicht
notwendig Akte des Urteilens, in denen ein Urteil, das einen Wahrheits-
anspruch erhebt, gefällt wird, sein müssen. Es kann sich jemand vielmehr
auf ein Konsenspapier, Gesetz oder einen Text einigen, den der Einzelne,
wenigstens teilweise, gerade nicht für wahr hält, aber vielleicht als minus
malum gegenüber anderen und schlimmeren Texten oder Gesetzen
betrachtet, weil er der Meinung ist, daß die volle Wahrheit keine Chance
auf Konsens hat und weil Konsens der Mehrheit für viele Bereiche des
Lebens in einer demokratischen Gesellschaft Bedingung ist. Konsens hat
hier also nicht die Bedeutung eines gemeinsam angenommenen Urteils,
sondern eher des Annehmens oder Akzeptierens (acceptance) von, oder
der Zustimmung zu, etwas (agreement). Während man den Ausdruck
„Konsens“ in dem Falle, in dem er eine Übereinstimmung im Urteil
bedeutet, als Zustimmung oder Übereinstimmung fassen und als consent
ins Englische übersetzen kann, könnte man Konsens im Falle einer bloßen
Akzeptanz von etwas oder Einigung auf etwas als agreement übersetzen,
was ein Einverständnis oder „sich einverstanden Erklären“ bedeutet.152
Kehren wir aber zu den beiden genannten Grundbedeutungen von
Konsens sowie deren Eigenschaften zurück: Da steht auf der einen Seite
das bloße objektive Resultat bzw. die objektive Relation des Konsenses, in
dem verschiedene Urteile, Urteilsakte oder auch ihr sprachlicher Ausdruck
zu einander stehen können, und auf der anderen eine Art „kommunikatives
Handeln“ in dem Sinne eines bewußten Übereinstimmens mit anderen.
Diese beiden Formen von Konsens sind wesensverschieden von einander.
Wenden wir uns zunächst der ersten Bedeutung von Konsens zu und
sehen wir dabei von jenem Konsens ab, der eigentlich nur als Akzeptanz
oder agreement bezeichnet werden sollte. Wir fassen also jenen Konsens
152
Engelhardt legt mit recht Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen Konsens
und Akzeptanz. T. H. Engelhardt, Jr., The Foundation of Bioethics, 2nd ed. (New
York and Oxford: Oxford University Press, 1996), pp. 13 ff.
im strengen Sinne ins Auge, der nur dort vorliegt, wo Personen in ihren je
eigenen, verschiedenen Akten dieselben Urteile für wahr halten.
Die Konsens genannte rein objektive Übereinstimmung zwischen Akten
oder ihren Resultaten und Inhalten (den logischen Urteilsgebilden) zielt auf
eine volle oder partielle Ähnlichkeit oder Gleichheit, nicht aber auf eine
Ähnlichkeit oder Gleichheit zwischen Akten als solchen ab, da ja auch
Urteilsakte, in denen ganz entgegengesetzte Inhalte angenommen werden,
als Akte einander ähnlich sind. Vielmehr bezieht sich Konsens nur auf eine
besondere Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit von Akten, die aufs engste
mit deren Inhalten bzw. mit den logischen Urteilsgebilden verbunden sind,
die in verschiedenen Akten für wahr gehalten werden. Konsens bezieht
sich auf die Relation der Akte des Urteilens und der Überzeugung zu deren
Inhalten bzw. zu jenen logischen Entitäten, die ihnen entsprechen und ohne
welche diese Akte unmöglich wären. Konsens verschiedener Personen
bedeutet also nur jene Verwandtschaft und Verbindung von Akten, die
allein der Tatsache entspringt, daß Menschen dieselben Urteile für wahr
halten und überzeugt sind, daß dieselben Sachverhalte, die im Urteil
behauptet werden, tatsächlich bestehen.
Der erste Begriff von Konsens also enthält – im Gegensatz zur
Kohärenz – schon ein Moment, das über eine rein logische Eigenschaft der
Urteilsgebilde hinausweist und einen Bezug zu einem Urteilsakt, bzw. zu
den diesem zugrundeliegenden Überzeugungen eines personalen Subjekts
voraussetzt.
Konsens in seiner zweiten Grundbedeutung hingegen meint in der Tat
ein noch wesenhafteres Moment personaler bewußter Akte, die auf
einander und auf die Inhalte des jeweils anderen Urteils bezogen sind:
nämlich einen Akt oder ein Aktgeflecht des einseitigen oder gegenseitigen
Zustimmens bzw. des „mit einander Übereinstimmens“, setzt also einen
bewußt erfahrenen Bezug zu anderen, bekannten oder unbekannten,
wirklich oder vermeintlich erkannten, oder auch nur vermuteten, Akten
voraus.
Was aber heißt Konsens oder ‚Übereinstimmung‘ genau? Wir müssen
innerhalb dieses unklaren Begriffs153 wenigstens die folgenden ganz
153
Die Unklarheiten der Konsenstheorien und dialogischen Diskurstheorien der
Wahrheit reichen noch weiter als sie hier dargestellt werden. Manche dieser
1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als bloße
Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden und von Personen
gefällten Urteils; als objektive Übereinstimmung der Überzeugungen, und
als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischer Konsens‘
Wir können unter Konsens eine rein objektive Gleichheit des Urteils
oder der Überzeugungen verstehen, ohne daß irgendeine einseitige oder
gegenseitige Kenntnis oder Erkenntnis einer objektiv bestehenden Gleich-
heit von Urteilen und Überzeugungen vorzuliegen braucht. Aus diesem
Grunde und nicht weil die unmittelbaren Bezugspunkte des Konsenses
selber, die Termini, zwischen denen Konsens besteht, nicht Akte eines
oder mehrerer bzw., im Falle eines breiten politischen Konsenses oder
eines Konsenses der Mehrheit, vieler oder gar aller Menschen wäre,
sondern weil in den hier gemeinten Fällen von Konsens keinerlei
gegenseitige Kenntnis des Urteils anderer Personen den Konsens prägt und
auch nicht in bestimmter Weise in ihn einfließt, sprechen wir hier von
einem rein objektiven Konsens.
Konsens in dieser Bedeutung ist also nicht die ausdrückliche, einseitig,
beiderseitig oder gegenseitig bekannte Übereinstimmung der Urteile ver-
schiedener Personen und der diesen Urteilen zugrundeliegenden Überzeu-
gungen, eine Bedeutung von Übereinstimmung, auf die wir zurückkommen
werden, sondern die rein objektive Einhelligkeit oder Gleichheit im Urteil
oder der Überzeugung.
154
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“; zit.
ihren Akten die Wahrheit dieser Urteile behaupten. (Um diesen Konsens
zu realisieren und jedenfalls, um ihn feststellen zu können, müssen diese
Urteile freilich sprachlich ausgedrückt sein, aber der hier gemeinte
objektive Konsens der ersten Art baut nicht auf diesen sprachlichen
Formulierungen und Sätzen, sondern auf den in diesen ausgedrückten
objektiven Gedanken auf.) Konsens wäre dann der Einklang zwischen
objektiven Urteilen, und zwar nicht im Sinne der Bolzanoschen „Sätze an
sich“, sondern der Urteile, wie sie in Behauptungsakten behauptet werden
und deren Inhalt darstellen.
Das Urteil im Sinne des objektiven Urteilsinhalts läßt sich in concreto
viel leichter erfassen als die zugrundeliegenden Akte, da es gleichsam
unabhängig von den – unserem Blick ja immer letztlich verborgenen –
geheimen inneren Überzeugungen eines Menschen besteht, auch wenn es
diesen normalerweise entspringt und man, um von Konsens zu reden,
wenigstens eine allgemeine innere Annahme der Wahrheitsansprüche
dieser objektiven Urteile durch Personen annimmt.
2) Konsens auf der Ebene der objektiven Übereinstimmung zwischen
Überzeugungsakten und inneren Urteilsakten bzw. deren Inhalten.
Zweitens kann man sich mit dem Ausdruck eines objektiven ‚Konsenses‘
auf die personalen Akte der Überzeugung, des Annehmens oder Glaubens,
der urteilsmäßigen Zustimmung oder Verwerfung selber beziehen; diese
Akte des „beliefs“ (des Glaubens oder des Meinens) müssen zwar
notwendig einen Inhalt haben, den man das ‚Urteil‘ in dem in Kapitel 3
von Wahrheit und Person erörterten Sinne nennen kann, unterscheiden sich
jedoch, als individuelle, personale Akte von dem rein logischen
behauptenden Urteilsgebilde. Dieses ist ja deutlich sowohl von Urteils-
bzw. Behauptungsakten, auch wenn es in diesen behauptet werden kann
und dann gleichsam deren ‚Inhalt‘ bildet, als auch von sprachlichen Sätzen,
in denen es ausgedrückt werden kann, verschieden.
Der Terminus ‚Überzeugung‘ kann zwar – ebenso wie ‚Urteil‘ – nicht
nur einen Akt, sondern auch dessen Inhalt (ein objektives Urteil als Inhalt
der Überzeugung) meinen, und zwar dann, wenn man die Überzeugung in
ihrem objektiven Sinne als Inhalt der Überzeugung nimmt, d.h. als das
Urteil, welches Gegenstand des Überzeugungsaktes ist, oder sogar als den
vom Urteil gemeinten und behaupteten Sachverhalt.
Die Ebene, auf der hier Konsens oder Dissens bestehen, ist nicht mehr
das reine objektive Urteil, und nicht einmal mehr jenes objektive Urteil,
von dem in allgemeinen Zügen angenommen wird, daß es jemand
tatsächlich fällt oder von dem er sogar selber sagt, daß es seiner
Überzeugung entspricht. Vielmehr ist hier der Bezugspunkt und Träger des
Konsenses die Gesamtheit der wirklich innerlich für wahr gehaltenen
Urteile selbst, insofern sie den wirklichen Überzeugungen von Menschen
entsprechen.
Mit diesem weniger leicht feststellbaren, aber in personalen Akten
begründeten Konsens kommen wir dessen Wesen viel näher als in dem
Falle, wo Ausgangspunkt des Konsensbegriffs nur die objektiven Urteile
sind, die von Personen gefällt werden. Ja nur im Falle des Vorliegens
solcher innerer Akte der Überzeugung finden wir objektiven Konsens, denn
solange die von Menschen gefällten Urteile nicht ihrer inneren Überzeu-
gung entsprechen, handelt es sich nur um scheinbaren Konsens und um
eine der Person selber äußere Ebene objektiver logischer Urteilsgebilde,
die leichter zugänglich sind als innere Akte, aber die eigentlich nur deshalb
als objektiver Konsens angesehen werden können, weil sie als Anzeichen
der inneren Überzeugungen der Menschen interpretiert werden. Erst wenn
der Konsens sich auf diese inneren Akte selber stützt, ist er deshalb echter
Konsens, welcher eben niemals eine rein logische Gegebenheit ist, sondern
wesenhaft auf diesem Moment der inneren Überzeugung (des belief)
beruht.
Eine klare Abgrenzung dieses eigentlichen Konsenses vom ersten Typ
objektiven Konsenses läßt sich dadurch erreichen, daß es etwa zur
sokratischen Auffassung des Konsenses gehört, auf Konflikte zwischen
den beiden Ebenen des Konsenses hinzuweisen. Es gibt nämlich neben
dem Konsens, der sich auf der bewußten Ebene geteilter Überzeugungen
entfaltet, noch eine ganz andere Dimension des von Sokrates gemeinten
Konsenses, nämlich die Übereinstimmung eines Menschen mit jenen
Urteilen, die sich auch dann rein objektiv als logische Konsequenzen aus
den von ihm gefällten Urteilen ergeben, wenn sie seinen persönlichen
Überzeugungen nicht entsprechen, sondern zu diesen im Widerstreit
stehen.
Auf der Ebene der objektiven, von jemandem gefällten, Urteile, bzw.
der logisch aus diesen folgenden Urteilsinhalte, besteht etwa schon
Konsens mit dem von Sokrates Gesagten, auch wenn die bewußten inneren
Überzeugungen der Gesprächspartner des Sokrates in heftigem Dissens zu
Sokrates’ Aussagen stehen, oder umgekehrt. Sokrates versucht also, den
Widerspruch aufzudecken, der zwischen diesen beiden Ebenen von
Konsens oder Dissens bestehen kann. In einem derartigen sokratischen
Dialog wie dem Gorgias etwa, im Zwiegespräch mit Kallikles, sagt
Sokrates, in frei wiedergegebenem Gedankengang: „Was Du (bewußt)
behauptest und wovon Du überzeugt bist, das Urteil, mit dem ich
keineswegs übereinstimmen kann, daß das Gute mit der Lust identisch und
nichts anderes als sie ist, widerspricht den logischen Konsequenzen des
eben von Dir Zugegebenen: daß es nämlich schlechte oder neutrale Lust
gibt; mit dieser Aussage aber hast Du die zuvor von Dir behauptete
Identität des Guten mit der Lust geleugnet und mit dieser Verwerfung
Deiner früheren These stimme ich ganz überein.“
Mit anderen Worten: Es besteht Dissens zwischen Sokrates und Gorgias
auf der Ebene ihrer bewußten Überzeugungen, nicht aber auf der Ebene der
von Gorgias bloß implizierten, rein objektiven Urteile, die dieser per
implicationem gefällt hat und die dieselben sind, die Sokrates ganz bewußt
für wahr hält.
Die Verschiedenheit dieser beiden Ebenen, auf denen objektiver
Konsens oder Dissens bestehen, kann sich auch in der umgekehrten
Richtung zeigen und in den Worten zum Ausdruck kommen: „Mit Deinen
wirklichen Überzeugungen stimme ich überein, nicht ab er mit dem, was
Du hier eben behauptet oder impliziert hast; denn wenn Du damit recht
hättest, so wäre nicht mehr S P, was doch Deiner wirklichen Überzeugung
entspricht.“
Wir können die Unterscheidung zwischen dem in einem Satz ausge-
drückten Urteil und der Überzeugung als Termini, zwischen denen
Konsens bestehen kann, noch klarer sehen, wenn wir an lügenhafte oder
verleumderische Behauptungen denken, durch deren Möglichkeit oder
Wirklichkeit deutlich wird, wie weit das von jemandem gefällte Urteil von
seinen Erkenntnissen und inneren Überzeugungen abweichen kann.
Wir nehmen hier den Urteils- und Behauptungsakt in einem anderen
Sinn als Reinach, der das Bestehen lügenhafter Behauptungen nicht
anerkennt, sondern meint, daß ausschließlich jener Akt, dem die innere
Überzeugung vom geurteilten Sachverhalt zugrundeliegt, ein Urteils- oder
Behauptungsakt sein kann, und daß daher eine Lüge nur eine Scheinbe-
hauptung ist.
Es geht hier um zwei evidenterweise verschiedene Akte und deshalb
primär um eine terminologische Frage, ob man beide Behauptungen
nennen will oder nicht. Allerdings hat diese Frage auch eine inhaltliche
Seite, die über die terminologische Frage hinausgeht: Findet sich auch in
der Lüge eine Behauptung, worunter man sowohl den Behauptungsakt als
auch den objektiven Behauptungsinhalt, das ausgesprochene Urteil, das
einen Sachverhalt behauptet, verstehen kann? Ist es nicht evident, daß eine
Lüge nur dann wirklich eine Lüge ist, wenn sie auch tatsächlich eine
Behauptung war, und zwar eine Behauptung des Bestehens von Sachver-
halten, von denen der Lügner weiß oder zumindest glaubt, daß sie objektiv
nicht bestehen?155
Wenn der Lügner nur den äußeren Habitus einer Behauptung annähme
in der Weise, in welcher wir dies in den von Roman Ingarden als Quasi-
Urteil bezeichneten Gedanken finden,156 könnte er nicht lügen. Das Quasi-
Urteil ist jenes bloß scheinbare Urteil, durch das etwa ein Romanschrift-
steller die Welt des Romans aufbaut, indem er diese scheinbar wirklich
beschreibt, so als bestünde sie unabhängig von dem Roman und als würde
er Urteile über sie fällen, während in Wirklichkeit diese ‚Urteile‘ Quasi-
Urteile sind und nur den Habitus eines Urteils aufweisen. Ein solches
Quasi-Urteil, gerade weil es keine wirkliche Behauptung ist und deshalb
keinen Wahrheitsanspruch erhebt, kann unmöglich eine Lüge sein. Lüge
kann nur sein, was einen Wahrheitsanspruch macht; und dies gilt nur vom
Urteil. Also muß in der Lüge eine Behauptung, und da diese nichts anderes
ist als ein sprachlich zum Ausdruck gebrachtes Urteil, auch ein Urteil
zugrunde liegen.
155
Es gibt freilich noch schwierige Fälle der Lüge, wenn jemand das Falsche nur
behaupten will, aber, ohne es zu wissen, Wahrheit redet. Dies ist ein Fall der
Lüge, in dem kein wirkliches, sondern nur ein vermeintliches Wissen der
Falschheit des eigenen Urteil vorliegt.
156
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; sowie Josef Seifert, “Ingarden’s
Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical
Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of
Art”, in: Adam WĊgrzecki (Hrsg.) Roman Ingarden a filozofia noszego czasu
(Kraków: Polskie Towarzystwo Filozoficzne, 1995).
157
Vgl. Adolf Reinach, ebd., und Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
158
Die ausführlichste und tiefgründigste Untersuchung des Unterschieds zwischen
aktuellem und überaktuellem Bewußtsein ist diejenige von Dietrich von
Hildebrand in seinen Werken Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine
Untersuchung über ethische Strukturprobleme (1918), 3., durchgesehene Auflage
(Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982), sowie Das Wesen der Liebe; Dietrich
von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971), 2e Aufl.,
(Hg.) Paola Premoli De Marchi (Milan: Pompiani, 2003). Vgl. auch Josef Seifert,
„Grundhaltung, Tugend und Handlung als ein Grundproblem der Ethik.
Würdigung der Entdeckung der sittlichen Grundhaltung durch Dietrich von
Hildebrand und kritische Untersuchung der Lehre von der ‚Fundamentaloption‘
innerhalb der ‚rein teleologischen‘ Begründung der Ethik,“ in: Clemens Breuer
(Hg.), Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer
Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70.
Geburtstag, 311-360.
dem einsamen, rein inneren Akt unterscheiden, der seinen vollen Sinn in
sich behält, ganz gleich ob er vernommen wird oder nicht.159 Jemand
könnte in diesem Lichte das Behaupten als einen Urteilsakt betrachten,
dessen Inhalt (das objektive Urteil) auch sprachlich ausgedrückt wird, oder
als einen Akt, in welchem ein einsamer innerer Urteilsakt nur nach außen
verlautet oder schriftlich zum Ausdruck gebracht wird. Doch sind solche
Beschreibungen ungenau und irrig. Denn wir müssen nicht nur zwischen
Behauptungsakt und Behauptung im Sinne eines logischen Urteils
unterscheiden; und nicht nur drückt die Behauptung dieses logische Urteil
und nicht eigentlich einen Urteilsakt aus, der nur, in Husserl’scher
Terminologie, kundgegeben wird. Vielmehr besteht zwischen dem sozialen
und vernehmungsbedürftigen Akt der Mitteilung und auch der Aussage
(einer gewissen Dimension des ausdrücklichen Behauptens und Hinstellens
eines Sachverhalts) und einem rein inneren und keineswegs vernehmungs-
bedürftigen Urteilsakt keine notwendige Beziehung, wie wir im Falle der
Lüge gesehen haben und wie wir auch am Beispiel des rein inneren
Urteilsaktes, der sich nicht in einer Aussage und Behauptung äußert, sehen
können.
Im Unterschied zum zeitlich punktuellen Urteilen, das sowohl
sprachlich ausgedrückt als auch ein rein innerer Urteilsakt sein kann, bzw.
zum Behaupten, das ein über einen inneren Urteilsakt als solchen
hinausgehender Akt des in den interpersonalen Raum Hinstellens und der
Feststellung ist, können Überzeugungen überaktuell bestehen. Ja sie
bestehen eigentlich niemals nur punktuell wie der Behauptungsakt, und
brauchen auch nicht sprachlich und nicht einmal rein gedanklich
ausgedrückt und ‚ausformuliert‘ zu werden.160
159
Zum Wesen sozialer Akte vgl. Adolf Reinach, „Die apriorischen Grundlagen des
bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische
Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-
1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg. v. Karl Schuhmann Barry
Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141-278, sowie John F.
Crosby, „Reinach’s Discovery of the Social Acts,“ Aletheia (1983), 3, 143-194.
160
Deshalb würde es dem Akt des Behauptens widersprechen, wenn jemand mitteilen
würde, er habe etwas behauptet und auf die Frage, wo und vor wem er denn diese
Behauptung aufgestellt habe, antworten wollte: „Ich habe das nur ganz still in
meinem Kämmerlein so vor mich hin behauptet.“ Hingegen wäre es ganz normal
zu sagen: „Ich habe diese meine innere Überzeugung niemals geäußert.“
absehen kann. Der Nachteil ist jedoch, daß das bloße Ankreuzen einer
Zeile auf einem Meinungsumfragenformular oder einem Wahlzettel, oder
das Aussprechen oder Niederschreiben von Sätzen weder eindeutig
Überzeugungen noch Urteile signalisiert und daher auch selber kein
Konsens ist, sondern einen solchen höchstens andeutet, und auch dies nur
dann, wenn diese Stimmen ganz freiwillig und bewußt denkend abgegeben
wurden. In einem rein objektiven Feststellen von Sätzen verliert man jede
Kontrolle und Erkenntnis davon, ob überhaupt ein Subjekt diese Sätze
selbst angekreuzt, gelesen, oder verstanden hat und aus welchen vielleicht
ganz irrelevanten Gründen es sie, vielleicht völlig ohne Zustimmung und
Überzeugung, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat. Damit verliert
man den eigentlichen, wesenhaft personalen, Bezugspunkt des Konsenses,
der eben auf der Ebene von Personen und nicht auf Papier oder in
gesprochenen Sätzen, sondern erst dann besteht, wenn Personen dieselben
Urteile für wahr halten und dieselben Sachverhalte durch die von ihnen für
wahr gehaltenen Urteile behaupten.
Zwar legt man, vor allem im Kontext demokratischen Konsens-
verständnisses, des häufigen Gebrauchs von Statistiken usf., dem Konsens-
verständnis meist nur den dritten, rein objektiven Sinn des Terminus
‚Konsens‘ zugrunde, aber in Wirklichkeit besteht Konsens objektiv nur auf
der Ebene wirklich gleicher Überzeugungen (des zweiten Phänomens
objektiven Konsenses) und gelten die dritte und erste Form nur dort als
Ausdruck eines echten Konsenses, wo sie Zeichen und Ausdruck der
zweiten sind.
Statistiken, Abstimmungen und Wahlen stellen Formen des Versuches
dar, einen rein objektiv bestehenden oder nicht bestehenden Konsens zu
ermitteln, wobei man voraussetzt, daß die Sätze oder sonstigen sprach-
lichen Ausdrucksmittel der Überzeugungen von Menschen die inneren
Überzeugungen der betreffenden Subjekte angemessen zum Ausdruck
bringen.
Eine objektive Feststellung des Konsenses in diesem dritten Sinne
beschränkt sich meist auf die ganz äußere Feststellung von Sätzen oder
Zeichen, die die Zustimmung zu bestimmten Urteilen zum Ausdruck
bringen sollen. Wie bereits gesagt, sehen wir hier von jenen Abstim-
mungen und Wahlergebnissen ab, wo diese gar kein Urteil einschließen,
sondern etwa einen Kandidaten bevorzugen oder eine bestimmte Verord-
nung oder ein Gesetz nur für das geringere Übel halten; hier spielt der
Konsens, oder besser: die Zustimmung, eine ganz andere Rolle, die mit
unserem Thema des Wesens der Wahrheit wenig oder nichts zu tun hat.
Abgesehen davon aber, daß es bei Wahlen und in anderen Fällen des
sprachlich ausgedrückten Konsenses oft nicht direkt um Urteile oder
Überzeugungen, sondern um andersartige Präferenzen geht, kann man auch
dort, wo Volksabstimmungen oder andere Ausdrucksformen des äußerlich
meßbaren Konsenses an sich Urteile zum Ausdruck bringen, nie in die
Seele eines Menschen hineinblicken und feststellen, ob er wirklich jenen
Aussagen zustimmt, denen er zuzustimmen scheint. Dies gilt nicht nur
dort, wo Druck ausgeübt wird oder Sanktionen drohen, wenn jemand
ehrlich seine Meinung zum Ausdruck bringt, sondern zeigt, weit darüber
hinaus und in noch allgemeinerer Weise, den begrenzten und trügerischen
Charakter und Wert statistischer Meinungsumfragen und Wahlergebnisse,
wenn man ein objektives Urteil über den demokratischen Konsens einer
Mehrheit fällen will, da die betreffenden Ergebnisse oft durch demago-
gische, rein psychologische oder andere irrationale Faktoren, wie Beste-
chungen oder rein persönliche Vorteile, die jemand aus einem bestimmten
Abstimmungsergebnis zieht, gesteuert und bestimmt werden.
Konsens im Sinne dieser rein äußerlich schriftlich oder mündlich
fixierten objektiven Übereinstimmung ist jedoch wohl derjenige Sinn von
Konsens, der den meisten Konsenstheorien der Wahrheit zugrundeliegt, die
sich im Äußerlichen demokratischer und politischer Meinungsermittlung
bewegen. Dabei geht man von der nicht unproblematischen Meinung aus,
daß trotz der vielen Formen der demokratischen Stimmenmanipulation, der
blinden Zustimmung Vieler zu vorgegebenen oder über Werbung sugge-
rierten Texten usf. auf diese statistische Weise „objektiver Konsens“
ermittelt werden könne, der auch dem eigentlichen Niveau entspricht, auf
dem allein wirklicher Konsens bestehen kann.
Da jedoch in der überwiegenden Zahl der Fälle eine äußere Konsensbil-
dung und Konsensermittlung auf der dritten oben genannten Ebene der
sprachlichen Sätze, der Unterschriften oder ausgefüllten Fragebögen ohne
jede vorhergehende Reflexion und oft sogar ohne jedes Verständnis der
‚Wählenden‘ oder ‚Zustimmenden‘ für den Inhalt solchen ‚Konsenses‘ zu
Stande kommt, ist ein solcher Konsens fragwürdig und oft nahezu wertlos.
Trotzdem besteht in der Demokratie – im Prozeß demokratischer
161
Vgl. Platon, Kriton 49 c-d.
162
So etwa im Euthydemos 292 b, wo es über die Übereinstimmung darüber geht, daß
das Gute zugleich das Schöne sei.
nach der Natur des Konsenses hinaus zum Problem seines Verhältnisses
zur Wahrheit. Bevor wir uns dieser in unserem Zusammenhang entschei-
denden Frage zuwenden, müssen wir noch eine ganz andere Bedeutung
von Konsens von den bisher behandelten abgrenzen.
1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche Übereinstimmung, die ein
einseitiges oder gegenseitiges Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt
Ganz von dem rein objektiven Konsens verschieden ist ein ‚subjektiv
erlebter‘ Konsens, d.h. eine solche Übereinstimmung, die ein Wissen, eine
Erkenntnis oder einen Glauben einschließt, auf Grund deren jemand sich
bewußt wird, sein eigenes Urteil mit jenem anderer Personen zu teilen.
Dieser sich von den diversen erörterten Formen rein objektiven
Konsenses unterscheidende zweite prinzipielle Fall von Konsens liegt dann
vor, wenn einige Personen miteinander übereinstimmen und zumindest
eine dieser Personen um diese Übereinstimmung weiß. Die mit einander
Übereinstimmenden haben hier also nicht nur objektiv dieselbe Überzeu-
gung, was sich in vielen Fällen auch darin äußert, daß sie dieselben Urteile
fällen. Im dem gegenwärtig erörterten Sinne von Konsens nennen wir
jedoch den rein objektiven Einklang zwischen ihren Urteilen, die Tatsache,
daß sie dieselben Urteile für wahr und falsch halten und dieselben
Sachverhalte urteilen, oder auch rein statistischen oder politischen äußeren
Konsens, der sicher seine große Bedeutung in einer Demokratie besitzt,
noch nicht Konsens. Die rein objektive Übereinstimmung zwischen der
subjektiven Überzeugung verschiedener Subjekte ist also nicht Konsens in
dem hier gemeinten Sinne.
Erst wenn man von dieser „Übereinstimmung im Urteil“ auch weiß,
kann man in diesem zweiten grundlegenden Sinn von Konsens reden. In
manchen Fällen ist eine derartige Übereinstimmung nur einem bekannt,
z.B. wenn ein Autor ein Buch geschrieben hat und ein anderer sein Buch
liest und mit ihm übereinstimmt, oder wenn ein Zeuge eines Gesprächs
zweier anderer seine Übereinstimmung mit dem einen noch nicht zum
Ausdruck gebracht hat.
Während Konsens im vollen Wortsinn gegenseitiges Wissen um die
gemeinsame Überzeugung einschließt, kann also das dem Konsens
163
Vgl. Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung (Halle a.d.S.: Buchdruckerei des
Waisenhauses, 1917), Reprint (München: Kaffke, 1980), sowie Max Scheler,
Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke Bd. VII (Bern und
München: Francke Verlag, 1973), 6. Aufl.
164
Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchun-
gen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl.,
Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975).
dem gleichen Urteil und der gleichen Überzeugung des Anderen, entweder
indem sie mit einander sprechen, sich gegenseitig verständigen und
ausdrücklich übereinstimmen, oder indem sie, um ihre Meinung gefragt,
dieselbe gemeinsam zum Ausdruck bringen, wie z.B. in Appenzell in der
Schweiz die Landsmänner durch das Erheben des Schwerts ihre Meinung
zum Ausdruck bringen oder bis vor kurzem brachten.
Zusätzlich bestehen ungezählte weitere Unterschiede, etwa hinsichtlich
der Fragen: ob es sich um eigentliches Erkennen oder Wissen von der
Übereinstimmung, oder nur um ein Vermuten, oder aber um wohl
fundierten Glauben handelt; auf welche Ebene und welche der drei Formen
der rein objektiven Übereinstimmung sich dieses Wissen bezieht (nur auf
das verbal oder durch eine Stimme ausgedrückte Urteil, auf das objektive
Urteil, das jemand gefällt hat, oder auch auf die innere Überzeugung, bzw.
den Urteilsakt selber), etc.
In noch vollerem Sinne liegt Konsens erst dann vor, wenn beide (alle)
Subjekte des Konsenses um die Zustimmung und Selbigkeit der Überzeu-
gung des Anderen nicht bloß wissen, sondern wenn es zur Erfahrung des
Konsenses und der Übereinstimmung, durch gegenseitige Erkenntnis der
anderen Person und ihrer Überzeugungen, durch Bewußtsein vom Wissen,
den Überzeugungen oder dem Glauben des Anderen, und durch eine
intersubjektive, gemeinsame Erfahrung der Übereinstimmung kommt.
Erst im Falle des gegenseitigen Wissens um solche Übereinstimmung,
im Unterschied zum bloß einseitigen Wissen, liegt Konsens im Vollsinn
und vielleicht in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes vor. Und es
ist dieses neue Phänomen, das der Rede von Konsensbildung, vom Dialog
als Mittel zur Konsensbildung usf., und damit auch der Habermas’schen
Theorie zugrundeliegt.
halte ich jenes um soviel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden,
als einen andern davon zu befreien. Denn nichts, denke ich, ist ein so großes Übel für den
Menschen, als S458b irrige Meinungen über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns.
Behauptest nun auch du, ein solcher zu sein, so wollen wir weiter reden; dünkt dir aber, daß
wir es lassen müssen, so wollen wir es immerhin lassen und die Unterredung aufheben.
166
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.
167
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze
(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 104 ff.; 155 ff.; 178. Habermas hebt (ebd.,
S. 87) hervor, daß Michael Dummet, Karl-Otto Apel und Hilary Putnam das
Wahrsein nicht mit einem „Für-wahr-gehalten-Werden“ identifizieren, während
seine eigene Position in dieser Hinsicht in mancher Hinsicht mit der von ihm
(ebd., S. 87 ff.; 98-99) diskutierten Position Gadamers verwandt ist, die einen
„Diskursbegriff der Wahrheit“ enthalte. Hermeneutische und analytische
Philosophie seien „zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende“.
(Vgl. Habermas, ebd., S. 65 ff.; 44 ff.)
168
Vgl. eine Verteidigung der Konsenstheorie der Wahrheit im Habermas’schen
Sinne: Herbert Scheit, Wahrheit – Diskurs – Demokratie. Studien zur ‚Konsensus-
theorie der Wahrheit‘ (Freiburg: Karl Alber Verlag, 1987/1991).
169
J. Habermas, „Wahrheitstheorien“, a.a.O., S. 219. L. Bruno Puntel, a.a.O., S. 152.
4) Denn sie unterscheidet sich von einem vierten Phänomen, einer rein
verbalen Konsensfähigkeit. Gewiß besteht auch die zweite Art von
empirischer Konsensfähigkeit in mehr als im bloßen Behaupten mehrerer
Menschen, daß sie übereinstimmen. Finden wir doch oft, daß jemand uns
beistimmt, wir merken aber bald, daß er den Sinn unserer Aussagen nicht
verstanden hat und wir aus seinen Äußerungen schließen müssen, daß er
nicht wirklich mit uns übereinstimmt, sondern im Gegenteil ganz anderer
Ansicht ist. Das kommt besonders häufig in der Philosophie vor.
Manchmal besteht umgekehrt eine solche verbale Konsensfähigkeit
gerade nicht, obwohl ein wirklicher Konsens vorliegt – nämlich überall
dort, wo es Streit um Formulierungen und Worte gibt, obwohl der Sache
nach Übereinstimmung herrscht. Im Gegensatz dazu kann ein verbaler
Konsens bestehen, obwohl die Überzeugungen der Einzelnen, die ihren
gemeinsamen Urteilen bzw. Aussagen zugrundeliegen, ganz verschieden
von einander sind. So wird das Glaubensbekenntnis eines von der
objektiven Tatsächlichkeit der Auferstehung überzeugten Christen und das
eines Schülers Bultmanns, der den Inhalt des Credo für rein mythisch und
vom Subjekt abhängig hält, verbal übereinstimmen, nicht aber inhaltlich.
Jetzt können wir den Konsens weiter bestimmen, indem wir ihn nicht
nach seinem Wesen, sondern nach seinen Subjekten differenzieren.
Auch in dieser Hinsicht kann man unter Konsens Verschiedenes
verstehen:
Zunächst kann man die Subjekte des Konsenses einfach hinsichtlich der
Zahl differenzieren.
In dieser Weise läßt sich der Konsens sehr verschieden fassen:
Zweitens kann man den Konsens seinen Subjekten nach als Überein-
stimmung vieler oder einer Mehrheit innerhalb bestimmter Gruppen,
historischer Epochen, Sippen, Rassen, Völker oder auch als Konsens einer
großen Zahl oder Mehrheit von Individuen überhaupt bestimmen.
170
Vgl. auch Hartmut Rosenau, „Der ‚consensus gentium’ – fundamentaltheologische
Erwägungen zu einem vernachlässigten Gottesbeweis“, Theologie und Philoso-
phie (1994); 69 (4): 481-492.
Schließlich könnte man noch bescheidener sein und nur die Zustim-
mung von mehr als einer Person als genügende Basis für Konsens ansehen.
2.1.4. Konsens als Übereinstimmung eines einzigen Menschen mit sich selber
Ja man könnte mit der leisen sokratischen Ironie sogar vom Konsens ein
und derselben Person als genügender Basis einer Wahrheitstheorie
sprechen, wenn man an deren verschiedene explizite oder implizite
Aussagen denkt. Der Konsensbegriff nähert sich dann dem Kohärenz-
begriff.
2.2. Konsens vom Standpunkt der „Qualität“ der Subjekte aus: Konsens der
Weisen, etc.
Vom Standpunkt der Subjekte aus braucht man Konsens jedoch nicht
nur hinsichtlich der Zahl der Individuen oder Gruppen zu betrachten,
zwischen denen der Konsens besteht, sondern mag vielmehr primär die
Qualität jener im Auge haben, mit denen oder zwischen denen Konsens
besteht.
Mit Qualität kann man dabei noch ganz Verschiedenes im Auge haben:
2.2.2. Die Qualität der Persönlichkeiten, die Subjekte des Konsenses sind
Mit „Qualität“ kann man auch weniger auf die Begründetheit von
Überzeugungen abzielen, sondern vielmehr die Qualität der Persönlichkei-
ten und der in ihnen bestehenden allgemeinen Bedingungen der Wahrheits-
erkenntnis im Auge haben. Dabei kann sich diese Qualität der Subjekte,
zwischen denen Konsens besteht, noch einmal auf ganz verschiedene
Faktoren beziehen: auf die wissenschaftliche Qualifikation, auf den mora-
lischen Charakter, oder auf den Fleiß und die Gründlichkeit der Arbeiten
oder Leistungen der betreffenden Personen, auf das Maß beruflicher
Erfahrung, etc.
1. Qualität des Konsenses der Wissenden: In diesem Sinne könnte man
etwa den Konsens der Wissenden, der Wissenschaftler, der Fachleute, der
Schachgroßmeister, oder der Gelehrten höher bewerten als den Konsens
der Menge und deren Konsens als Kriterium für Wahrheit auf dem
jeweiligen Gebiet ihrer Qualifikation ansehen, nicht hingegen den Konsens
der Narren, derer, die nichts von irgendeinem der erwähnten Bereiche
wissen.
Für jemanden, der diesen Qualitätsstandard eines Konsenses fordert,
wird daher die demokratische Übereinstimmung einer Menge oder sogar
einer absoluten Mehrheit von Toren über ein schwieriges wissenschaft-
liches oder mathematische Problem, oder einer Masse von des Schach-
spiels Unkundigen über die Eröffnungstheorie dieses königlichen Spiels,
nichts oder wenig zählen, während die Übereinstimmung jener, die um die
betreffenden Sachverhalte wissen und sie genau erforscht haben, ein
bedeutendes Kriterium und Anzeichen der Wahrheit jener Urteile bedeuten
kann, über die sie übereinstimmen.
2. Moralische Qualität: Ganz anderer Art ist jene Qualität der Subjekte
eines Konsenses, die nicht von dem Maß ihres Wissens bestimmt ist,
sondern von Tugenden, die sich direkt auf intellektuelle Werte beziehen,
wie Wahrheitsliebe und Weisheit, oder auf die allgemeinen Tugenden und
guten Grundhaltungen eines Menschen. Dieser Qualitätsmaßstab der
Subjekte eines Konsenses gründet auf der Erkenntnis, daß auf vielen
Gebieten, etwa auf dem Gebiet der ethischen Erkenntnis, weniger das Maß
der Studien oder des neutralen Wissens ausschlaggebend ist, sondern
vielmehr der Besitz jener freien Haltungen, durch die der Geist erst in die
Lage versetzt wird, die Wahrheit zu erkennen und die betreffenden
Gegenstände und Werte adäquat zu erkennen. In diesem Sinne ist für
ethische Erkenntnis, aber allgemeiner gesprochen, für philosophische
Erkenntnis der Wirklichkeit das Maß dessen, was jemand weiß oder
studiert hat, viel weniger wichtig als seine Wahrheitsliebe und Weisheit,
aber auch seine sittliche Grundhaltung, die im positiven Falle sein geistiges
Auge für die Erkenntnis der moralischen Werte öffnet, im Falle einer
schlechten Haltung ethische Wertblindheit hervorruft.171 Aus diesem
Grunde gilt der Konsens der Weisen oder der Guten, der Heiligen, etc. im
Falle ethischer Urteile viel, der Konsens der Bösewichte oder Lügner
nichts, wenn die Frage ist, wer den Wert der Wahrhaftigkeit oder der
Gerechtigkeit oder konkrete Forderungen, die aus diesen Werten fließt, am
besten beurteilen könne.
3. Erfahrung, Fleiß und Gründlichkeit oder Qualität der Leistungen der
Subjekte, zwischen denen Übereinstimmung herrscht – der Konsens
erfolgreicher Politiker, Senatsmitglieder, Parlamentarier, Sportler oder
Großmeister: Ganz anderer Art ist jene Qualität des Konsenses, die einem
Urteil durch seine Subjekte und deren Erfahrung und Bewährung in
theoretischen oder praktischen Tätigkeiten erwächst; in diesem Sinne von
Qualität ragt der Konsens von Menschen, die auf Grund solcher Erfolge
und Erfahrungen ein gediegenes Urteil haben oder die sich ihrem
Forschungs- oder Tätigkeitsbereich mit viel Fleiß und Ausdauer zugewandt
haben, über den Konsens von unerfahrenen, faulen und schlampigen
Personen weit hinaus. So wird etwa das Urteil eines erfahrenen Meisters in
171
Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine
Untersuchung über ethische Strukturprobleme. Habilitationsschrift. (München:
Bruckmann, 1918), vollständig abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und
phänomenologische Forschung, Band 5. Halle: Niemeyer. 1922. S. 462-602.
Sonderdruck der Habilitationsschrift, ebd. 1921. Reprint Vols. 3-6 (1916-1923)
1989. Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals; 2. Auflage (unveränderter repro-
graphischer Nachdruck, zusammen mit der Dissertation Die Idee der sittlichen
Handlung), hrsg. v. der Dietrich-von-Hildebrand-Gesellschaft (Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 126-266.
Häufig zielt aber „Qualität“ nicht auf den moralischen Charakter und die
persönlichen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis ab, sondern vielmehr
auf ein Amt oder eine Person, die – im Gegensatz zu praktischen
Autoritäten, d.h. Personen, denen wir Gehorsam schulden – den Charakter
einer „theoretischen Autorität“ auf einem bestimmten Gebiet hat, wie etwa,
in jeweils ganz verschiedener Weise und Hinsicht, eminente Kenner oder
Gelehrte eines Fachgebiets auf diesem, oder erfahrene Feldherrn in
Entscheidungen über militärische Strategie auf ihren jeweiligen Gebieten
nicht nur praktische Autorität besitzen, indem sie gültige Befehle erteilen
können, sondern auch theoretische Autoritäten darstellen, die gleichsam für
die Wahrheit des von ihnen Behaupteten bürgen. In einem ganz neuen Sinn
2.2.4. Qualität des Konsenses nach dem Grad seiner dialogischen Vermittlung
S481d einem andern seinen Zustand zu bezeichnen. Ich sage dies aber,
weil ich bemerke, daß wir beide, ich und du, uns jetzt in gleichem Zustande
befinden. Wir lieben nämlich beide, jeder zwei, ich den Alkibiades, des
Kleinias Sohn, und die Philosophie, du das athenische Volk und den Sohn
des Pyrilampes. Ich bemerke nun allemal an dir, so gewaltig du auch sonst
bist, daß was immer dein Liebling behaupte, und wie er behaupte, daß sich
etwas verhalte, du ihm niemals widersprechen kannst, sondern
S481e umwendest bald so, bald so. Denn in der Gemeine, wenn du etwas
gesagt hast, und das Volk der Athener meint nicht, daß es sich so verhalte,
so wendest du wieder um und sprichst wie jenes will; und mit dem Sohn
des Pyrilampes, dem schönen Jünglinge, geht es dir ebenso, nämlich des
Lieblings Beschlüssen und Reden vermagst du nicht zuwider zu sein. So
daß, wenn sich jemand darüber, was du jedesmal sagst um dieser geliebten
Beiden willen, wundern wollte, wie ungereimt es doch ist, du ihm
vielleicht, wenn du die Wahrheit sagen wolltest, erwidern würdest, daß,
wenn nicht jemand machen könnte,
S482b die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt
wunderst; du warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also
widerlege jener das, was ich eben behauptete, daß also Unrechttun und
nicht dafür Bestraftwerden nicht das ärgste aller Übel sei; oder wenn du
dies unwiderlegt läßt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägypter, so wird
Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das
ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du //II239// Bester, bin der
Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge,
oder ein Chor, den ich anzuführen hätte,
S482c und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir
widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht
zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte. 172
SOKRATES: Siehst du nun wohl, Polos, daß, wenn man den einen Beweis
neben den andern stellt, wie er ihm gar nicht ähnlich ist. Denn dir stimmen
alle andern bei, außer mir; mir aber ist es genug, daß du nur einzig und
S476a allein mir beistimmst und Zeugnis gibst, und deine Stimme allein
abfordernd lasse ich die andern alle gehn.
Und warum denkt Sokrates gering von einem zufälligen oder schwan-
kenden Konsens vieler? Weil die bloße Übereinstimmung oder Nichtüber-
einstimmung mit jemandem, mit dem Sokrates sich nicht unterhalten, mit
dem er nicht diskutiert und mit dem er nicht argumentiert hat, vielleicht
ganz unbegründet und ein bloßer Spiegel irrationaler Strömungen ist und
ihm deshalb weder positiv noch negativ von Belang zu sein scheint. Erst
nach einem entsprechenden Gespräch, nach entsprechender Dialektik, nach
einem Dialog, nach Abwägen aller Gründe – erst dann sei der Konsens mit
anderen über eine Frage von Bedeutung – wenigstens in der Philosophie.
So könnte man den Konsens hinsichtlich seiner Qualität vom Grad seiner
Wohlfundiertheit und zugleich dialogischen Vermittlung her bestimmen.
Und noch viel wichtiger ist der Konsens mit sich selber, den man auch
als Kohärenz bezeichnen kann, am höchsten jedoch der Konsens mit der
Wahrheit. Sokrates setzt in verschiedenen Stellen der platonischen Dialoge
die Übereinstimmung mit jenen Menschen, die häufig ihre Meinung
172
Platon, Gorgias 481 c – 482 c.
3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der
Wahrheit und Einwände gegen dieselbe
gibt aber auch eminente Philosophen, die eine Konsenstheorie der Wahr-
heit vertreten, wie Jürgen Habermas.173
Dabei kann, ähnlich wie in den bereits erörterten Wahrheitstheorien, das
Verhältnis zwischen Wahrheit und Konsens jeweils sehr unterschiedlich
bestimmt werden. Abgesehen von der Möglichkeit, sich einfach „Konsens
anstatt Wahrheit“ als „bescheideneres persönliches oder auch politisches
Ziel“ vorzunehmen, kann man das Wesen der Wahrheit als Konsens
auffassen (‚Wahrheit als Konsens‘, wie Herbert Scheit sich ausdrückt) oder
aber auch im Konsens ein Kriterium der Wahrheit, eine Folge der
Wahrheit, eine Bedingung der Wahrheit, oder auch einen Weg zur
Wahrheit erblicken.174
In ihrer radikalsten Form identifiziert die Konsenstheorie Wahrheit
entweder mit dem Konsens selber oder mit dessen, als Konstrukt
verstandenem, Objekt, also mit Inhalten, Urteilen oder auch Theorien und
Wahrheitstheorien verschiedenster Art, deren einzige Quelle der Gültigkeit
der Konsens wäre. Träfe dies zu, so wäre jede Fiktion oder Annahme,
solange sie Gegenstand des Konsenses wäre, wahr und würde sie allein
diesem Konsens selber ihre Wahrheit verdanken.
Betrachten wir diese letztere beiden Weisen, die Konsenstheorie als eine
Bestimmung des Wesens der Wahrheit zu begreifen: In ihrer ersten Form
hält die Konsenstheorie allein die Konsenstheorie der Wahrheit für wahr.
In dieser Interpretation besagt die Konsenstheorie also, Wahrheit heiße
nichts anderes als daß etwas Gegenstand des Konsenses sei. Wahrheit
bestehe eben einfach in dem Inhalt oder Gegenstand der intersubjektiven
173
Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie vertritt wohl primär eine Kohärenztheorie der
Wahrheit, indem beim Eintreten inkohärenter Folgen wissenschaftlicher Erklä-
rungen, welche einer Kombination von theoretischen Modellen oder Paradigmen
und empirischen Beobachtungen entspringen, neue Paradigmen entwickelt
werden, in deren Rahmen die beobachteten Sachverhalte widerspruchsfrei erklärt
werden können. Doch kann man ihn wegen der Art, in welcher neue Paradigmen
angenommen werden müssen, auch zu den Vertretern einer Konsenstheorie der
Wahrheit rechnen.
174
Zu einer anderen Art der Unterscheidung (zwischen a. Wahrheit statt Konsens, b.
Wahrheit als Weg zur Wahrheit und c. Wahrheit als Konsens) vgl. Herbert Scheit,
Wahrheit – Diskurs – Demokratie: Studien zur ‚Konsensustheorie der Wahrheit‘,
S. 24-39.
3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit dem
Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der Verschiedenheit beider
Wollte ich behaupten, „der Satz: ‚alle Menschen sind sterblich ist wahr‘
heißt nichts anderes als daß Übereinstimmung darüber herrscht, daß sie
sterblich sind“, so sehen wir zunächst ein – und das wäre mein erstes
Argument gegen die Theorie – daß die Wahrheit des Urteils evidenterweise
nicht dasselbe ist wie die Übereinstimmung aller und daß demzufolge die
beiden Ausdrücke „wahr“ und „Gegenstand der Übereinstimmung Sein“
nicht dasselbe sind. Denn die Wahrheit des Urteils, daß alle Menschen
sterblich sind, besteht ganz offensichtlich nicht darin, daß die Menschen
darin übereinstimmen, sondern daß sie tatsächlich sterben können. Ihre
Wahrheit hängt also offenbar nur davon ab, daß es wirklich so ist, daß alle
Menschen sterblich sind. Das Urteil „alle Menschen sind sterblich“ setzt
einen Sachverhalt, nämlich daß es so ist, daß alle Menschen sterblich sind;
es behauptet diesen Sachverhalt. Und allein deshalb erhebt es den
Anspruch auf Wahrheit, d.h. den Anspruch darauf, mit diesem Sachverhalt
übereinzustimmen. Wenn es also wirklich mit diesem Sachverhalt überein-
stimmt, wenn es wirklich so ist, daß alle Menschen sterblich sind, dann ist
das Urteil wahr, auch wenn niemand übereinstimmt, wie Sokrates in der
oben zitierten Textstelle aus dem Gorgias sagt.
Umgekehrt: Als alle Menschen überzeugt waren, daß die Erde das
Zentrum der Welt oder als eine Mehrheit der Menschen dachten, Sklaverei
sei legitim, war dies offenbar nicht wegen einer solchen allgemeinen
Überzeugung wahr. Das Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung des
setzenden, behauptenden Hinstellens eines Sachverhalts mit diesem Sach-
verhalt bzw. mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst, ist so evident und
so deutlich das, worin das Wesen der Wahrheit besteht, daß wir schlicht
einsehen können, daß Konsens als solcher nicht identisch mit der Wahrheit
ist.
Wir sehen dies gerade dann leicht ein, wenn wir an den Fall denken, der
am stärksten der Konsenstheorie recht zu geben scheint, in dem nämlich
nicht nur einige, sondern alle Menschen über einen Sachverhalt überein-
stimmen, der tatsächlich besteht, wie die Sterblichkeit des Menschen. Daß
in dieser ihrer Übereinstimmung unmöglich das Wesen der Wahrheit des
Urteils „alle Menschen sind sterblich“ liegen kann, sondern ausschließlich
in dem Übereinstimmen mit dem Sachverhalt ihrer tatsächlichen Sterblich-
keit, sehen wir am besten ein, wenn wir den entgegengesetzten Fall be-
trachten.
Nehmen wir nämlich umgekehrt an, alle Menschen würden darin
übereinkommen, daß sie unsterblich sind, aber sie wären nicht unsterblich,
jeder müßte sterben, oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten überein,
daß es berechtigt sei, Juden, Neger oder Zigeuner ihrer Rasse wegen zu
töten. Dann leuchtet ein, daß diese Urteile falsch wären, und zwar nicht
deshalb, weil ihnen der Konsens ermangeln würde, sondern deshalb, weil
es nicht stimmt, daß niemand tatsächlich stirbt bzw. daß kein Mensch
tatsächlich sterblich ist oder daß Menschen anderer Rassen wie Kaninchen
getötet werden dürften. Der Unterschied zwischen dem Wahrsein eines
Urteils und seinem Gegenstand des Konsenses Sein ist ein letzter und
evidenter.
Indem wir den Fall erwägen, daß der Sachverhalt, der in dem Urteil,
über das Konsens besteht, behauptet wird, nicht besteht, sehen wir sofort
deutlich ein, daß der Konsens zwar unverändert weiter bestehen bleiben
könnte, daß aber das betreffende Urteil offensichtlich falsch wäre, weil der
Sachverhalt, der in ihm behauptet wird, eben nicht bestünde.
Oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten darin überein, daß Gott
als Schöpfer und Ursprung von allen Dingen existiert, so sehen wir klar
und deutlich ein, daß die Wahrheit des Urteils „Gott existiert“ nicht darin
besteht, daß alle Menschen darin übereinstimmen. Wir sehen klar und
deutlich ein, daß, wenn Gott nicht tatsächlich existierte, das Urteil „Gott
existiert“, falsch wäre unbeschadet der Tatsache, daß alle übereinstimmend
Gottes Existenz behaupten würden.
Ja es wäre sogar die Meinung, Gott existiert, wegen des universalen
Konsenses ein noch schlimmerer Irrtum als der Irrtum eines Einzelnen. Es
wäre ja ein Irrtum, dem alle Menschen erliegen würden.
Dieser Einwand gegen die Konsenstheorie der Wahrheit aus dem evi-
denten Wesen der Wahrheit als Korrespondenz (adaequatio) steckt auch in
Edmund Husserls Widerlegung des Relativismus:
Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine,
ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen.
Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannig-
faltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen
Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt
sind.175
Husserl beginnt seine Kritik des Relativismus mit der Einsicht in das
Wesen der Wahrheit, aus der die Widersinnigkeit der Rede von Wahrheit
für jemanden folgt:
Husserl weist die Absurdität der These nach, ein Wesen einer anderen
Spezies sei an die obersten logischen Grundsätze nicht gebunden.176
„Wahrheit für eine Spezies“ ist prinzipiell ebenso widersinnig wie der
„individuelle Relativismus“, der eine Wahrheit für ein Individuum
derjenigen für ein anderes entgegensetzen will:
Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und, fast möchte ich
sagen, frecher Skeptizismus, daß er, wenn überhaupt je, so gewiß nicht in
neueren Zeiten ernstlich vertreten worden ist....Den Subjektivisten... kann
man nicht überzeugen, wenn ihm ... die Disposition mangelt einzusehen,
daß Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn von Wahrheit
gründen, und daß ihnen gemäß die Rede von einer subjektiven Wahrheit,
175
Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena, Kap. 7, § 36, S. 125, Zeile 9-15.
176
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, § 36, S. 124-125.
die für den einen diese, für den andern die entgegengesetzte sei, eben als
widersinnige gelten müsse.177
Ganz genau dieselbe Umdeutung des Wesens der Wahrheit finden wir
in der Konsenstheorie der Wahrheit. So leuchtet es im Licht all dieser
Überlegungen zunächst aus dem Wesen der Wahrheit und aus dem Wesen
des Urteils selbst und seines Verhältnisses zum Sachverhalt ein, den das
Urteil behauptet, daß Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem Selbst-
verhalten der Sachen besteht, nicht im Konsens aller Menschen.
Zweitens können wir nicht bloß von der inneren Evidenz, daß Wahrheit
nicht in Konsens, sondern in Übereinstimmung liegt, ausgehend argumen-
tieren, sondern zeigen, daß diese Definition „Wahrheit besteht im
Konsens“ logisch widersprüchlich bzw. zirkulär ist, was dann hervortritt,
177
Vgl. Edmund Husserl, ebd., Bd. I, § 35, S. 123, 2-13. Vgl. auch ebd., § 36, S. 124:
„und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den [aus den
vorhergehenden Sätzen geht hervor, daß gemeint ist „für das einzelne Subjekt“]
oder jenen.“
178
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, I, § 36, S. 126. Vgl. ebd., § 36,
S. 125, 9-15. Vgl. dazu auch Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.
179
Vgl. dazu auch Puntel, a.a.O., S. 170 f., sowie D. Mans, Intersubjektivitätstheorien
der Wahrheit, S. 13.
wenn man fragt: „Was heißt denn Konsens?“ In Antwort auf diese Frage
muß man sagen, Konsens heißt, daß man dieselben Urteile fällt oder
dieselben Überzeugungen hat. Dabei stellt sich die weitere Frage: „Diesel-
ben Überzeugungen zu haben, was heißt das?“ In Antwort auf diese Frage
wird man als Konsenstheoretiker der Wahrheit weiter erklären, indem man
sagt, das heiße, daß man überzeugt sei, daß die Urteile, die man gemein-
sam vertritt, wahr sind, daß also mehr als ein Mensch ein bestimmtes Urteil
für wahr hält. Fragt man nun weiter: „Und was heißt denn hier
Wahrheit?“, muß der Konsenstheoretiker sagen: „Das heißt, daß man
gemeinsam vom Urteil überzeugt ist“. “Und was heißt, gemeinsam
überzeugt sein vom Urteil?“ Darauf wird selbst der härteste Verteidiger der
Konsenstheorie als Theorie über das Wesen der Wahrheit gezwungen sein
zu antworten: „Überzeugt sein, daß das Urteil wahr ist“.
Spätestens hier ergibt sich ein völliger Zirkel in der Definition. Ja es
würde überhaupt nicht mehr verständlich werden, was denn Konsens
heißt. Denn um Konsens zu verstehen, um das Wesen von Übereinstim-
mung zu verstehen, muß man verstehen, daß verschiedene Subjekte ein
Urteil gemeinsam für wahr halten. Aber wenn das „für wahr Halten“ nicht
mehr hieße als „übereinstimmen“, dann würden sie nur übereinstimmen,
daß sie übereinstimmen. Das Wesen des Konsenses bricht also zusammen,
wenn man Wahrheit als Konsens definiert. Denn um überhaupt Konsens
als solchen zu verstehen, muß man nicht nur verstehen, daß ein Mensch
mit anderen übereinstimmt, sondern man muß verstehen, daß er mit ihnen
übereinstimmt in der Überzeugung, daß ein bestimmtes Urteil wahr
ist. Und dessen Wahrheit kann der Idee der Wahrheit nach nicht nur in der
Übereinstimmung bestehen, wenn überhaupt der Ausdruck Konsens noch
irgendetwas Sinnvolles bedeuten soll. Man kann sagen: um Konsens haben
zu können, muß Wahrheit etwas anderes bedeuten als Konsens.
Man kann diesen Einwand auch so formulieren: Wahrheit als Überein-
stimmung ist die Bedingung dafür, überhaupt zu verstehen, was Konsens
heißt. Denn Konsens heißt gerade, daß verschiedene Personen davon
überzeugt sind, daß ein gegebenes Urteil wahr ist. Es würde also die Seele
bzw. das Wesen und die Verstehbarkeit von Konsens überhaupt aufheben,
wenn man Wahrheit nur noch als Konsens definieren würde.
Wir finden hier etwas Ähnliches wie in der Kritik der Evidenztheorie
der Wahrheit, wo wir erkannten, daß Evidenz und das Erleben von Evidenz
Der folgende Einwand, daß sich die Konsenstheorie der Wahrheit als
Theorie jederzeit selber aufheben kann, geht schon aus oben gegebener
zweiter Interpretation dieser Theorie hervor, derzufolge auch jede andere
Theorie, die also der Konsenstheorie er Wahrheit widerspricht, wahr sein
könnte, wenn sie Gegenstand des Konsenses wird. Damit hebt sich die
Konsenstheorie der Wahrheit selbst auf, sobald Konsens darüber besteht,
daß sie falsch ist. Der hier liegende Widerspruch ist demjenigen gleich,
den Husserl als logischen Widerspruch jeder Form des individuellen oder
allgemeinen Relativismus eigen ist, wenn er schreibt:
-.. und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den oder
jenen. Widersinnig ist die offengehaltene Möglichkeit, daß derselbe
Urteilsinhalt (wir sagen in gefährlicher Äquivokation: dasselbe Urteil) je
nach dem Urteilenden beides, wahr und falsch, sei.180
180
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, ebd., § 36, S. 124-125.
181
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap. 7, § 36, S. 127.
182
Ebd., S. 127.
183
Ebd., S. 127-128.
lige Konsens aller Menschen besteht, alle Inhalte gemäß der Konsens-
theorie sowohl wahr als auch falsch sein können bzw. daß zu jedem
wahren Urteil zugleich der kontradiktorische Gegensatz wahr sein kann,
was logisch absurd ist. Auf diese Weise können wir einsehen, daß offen-
sichtlich der Konsens als solcher nicht identisch sein kann mit der Wahr-
heit, es sei denn man behaupte, die Wahrheit selbst wäre widersprüchlich,
womit man jedoch die Fundamente jeglicher Erkenntnis und jeden
sinnvollen Diskurses vernichten würde.
Auch die Tatsache, daß oft Gegenstände eines Konsenses durch
empirische Beobachtungen widerlegt wurden, z.B. die Idee, daß Mond
oder Planeten aus einer himmlischen Materie bestehen, wie Aristoteles
gemeint hat, bestätigt diese Kritik. Denn hier wurde der Gegenstand des
Konsenses durch Experimente, Beobachtungen nach dem ersten Mondflug
usw. widerlegt. Dasselbe gilt für offensichtlich falsche Ideen über den
Blutkreislauf, etc. obwohl darüber durch das ganze Mittelalter und die
Antike hindurch weitgehender oder vollständiger Konsens bestanden hatte.
Konsens erstreckt sich also, wie wir diesen Einwand zusammenfassen,
auf viele Urteile, die später empirisch widerlegt werden. Auch darin zeigt
sich deutlich, daß Konsens über falsche Urteile bestehen und daher mit
Wahrheit nicht einfach identisch sein kann.
So können wir die ersten fünf Argumente, aus denen wir die Theorie,
daß die Wahrheit im Konsens besteht, ablehnen, zusammenfassen: Erstens
aus dem Grund der inneren Einsichtigkeit des Wesens von Wahrheit eines
Urteils und der Verschiedenheit derselben vom Konsens; zweitens aus dem
Hinweis darauf, daß, um überhaupt zu verstehen, was Konsens ist, man die
Verschiedenheit der Wahrheit des Urteils vom Konsens verstehen muß, da
man sich sonst im Kreis dreht und überhaupt nicht erklären kann, was
Konsens heißt; drittens ergibt sich aus der Behauptung, daß das Wesen der
Wahrheit in Konsens bestehe, die Ungereimtheit, daß die Konsenstheorie
der Wahrheit selber durch ihre Anwendung auf sich selber falsch werden
kann, wenn diese ihre Falschheit Gegenstand eines Konsenses wird;
viertens können nach der Konsenstheorie Widersprüche in der Wahrheit
auftreten, indem alle Menschen zu einer Zeit von einer Sache überzeugt,
und später vom Gegenteil überzeugt sein können, sodaß von jedem Inhalt
überhaupt zugleich sein Gegenteil wahr sein könnte; es ergibt sich fünftens
die offensichtliche Unrichtigkeit dieser These daraus, daß viele Urteile,
über die ein breiter oder sogar universaler Konsens geherrscht hatte, später
empirisch oder mit apriorischen Methoden widerlegt wurden. Daraus
schon zeigt sich, daß Konsens als solcher nicht Wahrheit ist, ja daß, wie
wir später sehen werden, Konsens als solcher Wahrheit nicht verbürgt.
3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile aus Konsens
ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des Konsenses im Verhältnis zur
Totalität aller wahren Urteile
Wenn man Konsens nämlich weiter hinsichtlich der Zahl derer, die
miteinander übereinstimmen, bestimmt, könnte man sagen: Nicht nur der
Konsens aller, der Konsens vieler, oder sogar der Konsens weniger oder
zweier sei Konsens. Dieser wäre vielmehr mit sich selber allein
möglich. In dieser Wendung der Theorie würde natürlich Konsens nicht
mehr im selben Sinn verstanden werden, weil im Begriff des Konsenses
der Gedanke an verschiedene Personen, die über dasselbe Urteil überein-
stimmen, unvermeidlich gedacht ist.
Aber lassen wir es zu und sagen immerhin: „Ich stimme mit mir selbst
überein“. Sokrates spricht sogar in durchaus berechtigtem Sinn von diesem
Konsens mit sich selber, wenn er sagt, daß die Partner seiner Dialoge und
auch das Volk der Athener häufig miteinander und mit sich selbst in
Widerspruch stünden, daß hingegen nur die (wahre) Philosophie selbst
immer dasselbe sage und immer mit sich selbst in Einklang stehe.
Konsens in diesem Sinne ist aber ähnlich mit Kohärenz und ihre Gleichset-
zung mit Wahrheit kann mit denselben Argumenten widerlegt werden wie
diese.
Wenden wir uns nun der weiteren Darstellung und vor allem Kritik der
intelligentesten Form der Konsenstheorie der Wahrheit zu, die wir bereits
in allgemeinen Zügen dargestellt haben. Habermas versucht, seinen
„Diskursbegriff der Wahrheit“ als „Konsensfähigkeit“ und als dadurch
„gerechtfertigte Behauptbarkeit“ von einem gewöhnlichen Konsensbegriff
der Wahrheit zu unterscheiden. Habermas vertritt keine absolut geschlosse-
ne oder reine Konsenstheorie der Wahrheit, indem er von einem „über alle
verfügbaren Evidenzen hinausweisenden Anspruch“ und einem „realis-
tischen Stachel“ spricht, der uns verbiete, Wahrheit auf „gerechtfertigte
Behauptbarkeit“ zu reduzieren,184 aber verfällt knapp nach der Formulie-
rung dieser Erkenntnis in die dem Deutschen Idealismus nahestehende
184
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288; 292-293.
These, daß eine „wahre Aussage“ nicht nur eine „im jeweiligen Kontext“,
sondern eine „in allen möglichen Kontexten gerechtfertigte“ Aussage
bedeute,185 wobei aber diese „Rechtfertigung“ keinen Rekurs auf objektive
Evidenz der Sachen selbst bedeutet, sondern nur einen rein intersubjekti-
ven Verständigungshorizont, eine Welt reiner doxa, voraussetze.
Habermas’ „Diskursrationalität“ und damit „Konsensrationalität“ ist un-
trennbar nicht nur von dem schon im Deutschen Idealismus und Kant
steckenden Subjektivismus, sondern auch von dem, was er in seiner
Diskussion Heideggers als „Detranszendentalisierung der welterzeugenden
Spontaneität“ und damit als Verschiebung von einem transzendentalen auf
ein historisch-kulturelles Ich und historische Gemeinschaften, bezeich-
net.186
„Dieser [„der begründete Konsens“] gilt als Wahrheitskriterium, aber der
Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, daß überhaupt ein Konsens
erreicht wird, sondern: daß jederzeit und überall, wenn wir nur in einen
Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die
diesen als begründeten Konsens ausweisen. Wahrheit bedeutet ‘warranted
assertibility’.“187
185
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288-289.
186
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
35:
Mit diesem Konzept wird Heidegger der Detranszendentalisierung der welterzeu-
genden Spontaneität in der Form einer Historisierung des Sinnaprioris gerecht, ...
Vgl. auch Jürgen Habermas, ebd., S. 57 ff.; 63-64.
187
Habermas, ebd., S. 239 f. Vgl. den Vergleich zwischen Husserl und Habermas und
die Kritik an Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit von David Detmer,
“Habermas and Husserl on Positivism and the Philosophy of Science” in: Lewis E.
Hahn (Ed.), Perspectives on Habermas (Chicago: Open Court, 2000). Vgl. auch
Darrel Moellendorf, “Consensus and Cognitivism in Habermas’s Discourse
Ethics”, South African Journal of Philosophy (2000) June; 19(2): 65-74. Zur
Kritik der rechtlichen Anwendung der Habermas’schen Konsenstheorie der
Wahrheit vgl. Ota Weinberger, “Legal Validity, Acceptance of Law, Legitimacy:
Some Critical Comments and Constructive Proposals”, Ratio Juris (1999)
December; 12 (4): 336-353; ders., „Argumentation in Law and Politics“,
Communication and Cognition (1995); 28 (1): 37-54. Weinberger entwickelt dort
eine Kritik an der Diskursphilosophie von Habermas, Apel und Alexy. Vgl. auch
die Kritik an Apels Konsenstheorie der Wahrheit und deren Verleich mit der
Wahrheitstheorie des jungen Fichte: Vittorio Hösle, „Die Transzendentalprag-
matik als Fichteanismus der Intersubjektivität“, Zeitschrift für philosophische
Forschung, (1986); 40: 235-252. Vgl. ferner Alessandro Ferrara, “A Critique of
Habermas’s Consensus Theory of Truth”, Philosophy and Social Criticism (1987);
13: 39-67, sowie Paul Healy, “Is Habermas’s Consensus Theory a Theory Of
Truth?”, Irish Philosophical Journal (1987); 4: 145-152.
188
J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 389.
189
Habermas, ebd., Nachwort. Zur Kritik der Konsenstheorie als kriteriologische
Wahrheitstheorie vgl. auch Friedrich Kambartel, „Wahrheit und Begründung“,
Dialektik (1999); 1: 37-52.
190
„Homologie“ bedeutet wörtlich „Gleiche Rede“. Vgl. W. Kamlah und P. Lorenzen,
Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, S. 120.
191
Vgl. zur Kritik der Wahrheits- und wertbezogenen Konsenstheorien der Wahrheit
von Jürgen Habermas Herbert Keuth, „Erkenntnis oder Entscheidung: Die Kon-
senstheorien der Wahrheit und der Richtigkeit von Jürgen Habermas“, Zeitschrift
für Allgemeine Wissenschaftstheorie (1979), 10, 375-393. Zur Kritik dieser stark
vom Positivismus geprägten Habermas-Kritik vgl. Hans Albert, „Realität und
Wahrheit: zu Herbert Keuths Kritik am kritischen Rationalismus“, Zeitschrift für
philosophische Forschung (Oktober-Dezember 1979), 33, 567-587.
192
Vgl. etwa Victor Kraft, „Konstruktiver Empirismus“, Zeitschrift für Allgemeine
Wissenschaftstheorie (1973), 4, 313-322.
193
Puntel, ebd., S. 153 ff.
194
Vgl. Crispin Wright, Truth and Objectivity (Cambridge, Mass.: Harvard University
Press, 1992).
195
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze „Richtig-
keit versus Wahrheit“, S. 289.
196
A,a,O., S. 289.
197
Ebd., S. 290.
Habermas weist in diesem Zusammenhang auf seine Übereinstimmung mit
Durkheim und Piaget hinsichtlich einer „sozialen Konzeption der Wahrheit“ hin,
die nach Piaget notwendig daraus resultiere, daß man „jedes äußere oder innere
Absolute“ ablehne (ebd., S. 290, Anm. 29).
198
Puntel, ebd., S. 156 f. Vgl. die Kritik an Habermas von Sergio Belardinelli, “La
teoria consensual de la verdad de Jürgen Habermas”, Anuario Filosofico (1991);
115-123.
199
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 300.
200
Jürgen Habermas, ebd., S. 307 ff. Vgl. auch C. Lafont, “Pluralism and Universa-
lism in Discourse Ethics”, in: A. Nascimento (Hrsg.), A Matter of Discourse.
Community and Communication (Hampshire: Averbury, 1997).
201
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
309. Vgl. auch ebd., S. 70, wo im Zusammenhang einer Diskussion der „diskursi-
ven Rationalität“ davon die Rede ist, daß a priori notwendige Geltung nur „für die
jeweilige Sprachgemeinschaften“ bestehe. Unter dieser Voraussetzung muß, wie
Habermas sagt, das Sinnapriori der „sprachlichen Weltbilder im Plural auftreten
und die allgemeine Geltung eines transzendentalen Apriori verlieren“ (ebd., S.
70). Habermas gibt wohl den folgenden von ihm bei Humboldt gefundenen und
schönen Gedanken auf: „Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit als ein
zwischen den ‚Weltansichten‘ verschiedener Sprachen ‚in der Mitte liegendes
Gebiet‘ ist eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche überhaupt.“
(Habermas, a.a.O., S. 73). Vgl. auch Habermas, ebd., S. 75-86. Vgl. auch Josef
Seifert, “Texts and Things”, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII,
41-68.
202
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 333.
terien, bzw. Kriterien der Wahrheit von solchen der Falschheit. Behalten
wir also die vorher unterschiedenen Bedeutungen von Konsens im Auge
und wenden sie nun auf die Frage des Konsenses als Wahrheitskriterium
an:
Wenn wir Konsens zurecht als Kriterium für Wahrheit bezeichnen, so
kann damit sicher nicht bloß ein rein negatives Wegfallen von Wider-
sprüchen mit der Meinung anderer gemeint sein; denn dieses kann
unmöglich als ein positives Kriterium für Wahrheit gelten. Wenn jemand
sagt: „Eben sehe ich, daß ein Mann im Nachbarhaus, das Ihr nicht sehen
könnt, einbricht“, so ist die Tatsache, daß dieses Urteil nicht im
Widerspruch mit irgendeiner anderen mir bekannten Meinung steht, weder
unbedingt ein Grund für meine Zustimmung (denn ich könnte den anderen
Menschen ja als Gewohnheitslügner oder als Spaßvogel kennen) noch gar
ein Beweis für seine Wahrheit. Die Person, die mir dies erzählt hat, könnte
z.B. einen Aprilscherz machen und aus diesem Grunde sagen, daß beim
Nachbarn jemand einbricht oder etwas anderes Aufregendes erzählen, von
dem sie weiß, daß es keinen mir bekannten Tatsachen widerspricht. Das im
Aprilscherz enthaltene Urteil über den sich eben ereignenden Einbruch
steht vielleicht auch nicht im Widerspruch mit der Meinung von irgend
jemand anderem, weil gerade niemand auf das Haus hinblickt oder in ihm
weilt, doch ist es offenbar falsch. Eine derartige Nichtwidersprüchlichkeit
meines Urteils mit anderen ist also gewiß weder ein Grund, das Vorliegen
eines Konsenses zu behaupten, noch ein Kriterium für Wahrheit.
Umgekehrt wäre es selbstverständlich ein gültiges Kriterium für die
Falschheit mindestens eines von verschiedenen Personen gefällten Urteils,
wenn zwischen ihnen keine Übereinstimmung bestünde. Wo zwischen
verschiedenen widersprüchlichen Meinungen kein Konsens besteht, ist dies
ein sicheres Indiz für die Falschheit zumindest einer von ihnen.
Konsens im Sinne ausdrücklicher oder auch impliziter Übereinstim-
mung kann mit dem Gesichtspunkt der „Quantität“ und der „Qualität“ der
Subjekte des Konsenses verbunden werden, sodaß jemand sagen möchte:
„Wenn alle Menschen oder wenigstens alle Sachkundigen oder Weisen
über etwas übereinstimmen, so liegt darin zwar kein sicheres Kriterium für
Wahrheit; denn es könnte sein, daß alle Weisen und alle Menschen
gemeinsam demselben Irrtum erliegen. Aber immerhin liegt darin doch ein
gewisser Hinweis auf Wahrheit, da es unwahrscheinlich ist, daß sich alle
Menschen oder all jene, die sich auf einem bestimmten Gegenstandsgebiet
sehr gut auskennen, irren.“ Freilich setzt dieses Kriterium bestimmte
unbezweifelbare Evidenzen über das Wesen der Erkenntnis überhaupt,
aber auch empirischere Erkenntnisse über die Erkenntnisfähigkeit des
Menschen und ihre Reichweite, über eine wenigstens unter manchen
Menschen verbreitete Wahrheitsliebe etc. voraus.
Auf diesem Hintergrund nur ist die Annahme, daß Konsens unter
Sachkundigen nur dadurch erklärbar sei, daß ihm Wahrheit zugrunde liegt,
berechtigt und deshalb das Vorliegen der genannten Formen des
Konsenses ein Wahrheitshinweis, bzw. ein gewisses Kriterium oder besser
gesagt ein Anzeichen für die wahrscheinlich bestehende Wahrheit,
allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Denn auch in der
Naturwissenschaft, in der viele Arten von Hypothesen, Annahmen und
theoretische Interpretationen vorliegen, die keineswegs klar gegeben sind,
ist Konsens keineswegs ein Gewißheit begründendes Wahrheitskriterium.203
Dieses Kriterium besitzt jedoch einen gewissen Wert und kann unter
bestimmten Umständen sogar zu einer theoretisch nahezu und moralisch
schlechthin gewissen und begründeten Überzeugung führen, nämlich dann,
wenn man guten Grund hat anzunehmen, daß der Konsens ausschließlich
aus der Wahrheit stammen kann. Das ist in besonderen Fällen anzuneh-
men. Denken wir an den Fall, in dem ein Richter vor Gericht fünf Zeugen
separat verhört und diese Zeugen zu verschiedenen Zeiten dasselbe
Ereignis gesehen haben. Der Richter weiß, daß keiner dieser Zeugen hat
miteinander konferiert hat. In einem solchen Fall kann ich sagen: „Wenn
sich aus diesen fünf Zeugenberichten ein vollständig kohärentes Bild ergibt
und zwischen den Aussagen dieser fünf Zeugen keinerlei Widerspruch,
sondern perfekter objektiver Konsens besteht, kann auch ein gewissenhaf-
ter Richter diese Übereinstimmung der Zeugen als hinreichende Evidenz
für Wahrheit annehmen.“
In ähnlicher Weise darf dort die Nichtübereinstimmung im Urteil als
Evidenz der Falschheit genommen werden, wo wie bei Daniels Richt-
203
Vgl. die auf Mill aufbauende Kritik am Konsens als Wahrheitskriterium in der
Wissenschaft bei Miriam Solomon, “Consensus in Science” in Tian Yu Cao,
(Ed.), The Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, Volume
10: Philosophy of Science.
Theologie mit der Bibel, in der katholischen Kirche außerdem mit jenen
Lehren der Kirche, die dogmatisch als Glaubensinhalte verkündet wurden,
als Wahrheitskriterium verwendet. Auch die Moslems oder Mitglieder
anderer Religionen, die eine Inspiration und Unfehlbarkeit ihrer heiligen
Texte annehmen, nehmen gleichermaßen Konsens mit diesen als Wahr-
heitskriterium an. Hier hängt alles davon ab, ob die Voraussetzungen
stimmen, unter denen das Konsenskriterium steht. Wenn es wirklich
unfehlbar geoffenbarte Inhalte gibt, dann ist die explizite Übereinstim-
mung mit ihnen ein unfehlbares Zeichen für Wahrheit. Wenn es sie nicht
gibt, dann natürlich nicht. Deshalb hängt hier alles von der soliden und
begründeten Quelle dieser Überzeugung von Unfehlbarkeit ab. Und diese
Erkenntnis der Unfehlbarkeit einer Quelle muß andere Kriterien außer
Konsens verwenden.
Eine andere Art von begründetem Konsens, der aus einer intersubjekti-
ven bzw. von mehreren Subjekten geteilten und kritisch vermittelten
Erkenntnis erwächst, etwa die im Dialog mit Sokrates erreichte Überein-
stimmung aufgrund von Argumenten und infolge einer eingehenden
Prüfung der Sachverhalte, ist gleichfalls ein wichtiges Wahrheitsindiz.
Unter Umständen ist ein solcher kritisch erreichter Konsens nur mit einem
einzigen Menschen, mit dem ich ein Problem eingehend besprochen habe,
wertvoller als der Konsens aller oder der Konsens einer großen Anzahl von
Menschen. Und dies ist deshalb so, weil es hier nicht nur um faktischen
Konsens geht, sondern um einen wertvolleren, nämlich einen aus Erkennt-
nis, eingehender Prüfung und Diskussion entspringenden Konsens. Es
handelt sich hier um intersubjektiv geteilte Erkenntnis, die zwar Akt des je
einzelnen Subjektes bleibt, aber doch gemeinsam erworben wird. Die
Tatsache, daß zwei Menschen dasselbe sehen und sich über die Gründe
ihrer Übereinstimmung verständigen, ist sicher ein gewisses, wenn auch an
sich kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit. Letzten Endes ist auch hier
Evidenz das noch weitaus tragendere Kriterium. Denn die Frage bleibt
immer bestehen, aufgrund welcher Evidenz und welcher Begründung der
Konsens erreicht worden ist. Verdeutlichen wir dies anhand eines
einfachen Beispiels aus der Schachtheorie: Ein „Matt in zwei Zügen“ wird
nach einigen Versuchen von zwei Freunden zusammen „gefunden“; sie
übersahen dabei aber eine andere Antwort auf den ersten Zug und so irren
sie sich. Ihr Konsens ist also wertlos, weil er auf unzureichender Evidenz
und falschen Annahmen beruhte.
Wenn ich also nicht die Evidenz der Erkenntnisse, die Grundlagen einer
Verständigung sind, erfasse, dann kann ich auch den Wert eines Konsenses
als Wahrheitskriterium nicht beurteilen. Denn selbst wenn der Konsens
zwar aus einer eingehenden Prüfung, aber nur daraus entspringt, daß man
gewisse Hypothesen für wahrscheinlich hält, die nicht wahr sind, so kann
die bloße Tatsache, daß man sich über dieselben nach langen Gesprächen
verständigt hat, kein gültiges Kriterium oder gar zwingendes Kriterium für
ihre Wahrheit sein. Daher hängt auch bei dieser Form des begründeten
Konsenses alles davon ab, wie gut die erkenntnismäßige Begründung und
Evidenz jener Erkenntnis ist, welche die Überzeugung des einzelnen
Gesprächspartners begründet und damit auch die Quelle des Konsenses
ist. Das führt uns wieder zurück zu einem anderen Kriterium, das
außerhalb des Konsenses liegt, nämlich der Evidenz in ihren vielfältigen,
dem jeweiligen Gegenstandsbereich angemessenen Formen.
Dasselbe könnte man über alle Formen von Konsens als Kriterium
sagen. Letzten Endes beruht auch dort, wo der Konsens als zuverlässiges
Kriterium für Wahrheit akzeptiert wird, das letzte Fundament der
Gültigkeit des Konsenskriteriums für Wahrheit nicht im Konsens als
solchem, sondern in der Evidenz jener Wahrheiten und Erkenntnisse, in
denen der Konsens begründet ist. Deshalb kann dieser letzten Endes nur
aus Evidenz seine Gültigkeit beziehen.
Dies führt uns zu einem für die gegenwärtige Diskussion wichtigen
Resultat: Konsens und Evidenz als Kriterien der Wahrheit stehen nicht in
einem Gegensatz zueinander, sondern das erstere setzt das letztere
voraus. Die beiden stehen auch nicht bloß nebeneinander. Vielmehr ist
Evidenz die grundlegendste Form der Erkenntnisgewißheit und somit das
ursprünglichste Wahrheitskriterium. Zu seiner Erkenntnis letztbegründen-
den Klarheit und Deutlichkeit kann Konsens gleichsam nur ein zusätzli-
ches und untergeordnetes Kriterium sein. Man könnte und sollte dieses
Verhältnis zwischen Evidenz und Konsens sicher viel eingehender und
genauer erforschen.
Man wird trotz der letztfundierenden Rolle der Evidenz als Kriterium
umgekehrt sagen müssen, daß der Konsens über eine Evidenz eine gewisse
Bestärkung derselben bringt, und daß vor allem angesichts unserer von uns
Es darf sicher nicht mit Recht behauptet werden, daß Konsens im Sinne
ausdrücklicher Zustimmung oder Gleichheit des Urteils Mehrer Bedingung
für Wahrheit ist. Das geht schon daraus hervor, daß es Dinge gibt, die nur
ein einziger Mensch wissen kann, bei deren Erkenntnis also Konsens gar
nicht in Frage kommt. Wenn es etwa um ein ganz persönliches Geheimnis
geht, um ein Gefühl oder eine Intention meines privatesten Innenlebens,
dann kann gewiß weder ausdrückliche noch stillschweigende Übereinstim-
mung mit anderen Menschen, die ja von meinem Geheimnis nichts wissen
oder auch nur ahnen, Bedingung für Wahrheit sein.
Hinsichtlich solcher privater Inhalte kann nicht einmal die Konsensfä-
higkeit mit einem einzigen Menschen Wahrheitsbedingung sein. Denn es
ist möglich, daß niemand ein seltsames individuelles Erlebnis eines
anderen Menschen überhaupt versteht oder ihm glaubt, was in ihm vorge-
gangen ist, selbst wenn er es ihm mitteilt. So ist es gewiß nicht Bedingung
der Wahrheit der Aussagen, in denen jemand ein ganz merkwürdiges
Erlebnis, das er hatte, schildert, daß irgend jemand anderer diesen
zustimmt. Es bleibt vielmehr wahr, daß jemand dieses Erlebnis gehabt hat,
auch wenn nur er allein davon weiß und keinen Anderen davon überzeugen
kann.
Deshalb allein schon ist auch Konsens im Sinne intersubjektiver
Verifizierbarkeit keinesfalls Bedingung der Wahrheit.204
Wenn Konsens bloß Wegfallen des Widerspruchs, und in diesem Sinn
in Einklang Stehen mit anderen Urteilen bedeutet, dann ist Konsens nur
dann Bedingung der Wahrheit, wenn es um einen Widerspruch oder
Konsens mit schon als wahr feststehenden Urteilen geht.
Wenn man „reinen Konsens“ (d.h. ohne auf bereits als wahr erwiesene
Urteile zu rekurrieren) im Auge hat, selbst wenn man diesen sowohl der
204
Wenn allerdings Konsens – das haben wir wegen der Ausgefallenheit dieses
Konsensbegriffs überhaupt nicht als eine Bedeutung von Konsens festgehalten –
die Übereinstimmung mit einem alle Wahrheit erkennenden Wesen meinen
würde, also etwa Konsens mit dem göttlichen Wissen, dann wäre selbstverständ-
lich Konsens eine notwendige Bedingung der Wahrheit, aber das ist wohl ein
Begriff von Konsens, den kein Mensch verwenden wird.
Quantität als auch der Qualität seiner Subjekte nach maximal steigert
(Konsens aller, der Weisen, derer, die einen rationalen Diskurs geführt
haben), so kommt er ebenfalls als notwendige Bedingung der Wahrheit
nicht in Frage.
Betrachtet man hingegen Konsens im Sinne der rein objektiven
Übereinstimmung mit solchen, die schon Wahrheit wissen, so ist Konsens
eine Bedingung für Wahrheit, wenn wirklich feststeht, daß derjenige, mit
dem man in Konsens steht, die Wahrheit über die betreffende Angelegen-
heit kennt. Darauf baut Brentanos Wesensdefinition der Wahrheit durch
ihren Bezug zur Evidenz auf.
205
Siehe Cicero, De legibus I, 48-53.
206
Zur Kritik dieser Auffassungen vgl. besonders Andreas Laun, Das Gewissen.
Oberste Norm sittlichen Handelns, bes. S. 37 ff., wo die einschlägigen
Auffassungen von Auer, Böckle, Pesch, Schillebeecks und anderen kritisch
erörtert werden. Autonomie wird dann als ‚schöpferische Vernunft‘ verstanden,
aus der heraus die Erneuerung der Moraltheologie zu leisten wäre. Vgl. C.
Kowarz, „Kreativität im Bereich der christlichen Ethik“, 262-265, bes. S. 265.
Vgl. auch W. Korff, Norm und Sittlichkeit (Mainz, 1973), und Alphons Auer,
Autonome Moral und christlicher Glaube. Vgl. auch Andreas Laun, „Das
Gewissen – sein Gesetz und seine Freiheit. Anmerkungen zur heutigen
Diskussion“, S. 31-64.
Ganz anders ist die Idee, daß der Konsens Kriterium für das Bestehen
objektiver ethischer Normen sei. Diese Auffassung geht von zwei Ideen
aus, einer richtigen, die sich in Kants Kritik der praktischen Vernunft
findet, und einer falschen.
Die richtige ist diejenige, daß im Gegensatz zu theoretischen Erkennt-
nissen, zu denen vielen das nötige Talent und die nötige Vorkenntnis fehlt,
die sittliche Wahrheit prinzipiell jedermann bekannt und in jedes
Menschen Herz eingeschrieben ist bzw. daß prinzipiell jeder Mensch dazu
in der Lage ist, sie zu erkennen.
Falsch hingegen ist zweifellos die Meinung, daß es keine wesentlichen
Hindernisse der adäquaten Erkenntnis der Menschen – gerade in sittlichen
Erkenntnissen – gäbe. Ganz im Gegenteil gibt es hier mehr Quellen der
207
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.
208
Vgl. die Untersuchungen dazu in Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische
Werterkenntnis, Kap. 1 ff.
209
Charles Sanders Peirce, Collected Papers, hrsg. v. C. Hartshorne und P. Weiss, 6
Bde (Cambridge, Mass, 1965-1967).
210
See The Collected Works of John Dewey, edited by Jo Ann Boydston, 37 volumes
(Carbondale: Southern Illinois University Press, 1967-1991).
211
Zur These einer Art höherer pragmatischer Idee und Rechtfertigung der Wahrheit
bei Hegel vgl. Walter Zimmerli, „Die Wahrheit des ‚impliziten Denkers‘: Zur
Logikbegründungsproblematik in Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“. Stud Phil
(Schweiz), 41 (1982), 139-160.
212
Vgl. die einschlägigen Texte und ihre Kritik in Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches
Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Dietrich
von Hildebrand (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 197 ff.; ders.,
„Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche
Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheits-
erkenntnis“.
213
Die brillante Wahrheitstheorie von Jürgen Habermas scheint mir nicht nur in der
angedeuteten Weise äußerst schillernd zu sein, sondern auch dadurch, daß es
unklar bleibt, ob er das Wesen der Wahrheit beschreiben oder nur Kriterien oder
Methoden der Wahrheitsfindung beschreiben will. Auch bleibt unklar, ob er die
Erkenntniswahrheit oder die Urteilswahrheit im Auge hat. Vgl. Jürgen Habermas,
Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, „Einleitung: Realismus
nach der sprachpragmatischen Wende“, S. 7 ff. Vgl. etwa ebd., S. 14: „Die
folgenden Beiträge sind Ausdruck des erneuten Interesses an Fragen eines
pragmatistischen Erkenntnisrealismus, der den Spuren des linguistischen
Kantianismus folgt.“ Pragmatismus wird hier als „ein praktisches Zurechtkommen
mit der Welt“, einem „Coping-Verhalten“, identifiziert, das zu einem Übergang
1. Erstens könnte man Erfolg einfach als Sieg einer Idee verstehen,
insofern sie zur Verwirklichung von einem Individuum oder Staat gesetzter
politisch-gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ziele verhilft. Im Privatle-
ben bestünde der Erfolg in diesem Sinne im Nutzbringen einer Theorie, der
ich in meinem Leben oder Betrieb folge, darin, daß diese Theorie mir
persönlich bei der Erreichung meiner Ziele nützt, z.B. wirtschaftlich oder
zur Durchsetzung meiner Rechtsansprüche, usw. Wir können in dieser
Weise Erfolg einer Theorie als einen politisch-gesellschaftlichen oder auch
privaten Nutzen für die Realisierung der jeweiligen subjektiven Ziele
definieren, der daraus resultiert, daß jemand eine bestimmte Theorie oder
Ideologie vertritt oder anwendet. Dieser Nutzen kann direkt einfach daraus
erwachsen, daß man der Theorie folgt, oder indirekt daraus, daß man
andere davon überzeugt, daß die eigene Theorie stimmt. Im letzteren Fall
erwächst dann der Nutzen z.B. daraus, daß sehr viele, vereint in einer
bestimmten Ideologie, um irgendeine Angelegenheit, sagen wir einen
bestimmten politischen Sieg einer Partei und Durchsetzung ihrer Ziele,
kämpfen und sie durchsetzen.
In offiziellen Textbüchern des Diamat liest man zu seiner Verwunde-
rung, daß die Wahrheit der marxistisch-leninistischen Ideologie durch den
direkten Nutzen des Marxismus in diesem Sinne, nämlich durch den Sieg
der Revolution 1917 und auch durch alle späteren Siege und Eroberungen
217
Vgl. dazu Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus, zit.
218
Vgl. dazu auch Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den
Nationalsozialismus 1933-1938, sowie Josef Seifert, (Hrsg.), Dietrich von
Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus.
des Weltkommunismus bewiesen worden sei. Hier wird also der mit der
Wahrheit einer Ideologie oder mit deren Beweis identifizierte Erfolg in
einem politisch-kriegerischen Sinne gedeutet, der entweder mit der „realen
Wahrheit“ des Dialektischen Materialismus oder mit dessen Wert, oder
auch mit dem sicheren Beweis seiner Wahrheit identifiziert wird. In
ähnlicher Weise wird im Rahmen einer Wesenstheorie der Wahrheit im
Nationalsozialismus Wahrheit durch politisch-ökonomischen Erfolg
definiert, wenn behauptet wird, wahr sei, was dem deutschen Volke nütze
und dann eine Liste nützlicher Folgen der nationalsozialistischen Partei
angeführt wird, welche die Wahrheit des Nationalsozialismus „in der
Praxis“ beweisen sollen. In diesem Fall wird „Nutzen“ durch größere
Macht, militärische Siege oder auch durch wirtschaftlichen Erfolg des
deutschen Volkes definiert.
2. Zweitens könnte man Erfolg nicht bloß als einfachen politisch-
gesellschaftlichen Sieg oder subjektiven Nutzen in dem Sinne verstehen,
daß dasjenige, was ein Individuum, eine Partei, oder ein Volk sich
subjektiv als Ziel setzen und für nützlich betrachten, eintritt, sondern tiefer
als politisch-gesellschaftliches Gut denken. Dann würde „Erfolg“ nicht
subjektiven Kriterien unterworfen und mit einer bloßen subjektiven
Nützlichkeit (in Bezug auf bestimmte von einem Volk oder einer Partei
gesetzte Zwecke) gleichgesetzt, sondern im Sinne einer Idee des Guten,
eines sittlich Guten oder einer Wohlfahrt des Individuums oder des Staates
verstanden, die objektiver Natur sind und weit tiefer reichen als die
Erfüllung subjektiver Machtambitionen oder als der objektive, aber keines-
wegs notwendig wertbestimmte Vorteil in kriegerischen Handlungen. Im
Gegensatz zum „rein pragmatischen“ hat der zweite Erfolgsbegriff eine
objektive Grundlage und unterscheidet sich daher von dem bloßen
politisch-gesellschaftlichen Sieg einer Ideologie. Veranschaulichen wir
uns den gewaltigen Unterschied dieser beiden Erfolgsbegriffe an einem
Beispiel: Im ersten, rein militärischen und wirtschaftlichen Sinn war der
Nationalsozialismus eine Zeitlang erfolgreich und hat gesiegt, aber dieser
Erfolg und Sieg entsprang einer grundfalschen Auffassung über den
Menschen und einer Terrorherrschaft, durch deren politische Herrschaft
Bürger und ihre Gewissen unterdrückt und Millionen von Unschuldigen
ermordet und durch und durch ungerechte Eroberungskriege gewonnen
wurden. Die militärischen Erfolge selber trugen zur weiteren Ausdehnung
219
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (Graz: Styria, 1986). Daß aus
einer – in Analogie zu einem Placebo-Medikament – zur Kontingenzbewältigung
benutzten Religion auch kein echtes Gut der wirklichen „Kontingenzbewältigung“
resultiert, werden im Kapitel über Wittgenstein zeigen.
220
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
36-37:
„Aus pragmatischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes; sie macht sich einzig in
den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind,
performativ – als das Ganze der verarbeiteten und zu erwartenden Widerstände – geltend.“
221
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 110-
137.
222
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288:
Obwohl Wahrheit kein Erfolgsbegriff ist, gehen wir davon aus, daß eine nach unseren
Maßstäben erfolgreiche Rechtfertigung von ‚p‘ für die Wahrheit von ‚p‘ spricht.“
Gegen eine derartige Reduktion der Wahrheit auf Erfolg oder, präziser
gesagt, auf das, was Erfolg bringt, läßt sich auf vielfältige Weise
argumentieren. Es ist erstens evident, daß Wahrheit nicht mit Erfolg in
irgendeiner der genannten Bedeutungen identifizierbar ist. Zeigen wir das,
indem wir diese Versionen der Erfolgstheorie und der pragmatischen
Wahrheitstheorie, nach der Ordnung ihrer Plausibilität nach, von der
plausibelsten beginnend, knapp analysieren.
AD 4: Selbst wenn man jene (vierte) Bedeutung von Erfolg nimmt, die
der Wahrheit am nächsten kommt, nämlich die Erfahrungen, die eine
Theorie verifizieren oder auch, besser gesagt, das Eintreten der Wirkungen,
die man aufgrund einer Theorie erwarten muß, so liegt in diesem Erfolg
nicht das Wesen der Wahrheit. Betrachten wir dies im Licht einer weiteren
wichtigen dreifachen Unterscheidung zwischen:
(a) Erfolg im Sinne der Verifikation bzw. des „verifizierten Eintretens“
des einer Theorie oder Aussage direkt entsprechenden und von ihr
behaupteten Sachverhalts;
(b) Erfolg im Sinne des tatsächlichen Bestehens oder Eintretens des von
einer Aussage oder Theorie direkt behaupteten Sachverhalts, gleichgültig
ob es verifiziert wird oder nicht;
(c) Erfolg im Sinne des Eintretens von Sachverhalten, die nicht selber in
einer Aussage oder Theorie behauptet werden, wohl aber von ihr erwartet
werden können und durch sie (besser oder leichter) erklärbar werden.
Daß – im Sinne von (b) – das Bestehen oder Eintreten des behaupteten
Sachverhalts Grund ist, die diesen Sachverhalt direkt behauptende Aussage
oder Theorie wahr zu nennen, liegt auf der Hand, wird jedoch weder
sinnvoll als „Erfolg“ bezeichnet, sondern besteht eben in der
Korrespondenz der Aussage mit dem Sachverhalt, noch ist es der „Erfolg“
oder die Bewährung der Theorie durch das Bestehen oder Eintreten des
behaupteten Sachverhalts, was ihre Wahrheit ausmacht, sondern diese
besteht in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als solcher. Man
kann in dem Sinne von (b) Theorien vielmehr Erfolg nur zusprechen, weil
sie wahr sind und dem Sachverhalt entsprechen und weil diese Wahrheit
ihren „Erfolg“ begründet, nicht aber ausmacht. Erst recht aber garantiert
oder konstituiert Erfolg weder im Sinne von (a) noch in dem von (c)
Wahrheit.
Hinsichtlich der Falschheit der These (a) läßt sich diese an Hector
Malots Roman Heimatlos exemplifizieren, wo die Wahrheit über die im
Bergwerk seines Onkels mit Remis verschütteten Bergarbeiter eindeutig
nicht mit dem Prozeß der Verifikation dieser Tatsache oder mit einer
verifizierten Tatsache identifiziert werden kann. Denn wenn z.B. jemand
sagt, in dem Kohlenbergwerk, in dem 120 Bergarbeiter verschwunden
sind, lebt kein einziger Mensch mehr, dann ist die Wahrheit dieses Urteils
zunächst völlig unverifizierbar, aber dieses Urteil bleibt wahr oder falsch,
völlig unabhängig davon, ob irgend jemand fähig ist, diese Aussage zu
verifizieren. Wenn man etwa später findet, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem
dieses Urteil gefällt wurde, alle Minenarbeiter wirklich tot waren, dann
erkennt man, daß das Urteil wahr war, aber es war damals ganz unmöglich,
es zu verifizieren. Und wenn das Bergwerk durch irgendeinen Umstand so
verschüttet wird, daß niemand je feststellen kann, ob alle Kumpeln damals
tot waren, dann bleibt das ursprüngliche Urteil doch wahr oder falsch, je
nachdem, ob wirklich in dem Bergwerk niemand mehr oder ob noch
jemand gelebt hat. So kann Wahrheit in ihrem Wesen nicht von Erfolg,
selbst nicht im Sinn des „verifizierten Gegenstands der Urteils“, abhängig
sein.
Eine derartige Unreduzierbarkeit der Wahrheit auf Erfolg gilt natürlich
erst recht für „Erfolg“ in den anderen Bedeutungen. Denn ob die Aussage,
daß in dem Bergwerk noch jemand lebte, irgendeinen sonstigen
politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Erfolg bringt oder viele
Menschen oder niemanden überzeugt, intersubjektive Herrschaft erlangt,
dem Zeitgeist entspricht, etc., das hat mit ihrer Wahrheit, wie wir klar und
deutlich einsehen, überhaupt nichts zu tun.
Wenn wir Erfolg im Sinne von (c) – also im Sinne von durch eine
Theorie erwarteten oder vorhergesagten Fakten – zur Grundlage einer
Wesensdefinition von Wahrheit machen wollten, können wir feststellen,
daß sehr oft falsche Ideen Erfolg in diesem Sinn haben. Aus dem Erfolg
der nicht-euklidischen Geometrien in der Physik und Weltraumschiffahrt
etwa folgt nicht im geringsten ihre Wahrheit, da das, was hier empirisch
festgestellt wird, gleichermaßen kompatibel mit der Wahrheit der
euklidischen Geometrie ist und durch sie erklärt werden kann, auch wenn
nicht-euklidische Theorien die Resultate empirischer Wissenschaften
leichter und schneller erklären können. Desungeachtet bleiben diese
man sich auf einen Kampf mit Löwen vorbereiten müsse. So sieht man,
daß auch falsche Urteile in diesem Sinn durchaus erfolgreich sein können.
Selbst das Urteil der Nationalsozialisten, daß die Juden keine
gleichwertigen Menschen seien, hat – durch den Neid auf die erfolgreichen
Juden sowie rassistischen Haß und Ressentiment als Basis der politischen
Machtausweitung Hitlers – nebst allen greulichen Konsequenzen auf
begrenzten Sektoren wirtschaftlich oder technisch positive Effekte
gezeitigt wie die heute noch benützten von den Nazis gebauten Stras-
sen. Aber wer möchte leugnen, daß der Rassismus Hitlers ein Irrtum, und
zwar ein dummer und zugleich in seinen direkten und hauptsächlichen
Wirkungen dämonischer Irrtum war? Die praktischen „Erfolge“ dieser
idiotischen und zugleich teuflischen Rassen-Ideologie vermindern
evidenterweise nicht im mindesten deren Irrtum.
Gewiß war sogar dieser Irrtum oder besser diese Lüge mit ein Grund
des Erfolges Hitlers in Deutschland. Seine politische Ideologie war aufs
Engste mit seinem politischen Erfolg verwoben und doch von Grund auf
falsch.
Hitlers rassistische Ideologie hatte auch Erfolg in dem dritten Sinn, daß
sie nicht nur viele Ressentiments erzeugte, daß Hitler nicht nur mit großer
Schläue auf dem mit Haß und Ressentiment geladenen Geist vieler
Deutscher mit seiner Ideologie des Rassismus gespielt hat und nur deshalb
zum politischen Erfolg gekommen ist, weil er in den Juden einen
Sündenbock gesucht hat, um die Leute von anderen politischen Unzufrie-
denheiten abzulenken. Seine Ideologie hatte vielmehr auch „Erfolg“ in
dem Sinne, daß die nach dem Worte Göbbels’ oft wiederholte Lüge von
Tausenden, ja von Millionen geglaubt wurde. All dieser „Erfolg“ hat
jedoch überhaupt nichts mit der Frage der Wahrheit der nazistischen
Ideologie zu tun. Die Frage, ob die Juden gleichwertige Menschen sind
oder nicht und gleiche Würde wie die Arier besitzen oder nicht, hängt in
keiner Weise davon ab, ob diese These oder ihr Gegenteil intersubjektiven
oder historischen Erfolg hat oder von den Massen geglaubt wird. Das läßt
sich leicht und deutlich erkennen.
So beweist auch allgemein die Herrschaft von Ideen, die Verbreitung
von Ideen zu einer bestimmten Zeit an angesehenen Universitäten, oder
was immer man sonst noch als Erfolgskriterium nehmen kann, sicher in
keinerlei Weise die Wahrheit einer Ideologie oder fällt gar mit dieser
zusammen. Denn es mag wohl sein und ist überaus häufig der Fall, daß zu
einer bestimmten Zeit irgendeine ganz falsche Idee intersubjektiv-
historisch gesehen Riesenerfolge feiert. Wenn aber Erfolg im Sinne der
intersubjektiven Annahme von Ideen deren Wahrheit nicht beweist, also
kein Kriterium von Wahrheit ist, so kann man erst recht nicht den Erfolg
als Wesen der Wahrheit bezeichnen. Wahrheit einer Idee unterscheidet sich
evidenterweise von deren intersubjektiver Annahme und auch die Wahrheit
einer erfolgreichen Idee würde immer noch darin liegen, daß die Idee mit
der Wirklichkeit übereinstimmt, nicht darin, daß sie Erfolg hat. Die
Verschiedenheit zwischen Erfolg und Wahrheit geht indirekt und per
implicationem auch daraus hervor, daß dieser Erfolg nicht einmal eine
Bedingung oder ein Kriterium für Wahrheit ist.
Übrigens setzt auch jede Erfolgstheorie der Wahrheit, genauso wie dies
im Falle der Kohärenz- und Konsenstheorie der Wahrheit gezeigt wurde,
Wahrheit im Sinne der Adäquation voraus und widerspricht sich also
selber. Denn sie beansprucht ja für sich Wahrheit in dem Sinne, daß sie uns
erschließen möchte, daß diese wirklich im „Erfolg“ besteht. Betrachten wir
etwa den folgenden Satz von Habermas, in dem er den von ihm
befürworteten diskursphilosophisch geprägten Pragmatismus ausdrücklich
der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüberstellt:
Das Repräsentationsmodell der Erkenntnis, das ... „Wahrheit“ als die
Korrespondenz zwischen Vorstellung und Gegenstand bzw. Satz und
Tatsache begreiflich macht, verfehlt den kognitiv-operativen Sinn der
„Bewältigung von Problemen“ und des „Gelingens“ von Lernprozessen...223
223
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 37.
Demnach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie unter den anspruchs-
vollen pragmatischen Voraussetzungen rationaler Diskurse allen Entkräf-
tungsversuchen standhalten würde, d.h. in einer idealen epistemischen
Situation gerechtfertigt werden könnte.224
224
Vgl. Habermas, ebd., S. 48-49.
225
Ebd., S. 50.
226
Ebd., S. 50-51; 271 ff.
227
Vgl. etwa ebd., S. 54-55.
Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, ob Erfolg eine Bedingung oder
auch eine notwendige Folge von Wahrheit ist, so haben wir auch dies
schon implizite für falsch befunden durch einige unserer Argumente dafür,
daß Erfolg nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht. Denn wir haben
gezeigt, daß es, etwa über inner Zustände, wahre Urteile geben kann,
denen niemand zustimmt, die deshalb auch nicht intersubjektiv verifizier-
bar sind oder in sonst einem Sinne „Erfolg“ haben. Es gibt sogar wahre
Urteile, etwa über Ereignisse über Milliarden Lichtjahre entfernte
Sonnensysteme, deren Wahrheit kein Mensch jemals feststellen oder
verifizieren kann. Durch diese Hinweise und einige Argumente dagegen,
das Wesen der Wahrheit mit Erfolg in irgendeinem Sinne zu identifizieren,
haben wir implizite auch schon abgelehnt, daß Erfolg eine notwendige
Bedingung von Wahrheit ist.
Wenn man im gesellschaftlich-historischen Sieg von Ideen eine
notwendige Bedingung oder auch eine notwendige Folge der Wahrheit
sieht, so darf man dies sinnvollerweise ausschließlich dann tun, wenn man
eine Metaphysik oder Eschatologie voraussetzt, nach der nur das Wahre
„am Ende“ siegen kann (was nicht ausschließt, daß im Laufe der
Geschichte unzählige falsche Ideen siegen und herrschen). So meint Hegel,
in der Geschichte und vor allem an deren Ende, nämlich in seinem eigenen
System, werde die Wahrheit triumphieren. In einer weniger tiefsinnig
durchdachten und in einem materialistischen System letztlich total
irrationalen Version meint auch Marx, in der Ideologie der klassenlosen
Gesellschaft, des Proletariats, werde am Ende der Geschichte das Wahre
und Gute triumphieren. Auf ganz anderer Grundlage als ihre säkularisier-
ten oder sogar atheistischen Pendants glauben auch die Christen, daß am
Jüngsten Tag alles Wahre ans Licht kommen und triumphieren wird. Daß
der Sieg der Wahrheit in der Geschichte nicht vollkommen ist und viel
eher Irrtum und Bosheit triumphieren, liegt von Sodoma bis Auschwitz auf
der Hand. Daß es keinen sichtbaren historischen Sieg der Wahrheit und des
Guten gibt, schließt jedoch nicht aus, daß die Wahrheit am Ende, im
Eschaton, siege.
Wenn man den letzten eschatologischen „Erfolg“ als notwendige Folge
der Wahrheit erkennt, so stellt sich natürlich die Frage, auf welcher
metaphysischen Basis man einen solchen letzten Sieg der Wahrheit in der
Realität behauptet. Geht man von einem theozentrischen Weltbild oder
einer rein philosophischen Gotteserkenntnis228 aus und sagt, daß es
228
Wie ich sie etwa in Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C.
Winter, 1996), 2. Aufl. 2000 und in: „Die natürliche Gotteserkenntnis als
menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige
metaphysisch undenkbar ist, daß in einer von einem unendlich guten und
personalen Gott geschaffenen Welt auf ewig Lüge und Falschheit
triumphieren, daß es daher einen Augenblick oder eine „absolute Zukunft“
geben muß, wo die Wahrheit offenbar wird und sich durchsetzt und auch
die Wirklichkeit gemäß der Wahrheit geordnet wird, dann hat man in Gott
als höchster Einheit von Sein, Macht und Wert, sei es auf Grund der reinen
Vernunft, sei es auf Grund eines theistischen Glaubens, einen soliden
metaphysischen Grund für die Annahme, daß letzten Endes die Wahrheit
triumphieren wird.
Dabei kann auch der Theist aus der letzten metaphysischen und
eschatologischen Einheit von Sein und Wert keinesfalls schließen, daß der
historisch-innerweltliche Sieg von Ideen deren Wahrheit garantiere oder
eine notwendige Folge oder Bedingung für Wahrheit sei. Daß dem nicht so
ist, ergibt sich bereits daraus, daß zu verschiedenen Zeiten ganz verschie-
dene, und oft einander widersprechende, Ideen triumphiert haben.
Wenn man jedoch nicht von einer Metaphysik der letzten Einheit von
Sein und Wert, sondern etwa von einem marxistischen Weltbild ausgeht,
so beraubt man sich überhaupt jeglicher metaphysischen Grundlage, um
begründetermaßen einen Endsieg am Ende der Geschichte als notwendige
Folge der Wahrheit einer Lehre behaupten zu können. Denn was soll
garantieren, daß in einem rein materialistisch erklärten, dialektisch in
Gegensätzen sich bewegenden Universum und in einer dialektisch sich
bewegenden Entwicklung der Geschichte, das Proletariat (das angeblich
am Ende in einer klassenlosen Gesellschaft übrigbleiben bzw. zu ihr führen
wird, deshalb) eine wahre Ideologie vertreten wird?
Nur wenn es feststeht, daß das Subjekt, das den Endsieg bestimmt, gut
und allmächtig, und daß seine Erkenntnis irrtumsfrei ist, weshalb allein
feststeht, daß das Gute und die Erkenntnis sich wegen der Ordnung der
Welt durch Gott als den Urgütigen und Allmächtigen letzten Endes auch in
der Realität durchsetzen wird – nur dann kann man begründen, daß am
Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag,
2001), 9-102, zu begründen suchte und in „Zur Herkunft des Glaubens. Gründe
und Hintergründe. Refexionen über das Problem einer Theodizee angesichts der
Leiden und Übel in der Welt“ in: Glaube im Unglauben der Zeit (Augsburg:
Dialogsekretariat, 1983) gegen diverse atheistische Einwände aus der Existenz
der Übel in der Welt verteidigt habe.
Wenn man den Erfolg als Kriterium der Wahrheit betrachtet, so ist wohl
aus dem Gesagten auch schon klar, daß Erfolg im Sinne der sachfernen
Wirkungen und des Nutzens einer Ideologie in keiner Weise ein Kriterium
für ihre Wahrheit sein kann. Wenn die Nationalsozialisten sagten, daß ihre
militärischen Siege ein Beweis für die Wahrheit ihrer Ideologie seien, so
liegt es auf der Hand, daß dies ein Unfug ist. Denn was soll es auch mit der
229
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1-3 (Frankfurt a. M:, Suhrkamp 1959).
Wahrheit einer Ideologie zu tun haben, daß man bessere Waffen produziert
und andere damit besiegen kann? Das stellt höchstens einen Beweis für die
Güte ihrer Waffenproduktion oder für die Überlegenheit des Plans ihrer
Waffen oder ihres technischen Könnens dar. Gleichfalls, wenn die
Bolschewiken und spätere Generationen von Kommunisten behaupteten, es
sei ein Beweis der Wahrheit der marxistischen Ideologie, daß sie den Sieg
gegen den Zarismus und zahlreiche andere Siege errungen hätten, dann ist
dies ebenso Unsinn. Denn wieso soll die Tatsache, daß sie besser
bewaffnet waren, oder daß mehr Menschen ihre Anhänger als ihre Gegner
gewesen sind, ein Beweis dafür sein, daß die kommunistische Ideologie
wahr war? Angesichts des schwankenden Erfolgs der Völker in der
Geschichte und der brutalen Kräfte im Menschen, die sie beherrschen, ist
eine solche Meinung ein purer irrationaler Wahn.
Auch Hegels Theorie, daß der Zeitgeist immer die historische Wahrheit
verkörpere und daß das, was nicht dem Zeitgeist entspreche, schon deshalb
als solches unwahr sei, hat zwar in der Hegelschen Metaphysik des sich in
der Geschichte entfaltenden Weltgeistes ein Fundament, das die These
vom Sieg der Wahrheit in der Geschichte begründen könnte. Da aber die
Ideen Hegels von einem Gutes und Böses gleichermaßen wollenden
Weltgeiste eher in Schopenhauers oder Nietzsches metaphysischen
Pessimismus münden müßten und außerdem die Selbstentfaltung des
Geistes in der Geschichte jeder Evidenz entbehrt und eine abenteuerliche
Konstruktion ist, finden wir auch in Hegels Metaphysik keine objektive
Begründung für den Endsieg der Wahrheit in der Geschichte oder am Ende
der Geschichte. Eine solche angesichts der Mächte der Zerstörung und des
Bösen in der Geschichte proklamierte „historische Theodizee“ und Lehre
vom Endsieg der Wahrheit innerhalb oder am Ende der Menschheits-
geschichte könnte jedenfalls nur von einer Gotteserkenntnis kommen, wie
sie hier nicht unser Thema ist. So ist auch bei Hegel der Sieg der Wahrheit
am Ende der Geschichte von seiner apersonalen Gottesidee und Idee des
Absoluten her nicht nur eine unwahrscheinliche Annahme, sondern wäre –
selbst wenn Hegels diesbezüglichen Prophezeiungen einträten – ein durch
und durch willkürliches Kriterium für Wahrheit oder ein unbegründbares
Postulat ihrer historischen Wirksamkeit oder ihres Sieges, das weder der
kritischen Analyse der evidenten wesenhaften Sachverhalte über das
230
Vgl. G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe (Frankfurt a.M.:
Suhrkamp Verlag, 1970) – ein Wiederabdurck von G.W.F. Hegel, Werke.
Vollständige Ausg. durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph.
Marheineke [et al.] Berlin: Duncker und Humblot, 1832-1845. Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte, (Bd.) 12:11. (Jub. IX):
Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz
metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so
daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden
sollte. In der Tat liegt nirgend eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden
Erkenntnis als in der Weltgeschichte. Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des
Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und
Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck
der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm
sich letztlich geltend gemacht habe. Hierfür aber genügt der bloße Glaube an den noÿV und
die Vorsehung noch keineswegs. Die Vernunft, von der gesagt worden, daß sie in der Welt
regiere, ist ein ebenso unbestimmtes Wort als die Vorsehung - man spricht immer von der
Vernunft, ohne eben angeben zu können, was denn ihre Bestimmung, ihr Inhalt ist, wonach
wir beurteilen können, ob etwas vernünftig ist, ob unvernünftig. Die Vernunft in 12/28 ihrer
Bestimmung gefaßt, dies ist erst die Sache; das andere, wenn man ebenso bei der Vernunft
überhaupt stehenbleibt, das sind nur Worte. Mit diesen Angaben gehen wir zu dem zweiten
Gesichtspunkte über, den wir in dieser Einleitung betrachten wollen.
dann kann das Kriterium des Erfolgs für Wahrheit unter sehr bestimmten
Umständen durchaus berechtigt und sinnvoll sein. Denken wir an das
Argument Gamaliels in der Apostelgeschichte, wo er zu den Juden sagt, sie
sollten die Apostel nicht verfolgen oder töten. Denn wenn ihre Lehre eine
rein menschliche sei, dann werde es mit ihr genauso gehen wie mit
zahllosen anderen rein menschlichen Lehren, die innerhalb einer oder
zweier Generationen ausgestorben sind. Man brauche sie also nur ihrem
Schicksal zu überlassen. Wenn ihre Lehre aber von Gott sei, dann werde
sie dauern. In diesem Fall sollten die Juden aber nicht gegen Gott kämpfen,
indem sie die Apostel, welche göttliche Lehren vertreten, hinrichten.
In seinem Argument sieht Gamaliel also in dem historischen Erfolg der
Ideen des Christentums einen Beweis für ihre Göttlichkeit und Wahrheit.
Warum? Nicht einfach aus dem Grund, daß Ideen, die ein so differenzier-
tes und schwer zu akzeptierendes metaphysisch-religiöses System und eine
Lehre wie das Christentum, die so viele harte Konsequenzen für das
persönliche Leben der Menschen hat, auf einer rein menschlichen Basis
nicht lange nicht bestehen bleiben kann. Gamaliel argumentiert vielmehr,
daß die historische Erfahrung zeigt, daß wenn Menschen Philosophien oder
Ideologien aller Art entwickeln, diese nach kurzer Zeit verändert werden
oder aussterben.
Man kann selbstverständlich fragen, ob dieses Argument aus dem
Überleben und der Dauer des Christentums als solches genügend ist, um
dessen Wahrheit zu beweisen. Dieses Gamaliel-Argument ist nicht nur für
viele Christen, sondern in neuem Sinn für viele Katholiken einer der
Gründe, warum sie von der Wahrheit der Kirche überzeugt sind. Sie
argumentieren, daß es außerhalb der katholischen Lehre nirgends eine
ähnlich langlebige und zugleich höchst differenzierte Lehre gibt, die über
2000 Jahre hindurch, und zwar inmitten wüstester historischer Debatten
und Kontroversen und aller möglichen anderen Deutungen des Christen-
tums und Einflüsse, sich als einheitliche Lehre durchgehalten hat.
Der Platonismus etwa war im Gegensatz dazu schon unter Platons
direkten Schülern nicht einheitlich und zerfiel nach einer Generation in alle
möglichen Schulen, die von einander radikal verschieden waren. Andere
Religionen sind in Sekten zersplittert, wie die Buddhisten. Sogar innerhalb
der reformierten, lutherischen und anderer Christen haben sich die
verschiedenen christlichen Bekenntnisse in Hunderte aufgespaltet. Überall
ist irgendeine andere Kirche da, die etwas anderes glaubt. Und daß über
eine Dauer von fast 2000 Jahren eine so schwer begreifbare, subtile und
zugleich einfache metaphysisch-anthropologische, ethische, und religiöse
Lehre erhalten blieb wie sie in den dogmatischen Formulierungen der
Kirche von deren Anfängen bis zur Gegenwart ohne Bruch und Wider-
spruch zum Ausdruck kommt, mag der Katholik, aber selbst der Anders-
denkende als einen einmaligen „Erfolg“, eine Art Wunder betrachten, das
man nicht rein menschlich-natürlich erklären kann. Denn wo sonst
Menschen zusammenkommen und über so schwierige fragen wie jene der
christlichen Lehre sprechen, sind sie fast immer schon innerhalb einer
Generation entzweit.
Dieses Argument liegt übrigens auch Boccaccios „Lumpenbeweis“
zugrunde. Boccaccio bringt im Decamerone die Geschichte vom Juden
Abraham und dem christlichen Kaufmann. Beide disputieren über den
Glauben. Der Jude Abraham lehnt das Christentum völlig ab. Schließlich
sagt er dem Christen, er wolle nach Rom gehen, um das Christentum im
Zentrum der Christenheit kennenzulernen. Daraufhin sagt der Christ: „Um
Gottes willen, gehe nur ja nicht nach Rom! Wenn Du den Papst und die
Kardinäle siehst und all den Unfug und all die Greuel, die am päpstlichen
Hof vorgehen, dann wirst Du jeden Glauben an das Christentum
verlieren!“ Der Jude Abraham geht dennoch nach Rom und nach einigen
Monaten schreibt er, er wolle jetzt zur Kirche übertreten und hätte sich
bekehrt. Der Christ ist ganz verblüfft und schreibt: „Wieso um Gottes
willen, wie kannst Du in Rom, im Sündenpfuhl, im Babel, zum Glauben
gefunden haben?“ Und darauf antwortet der Jude sinngemäß: „Alles, was
Du mir über die Übel und Korruption im Vatikan erzählt hast, ist wahr, ja
wird durch die Tatsachen weit übertroffen. Eine Lehre aber, die durch so
üble Menschen wie viele Kardinäle und Päpste es sind und durch so
korrupte Menschen wie die Katholiken es oft sind, in über 1000 Jahren
noch nicht zerstört worden ist, die kann nur göttlichen Ursprungs sein.“
Das ist natürlich, wenn man es so lesen will, ein merkwürdiges
Argument und vielleicht in Boccaccios verächtlich vorgetragenem Ton in
seinem von der katholischen Kirche auf den Index verbotener Bücher
gesetzten Werk zynisch gemeint. Aber meines Erachtens ist dies ein
ähnliches Argument wie das des Gamaliel in der Apostelgeschichte.
Nach diesem Argument wäre der Erfolg einer Idee im Sinne des
Bewahrtwerdens einer Idee in einer Gemeinschaft oder in der Geschichte
Ausgangspunkt der Argumentation. Und dieser Erfolg wird nicht deshalb
als Wahrheitsbeweis gewertet, weil einfach irgendeine Idee historisch
lange lebendig bleibt. Vielmehr wird hier eine besondere historische
Tatsache als Wahrheitsbeweis gewertet, und angenommen, daß eine andere
Erklärung dieses einzigartigen „Erfolges“ außer durch die Wahrheit oder
durch einen göttlichen Einfluß nicht möglich ist. Die Diskussion der
Erfolgstheorie der Wahrheit als Kriterium für Wahrheit durfte nicht
abgeschlossen werden, ohne auf diese besondere Form des Arguments
einzugehen, die nicht in Erfolg als solchem, sondern in einer menschlich
nicht erklärbaren und der sonstigen Erfahrung des Erfolgs von Ideen in der
Geschichte widerstreitenden Art des Sieges eines Glaubens einen Beweis
für dessen göttlichen Ursprung und damit auch für dessen Wahrheit
erblickt.
FUNKTIONALISTISCHER WAHRHEITSBEGRIFF
231
Spaemann hat hinsichtlich einer Reihe von konservativen, aber auch progressiven
französischen Autoren wie de Bonald gezeigt, daß ihrem Denken ein derartiger
Ersatz der Wahrheitsfrage durch die Frage der Funktionalität von Ideen für das
Ancien Régime zugrundeliegt. Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der
Soziologie aus dem Geist der Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald
(München: Kösel, 1959).
232
Vgl. etwa David Scott, “Buddhist Functionalism – Instrumentality Reaffirmed”,
Asian Philosophy, (1995); 5 (2): 127-149. Der Autor untersucht die Frage, ob der
Buddhismus am besten innerhalb einer funktionalistischen Wahrheitsauffassung
234
Vgl. Robert Spaemann, „Kritik der politischen Theologie“, in: Wort und Wahrheit
24, 1969, Heft 6; als ‚Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen
Theologie‘, in: Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, 57-76.
Ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“, in
Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Vgl. Auch Georg Lohmann,
„Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo
Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg.,
Konservatismus in Geschichte und Gegenwart (Würzburg: Verlag Könighausen &
Neumann, 1991), S.183-20.
235
Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald, zit.
236
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung.
237
Siehe Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung.
Vor allem jedoch geht es gar nicht primär um die Frage, ob auch eine
funktionalistisch durchschaute Religion, Ethik oder Metaphysik sich zur
Kontingenzbewältigung als wirksam erweisen kann. Vielleicht gibt es
Menschen, die trotz vorausgesetzter Unwahrheit oder Nichtwahrheit ihrer
Religion diese dennoch funktionalistisch wie ein durchschautes Placebo-
Medikament autosuggestiv benützen. Damit ist jedoch der tiefere Einwand
Spaemanns, den Lübbe nicht zu berücksichtigen scheint, nicht getroffen,
nämlich der, daß es dem Wesen des Göttlichen, ja sogar dem Gottesbegriff
widerspricht, wie Robert Spaemann im Anschluß an Anselm von
Canterbury zeigt, daß das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden
kann, nur funktionalistisch umgedeutet werden könnte.238 Denn wenn es
um des Menschen willen eine Funktion erfüllt, so wäre es sogar dem
Menschen an Wert unterlegen und daher nicht mehr Gott bzw. die Einheit
von Realität, Macht, und Gutheit, im höchsten, ja im unendlichen Sinne,
die die göttliche Wesenheit des „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres
gedacht werden kann“ ausmacht.
An diese Erwiderungen Spaemanns möchten wir hier eine noch
allgemeinere philosophische Überlegung, die die Frage nach dem Wesen
der Wahrheit betrifft, anschließen. Es zeigt sich nämlich, daß sich der
Funktionalismus ebenso widerspricht wie die existentialistische und die
utilitaristische Wahrheitsdefinitionen. Denn wenn man im strikten Sinne
(es sei hier nicht entschieden, ob Lübbe diese Auffassung vertritt oder
nicht) Wahrheit mit Funktionalität identifizieren wollte, so würde man
immer noch in diesem Urteil der Identifizierung der beiden Wahrheit als
adaequatio voraussetzen. Denn indem man diese Theorie über die
funktionalistische Natur der Wahrheit formuliert, darf man gewiß diese
Theorie des Funktionalismus selbst nicht wiederum funktionalistisch
deuten, denn sonst wäre sie als Aussage darüber, was Wahrheit ist, völlig
wertlos und würde nur eine Anschauung darstellen, die bestimmte
persönliche, psychologische oder existentielle Funktionen erfüllt. So kann
auch diese Theorie gleich wie die früher auf dieser Basis kritisierten
Auffassungen, nicht umhin, Wahrheit im klassischen Sinn als
238
Spaemann, Robert, „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚Gott‘“, in: Robert
Spaemann, Einsprüche. Christliche Reden, S. 13-35.
239
Vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit (München, R. Piper & Co, 1958); ders.,
Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Gruyter
Studienbuch, 4. Aufl. (Berlin: Gruyter, 1981).
„absoluter Transzendenz,“ wenn damit nur gemeint ist, daß sie sich jeder
allumfassenden menschlichen Erkenntnis entzieht und jenseits derselben
liegt, aber in keiner Weise kann daraus abgeleitet werden, daß nicht viele
wahren Urteile vom menschlichen Geist erkannt werden oder daß
irgendein Teil der allumfassenden Wahrheit in sich widersprüchlich sein
oder irgendeiner der zahllosen von uns als solchen erkannten Teilwahrhei-
ten widersprechen könnte, was evidentermaßen unmöglich ist, wie wir im
Licht der Evidenz des Widerspruchsprinzips einsehen.
Oder wird in der Chiffre-Theorie der Wahrheit in einer Art von
Hegelianismus gerade dies gemeint, daß alle Widersprüche Teile der einen
und unserem logischen Verstand ganz unzugänglichen Ganzheit der
Wahrheit seien, die – gemessen an den von uns erfaßten Prinzipien des
Widerspruchs und ausgeschlossenen Dritten – widersprüchlich sein könne
bzw. jenseits jeden Gegensatzes einander kontradiktorisch widerspre-
chender Urteile angesetzt werden müsse? So wäre Wahrheit nicht nur
unendlich und uns in ihrer Ganzheit verborgen, sondern könnten wir auch
die Wahrheit keines einzigen Urteils erkennen, ja die Wahrheit wäre
irrational, widersprüchlich und durch die menschliche ratio gänzlich
unerkennbar. Alle unsere Urteile, und besonders die einander widerspre-
chenden, wären nichts als Chiffren, inhaltsleere Zeichen, für eine absolut
transzendente und unserem Geist durch und durch unbegreifliche Wahr-
heit. Eine Chiffre-Theorie der Wahrheit im Sinne eines derart verschwom-
menen Transzendenzbegriffs jedoch vermag weder das Verhältnis der
Urteile zur Wahrheit noch deren Wesen anzugeben.240
Außerdem mündet sie in Positionen wie die, daß radikaler Antisemitis-
mus und Verteidigung der gleichen Würde des jüdischen Menschen beide,
trotz ihres Widerspruchs, gleichermaßen bloße Chiffren seien für eine uns
total unbekannte Wahrheit des Umgreifenden. Damit widerspricht diese
Position jedoch der eindeutig zugänglichen Evidenz von Werten, der
eindeutigen Falschheit von Irrtümern wie dem Rassismus, aber auch
evidenten philosophischen Erkenntnissen wie denen des Cogito, der
logischen Prinzipien, sowie allen bisher gewonnenen Erkenntnissen über
240
Zu den verschiedenen Begriffen von Transzendenz vgl. Josef Seifert, Erkenntnis
objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis,
Einleitung.
das Wesen der Wahrheit, und verfällt so in eine unbegründete Skepsis und
einen Irrationalismus, der klaren und deutlichen Einsichten, die unumstöß-
liche Evidenz besitzen, widerspricht und den fundamentalen Unterschied
zwischen unbezweifelbarer und evidenter Erkenntnis von Wahrheit und
vollständiger Erkenntnis der Wahrheit nicht macht und daher verworren
ist.
Überdies widerspricht sich diese Theorie auch unweigerlich selber,
indem sie offenbar für sich selber Wahrheit im Sinne der Adäquation
voraussetzt, möchte sie uns doch auseinandersetzen, worin Wahrheit des
Urteils nicht besteht und worin sie besteht. Wir brauchen diesen gleichen
Widerspruch, der jede Wahrheitstheorie, welche das Urphänomen der
Übereinstimmung des wahren Urteils umgehen oder ausschalten möchte,
befällt und auf den wir schon mehrmals gestoßen sind, hier nicht noch
einmal auszuführen. Einem ähnlichen Widerspruch verfällt auch jede
Leugnung der Erkennbarkeit (Skepsis) sowie jede These der Relativität der
Wahrheit (Relativismus). Denn beide Positionen setzen die Erkenntnis der
Wahrheit voraus und erheben notwendigerweise den Anspruch auf eine
objektive und eo ipso absolute Wahrheit für ihre eigenen Aussagen.
Die Chiffre-Theorie der Wahrheit kann auch in keiner Weise den
Wahrheitsbegriff der Religion aufklären, obwohl sie durch den Bezug zum
„Umgreifenden“ diesem am nächsten zu kommen scheint. In der in
Wittgensteins Ethik und Religionsphilosophie entwickelten Wahrheits-
theorie, aber auch bei vielen Theologen inklusive katholischen Dogmatik-
professoren, etwa den „Theologen der Religionen“, die die Zeit der
begrifflich-logischen Wahrheit für endgültig vergangen halten und meinen,
Glaubensformulierungen seien nichts als Chiffren für eine uns unbekannte
Transzendenz oder den Akt der Anbetung, kehren derartige Ideen
wieder. Dabei bemerken diese Theologen häufig nicht, daß dem Begriff
der Anbetung jeglicher Boden entzogen wird, wenn das Göttliche durch
keinen menschlichen Begriff und kein wahres Urteil überhaupt soweit
faßbar ist, daß man wahre und falsche Aussagen über Gott machen und
unterscheiden kann. Denn Anbetung setzt die Wahrheit des Urteils voraus,
daß Gott existiert und nicht nichts ist, daß er absolut und nicht von uns
abhängig, heilig und nicht ein böser Weltwille ist, der uns zu seinem
grausamen Spiel geschaffen hat und den wir mit Iwan Karamasoff und
Sartre ablehnen müßten. Ohne wahre Urteile läßt sich also Anbetung
1.1. Die unbestreitbare Bedeutung der existentiellen Wahrheit (der veritas vitae)
241
Vgl. vor allem Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nach-
schrift zu den philosophischen Brocken.
242
John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of A Grammar of Assent
(Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973).
den Werten und Gütern eine neue Bedeutung der Wahrheit einführten, die
in vielen Hinsichten der ontologischen personalen Wahrheit sowie der
moralischen veritas vitae, die etwa Bonaventura so sehr betont, entspricht
und eine der klassischen Bedeutungen des Wortes „wahr“ ausmacht.
Wahrheit in diesem existentiellen Sinne des Wortes einer „gelebten
Wahrheit“, die in unser Leben formend eingreift, eines „Tuns der
Wahrheit“, wie das Evangelium dies nennt und wie es G. Elizabeth M.
Anscombe zum Gegenstand interessanter philosophischer Überlegungen
gemacht hat,243 könnte als adaequatio vitae ad rem („Angemessenheit des
Lebens an die Sache“ – Sache dabei vor allem im Sinne moralisch
bedeutsamer Wirklichkeit) verstanden werden und bedeutet nur eine
Ergänzung zur adaequatio des Urteils an die bestehenden Sachverhalte und
keineswegs deren Ersatz. Ja der klassische Wahrheitsbegriff wird hier
eindeutig und ganz bewußt vorausgesetzt und keineswegs ersetzt.
Wenn Soeren Kierkegaard die von ihm gewiß intendierte Wahrheit des
Lebens „subjektive Wahrheit“ nennt, so hat er meist gerade diese Wahrheit
des Lebens im Auge. Allerdings ist sein Ausdruck äußerst mißverständlich.
Darüber hinaus findet sich bei Kierkegaard, etwa in seinem Lob des
berühmten, unten zitierten, Lessing-Wortes, sowohl eine Verschiebung des
Primats in Richtung existentieller Wahrheit als auch eine tiefgreifende
Verwechslung der echten existentiellen und „subjektiven“ Wahrheit, dem
geforderten „Subjektivwerden“ (im ersten Sinn existentieller Wahrheit),
mit der grundlegend falschen und subjektivistischen Idee der „subjektiven
Wahrheit“, die in Lessings Wort zum Ausdruck kommt, das mit dem
Streben nach Wahrheit wenngleich „mit dem Zusatze, mich immer und
ewig zu irren“, eine theoretische und existentielle Absurdität darstellt.
243
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, „Die Wahrheit ‚Thun‘“, in: Crespo, M. (Hrsg.),
Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 57-60.
wichtiger erachtet wird als der Inhalt der Wahrheit und deren Wahrheits-
charakter selbst, womit diese „existentielle Wahrheit“ nicht mehr die im
Leben ergriffene und adäquat beantwortete tatsächliche Wahrheit meint,
sondern subjektivistisch als „ehrliches Leben gemäß den eigenen subjekti-
ven Maximen“ – sogar in Indifferenz gegenüber der Wahrheit – aufgefaßt
wird. Auch ungeachtet der Tatsache, daß man dabei nicht notwendiger-
weise die klassische Wahrheitsdefinition als Übereinstimmung des Urteils
mit den bestehenden Sachverhalten ganz zu leugnen braucht, vollzieht sich
hier eine radikale Gewichtsverlagerung im Wahrheitsbegriff in Richtung
„existentieller Wahrheit“, die sogar mit einer Gleichgültigkeit gegenüber
der Frage gepaart ist, ob die festgehaltene Meinung objektiv wahr ist oder
falsch. Ja diese Frage wird als eine für Menschen nicht passende oder
sogar hohle Frage angesehen. In diesem Sinne kann man Lessings
berühmtes und von Kierkegaard geliebtes Wort verstehen:
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein
vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die
Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch
den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich
seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -* Wenn Gott in seiner
Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb
nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren,
verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ Ich fiele ihm mit Demut
in seine Linke und sagte: ›Vater gib!‹ die reine Wahrheit ist ja doch nur für
dich allein!“ 244
244
G. E. Lessing, Duplik, (1977), 213-215 . Vgl. auch Herder: Briefe zur Beförderung
der Humanität, S. 874. (214-215) Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 20058 (vgl. Herder-HB Bd. 2, S. 206-207). Vgl.
auch Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken.
1.3. Existentielle Wahrheit als Umdefinition der Urteilswahrheit oder als Ersatz
für diese
245
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, sowie Robert Spaemann, Zur
Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, (Stuttgart:
Klett-Cotta, 1977); ‚Kritik der politischen Theologie‘, in Wort und Wahrheit 24
1969, Heft 6; als auch ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politi-
schen Theologie“, in: Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, zit.,
57-76; ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“,
in: Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Georg Lohmann,
„Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo
Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg.,
Konservatismus in Geschichte und Gegenwart, S.183-20.
2.1. Existentielle Wahrheit als Veritas Vitae – ein grundlegender und wichtiger
Begriff
246
Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso (Milano: Franco Angeli, 2002).
Damit berühren wir schon den erwähnten zweiten und völlig verschie-
denen Sinn von „existentieller Wahrheit“, welcher die Wahrheit des
Lebens und der menschlichen Existenz von der objektiven Wahrheit der
Urteile, auf denen die echte veritas vitae aufbaut, abschneidet, wie dies in
dem zitierten Lessingwort enthalten ist.
Die existentielle Wahrheit jedoch darf nie den Primat vor der objektiven
Wahrheit unserer Erkenntnisse und Urteile haben, denn der innerste Sinn
all unserer Wertantworten und Taten sollte darin liegen, den Dingen, den
Personen und der absoluten göttlichen Wahrheit und Wesenheit die ihnen
gebührende Antwort zu geben. Der Sinn des geistigen Lebens der Person
liegt nicht in diesem selbst als ein Glücksgefühl oder eine Befriedigung
unserer Strebungen, sondern in der Angemessenheit an die Wahrheit und
das Gute. Deshalb bricht dieser Sinn des geistigen Lebens der Person
zusammen, wenn wir das Sein nicht erkennen, wie es ist, wenn unser Urteil
falsch ist, wenn unser Wollen nur Scheinwerte bejaht und nicht das wahre
Gute. Die Beziehung zur Wahrheit ist der Lebensnerv des Geistes. Deshalb
ist jede Loslösung der existentiellen Wahrheit des Lebens von der
Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit ein subjektivistischer und
verhängnisvoller Schritt in eine Leere und ein geistiges Nichts, ein Schritt,
der auch tief in Kants transzendentaler Dialektik der Kritik der reinen
Vernunft sowie in seiner Idee der moralischen Postulate und in dem liegt,
was Vaihinger die „als Ob-Philosophie“ nennt.
Man darf auch nicht vergessen, daß eine veritas vitae, über die unser
Gewissen Zeugnis ablegt, nur dann eine existentielle Wahrheit heißen darf,
wenn unser Leben nach bestem Wissen und Gewissen auf der objektiven
Wahrheit der Urteile über die Dinge, über Gott und über den Menschen
beruht. Auch wenn wir tatsächlich unschuldigerweise im Irrtum sind, muß
das innerste Prinzip menschlichen Lebens und Handelns der Wille zur
Wahrheit sein.
Zwar mag es moralisch besser sein, wenn jemand ehrlich seinen irrigen
Ideen folgt als wenn er zwar eine objektive Wahrheit erkennt, aber die
Wahrheit nicht tut, doch gilt dieses Lob der „existentiell gesuchten und
ergriffenen, aber nur subjektiv als wahr vermeinten oder nur für wahr
gehaltenen Wahrheit“ erstens nur dann, wenn der Mensch dasjenige,
worauf er sein Leben gründet, für wahr im Sinne der adaequatio hält und
nach der Wahrheit sucht. Sobald es ihm nicht mehr darauf ankommt, ob
sein Leben auf der Wahrheit oder auf falschen und willkürlichen Ideen
über Gott und die Welt beruht, sobald es ihm nur noch auf die Relation
seines Lebens zu seinen persönlichen Lebensoptionen und Überzeugungen
ankommt und nicht mehr um deren Wahrheit zu tun ist, sind auch der
moralische Wert und der Sinn der existentiellen „subjektiven Wahrheit“
dahin. Ja sogar schon wenn man den theoretischen und ethisch relevanten
Primat der Wahrheit jener Urteile, auf denen unser moralisches Leben
aufbauen sollte, als eigentliche raison d’être menschlichen und sittlichen
Lebens verkennt, tritt eine radikale Verfälschung der Lebenswahrheit ein
und wird unser Leben letzten Endes auch existentiell „unwahr“.
In dem Augenblick, in dem man deshalb dieser existentiellen Wahrheit
einen ungebührlichen Vorzug gibt oder gar sie ganz von der Frage der
objektiven Wahrheit loslöst, verfälscht man sie radikal, ja verwandelt sie in
eine existentielle Unwahrheit.
2.3. Die radikale Loslösung des Lebens von der Wahrheit als adaequatio: Von
deren Leugnung zur Umdeutung der Illusion und Lüge im
außermoralischen Sinn in Wahrheit: Friedrich Nietzsche und die Geburt der
„subjektiven Wahrheit“ im Werk einiger Existentialisten
Der Denker, welcher in neuerer Zeit diese radikal verschiedene Idee der
„existentiellen Wahrheit“ mit aller Schärfe vertreten hat, ja sie beim
rechten Namen genannt hat, als ein Leben ohne Wahrheit, wenn nicht
sogar gegen diese, ist Friedrich Nietzsche. An Nietzsches Schriften zeigt
sich, daß diese zweite Form des Begriffes der existentiellen Wahrheit einer
Loslösung des Lebens von der Wahrheit entstammt. Um diese Idee der
„existentiellen Wahrheit“ und ihre Geburt aus einer Loslösung von der
Urteilswahrheit als adaequatio besser zu verstehen, holen wir hier weiter
aus und stellen in knappen Zügen Friedrich Nietzsches Philosophie der
Wahrheit und den Übergang vom Zweifel an der Erkennbarkeit der
Urteilswahrheit als adaequatio zur angeblichen Befreiung von ihr dar, ein
Thema, auf das wir ja schon in der Einleitung hingewiesen und worüber
wir Nietzsche-Stellen zitiert haben, auf die wir nun näher eingehen
möchten.
In seinem Aufsatz über Schopenhauer als Erzieher schreibt Nietzsche
folgendes: (In einem späteren Brief aber erklärt Nietzsche, er habe in
diesem Aufsatz im Grunde über sich selbst, nicht über Schopenhauer
geschrieben):
Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs:
Vereinsamung, Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese
Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus
seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch
in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und
Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit
dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint
mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig
eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man
überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht
glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor
allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete
es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung
auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und
zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden ; und nur
bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel
ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und
Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie z.B. Heinrich von Kleist
als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem‘, schreibt er
einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen
Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken
mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft
erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir
Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s
das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode
nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch
noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens
dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in
seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.‘ Ja, wann werden die
Menschen wieder dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen
sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern‘
messen? ...247
247
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Friedrich Nietzsche,
Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. 1,
S. 302/ 3. Die von Nietzsche zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22.
III. 1801. Vgl. Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, 1964, hrsg. v. Helmut
Sembdner, Bd. 6, Briefe 1793 – 1804, S. 163., III, 3.
geringsten, daß diese Zuhörer im Hören und nur im Hören meine Worte als
das erfassen, was sie objektiv sind, das heißt, als das, als was sie eigentlich
„gemeint“ sind, unabhängig davon, ob sie hören oder taub sind. Zu
behaupten, meine Worte würden nur dann „objektiv“ (weil unabhängig von
jedem perzipierenden Subjekt) vernommen, wenn sie ein Physiker als
flatus vocis mit einem Instrument feststellt, wäre offenbar eine konfuse und
überdies beleidigende Feststellung; ähnliches gilt für alle Farben, Töne
usw.
Aber nun von diesem besonderen Fall auszugehen und zu sagen: „Wenn
das bei Tönen so ist, daß ,objektiv‘ (jetzt nicht mehr im Sinne des
,eigentlich Gemeinten‘, sondern des ,unabhängig von jedem Subjekt‘) nur
Schwingungen bestehen, warum kann man dieses Prinzip denn nicht auch
auf die Schwingungen der Luft selbst, ja auf Raum und Zeit selbst
ausdehnen? Warum kann man nicht überhaupt von allem, was wir
erkennen, sagen, es bestünde nicht unabhängig von unserem Erkennen?!“ –
darin liegt das unmittelbar erlebte und im folgenden zu klärende
Mißverständnis Kants, wenn er diesen Gedanken auch nicht auf alle
Gegenstände des Bewusstseins ausgedehnt und die Grenzidee eines Dinges
an sich beibehalten hat.248
Schon die primären Sinnesqualitäten (wie Ausdehnung, Gestalt usw.),
erst recht Raum und noch mehr die Zeit, Kausalität, Pflanzen und Tiere,
vor allem aber andere Personen, erheben ihrem Wesen nach ganz
elementar den Anspruch darauf, unabhängig von jedem Erkenntnissubjekt
zu existieren, um objektiv zu sein, besser: um überhaupt zu sein. All dies
erhebt den Anspruch, im Wesen von all dem liegt, unabhängig von jeder
Erkenntnis so zu existieren, wie wir es erkennen. Dieses Bewußtsein
begleitet jeden Menschen mit so elementarer Ursprünglichkeit, daß es fast
248
Natürlich liegt in dieser „Übertragung“ Kants nicht der eigentliche Ausgangspunkt
für seine Lehre: Dieser liegt vielmehr darin, daß er bei seiner klassischen
Fragestellung: wie sind synthetische Sätze apriori möglich? (in deren Beantwor-
tung tatsächlich das Schicksal jeder Metaphysik liegt) völlig verschiedene
Begriffe von „a priori“, „Erfahrung“, „Begriff“ nicht unterschied und deshalb
notwendige, apriorische Urteile sich nicht anders denken konnte, als von jeder
Erfahrung unabhängig. Vgl. zu diesem Thema mein Buch Erkenntnis objektiver
Wahrheit, bes. S. 140 ff.; S. 163 ff.
249
Diesen Uranspruch der „Außenwelt“ auf Unabhängigkeit, der jedem Kind
elementar bewußt ist und den Kleist und Nietzsche so gewaltig ausdrücken,
versucht Kant zu leugnen, bzw. umzudeuten: Er versucht, diesen elementaren
„Unabhängigkeitsanspruch“, der einsichtigermaßen im Wesen von Raum, Zeit,
anderen Personen usw. liegt, auf ein nur von uns ausgehendes „Urteil“ der
Vernunft zurückzuführen, das den „Erscheinungen“ eine objektive, transzendente
Realität „zusprechen“ soll: ja er geht sogar bis zu der Behauptung, nicht nur Dinge
außer uns bestünden nicht als transzendente, von unserm Erkennen unabhängige
Wirklichkeiten und stellten auch gar keinen derartigen Anspruch, sondern mit
unserm erlebten Ich sei es ebenso, daß es sich dabei nur um Erscheinungen
handle. Damit steckt Schopenhauer schon in Kant, und die genialen Einsichten des
hl. Augustinus, aber auch von Descartes, sind völlig verloren: „... und es ist eine
ebenso sichere Erfahrung, daß Körper außer uns (im Raum) existieren, als daß ich
selbst nach der Vorstellung des inneren Sinnes (der Zeit) da bin; denn der Begriff
,außer uns‘ bedeutet nur die Existenz im Raume. Da aber das ich in dem Satze: ich
bin, nicht bloß den Gegenstand der inneren Anschauung (der Zeit), sondern das
Subjekt des Bewußtseins, sowie nicht bloß die äußere Anschauung (im Raume),
sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, was dieser Erscheinung zum
Grunde liegt: so kann die Frage, ob die Körper (als Erscheinungen des äußeren
Sinnes) außer meinen Gedanken in der Natur als Körper existieren, ohne alles
Bedenken verneint werden; aber darin verhält es sich gar nicht anders mit der
Frage, ‚ob ich selbst als Erscheinung des inneren Sinnes (Seele nach der
empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere‘,
denn diese muß ebensowohl verneint werden...‘ (Prolegomena, § 49) u. vgl. auch
Kritik d. r. V., l. Teil, II. Abschnitt Ausgabe B 69/70). Anderseits in Vorrede B
XXVII-XXIX versucht Kant, zu zeigen, daß die Freiheit der Seele als Ding an
sich zukomme, die Notwendigkeit der Erscheinung nach und behauptet also eine
Freiheit ohne Zeit und die dem (zugleich absolut unbekannten) Ding an sich der
Seele angehöre und andere Widersprüche mehr, auf die schon Schopenhauer
hinweist. Zu sagen, auch unser Ich und damit alle seine Akte, (also auch
Erkenntnis) – soweit sie uns bekannt sind – seien nur eine „Erscheinung“ und kein
„Ding an sich“, ja diese Erscheinung erhebe nicht einmal einen Anspruch darauf,
ein Ding an sich zu sein, sondern dies sei nur ein willkürliches Urteil und unsere
eigene Schuld (B 69/70), dies führt zu unabsehbaren Widersprüchen.
und in einem andern Brief schildert er noch mehr den Schauder, den
ihm dieser Gedanke erregt hat:
... Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit
wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders
heißt ... dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele
erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines
mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den
Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von
neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine
innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und
Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen
und zu betäuben, Thorheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und
doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußeren Tumulte meine Seele
unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und
höchstes Ziel ist gesunken ... Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir
deutlich bewußt zu sein, wohin ich will.
250
Es war ein ähnlicher Gedanke, der Gabriel Marcel beim Tode seiner Mutter bis ins
Innerste traf, als seine Tante ihm sagte, über das Schicksal der Toten wüßten wir
nichts; es war derselbe Gedanke, der ihn beim Studium der idealistischen
Philosophie erschütterte, als er sah, wie diese die Grunderfahrungen seines Lebens
nicht zu deuten vermochte, außer in einer grauenvollen Weise diese Grunderfah-
rungen Lügen zu strafen. Die ganze Philosophie Gabriel Marcels scheint mir in
gewissem Sinn um den Gedanken zu kreisen: es ist unmöglich, daß der tiefste
Sinn unseres Lebens, der sich in der Beziehung zu einem geliebten Wesen
enthüllt, dem wir auch nach dem Tod und wider den Tod die Treue bewahren – es
ist unmöglich, daß die Realität dieses Sinnes nichts als Täuschung ist. Ausgehend
von seiner eigenen Erfahrung und angeregt durch Martin Buber und William
Ernest Hocking hat Gabriel Marcel diesen Gedanken entwickelt und mit dieser
Waffe greift er den Idealismus im Punkte seines vielleicht tiefsten Grauens an:
daß es in ihm keinen Ort für ein Du gibt.
Schon Augustinus, aber nach Kant vor allem durch den großen Durchbruch der
Philosophie in der klassischen, (realistischen) Phänomenologie ermöglicht, hat der
frühe Husserl, Scheler, aber mit viel größerer Klarheit von Hildebrand diesen
Grundirrtum Kants widerlegt, der in der „ kopernikanischen Wende“ liegt.
hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr ist“, wenn er in Heideggers Sein
und Zeit liest:
Der Selbstmörder ..., sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat,
hat in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die
Wahrheit ausgelöscht.251
251
Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max Niemeyer,
2006), § 44, c.
hier ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und
nach der Tiefe der mikroskopischen Welt so sicher, ausgebaut, endlos,
gesetzmäßig und ohne Lügen; die Wissenschaft wird ewig in diesen
Schachten mit Erfolg zu graben haben, und alles Gefundene wird
zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. Wie wenig gleicht dies
einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müßte es doch
irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal
zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige
Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm,
bald als Pflanze perzipieren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als
rot, der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde
niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie
nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen. Sodann... Was ist für uns
überhaupt ein Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in
seinen Wirkungen, das heißt, in seinen Relationen zu anderen Naturgeset-
zen, die uns wieder nur als Summe von Relationen bekannt sind. Also
verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind
uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch. Nur das, was wir
hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen,
sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an
den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum
Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz
allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit-
und Raumvorstellungen. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit
jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind,
alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr
wunderbar, daß wir in allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen
begreifen: Denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und
die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in allen Dingen. Alle Gesetzmäßig-
keit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt
im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge
heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren. Dabei ergibt sich
allerdings, daß jene künstlerische Metaphernbildung, mit der in uns jede
Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen
vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich
die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der
Begriffe konstruiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung
der Zeit-Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.
Nur durch das Vergessen dieser primitiven Metaphernwelt, nur durch den
unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Körper sei eine
Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, und
zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt, lebt er mit einiger Ruhe,
Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängnis-
wänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem
,Selbstbewußtsein‘ vorbei.
Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach einem langen Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich
dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden
sind, Münzen die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als
Münzen in Betracht kommen. 252
252
Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in:
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische Studienausgabe. Herausgegeben
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York:
Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Band 1, S.875-890.
Abschn. 1.
Auf dieser Bahn, da schaut die Seele ... nicht die Wissenschaft, die stets
am Gegenstande wechselt und mit dem, was wir in der Zeit wirklich
nennen, spielt; nein, hier erkennt die Seele die Wissenschaft von dem, was
wahrhaft und ewig da ist.
Wir wollen jetzt noch nicht die Frage stellen, welcher Art die Beziehung
des menschlichen Geistes zu einer von ihm selbst unabhängigen
Wirklichkeit sein muß, damit die Seele in ihrem Lebenszentrum erwache.
Wir fragen hier noch nicht, was diese von ihm unabhängige Wirklichkeit
selbst ist, was in ihr wechselnd, was notwendig und unveränderlich ist.
Nur das eine wollen wir über das Verhältnis zwischen Urteilswahrheit
als adaequatio und existentieller Wahrheit sagen: Die Frage nach der
Wahrheit, danach, wie es wirklich ist, berührt den Lebensnerv des
Menschen als geistiger Person: all unsern Fragens, all unsern Nachden-
kens, aller unserer Urteile, aller unserer Philosophie – und natürlich erst
recht aller Religion! Doch kann die fundamentale Bedeutung der Wahrheit
für alles geistige Leben auch vom Atheisten anerkannt und verstanden
werden. Es ist deshalb selbst von einem vorreligiösen, rein philoso-
phischen Standpunkt aus eine furchtbare Lehre, die die Bedeutung eines
Lebens auf dem Fundament der Wahrheit – vielleicht im Einflusse
Bultmanns,253 Heideggers oder anderer Philosophen – leugnet:254
Mit der Frage, ob wir eine objektive Wirklichkeit erreichen können, wie
sie ist, mit der Wahrheitsfrage steht und fällt der Sinn unserer geistigen
Existenz und erst recht der Sinn aller Philosophie.
Selbst ein Mensch, dem die Hoffnung geschwunden ist, je die Fülle der
Wahrheit zu erreichen, hält doch an einigem fest, was er für unverrückbar
wahr hält (selbst wenn er dies in seiner bewußten Reflexion vergißt) – ja,
ohne das könnte er nicht einmal die Frage nach der Wahrheit stellen, ja
nicht einmal zweifeln. Das zeigt schon Augustinus mit unübertrefflicher
Klarheit:
„Wer könnte dennoch zweifeln, daß er sowohl lebt, als auch sich erinnert,
als auch erkennt, als auch will, als auch denkt, als auch weiß, als auch
urteilt? Denn selbst, wenn er zweifelt, lebt er; wenn er zweifelt, erinnert er
sich daran, woran er zweifelt; wenn er zweifelt, erkennt er, daß er zweifelt;
wenn er zweifelt, will er sicher sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er
zweifelt, weiß er, daß er (etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß
er seine Zustimmung nicht ohne genügenden Grund geben solle. Wenn
deshalb jemand auch an allem andern zweifeln mag, so darf er doch an all
diesem nicht zweifeln: Denn wenn das nicht (so) wäre, so könnte er an
überhaupt nichts zweifeln.“255
253
Vgl. die Analyse Bultmanns in Karl Prümm, Gnosis an der Wurzel des
Christentums (Salzburg, 1972), S. 107 ff.
254
Hier denke ich auch an das Buch Lübbes über die Religion nach dem Zeitalter der
Aufklärung, in dem eine funktionalistisch verstandene Wahrheit als Kontingenz-
bewältigung als einziges Motiv der Religion gilt und eine Religion, die auf einer
Wahrheit über Gott und den Menschen beruhen würde, wie ein endlos über-
wundenes Relikt vergangener Zeitalter behandelt wird. Vgl. Hermann Lübbe,
Religion nach der Aufklärung.
255
Augustinus, De Trinitate, X, X, 14.
256
Vgl. die Vorlesungsabschriften von Dietrich von Hildebrand, Wesen und Wert
menschlicher Erkenntnis (Salzburg 1964), Nachlaß, Kopie an den Bibliotheken
der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an
der Pontificia Universidad Católica de Chile. Teilabdruck: „Das Cogito und die
Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen
Hildebrands: ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“, Aletheia 6/1993-1994
(1994), 2- 27.
257
In diesen tiefen Einsichten des hl. Augustinus aber die Ursache für den deutschen
Idealismus, den Subjektivismus und Solipsismus vieler moderner Philosophien zu
sehen, ist ganz abwegig. Auch ist die Einsicht Gabriel Marcels in die
Urbezogenheit jedes Ich auf ein Du, in welcher Bezogenheit es überhaupt erst „zu
sich selbst kommt“ und in der es von Anfang seines Lebens an erwacht, einerseits
kein Ersatz für die augustinische Erkenntnis, anderseits steht sie in gar keinem
Widerspruch zu ihr. Wie noch deutlicher werden wird, bildet sie sogar eine
Ergänzung zu ihr.
sprechen, von denen wir vergessen haben, daß sie welche sind und die
unserem Leben Sicherheit geben.
Obwohl Augustinus und später Descartes den Skeptizismus und Relati-
vismus widerlegt haben, so ist doch bald nach Descartes – vor allem durch
David Hume und Kant – die Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen und selbst
die Wahrheitsfrage tödlich getroffen worden, was Nietzsche wie kaum ein
anderer Philosoph erkannte. Seitdem haben erschreckend viele Menschen
und Philosophen diese Frage aus dem Bewußtsein zu verdrängen gesucht
und hängen einer aus dem Verzicht auf wirkliche Wahrheit geborenen Idee
einer rein persönlich existentiellen „Wahrheit“, die eigentlich nur dem
Leben dienende Illusionen sind, die man nicht als solche durchschaut.258
Kants kopernikanische Wende, nach der sich nicht mehr unser
Erkennen, sondern die Dinge nach unserem Geist richten sollen, war eine
tödliche Wunde, die selbst die sinnvolle Frage nach der Wahrheit,
geschweige denn das Bewußtsein ihrer Erkennbarkeit in der Neuzeit
erhalten hat. Nietzsche selbst hat das so tief erkannt wie kaum ein anderer
Denker – und darunter bis zur Verzweiflung gelitten. Zugleich aber hat er
diese Wunde wie unauslöschlich eingebrannt in den Geist vieler – so sehr,
daß man diese Wunde bereits wieder anfängt zu vergessen. Nietzsche
erliegt dieser Wunde nicht wie Kleist in Verzweiflung und Selbstmord –
obwohl er diese Verzweiflung an der Wahrheit zunächst als die
angemessene Antwort schildert – sondern in Nietzsche verwandelt sich
dieser „Tod der Wahrheit“, den er so tief erschaut hat, statt daß er ihn
besiegt, in ein neues, unheimliches, gegen die Wahrheit gerichtetes Leben
des Geistes, der – von der eigentlichen Lebensquelle abgeschnitten – nun
jenseits von Gut und Böse, von wahr und falsch fortlebt. Und nur von
diesem Punkt eines Lebens unabhängig von der Wahrheit, in
258
Und vielleicht ist es diese Verdrängung und Abschiebung der Wahrheitsfrage, die
die verhängnisvollsten Störungen in der Seele der Menschen hervorgerufen hat,
und es wäre auch erstaunlich, wenn die Verdrängung dieser Urfrage des
Menschen ohne neurotische und andere Störungen vor sich gegangen wäre. Hier
liegt eine Richtung psychologisch-metaphysischer Forschung, zu der etwa Viktor
Frankls Logotherapie überaus verdienstvoller Weise eine Tür aufgemacht hat, in
der aber noch ungeheuer viel weiter gegangen werden müßte, um auch nur einen
Bruchteil der psychologischen Gegebenheiten zu erfassen.
Hier sieht man auch, wie die Tiefenpsychologie über Nietzsche von
Kant herkommt, was Freud selbst teilweise zugegeben hat. Es ist
entscheidend zu sehen, wie Nietzsche hier in genialer Weise ganz den
Grundgedanken Kants entwirft: Nicht mehr und nicht weniger bedeutet
Kants „kopernikanische Wende“! Zugleich schildert Nietzsche die
Aushöhlung der bisherigen, der einzigen Idee der Wahrheit (die zumindest
ein von der Philosophie unverdorbener, „naiver“ Mensch kennt), die in
Kants Philosophie enthalten ist, so gewaltig, daß man den Kantischen
Gedanken in dem Licht sieht, in dem er Kleist in die Verzweiflung
getrieben hat. Endlich klingen schon hier Töne „dionysischer Musik“ an,
mit der Nietzsche sich von der Verzweiflung Kleists „erlösen“ und jenseits
der wahren, der einzigen Lebensquelle leben will.
Zunächst bleibt entscheidend zu sehen, wie hier Nietzsche ganz die
Philosophie Kants ergriffen hat, sie zugleich aber anders – meiner
Überzeugung nach tiefer als Kant – versteht:
Kants Tragik liegt darin, daß er sozusagen, um die Objektivität und
Absolutheit der Wahrheit zu retten, die Erkenntnis für eine Art
notwendigen Irrtum erklärte, nämlich für Anschauungen und Urteile, die
nicht mit jener Wirklichkeit übereinstimmen, mit der sie übereinzustimmen
scheinen, mit den Dingen an sich: dadurch will Kant uns aber doch wieder
zu einer absoluten Wahrheit führen. Indem er auf die phantastisch-geniale
Idee verfiel, die Erkenntnis-Ding-Relation auf den Kopf zu stellen, glaubt
er die Wahrheit – auf andere Weise – neu begründet zu haben. Dabei
widerspricht er sich selber in der erwähnten, fast unverständlich-krassen
Weise: Indem er behauptet, die Erkenntnis erreiche nie „das Ding an sich“,
sondern sei nur eine Anwendung von im Gemüte bereitliegenden
Kategorien auf das Ding, will er ja „das Ding der Erkenntnis an sich“
begriffen haben. Wenn Kant nicht nur allgemein, sondern auch hier den
wesenhaft rezeptiven Charakter aller Erkenntnis leugnet, dann ist ja auch,
was er über die Erkenntnis sagt, nur eine spontane, konstruktive Tätigkeit
des Verstandes und verliert damit jedes Interesse als Aussage über die
Erkenntnis selbst. Die Erkenntnis als eine rezeptive, transzendierende und
nicht transzendentale Tätigkeit des menschlichen Geistes ist eine so
elementare Gegebenheit, daß sie zu leugnen sie schon wieder notwendig
voraussetzt.
In diesem Zusammenhang wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf
folgende Tatsache richten: Einerseits ist Kant befriedigt mit dieser
„Lösung“ des Erkenntnisproblems. Dabei übersieht er, wie es – ich sehe
jetzt von dem besonders schwierigen Fall der sekundären Sinnesqualitäten
ab259 – einen unermeßlichen Unterschied macht, ob ich das Seiende so
erkenne, wie es unabhängig von meinem Geiste ist, oder ob ich immer
einen notwendigen Irrtum begehe, ob ich die Wirklichkeit mit meinem
Geiste erreiche oder nur eine auf den Menschen relative „Erscheinungs-
welt“, ob die Notwendigkeit meiner Erkenntnis nur in „Zwangsideen“
meines Geistes besteht oder den notwendigen Wesenheiten der Dinge
selbst entstammt. Dabei entgeht Kant ferner, daß im Augenblick, in dem
ich Raum und Zeit und die Verstandeskategorien als Produkte des Geistes
erkläre (ob es ein sogenanntes transzendentales oder „das empirische Ich“
ist, das das vollbringt, bleibt völlig gleich), notwendig auch die anderen
Menschen, ihre Akte, Freuden, Leiden, ja das ganze Leben dann notwendig
nur eine Konstruktion („Illusion“, wie Nietzsche besser formuliert) ist. Die
anderen Menschen kenne ich ja auch nur durch Raum und Zeit; schon
wenn ich nur diese beiden wegnehme, bleibt vom andern Menschen-an-
sich (und allein dieser interessiert mich, wenn ich nicht ein metaphysischer
Solipsist bin: so hat Gabriel Marcel die Philosophie Heideggers einmal
bezeichnet) nichts mehr übrig: um wieviel mehr, wenn ich elementare
Elemente der Wirklichkeit wegnehme, wie Realität, Einheit, Vielheit,
259
Vgl. D. von Hildebrand, „Independence and Objectivity“, wo sich vor allem auch
eine eingehende phänomenologische Analyse der verschiedenen Begriffe von
‚subjektiv‘– ‚objektiv‘ findet. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?; Che
cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 5.
260
In bezug auf die „Vernunftideen“ (Gott, Seele, Welt) und Postulate ist dies
zweifelhaft und z.B. Gott wird von Kant wirklich als vom Menschen bloß
„gemachte Idee“ bezeichnet. Vgl. die Zitate in meinem Buch Erkenntnis
objektiver Wahrheit, S. 137, Anm. 173.
261
Obwohl die existentielle Verzweiflung Kleists die einzigklassische Antwort auf
das Verzweifeln an der Wahrheit darstellt, so liegt doch in diesem selbst, vor
allem aber im „es im Zweifel nicht Aushalten“ von dem Nietzsche spricht,
einerseits der innere Widerspruch, daß diese Verzweiflung in ihrer Motivation
schon wieder viele Erkenntnisse einschließt, und andererseits auch eine
unklassische Haltung. Da ja das Gegenteil, daß die Wahrheit nicht zu erreichen ist,
niemals erkannt werden kann, weil es falsch ist und lauter Widersprüche birgt und
„nichts Falsches kann erkannt werden“ (Platon), dürfte ein Mensch auch nie
endgültig verzweifeln, sondern ein sehnsüchtiges, geduldiges Hoffen trotz aller
Qual wäre die klassisch-menschliche Haltung im Zweifel: eine Bereitschaft zu
verzweifeln, falls es keine Wahrheit über den Tod hinaus gibt und zugleich eine
noch viel größere Bereitschaft und Sehnsucht, alles zu tun, solange zu warten, als
gefordert ist, bis man die Wahrheit erreicht. Die Tiefe der Verzweiflung wenn es
keine Wahrheit gibt – muß sich an der Tiefe der Hoffnung und Sehnsucht
beweisen, solange zu warten, als auch nur ein Funke Hoffnung besteht, die
Wahrheit zu finden. (Viele andere unklassische Elemente in Kleists edler Natur,
z.B. ein großer Ehrgeiz, haben mit zum Selbstmord geführt.)
262
Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Herausgege-
ben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York:
Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Bd. 5: Jenseits von Gut
und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff., I, 16.
263
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Bd. 5: Jenseits
von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff.
Das Leben . . . geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier
über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des
Erkennenden sein dürfe264
Dies nennt Heidegger in seinem Buch über Nietzsche mit Recht die
„Grunderfahrung, die sein Denken bestimmt“. Man könnte hier auch
beweisen, daß Heidegger sich in seinem Buch über Nietzsche ganz mit
dieser „Grunderfahrung“ identifiziert. Wir wollen noch ein Zitat anführen,
in dem Nietzsche noch deutlicher sagt, was diese „existentielle
Grunderfahrung“ eigentlich ist:
Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage
aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten
in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den
umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner
Lage erst in‘s Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft
(sein „Geist“ –) unter langem Druck und Zwang sich in‘s Feine und
Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-
Willen gesteigert werden musste: – wir vermeinen, dass Härte,
Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen,
Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass
alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am
Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein
Gegensatz… 265
Angesichts unzähliger solcher Stellen kann man nicht, wie es von vielen
Autoren (z.B. in G. Thibons Buch über Nietzsche) versucht wird,
Nietzsches Philosophie von dem Vorwurf reinwaschen, alle Greuel der
Nazizeit (oder andere Verbrechen) zu rechtfertigen, wobei man sich auf die
„Banalität“ der Nazizeit beruft.
Auch Religion und der religiöse Akt betreffen immer die existentielle
Wahrheit im ersten erwähnten Sinn, das existentielle, gelebte Verhältnis
und die Beziehung des Menschen zum Höchsten, das er kennt oder
anerkennt. In diesem weiten Sinn von Religion kann auch das Verhältnis
264
Die fröhliche Wissenschaft, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische
Studienausgabe, Bd. 3, IV. Buch, 324-1882.
265
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe, Bd. 5: Jenseits
von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, II. Hauptstück, „Der Freie Geist“,
Aph. 44.
des Atheisten zur Materie oder zum Menschen als dem höchsten Wesen
religiösen Charakter haben, was man vor allem dann behaupten wird, wenn
man mit Max Scheler die Unvermeidlichkeit des religiösen Aktes in
irgendeiner Form oder Zerrform annimmt.266 Nietzsche lebt ein solches
Pathos und verkündet eine solche „Religion des Atheismus“ und des
Übermenschen.
Doch angesichts der sinnvollen Entsprechung zwischen intentionalen
Akten und deren Gegenständen ist der religiöse Akt oder sind die
religiösen Akte des Glaubens, der Anbetung usf. in ihrer Reinheit und
Vollständigkeit nur in dem Maße möglich, in dem jener unerfindbare
Gegenstand des göttlichen Wesens erkannt und anerkannt wird, jenes id
quo maius nihil cogitari possit, ohne das authentische Religion unmöglich
ist.
In merkwürdig luzider Weise hat Nietzsche gerade das erkannt.
Zugleich betrachtet Nietzsche die Religion – ähnlich wie Marx – als eine
Art Überbau. Ich zitiere Schwarz:
Aber damit, daß man die Gottesfrage in den ideologischen Überbau
verweist, hat man sie im Grunde schon vorentschieden. Denn alles in
diesem Überbau ist, nach Marx, Illusion, „schlechtes Bewußtsein“. Für uns,
die wir nicht gewillt sind, solche Vorentscheidung hinzunehmen, bleibt die
Frage, ob Gott ist, von ungeheurem Gewicht. „Es handelt sich um uns selbst
und um unser alles“, sagt Pascal.
Schon der junge Marx schreibt: „Die Kritik der Religion ist die
Voraussetzung aller Kritik“ (Seite 207) und „Die Moral, Religion,
Metaphysik und sonstige Ideologie und ihnen entsprechende
Bewußtseinsformen behalten ... nicht länger den Schein der
Selbständigkeit“ (Seite 349). Somit ist „die Kritik keine Leidenschaft des
Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft . . . Ihr Gegenstand ist ihr Feind,
den sie nicht widerlegen, den sie vernichten will“ (Seite 210).267
266
Vgl. Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im
Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 101-354.
267
Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten (Reden zur Zeit, Bd. 26). (Würzburg
1968).
Sonst ist Gott nur die größte Lüge und die größte Illusion, von der man
vergißt, daß sie eine ist. Die Position Kants in der Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft,268 der zur Folge Gott keine von unserem
Geist unabhängige Wirklichkeit, sondern nur eine subjektive Schöpfung
ist, ist deshalb für Nietzsche nicht eine Religionsbegründung, sondern der
Erweis, daß Gott tot ist, in der kopernikanischen Wende und Relativierung
und Subjektivierung der Gottesidee ist diese entthront worden:
Excelsior! – Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals
mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten
Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine
Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und
Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein
Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt –
es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es
gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was
dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo
es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen
irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und
Frieden – Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird
dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft!269
Wohin ist Gott? Haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was war das für
ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten? Wie
brachten wir dies zustande, diese ewige Linie wegzuwischen, auf die bisher
alle Linien und Masse sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister
des Lebens bauten, ohne die es keine Perspektiven, keine Ordnung, keine
Baukunst zu geben schien?270
268
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793,
zweite vermehrte Auflage, 1794).
269
Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft 285, in: Werke in drei Bänden; und
Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. II, S. 166-7.
270
Gott ist tot (Toller Mensch), Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche, Werke, Bd.
II, S. 7-274, S. 126: Nr. 124-125.
Vgl. Eugen Biser, „Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs und ihre
theologischen Konsequenzen“, Philosophisches Jahrbuch 78 Jg 1971. Ders., „Gott
ist tot“: Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins (München: Koesel,
1962). Siehe auch Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten, S. 28, 31.
Und eine solche Auffassung widerspricht dem Sinn jedes Urteils ebenso
wie jenem der veritas vitae, wie wir gesehen haben.
271
Siehe Fussnote 245.
272
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen
in der Erkenntnis; ders., Wahrheit und Person, Kap. 2; ders., Back to Things in
Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism. Vgl. Auch
Dietrich von Hildebrand, Che cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 1-2.
Die Sartre’sche Grundidee, daß das Subjekt wesens- und damit wahrheits-
schaffend und sich selbst schaffend sei, ja jene absolute willkürliche
Freiheit im Schaffen der Wahrheit, sogar der ewigen Wahrheiten, besäße,
die Descartes Gott zugeschrieben hat, stellt, wie wir im Licht der Analyse
der Erkenntniswahrheit und der Urteilswahrheit sehen, einen Angriff auf
die innerste geistige Substanz der Person dar.273
Wie alle ähnlichen Theorien springt auch hier der innere Widerspruch in
die Augen: Wollen uns nicht Nietzsche und Sartre sagen, was der Kern
menschlicher Freiheit und existentieller Wahrheit ist? Und setzt er damit
nicht notwendig genau das voraus, was er leugnen möchte: daß Wahrheit
darin liegt, im Erkennen und im objektiven Urteil dem zu entsprechen, was
die Freiheit und jegliches sonstige Sein wirklich sind.
Die Trennung der existentiellen Wahrheit von der Urteilswahrheit im
Sinne der adaequatio erreicht in der komplexen Philosophie der Wahrheit
Heideggers eine neue Form, der wir uns jetzt in der kritischen Erörterung
des Streites um die Wahrheit zuwenden möchten. Dabei werden wir auch
die allgemeine kritische Analyse des existentialistischen Wahrheits-
begriffs, des Themas dieses Kapitels, wesentlich erweitern.
273
Vgl. dazu Jean-Paul Sartres Nachwort zu René Descartes, Discours de la méthode
(franz.-dt.); mit einem Vorwort von K. Jaspers und einem Beitrag J.-P. Sartres,
„Descartes und die Freiheit“ (Mainz: Internationaler Universumverlag, 1948).
Doch anstatt von hier aus zu einer weiteren Analyse der einzigartigen
Form der adaequatio überzugehen, die wir im Urteil finden278, wendet sich
Heidegger zunächst von der Analyse der Art der „Angleichung“ des Urteils
zur Untersuchung der nicht dem Urteil selbst, sondern dem Seienden
zukommenden (der ontologischen) Wahrheit zu. Dabei geht Heidegger
nicht mit derselben sachlichen und differenzierten Analyse, in welcher er
zuvor die Weisen, in denen die Wahrheit als Übereinstimmung nicht
verstanden werden dürfe, behandelt hat, auf das Wesen der ontologischen
276
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183.
277
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183.
278
Und im Kapitel 3 des Bandes Wahrheit und Person zu klären versuchten.
Wahrheit ein, sondern ergeht sich statt dessen in mehr als obskuren
Übergängen in etwas, was man nicht anders denn als dichterische oder
pseudodichterische Sprach- und Gedankenspiele bezeichnen muß. So sagt
er etwa in der für ihn fast zum Markenzeichen gewordenen gekünstelten
Sprache, das „Entgegenstehende des Urteils“ müsse „ein offenes Entgegen
durchmessen“ oder beim Verhältnis zwischen Ding und Aussage gehe es
um ein „Verhalten“, das sich „zum Schwingen bringt“.279
Danach macht er wiederum einige sehr interessante Bemerkungen, die
nähere Reflexion verdienen würden: Es gehe bei der Wahrheit des Seins
gar nicht um ein Verhältnis, sondern um Seiendes, das ein Offenbares sei
und seit ehedem als „Anwesendes“ gefaßt werde, usf.
Nach diesen knappen Ausführungen wird wiederum die adaequatio
mehr durch undurchsichtige Ausdrücke weiter umschrieben als sorgfältig
untersucht, indem Heidegger Offenbares als „Richtmaß für vor-stellende
Angleichung“ bezeichnet und sagt: „Das offenständige Verhalten selbst
muß dieses Maß sich anweisen lassen.“ 280
Dann aber müsse „das, was die Richtigkeit erst ermöglicht, mit
ursprünglicherem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten.“281 Soweit, so
gut. Heidegger könnte hier auf die ganz andere Bedeutung und Wesenheit
der Wahrheit der Dinge, der ontologischen Wahrheit,282 hinweisen, aber,
wie schon sein Versuch, ein einheitliches Wesen oder eine einheitliche
Definition von Wahrheit zu finden, die all diese Arten von Wahrheit (des
Seins, des Erkennens, des Urteils, des Lebens, usf.) umfaßt, verliert er sich
in der Vermengung dieser Bedeutungen von Wahrheit so, als müßte man
im Hinblick auf die ursprünglichere Wahrheit des Seins selbst die
Wahrheit als Übereinstimmung ganz zurücktreten lassen, wenn nicht
geradezu verwerfen, indem man auf den Grund der Ermöglichung der
Richtigkeit blicke.
Dieser wird nun in einem „Offenen für ein aus diesem waltendes
Offenbares“ und zugleich als Freiheit gesehen, was eher die richtige
Haltung charakterisiert, die der Erkenntnis der Wahrheit vorhergeht und
279
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 184.
280
A.a.O., S. 185.
281
Ebd., S. 185.
282
Diese haben wir in Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1, ausführlich erör-
tert.
sie ermöglicht, als das Wesen der Urteilswahrheit, obwohl er die Freiheit
nicht auf die Haltung der Person gegenüber der Urteilswahrheit, sondern
auf die Wahrheit des Urteils selber bezieht, so als könnte ein aus Begriffen
bestehendes logisches Urteilsgebilde frei sein, und sagt: „Das Wesen der
Wahrheit, als Richtigkeit der Aussage verstanden, ist die Freiheit“, ja die
„Freiheit ist das Wesen der Wahrheit selbst.“283
Wie kann man aber dann noch Lüge und reinste Subjektivität von
Wahrheit unterscheiden, wenn man sie als Freiheit begreift, fragt
Heidegger sich selbst? Auch wenn Heidegger zunächst (durch die
Bestimmung der Urteilswahrheit durch Merkmale, die eher von Akten der
Überzeugung und des Urteilens oder von deren personalen Subjekten
gelten) eine gewisse Übereinstimmung mit diesem Wahrheitsbegriff
beibehält und sich noch im Rahmen einer Aufklärung der besonderen Art
von Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt zu bewegen
scheint, so weicht er von dieser doch stark und zunehmend gänzlich ab. Er
bestimmt zwar zunächst die Freiheit als „Freiheit für das Offenbare des
Offenen“ oder als „Sein-lassen“ und „das Sicheinlassen auf das Seiende“,
als Entborgenheit und Entbergung des Seienden, Termini, die noch die
Idee einer adaequatio voraussetzen.284
Die Wahrheit aber, so meint Heidegger, könne überhaupt nicht, wie man
bisher fast allenthalben annahm, und jedenfalls nicht in erster Linie, die
Richtigkeit von Sätzen oder auch „das Stimmen“, sei es des Satzes, sei es
der Sache, durch eine Angleichung an ihre Idee, bedeuten: „Die ‚Wahrheit‘
ist kein Merkmal des richtigen Satzes, der durch ein menschliches
‚Subjekt‘ von einem ‚Objekt‘ ausgesagt wird …“ Und von hier aus geht
Heidegger einen radikalen Weg des Subjektivismus der Wahrheitsdeutung,
und zwar in verschiedenen Weisen, auf die wir zurückkommen werden:
zum Beispiel indem er die Wahrheit als Akt des Subjekts definiert, sei es
als dessen Freiheit, sei es als dessen Entdeckendsein, sei es als Entbergung,
etc.285
Insbesondere mit der Gleichsetzung der Wahrheit mit Freiheit hängt
auch die These Heideggers zusammen, die Wahrheit sei so eng mit der
283
Ebd., S. 186.
284
Ebd., S. 187-178.
285
Vgl. a.a.O., S. 191 ff.
Unwahrheit verbunden, daß gelte: „Die Wahrheit muß vielmehr aus dem
Wesen der Unwahrheit kommen“.286 Diese These, die einen gewissen
Aspekt der Erkenntniswahrheit, welcher das Fehlen derselben
vorhergeht,287 zum Ausdruck bringt, hat nicht nur darin ihre Wurzel, daß
evidenterweise die Wahrheit auch die Wahrheit darüber begreift, was
unwahr ist, und in diesem Sinne jede Wahrheit die Unwahrheit enthält und
einschließt, aber nicht als einen Teil von ihr, sondern als ihr Derivat und
Gegenteil sowie als den Gegenstand der Wahrheit (über alle
Unwahrheiten). Diese These Heideggers, die auch die Freiheit des
Seinslassens des Seienden der Freiheit des Lügners, der das Seiende nicht
sein läßt, gegenüberstellt, hat nicht einmal ihre Wurzel nur in der
Identifizierung der Vergessenheit und des Unwissens, die in der Tat einen
Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bilden, mit dem Irrtum und der
Unwahrheit als ganz anderen Gegensätzen zur Erkenntniswahrheit. (Das
Unwissen, als ein privativer Gegensatz zur Erkenntniswahrheit, ist gerade
nicht dasselbe wie Irrtum.) Heidegger hingegen sieht die absolut
verschiedene Wesenheit unvollständiger Erkenntnis und des Irrens nicht.288
Heideggers Auffassung, daß die Wahrheit selbst zugleich Unwahrheit ist
und die Entbergung zugleich Verbergung, hat ihre Wurzel auch nicht nur
in der Verwechslung zwischen dem tatsächlichen Sachverhalt, daß sich in
jeder unvollständigen Erkenntnis und ihrer Wahrheit auch ein Mangel an
Erkenntnis verbirgt, mit der Meinung, daß in der Wahrheit der Erkenntnis
selber die Unwahrheit stecke bzw. daß Erkenntnis im engeren Sinn sich gar
nicht – als wesenhaft wahr – vom Irrtum unterscheide, und so spricht er
auch von „falscher Erkenntnis“ und, in seiner künstlichen Sprache, davon
daß „in-sistente Ek-sistenz des Menschen in die Irre geht.“289 Seine These
hat auch nicht einmal ausschließlich darin ihren Grund, daß Heidegger
richtig bemerkt, daß die Seinswahrheit nicht auf eine Richtigkeit reduziert
werden kann und daß wir diese ontologische Wahrheit von der Urteils-
wahrheit unterscheiden und als deren Quelle erkennen müssen.
286
Ebd., S. 191.
287
Vgl. Josef Seifert, Kap. 2.
288
Vgl. Heidegger, op. Cit., S. 192-196. Vgl. auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit, I, Kap. 3.
289
Heidegger, ebd., S. 197.
290
Zur Unrichtigkeit dieser These vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen.
291
Vgl. Reinhard Lauth, Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit (Stuttgart:
Kohlhammer, 1966).
292
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 201.
293
Diese geht auch nach Beginn der 7. Ausfahrt weiter. Vgl. Balduin Schwarz, (Paula
Premoli/Josef Seifert ed.), Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen
Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie.
294
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 177-178.
haben, oder gar nur ein effekthascherischer … Unsinn? Wie soll sich das
Wesen der Wahrheit wandeln können?
Ferner habe sich dieser Wesenswandel der Wahrheit selbst in Platons
Höhlengleichnis vollzogen. Selbst wenn sich das Wesen der Wahrheit
gewandelt haben könnte, wie soll es sich im Werk eines bestimmten
Philosophen gewandelt haben? Für wie töricht muß Heidegger den Leser
zu halten, um derart absurde Behauptungen aufzustellen und zu meinen,
die Leser ließen sie ihm hingehen?
Weiters wirkt Heideggers Verachtung der Logik aufreizend. Hat er
schon in Sein und Zeit den Nachweis logischer Widersprüche einer
Position als Argument für ihre Falschheit (einen der klassischen Wege
philosophischer Kritik, den wir auch Heidegger nicht ersparen können und
den wir bei Platon, Aristoteles, Augustinus, Bonaventura, Descartes,
Leibniz, Husserl und anderen großen Denkern finden und der sich schon
von der Einsicht in die absolute Gültigkeit des logischen und ontologischen
Widerspruchsprinzips als zwingend erweist) herablassend und verächtlich,
ohne jede weitere Begründung, als „plumpen Überrumpelungsversuch“
abgetan, so kümmert er sich in seiner Wahrheitstheorie auch nicht im
mindesten um die logischen Widersprüche derselben, so als sei die Frage
solcher Widersprüche irrelevant und trivial in einem so revolutionären
Denker wie er selber, der wie ein Prophet seine Philosophie mehr
verkündet als begründet.
Dazu kommt Heideggers ungeprüfte und in den Raum gestellte
Voraussetzung, daß wenn wir vom Sein, von der Erkenntnis oder vom
Urteil sagen, sie seien wahr, derselbe Sinn und dieselbe Bestimmung des
Wesens der Wahrheit zutreffen müßten, so als handelte es sich, wenn
einmal von der Wahrheit des Seins, dann von jener des Erkennens, dann
wiederum von der des Urteils die Rede sei, um ein und dasselbe
Phänomen. Von einer solchen Gleichsetzung von Verschiedenem folgen
allerdings viele Ungereimtheiten in Platons Lehre, wenn man eine ähnliche
Verwirrung bei Platon voraussetzt, bei dem sie nicht besteht. Ohne eine
solche beabsichtigte oder unbeabsichtigte Vermengung von grundverschie-
denen Wahrheitsphänomenen läßt sich Heideggers Philosophie der Wahr-
heit nicht denken, aber eine solche Grundlage macht sie eben mehr zu
einer vielleicht genialischen Sophistik als zu einer echten Philosophie.
295
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 173, „Tief sein und tief scheinen“,
II/S. 144. Und an anderer Stelle fügt Nietzsche hinzu:
Das Publikum verwechselt leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der
Tiefe schöpft.
Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band, 262, „Tiefe und Trübe“, I/S. 835).
296
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 202:
Jede Art von Anthropologie und alle Subjektivität des Menschen als Subjekt ist nicht nur,
wie schon in „Sein und Zeit“, verlassen …, sondern der Gang des Vortrags schickt sich an, ..
[zu einem] Weg des Denkens [zu gelangen], das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern,
sich als Wandlung des Besuchs zum Sein erfährt und erprobt.“
297
Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961.
298
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max
Niemeyer, 2006), § 44.
299
Siehe M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, wo Heidegger seine Theorie der Wahrheit
als Entdeckendsein des Daseins entwickelt, vor allem § 44 c, wo er seine These
der Abhängigkeit der Wahrheit vom Menschen und der Auslöschung der Wahrheit
selbst durch den Selbstmord vertritt. Vgl. auch Martin Heidegger, Vom Wesen der
Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), sowie ders., Platons Lehre von der
Wahrheit (2. Auflage). Bern, Francke 1954.
300
Das behauptet etwa Georg Rompp, „Wesen der Wahrheit und Wahrheit des
Wesens,“ Zeitschrift für philosophische Forschung (April-Juni 1986), 40, 181-
205.
damit eng verknüpft: (4) in seiner Deutung der Wahrheit als Freiheit, die
nicht nur jenes „Sein-lassen des Seienden“ meint, sondern auch eine Art
schöpferische Wahrheitssetzung im Auge hat, wie wir sehen werden.
4.2. Platons Idee der Wahrheit und der paideia und die These vom angeblichen
Verlust der „anfänglichen Idee der Wahrheit“
„Bildung ist Prägung zumal und Geleit durch ein Bild.“301 Bildung ist noch
genauer nach Platon eine Umwendung der ganzen Seele, eine Kehre, ja
eine Be-kehrung (metanoia). So wie man die gegen Ausgang der Höhle
liegende Wirklichkeit nur sehen kann, wenn man den ganzen Körper
wende, so könne man auch die Welt der unwandelbaren, ewigen Ideen nur
sehen, wenn man sich geistig völlig umwende. Heidegger führt aus, daß
nach Platon Bildung eine „Versetzung“, ein langsamer Übergang des
ganzen Menschen (holees tees psychees) von einem Bereich in einen
anderen sei.302
Die Bildung geschieht nun aber durch das Erblicken der ewigen Ideen,
durch das sich Ausrichten nach ihnen, indem man sie anschaut. Und so
wird Wahrheit bei Platon in einem zweiten und ganz verschiedenen Sinne
verstanden, als orthótes (Richtigkeit), als homoiosis (als Angleichung), als
eine Richtigkeit des Sehens und Erkennens und als eine Angleichung des
Geistes an die Idee in der Richtigkeit der Erkenntnis und des Urteils.
An dieser Stelle vollzieht sich nach Heidegger eine Wandlung im
Wesensbegriff der Wahrheit selbst. Durch diese Seite der platonischen
Philosophie werde das alte, ursprüngliche Wesen der Wahrheit als
Unverborgenheit preisgegeben und durch eine adaequatio intellectus et rei
ersetzt und „so ruht das anfängliche Wesen der Wahrheit noch in seinem
verborgenen Anfang“. So endet Heidegger seine Ausführungen über
Platons Lehre von der Wahrheit, wobei er hinzufügt, daß erst in einer Zeit
der geistigen Not, in der das Seiende oder das Sein selbst fraglich
geworden sind, das anfängliche Wesen der Wahrheit als eine Proprietät des
Seins selbst – als Unverborgenheit – und deren Bedeutung neu ergründet
werden könnten. Und von diesen Voraussetzungen aus gelangt Heidegger
dann zur oben angedeuteten Interpretation der Wahrheit als existentieller
Entwurf, ja als Schöpfung des Subjekts.
Im folgenden sollen die einzelnen Stufen im Gedankengang Heideggers
verfolgt und kritisch untersucht werden, sowohl von einem systematischen
Gesichtspunkt als auch von jenem einer adäquaten Platon-Interpretation
aus. Da Heidegger zunächst zeigen will, daß und in welcher Weise Platon
301
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), S.
217.
302
Siehe M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 26-27.
das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit bestimmt, wollen wir uns
zunächst vor Augen führen, wie Heidegger das Unverborgene bestimmt,
um dann zu erkennen, ob diese Wesensbestimmung der Wahrheit Platons
Lehre von der Wahrheit gerecht wird.
Wenn wir auch im Licht der Untersuchungen der ersten beiden Kapitel
von Wahrheit und Person durchaus einen gültigen intrinsischen und
extrinsischen Sinn einer ontologischen Wahrheit anerkennen, die sich nicht
auf eine Adäquation zwischen Intellekt und Wirklichkeit reduzieren läßt,
so ist es doch problematisch, dieselbe als „Unverborgenheit“ zu
bezeichnen. Denn diese ist nicht nur ein relationaler Begriff, wie dies auch
in der zweiten erörterten Grundbedeutung der ontologischen Wahrheit als
Offenheit gegenüber Geist notwendig liegt, sondern wenn man die
Seinswahrheit (nicht die Erkenntniswahrheit) als „Unverborgenheit“ im
Verhältnis zum „Dasein“, d.h. zum menschlichen Subjekt, bezeichnet, so
ist ein solcher Begriff ontologischer Wahrheit auch ein relativer Begriff,
insofern ein und dasselbe Sein verborgen in Relation auf einen Intellekt A
und unverborgen im Hinblick auf einen Intellekt B sein kann. Denn
Unverborgenheit in diesem durch und durch anthropologischen und
ausdrücklich nicht auf Gott bezogenen Sinne bleibt immer auf jemanden
bezogen, dem etwas unverborgen oder verborgen ist. So wie alles Sein und
alle Seinsdimensionen, die noch vor unsern geistigen Augen wie durch
einen Schleier verborgen sind, nicht an sich verborgen sind, sondern nur
für uns, da ja ein anderer Intellekt303 sie erkennen mag, so ist auch das
Unverborgene des Seins nicht an sich unverborgen, sondern nur in Bezug
auf den Blick bzw. das Erkenntnisvermögen eines bestimmten Subjekts
oder eines Subjekts überhaupt.
Sobald deshalb der Begriff der Unverborgenheit des Sein vor dem
menschlichen Geist nicht zur Kennzeichnung der Erkenntniswahrheit,
sondern zur Charakterisierung der Seinswahrheit oder der Urteilswahrheit
303
Und kraft seines Wesens ein göttlicher Intellekt.
wie es wirklich ist, so ist sie selber wahr und das Erkannte ist nun dem
Erkennenden im Maße seiner Erkenntnis unverborgen. Andererseits kann
Unverborgenheit einen zweiten grundsätzlichen Sinn von ontologischer
Wahrheit meinen,304 nämlich die Erkennbarkeit und Intelligibilität des
Seins, welche dieses immer und an sich, wenngleich in unendlich vielen
Abstufungen, kennzeichnet und die eine Relation zum Intellekt darstellt:
und zwar zum menschlichen nur eine begrenzte Offenheit und Unverbor-
genheit, zum göttlichen eine grenzenlose. Man könnte sagen, in diesem
zweiten Sinne bedeutet ontologische Wahrheit als Unverborgenheit die
ontologische Wahrheit im Hinblick auf die Erkenntniswahrheit, in welcher
allein diese Unverborgenheit realisiert und aktualisiert wird.
Wenn die Griechen, wie wir hier einmal des Argumentes willen
Heidegger zugestehen möchten, die Wahrheit als Unverborgenheit
bestimmen, so wohl auf Grund des Erlebnisses, daß der Mensch das
Seiende nur ganz unvollkommen erkennt und daß die tieferen Schichten
des Seins unserem Geist nicht einfachhin gegeben und zugänglich sind,
sondern uns erst durch die harte Arbeit der „Entbergung“, von der Platon
wie von einer Jagd und einem Heranpirschen an das Sein und an die
Wahrheit über die Gerechtigkeit redet, zugänglich werden, und auch dann
noch unvollkommen.305 Ja vielleicht schließt der Gedanke der Unverbor-
genheit die Überzeugung ein, daß das Tiefste des Seins uns Menschen
überhaupt verborgen ist und von uns nicht erkannt wird, sondern daß die
volle Erkenntnis und Wahrheit, die Weisheit, wie Sokrates in der Apologie
sagt, nicht der Mensch, sondern nur Gott besitze.
Das alethes als das Wahre, und das alethestaton im Sinne des im
eigentlichsten Sinne Wahren und Seienden wäre dann nicht das uns jeweils
Unverborgene, sondern im Gegenteil das dem menschlichen Geist
Verborgenste und dennoch in sich Wahrste und deshalb auch nur der
göttlichen Erkenntnis gänzlich Unverborgene, wie es in den Aristoteles-
und Thomas-Zitaten im ersten Kapitel von Wahrheit und Person über das
Auge der Nachteule einen klassischen Ausdruck findet. Das Wahrste ist
also dann zugleich das uns Verborgenste und das nur unendlicher
Erkenntnis Unverborgene.
304
Vgl., Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1-2.
305
Vgl. Platon, Politeia 4.423b-433b; Laches 194b ff.
Gewiß, in dem Maß, in dem wir die Schleier lüften und in dem wir die
Wirklichkeit erkennen, wie sie ist, und mit unserem Geist in sie eindringen,
wird das Verborgene auch uns unverborgen. In diesem Sinne der
Erkenntniswahrheit ist Wahrheit tatsächlich als eine Unverborgenheit und
als eine Anwesenheit des Seins vor unserem erkennenden und verste-
henden intentionalen Bewußtsein zu verstehen. In diesem Sinne ist auch
die Wahrheit tatsächlich relational auf den erkennenden Geist bezogen.
Aber dann sollte die Erkenntniswahrheit (in ihrer Relation zur ontolo-
gischen Wahrheit) als Unverborgenheit des Seins und damit von etwas,
was entdeckt wird und nicht in einem Zustand des Subjekts besteht,
verstanden werden. Und erst recht sollte der andernorts306 ausführlich
untersuchte Begriff der einzigartigen Übereinstimmung nicht geleugnet
werden, der ausschließlich im sich selber transzendierenden Sehen des
Seins, wie es in sich ist, liegt. Jede Ablehnung dieser erkennenden
Übereinstimmung leugnet den Sinn der Unverborgenheit selbst.
Ja wenn dieser Begriff der Unverborgenheit von Heidegger als „das uns
jeweils Anwesende“ gedeutet wird, wird auch der legitimerweise relationa-
le Begriff der Erkenntniswahrheit in unzulässiger Weise relativiert. Für
Platon ist ja das uns jeweilig anwesende sinnliche Objekt das uneigentlich
Seiende und das, was nicht das wahrhafte Seiende ist. Wenn also die
Menschen in der Höhle das ihnen je Anwesende der sinnlichen
Erscheinung für das Wahre halten, irren sie sich nach Platon gewaltig.
Platon sagt ja nirgends, daß die Schatten für die Bewohner der Höhle das
Wahre seien, sondern nur, daß sie es dafür hielten. Deshalb kann man auch
die Steigerung des alethes, des Wahren, zum alethestaton, dem Aller-
wahrsten, nicht primär im Sinne der Unverborgenheit, die sich auf das
Offenstehen des Seins gegenüber dem Geist bezieht, und überhaupt nicht
als Erkenntniswahrheit deuten, sondern muß sie in einem rein
ontologischen Sinne verstehen, der weder das an sich für den Geist
überhaupt Offenstehen (das transzendentale verum oder die Intelligibilität)
noch das tatsächliche Anwesendsein des Dinges vor unserem Geist
bedeutet.
Das tiefere Wahre, auf das hin die Gefangenen zugeordnet sind,
bedeutet einen höheren, eigentlicheren, dauernderen und deshalb wahreren
306
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person.
Bereich der Wirklichkeit und des Seins selber, nicht deshalb, weil es uns
unverborgen ist, sondern weil es die eigentlichere Wirklichkeit ist, das
ontoos on, im Vergleich zu dem die anderen Seienden wie bloße Schatten
sind.307 Die Ursache hievon erblickt Platon in einem objektiven
ontologischen Sachverhalt und nicht in der Relation des Seins zu unserem
Erkennen, die man Unverborgenheit nennen mag. Außerdem versteht er
auch diese Anwesenheit unserem Geist gegenüber in einem objektivis-
tischen Sinne und nicht im Sinne eines bloßen „uns jeweils Anwesend-
seins“. Denn die Wahrheit des Erkennens versteht er – wie auch Thomas –
im Sinne einer Anwesenheit des in sich Seienden vor unserem Geist.
Heidegger macht hier also schon durch die Wahl der Ausdrücke die
klassische und objektivistische Idee der ontologischen Wahrheit und auch
der Erkenntniswahrheit relativ, und zwar paradoxerweise, indem er das
Unverborgene zu einer objektiven Eigenschaft des Seienden selbst erhebt,
also scheinbar objektiviert. Aber „unverborgen“ meint eben wesenhaft eine
relationale Eigenschaft und wenn man diese mit dem Sein selbst
identifiziert, relativiert man dieses und reduziert es auf ein bloßes Scheinen
oder Erscheinen, ein bloßes Präsentsein vor unserem Bewußtsein.
Gerade die Idee der Unverborgenheit, die sich auf eine Dimension der
Wahrheit des Erkennens bezieht, impliziert einen objektiven Sinn von
Seinswahrheit, der dem Entdecken des Verborgenen entspricht und
vorausliegt. Wenn deshalb Heidegger sich mit seiner Deutung der
ontologischen Wahrheit als Unverborgenheit auf die griechische Sprache
und den Wortsinn von aletheia beruft, dürfte er nicht in der
Unverborgenheit den Charakter ontologischer Wahrheit erblicken, sondern
müßte sagen, das hinter den Schleiern Verborgene sei das Wahre, das
ontoos on. Die mallon onta, wie Platon sie nennt, bleiben was sie sind,
nämlich in höherem Sinne Seiende, auch wenn sie dem menschlichen
Erkennen verborgen sind.308 Durch eine solche Interpretation wäre auch
der Sinn des griechischen Wortes getroffen, das folgende These
voraussetzt: durch die Unvollkommenheit unseres Erkenntnisvermögens
haben wir Schleier vor den Augen, die uns daran hindern, das Wahre im
307
Siehe J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una
metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 9.
308
Siehe Platon, Politeia, VII, 515 c 4, 5.
Sinne des wirklich und im vollen Sinne Seienden, zu schauen. Nur durch
eine Wende und Bekehrung können wir es schauen.
Wie unpassend die Heideggersche Übersetzung der Wahrheit als
„Unverborgenheit“ für den ontologischen Sinn von Wahrheit ist, der den
Begriffen des „wahrer“ und „mehr“ Seins bei Platon zugrundeliegt, geht
auch daraus hervor, daß Platon im Höhlengleichnis sagt, der mit Gewalt
aus seinen Fesseln Befreite und aus der Höhle Herausgeführte halte die
ihm vertrauten Schatten der Höhle für wahrer (alethestera) als das, was er
jetzt sehe. Wenn man hier Wahrheit mit Unverborgenheit übersetzt,
verliert der Text seinen spezifischen Sinn. Denn die Gegenstände der
Höhle erscheinen ihm ja nicht als unverborgener, sondern sind es
tatsächlich. Die Schatten sind ihm viel unverborgener als die Gegenstände
außerhalb der Höhle, die im ontologischen Sinne wahrer (alethesteron),
aber dem eben aus der Höhle ans Licht Gelangten ganz verborgen sind, ja
angesichts deren er, in die Sonnenansicht der Welt gelangt, vorübergehend
erblindet.309 Nicht ihr Charakter als im ontologischen Sinne „wahrere
Welt“, wirklichere Welt, in höherem Sinne seiende Welt, nicht ihr
Charakter des ontoos on, sondern nur die Wahrheit ihrer Erkenntnis (oder
aber ihrer objektiven Erkennbarkeit) besteht in der Unverborgenheit dieser
Welt vor dem geistigen Blick.
Diese Unverborgenheit im Sinne der Intelligibilität alles Seienden
besteht rein objektiv in jedem Seienden und sogar in Sachverhalten über
nicht Seiendes, aber auch dann in Relation auf etwas anderes (ad aliud),
nämlich auf den Geist, dem gegenüber alles Seiende im Prinzip offensteht.
Nur wenn ein Geist die Wirklichkeit aktuell erkennt, ist diese
Unverborgenheit aktualisiert, sonst bleibt sie Potentialität. Die aktuelle
Unverborgenheit des Seins hingegen setzt tatsächliche Erkenntnis voraus.
Und in diesem Sinne ist dem menschlichen Geist im Maß der jeweiligen
Erkenntnis das Sein unverborgen, zum unendlich überwiegenden Teil aber
verborgen. Nur dem absoluten göttlichen Geist ist das Sein vollkommen
unverborgen. Nur seine Erkenntnis besitzt vollkommenste und voll-
ständigste Wahrheit in diesem Sinn, wobei Heideggers Idee, daß unsere
unvollständige Erkenntnis und Unwissenheit Unwahrheit sei, absolut
unrichtig ist, da selbst die unvollständigste Erkenntnis absolut von
309
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 27-28.
Unwahrheit verschieden ist, ja ihrem Wesen nach nicht irren kann; Irrtum
und die ihm eigene Unwahrheit ist erst möglich, wenn unser Geist in
seinen Urteilen über die Erkenntnis im strikten Sinne hinausgeht.
So sehr auch die Erkenntniswahrheit menschlichen Erfassens der Dinge
ihre eigene Objektivität besitzt, so wenig kann die Wahrheit des Seins auf
sie beschränkt oder durch sie definiert werden, ja sie setzt eine ihr
vorhergehende und sie begründende Wahrheit voraus, das Sein und seine
Realität sowie seine objektive Intelligibilität, die unendlich weiter reicht
als das „Entdeckendsein des Daseins“ oder die Unverborgenheit des Seins
vor dem menschlichen Geist, die nur in Relation auf diesen Geist und nicht
in sich dem Seienden, dem Wesen und dem Sein zukommt.
Gerade wenn daher die ontologische Wahrheit von Heidegger als die
Unverborgenheit des Seins, insbesondere mit Beschränkung auf menschli-
ches Erkennen, bezeichnet wird, wird die ontologische Wahrheit relational
und in eine Abhängigkeit vom menschlichen Entbergen bzw. Erkennen
gesetzt, die der ihr eigenen Objektivität ebenso viel widerspricht, wie
wenig sie der Erkenntniswahrheit widerspricht.
Noch subjektivistischer im Verhältnis zur klassischen thomasischen
Wahrheitsauffassung als die heideggersche Interpretation der „Unverbor-
genheit“ ist seine Interpretation des „ihm jeweils Anwesendseins“ oder des
„ihm Seins“. Der Ausdruck „ihm Sein“ hat in Heideggers philosophischem
Diskurs zwei Bedeutungen: einmal heißt es „ihm Scheinen“, und ihm
subjektiv anwesend und unverborgen sein. Dies ist aber gerade der
Gegensatz zur Wahrheit, will man nicht einen radikalen Relativismus
behaupten, dem gemäß es zwischen Schein und Wirklichkeit überhaupt
keinen Unterschied mehr gibt. Dann aber heißt das „ihm Sein“ zweitens
das Unverborgensein, in dem sich ein Seiendes, das keineswegs nur scheint
oder erscheint, dem Geist erschließt.310
Was aber hat Heidegger zur dritten Stufe des Höhlengleichnisses zu
sagen?311 Fragen wir nach Platons sowie Heideggers Interpretation der
Wahrheit auf der dritten Ebene des Höhlengleichnisses, aber zugleich auch
310
Welche Rolle nach Heidegger die Freiheit innerhalb Platons Lehre von der
Wahrheit bei der Bestimmung der Wahrheit spielt, und darauf, wie Heidegger die
Freiheit selber bestimmt, haben wir bereits behandelt.
311
Siehe Platon, Politeia, 515 d 5 ff; 484 c 5.
nach dem wirklichen Wesen von Wahrheit!312 Das Wahrste ist hier als das
Beste schlechthin und als dasjenige gedacht, das hinter allen Schleiern
unserer Erkenntnisgrenzen liegt und uns verborgen, nicht unverborgen ist.
Das Wahrste ist im abschließenden Teil des Höhlengleichnisses und
seiner Deutung durch Platon weder das Verborgene noch das Unverbor-
gene als solches, sondern vielmehr die eigentlichere Wirklichkeit, das
ontoos on, das uns in der Höhle verborgen ist, uns aber nach der Befreiung
aus der Gefangenschaft der Höhle aber auch offenbar werden kann, das
aber weder im einen noch im andern Fall aufhört, das eigentlich Wirkliche
und, als das Höchste und Beste, zugleich das wahrste Sein zu sein.
Wir dürfen hier nicht Sklaven der philologischen Bedeutungen und
Wurzeln des Wortes aletheia werden, eine Bemerkung, die ihre Triftigkeit
selbst dann behält, wenn Heidegger auf der Ebene der Philologie gegen
Friedländer recht behalten sollte, was sehr zu bezweifeln ist.313
Wir können die platonische Lehre von der Wahrheit auch nicht von
derjenigen vom Guten loslösen, dessen Entdeckung durch Anaxagoras als
höchster Grund aller Dinge ja gerade von Sokrates gepriesen wird, auch
wenn dieser es nicht wirklich konsequent als Ursache aller Dinge aufgefaßt
hat. Die Frage nach dem Wahrsten, auf ihrer höchsten Ebene, läßt sich bei
Platon nicht von der Frage nach dem Guten loslösen. Das alethestaton, das
Wahrste überhaupt, ist zugleich das Gute selber. Wenn Platon also die
Ideen als alethestera („wahrer“) als die Dinge bezeichnet, so kann man
Wahrheit hier gewiß nicht mit „Unverborgenheit“ und als das „uns jeweils
Anwesende“ übersetzen. Denn gerade die Idee des Guten bleibt das
Wahrste in sich selber, wie wir im ersten Kapitel von Wahrheit und Person
ausgeführt haben, auch wenn sie dem Menschen in der Höhle nicht
anwesend ist. Denn die Idee des Guten erscheint bei Platon nicht zu
Anfang, sondern als Letztes, „hintennach“ sozusagen. Sie macht auch nicht
sosehr die Erscheinung, die Welt der Schatten, den in der Höhle Gefange-
nen zugänglich, sondern in ihrem Licht erkennt der Mensch, daß die
Schatten eben Schatten und nicht die eigentliche Wirklichkeit sind. Sie
eröffnet, nach dem Höhlengleichnis, auch nicht den Blick auf die Schatten
oder ist primär das, was in den Schatten erscheint, sondern sie ist nur der
312
Siehe Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 29-30.
313
Vgl. dazu auch Heidegger, ebd., S. 30.
letzte Grund der Wirklichkeit und infolgedessen auch der erste Ursprung
der Schatten. Sie ist das in sich Höchste und zugleich der letzte Grund und
der erste Ursprung allen Seins, durch den alle Dinge ihr Sein und Wesen
haben, wie es in der Politeia VI und VII heißt. Ohne die Idee des Guten
könnte nichts bestehen, aber sie ist gerade deshalb das zunächst dem
endlichen Geist Allerverborgenste, auch wenn sie in jeder Erfahrung
implizite anwesend und mitgegeben sein mag. Ihre bewußte Erkenntnis
jedoch steht erst am Ende des Erkenntnisweges.
Hier zeigt sich wieder, daß man die Wahrheit, vor allem die
ontologische Wahrheit, nicht einfach als Unverborgenheit bezeichnen
darf.314 Das Urerlebnis für den Griechen ist gerade, daß das Wahre im
Sinne der Gesamtheit des Seienden und des höchsten Wirklichen unserem
erkennenden Zugriff weitgehend verborgen ist. Das „Unverborgene“ ist
deshalb nicht ein Synonym für das im ontologischen Sinne Wahre, sondern
bezieht sich, wie bereits mehrfach gesagt, viel eher auf die Erkenntnis-
wahrheit. Eine philosophische Deutung von aletheia im Hinblick auf die
Erkenntniswahrheit könnte also darauf hinweisen, daß die Erkenntnis-
wahrheit darin besteht, das im ontologischen Sinne Wirkliche und Wahre
zu entdecken, zu entbergen, ans Licht zu bringen. Die Wahrheit des
Erkennens besteht eben darin, das verborgene wahre Sein unverborgen zu
erkennen.
Deshalb hat Heideggers Äußerung, der zufolge das Höhlengleichnis
einen Wesenswandel der Wahrheit einschließt, keinen richtigen Sinn.315
Was nämlich Heidegger als völlig anderen Wesensbegriff der Wahrheit
bezeichnet, nämlich die Unverborgenheit, ist in Wirklichkeit weder ein
Gegensatz zur ontologischen Wahrheit in ihren verschiedenen Bedeu-
tungen noch zur Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung. Statt
pathetisch von einem Wesenswandel der Wahrheit oder auch nur des
Wahrheitsbegriffes zu reden, sollte man vielmehr erkennen, daß
Unverborgenheit in korrekter Weise die Erkenntniswahrheit, ein Urphäno-
men innerhalb der Erkenntnissphäre, bezeichnet, das in vollem Einklang
mit dem Wesen der Wahrheit als adaequatio steht und dieses einerseits in
der Erkenntnis erst möglich macht und andererseits von ihm überhaupt
314
Siehe dazu Heidegger, ebd., S. 33.
315
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 33.
erst Sinn empfängt: Daß uns nämlich das Seiende und Wahre zunächst
verborgen sind und daß deshalb am Anfang und vor dem menschlichen
Erkenntnisprozeß, ja auch auf einer höheren Ebene, immer auch eine
Entfernung vom Sein durch jene Verborgenheiten liegt, die unseren Blick
auf das Seiende trüben. Im Maße meiner Erkenntnis ist mir zwar das
Seiende unverborgen gegeben, aber seine Verborgenheit bleibt immer
größer als seine Unverborgenheit. Ja man könnte das völlige Ideal der
Unverborgenheit eines vollkommenen Erkennens im Gegensatz zum
menschlichen Erkennen in einem Erfassen erblicken, vor dem alles Sein
schlechthin unverborgen offen daliegt.
Das Phänomen der Unverborgenheit, in dessen Erkenntnis Heidegger
einen Wesenswandel der Wahrheit erblickt, ist daher so weit davon ent-
fernt, einen Widerspruch zu den anderen Wahrheitsbegriffen einzuschlie-
ßen, daß es überhaupt nur im Zusammenhang mit ihnen sinnvoll ist.
Doch bevor wir dies zeigen, sollten wir noch bedenken, daß vielleicht in
der dunklen Sprache Heideggers und vor allem bei Platons Rede von
aletheia noch auf einen dem Seienden selbst eigenen Zug hingewiesen
wird, dessen Anerkennung keine falsche Ontologisierung der Unverbor-
genheit ist, sondern auf ein wichtiges Phänomen hinweist. Wir meinen hier
nicht nur die Gegebenheit des Erkennbarseins als solchen, sondern die
höhere Intelligibilität jener Wesenheiten, die sich in höchst einsichtiger
Weise dem Geist erschließen und in denen nicht die Dunkelheit für unser
Verstehen des Kontingenten und rein Faktischen besteht. Dieses
Einsichtige, von innen her Verstehbare und nicht bloß äußerlich Feststell-
bare ist das eigentliche Wahre.
Heidegger weist auf diese Entdeckung Platons hin, wenn er hervorhebt,
Platon bezeichne die Ideen als das emphanestaton, als das Leuchtendste.
Damit kann nicht nur ein echter transzendentaler Wesenszug allen Seins
gemeint sein, der je nach Art des Seienden ungeheuer modifiziert ist und
sich, wie früher erörtert, von der Wirklichkeit und auch vom Wert abhebt.
Nur die ewige Schönheit der Ideen oder eines ewigen und zugleich realen
und notwendigen Wesens besitzt dieses Leuchtend- und Einleuchtendsein
316
Siehe Platon, Politeia 508 d 5. Auf dieser Einsicht beruht auch der ontologische
Gottesbeweis. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments.
317
Platon sagt übrigens ausdrücklich, daß die Idee des Guten weder die Wahrheit im
Sinne der Wirklichkeit als Erkennbarkeit noch die Erkenntnis ist, sondern von
beiden verschieden sei. Vgl. auch Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-
total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”,
in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues
on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424.
318
Zum Beweis der Wahrheit dieser Aussage siehe Heidegger, Platons Lehre von der
Wahrheit, a.a.O.., S. 35. Damit steht sie in schärfstem Gegensatz zur luziden
Platon-Deutung Reales. Vgl. Giovanni Reale, Verso una nuova interpretazione die
Platone, 20e Aufl. (Milano: Jaca Book, 1997); Giovanni Reale, Zu einer neuen
Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im
Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. v. L. Hölscher, mit einer Einleitung
von H. Krämer, hrsg. und mit einem Nachwort von J. Seifert (Paderborn:
Schöningh, 1993)
319
Siehe dazu Aristoteles, Metaphysik, 1051 a 34; 1027 b 25. Vgl. auch Josef Seifert,
Wahrheit und Person, Kap. 1-3.
320
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 36-38.
321
Platon betont insbesondere den unendlichen Wertcharakter Gottes, in dem alle
Wertbeschränkung und alle Übel wegfallen. So nennt er im Zweiten Buch des
Staates Gott gÅhhfmokn g_f Ülfmokn zi ¡xm oö bpi_oôi, so schön und gut wie
überhaupt möglich“ [wörtlich: „am schönsten und am besten seiend bis zum
Äußersten“ „(so sehr) im höchsten Maße schön und im höchsten Maß gut seiend
wie (überhaupt) möglich.“]. Platon, Politeia II, 381 c. In Platons Phaidon und
Phaidros finden wir ebenfalls die Idee Gottes als eines notwendig seienden
Wesens, in dem Dasein und Wesen untrennbar eins sind.
322
Vgl. Robert Spaemann „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‘Gott‘“, S. 13-
35.
der es nur wertneutrale Fakten einerseits und subjektive Zwecke, für die
Mittel tauglich sein können, andererseits gibt? Läßt nicht auch Heidegger
unbemerkt den Gedanken des Wertes bzw. des in sich selber Kostbaren
wieder in seine Metaphysik hereinschlüpfen?323
Sicher können wir Heideggers Aufsatz zugutehalten, daß man es sich oft
allzu leicht gemacht hat, die Ausdrücke des Guten und der Wahrheit zu
verwenden, ohne tiefer über ihren Sinn nachzudenken. Gerade dies
versuchen die beiden Bände des vorliegenden Werkes zu unternehmen und
gerade im Lichte eines solchen tieferen Nachdenkens über die Wahrheit
erschließt sich der Sinn der ontologischen gegenüber der Erkenntnis- und
Urteilswahrheit sowie die Tatsache, daß bei Platon die Anerkennung beider
keinerlei Wesenswandel der Wahrheit, sondern vielmehr ein komplexes,
wenn auch weiter zu differenzierendes Verständnis des Wesens der Wahr-
heit einschließt. Denn gerade nur in einer Erkenntnis, in der das Seiende
unverborgen vor dem Geist liegt oder jedenfalls partiell aus seiner
Verborgenheit gezogen wird, kann auch eine echte homoiosis liegen. Nur
wenn es auf der Ebene der Erkenntnis und des Urteils adaequatio gibt, gibt
es auch die Unverborgenheit des Seins. Darin liegt die Widersprüchlich-
keit, ja Absurdität in Heideggers These vom Wesenswandel der Wahrheit,
daß darin ja jeweils auch vorausgesetzt wird, was er leugnet, nämlich die
volle Verträglichkeit beider Bedeutungen von Wahrheit.
Ein anderer Einwand Heideggers gegen Platons Lehre von der Wahrheit
betrifft den Vorwurf, Platon habe die Ideen zwischen Ding und Geist
dazwischengeschaltet. Platon habe gemeint, das, was die Ideen an den
Phänomenen zeigen, wenn man die Ideen selber geschaut habe, sei die
Wahrheit, die aletheia. Ob nun Platon in den Ideen selbst das eigentlich
Seiende erblickt oder nur betont, daß die Einzeldinge nur im Licht der
zeitlosen Wesenheiten und eide angemessen erkannt werden können, auf
keinen Fall impliziert seine These einen Wesenswandel der Wahrheit oder
einen Wandel des Wahrheitsbegriffs. Vielmehr ergänzen sich der
ontologische Wahrheitsbegriff des viele Grade aufweisenden „wahrhaftig
Seins“, sowie der Begriff der Erkenntniswahrheit und der ganz andere der
Wahrheit von Urteilen bzw. Sätzen im logischen Sinne dieses Wortes.
323
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 36-37.
faßt Heidegger diese als ein „Entdeckendsein des Daseins“ oder als eine
Übereinstimmung zwischen der Struktur der Eigentlichkeit des Subjekts
und dem Inhalt ihrer Überzeugungen bzw. ihrer Aktvollzüge auf. Mit
dieser Theorie jedoch, als einer Theorie darüber, worin Wahrheit bestehe,
erhebt diese Auffassung notwendig den Anspruch darauf, das auszusagen,
was wirklich die Wahrheit ist. Sie selbst also kann nicht umhin, für die in
ihr enthaltenen Aussagen Wahrheit gerade in jenem Sinne vorauszusetzen,
den sie durch die existentialistische Deutung von Wahrheit überwinden
will.
Daraus ergibt sich jedoch ein Selbstwiderspruch der Theorie, da diese
allgemein aussagen möchte, worin Wahrheit besteht, aber im Inhalt dieser
Aussage die Wahrheit existentialistisch bestimmen will, dabei jedoch
unweigerlich bereits wieder eine „nicht-existentialistische“ Konzeption der
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit voraussetzt.
Es ist mit Heidegger (und auch mit Russells Typentheorie in den
Principia Mathematica) Mode geworden, sich großspurig über jedes
Argument hinwegzusetzen, das in der eigenen Theorie innere Wider-
sprüche nachweist. Russell und Whitehead meinen, die Selbstanwendung
(die Bedingung der meisten inneren Widersprüche) überhaupt ausschließen
zu dürfen, um die scheinbaren mathematischen Antinomien, etwa die der
Mengenlehre, zu vermeiden. Dabei übersehen sie, daß ein solches Prinzip
weder nötig ist, um die Antinomien auszuschließen, noch als allgemeines
Prinzip der Typentheorie oder der Unterscheidung Sprache-Metasprache
haltbar ist. Denn bei seiner Behauptung würden die obersten logischen
Prinzipien wie das des Widerspruchs auf sich selbst nicht anwendbar sein
und damit würde der Logik und allgemeinen Ontologie jeglicher Boden
entzogen. Außerdem fehlt die Typentheorie gegen die Evidenz, daß (im
Gegensatz zu empirischen Allgemeinheiten wie dem „Barbier von Sevilla,
der alle und nur diejenigen Männer Sevillas rasiert, die sich nicht selbst
rasieren“) im Falle allgemeiner und notwendiger Prinzipien der sie
Aussagende oder die sie behauptende Theorie, sich unmöglich von ihrem
Inhalt ausnehmen können, wenn sie objektiv unter ihn fallen.
Heidegger bemerkt noch einfacher und noch unverhohlener als Russell
in den Principia Mathematica, es handle sich bei einem Argument aus dem
Selbstwiderspruch einer Theorie um bloße „plumpe Überrumpelungsversu-
che“. Er scheint sich damit nicht bewußt zu sein, daß das Widerspruchs-
prinzip, wie Aristoteles formuliert, das sicherste aller wahren Prinzipien ist
und daß es deshalb einen Todesstoß für eine Theorie und einen
vernichtenden Falschheitsbeweis derselben darstellt, wenn nachgewiesen
wird, daß sie sich notwendig in einen Widerspruch verstrickt. Dieses von
Platons Theaitetos bis Descartes, Schopenhauer oder Husserl verwendete
Argument als „plumpen Überrumpelungsversuch“ abzutun kann höchstens
rhetorischen Erfolg haben, ist aber philosophisch gesprochen Unfug, wie
andernorts ausführlich begründet wurde.324
Abgesehen von diesem inneren Widerspruch leuchtet es auch aus der
intelligiblen Struktur des Urteils ein, daß das Wesen der Wahrheit eines
Urteils, und damit eines von jedermann vorausgesetzten hauptsächlichen
Wahrheitsträgers, unmöglich mit der existentiellen Erfüllung von
Subjekten identifiziert werden kann. Denken wir nur an einen Menschen,
der sich eine Welt von Illusionen schafft, wie dies etwa in Anouilhs
Leocadia anschaulich vor Augen geführt wird. Dort begegnet uns ein
Mensch, der in einer Traumwelt lebt und in dieser Erfüllung findet, der
sich alle möglichen Dinge einbildet, durch die er glücklicher zu leben
meint als ohne solche Einbildungen. Ein solcher Mensch mag tatsächlich
durch den Inhalt seiner Überzeugungen existentielle Erfüllung finden;
diese sind aber offensichtlich nicht deshalb wahr.
Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß es auch eine
existentielle Wahrheit geben kann und gibt. Diese liegt allerdings nicht
primär in dem Phänomen des „Ich“ im Gegensatz zum „Man“, das
Heidegger als Eigentlichkeit bezeichnet und das einfach die lebendig-
existentiell vollzogene Wirklichkeit derjenigen Akte zum Ausdruck bringt,
die von ihm als eigentlich bezeichnet werden. So spricht Heidegger in
seinem Nietzsche-Buch von der Eigentlichkeit, die sich gleich ursprünglich
in Liebe und Haß eines Menschen erweisen könne. Damit ist wohl
gemeint, daß es sich bei eigentlicher Liebe oder bei einem ebensolchen
Haß nicht um ein konventionelles Phänomen handelt, um ein „man haßt“
oder „man liebt“, das der Einzelne gleichsam anonym-gedankenlos
324
Siehe Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Wider-
spruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als
ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“ in:
Prima Philosophia, Bd. 2, H 2, 1989.
Wahrheit des Lebens Sein“ beruht gerade auf der Wahrheit im Sinne der
adaequatio an die Wirklichkeit, die zur inneren Form des Lebens und Tuns
der Person wird; man könnte geradezu von der Wahrheit als forma vitae
sprechen. Im existentiellen Sinne des Wortes „wahr“ ist ein Leben, das mit
den Forderungen, Gütern und Wirklichkeiten in Einklang steht, die auch in
wahren Urteilen formuliert werden könnten und deren existentieller Ruf an
die Person, sowie das Fühlen, Wollen und Tun derselben gleichfalls wieder
in Form wahrer Urteile zu fassen ist.
326
Mit Max Black und Elizabeth Anscombe könnte man leugnen, daß der Tractatus
Wittgensteins empiristische Tendenzen aufweise oder dem Neopositivismus des
Wiener Kreises nahestünde. Freilich läßt sich, wie übrigens auch für Humes und
328
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg.v.
Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 18. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein,
Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, in der von Peter Sloterdijk herausgegebenen Reihe Philosophie
Jetzt! (München: Eugen Diederichs Verlag, 1996), S. 359-361. Die Stelle, an
denen diese beiden Meinungen am schärfsten zusammengebracht werden, ist
vielleicht der folgende Text: „Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die
Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind... Ich kann nur sagen: ich mache mich
über diese Tendenz im Menschen nicht lustig; ich ziehe den Hut davor.“ (Ebd., S.
361).
329
Diesen Ausdruck hat Frank Plumpton Ramsey in seinen Foundations of
Mathematics and other Logical Essays (1931), (London: Routledge, 2001)
geprägt. Vgl. auch Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief
(Oxford UK & Cambridge USA: Blackwell Publishers, 1991, 2002), S. 22. Auch
Allan Janik, Essays on Wittgenstein and Weininger (Den Haag/Amsterdam: CIP-
Gegevens Koninklijke Bibiotheek/Rodopi, 1985), S. 76, schreibt diese Meinung
Wittgenstein selbst zu.
330
Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 22 f. Vgl. auch ebd.,
S. 161 f., wo Barrett die Unterscheidung Wittgensteins zwischen relativen und
absoluten Werturteilen erklärt und selber (S. 162) den absoluten Wahrheits- und
Wertbegriff der Religion hervorhebt. Völlig andere Erklärungen werden von
anderen Autoren gegeben. So hat, gestützt auf Wittgensteins eigene Bemerkung,
er müsse anders leben, um ethisch anders zu denken, Albert William Levi, in The
Biographical Sources of Wittgensteins Ethics, Telos 38 (Winter 1978-1979), 63-
76, die ethischen Grundideen Wittgensteins als Frucht „schuldhafter Homosexua-
lität“ angesehen, eine Meinung, der andere sowohl aus biographischen wie aus
allgemeineren Erwägungen heraus entgegentreten. Vgl. etwa Allan Janik, Essays
on Wittgenstein and Weininger, S. 74 ff.
331
Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 28, wo er sagt,
er stimme den Wittgenstein-Kritikern zu, wenn sie hervorheben, daß ethische
Aussagen, von denen Wittgenstein in seiner „Sinnlosigkeits-“ bzw. Unsinnigkeits-
these behauptet, sie könnten nicht wahr oder falsch sein, doch sehr wohl wahr
oder falsch sein können und daß rassistische Nazis sich ethisch, gelinde gesagt,
irren.
332
In seiner Betonung einer Ich-Du-Beziehung zu Gott und der Unmöglichkeit, mit
Gott ohne eine eigene persönliche Gottesbeziehung zu reden, ist Wittgenstein in
mancher Hinsicht Kierkegaard oder auch Martin Buber oder Gabriel Marcel
verwandt. Vgl. Ludwig Wittgensteins (vorwiegend zwischen 1945-1948
entstandene), Zettel, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und G. H. von Wright
(Berkeley and Los Angeles, 1967, 1970), 717: „Gott kannst du nicht mit einem
Andern reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist. Das ist eine
grammatische Bemerkung.“
333
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value,
amended 2nd ed., hrsg. v./ed. Georg Henrik von Wright, übers. V./trans. Peter
Winch (Oxford UK&Cambridge USA/Frankfurt a.M.: Basil Blackwell/Suhrkamp
Verlag, 1977, 1980/1988), S. 33, bes. ibid., S. 45-46 (ca. 1944), S. 64, sowie S. 72
f., 80-81, 85-86. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Notizen zu James George
Frazers ‚The Golden Bough’, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, S. 412-428, bes. S. 412. Vgl. ebenfalls Ludwig Wittgenstein,
Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo
(Hg.), Bd. 3 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1995), S. 276 f., Nr. 3 ff. Vgl.
auch den Kommentar über die schönsten Texte Wittgensteins in CV, S. 33, in
Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief , S. 180-182.
334
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S.
29, 64. Im allgemeinen enthalten die Vermischten Bemerkungen fast durchwegs
tiefe, von Kierkegaard und dem Evangelium inspirierte Texte über Religion und
Gott, in denen der Gedanke, daß Religion Unsinn ist, ganz fehlt. Vgl. z. B. ebd., S.
31ff.
335
Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft (Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul
Siebeck, 51980).
(1) Als Voraussetzung seiner These, Ethik und Religion seien Unsinn,
sieht Wittgenstein die Tatsache, daß von der Ethik und Religion notwendig
Aussagen über absolute Werte gemacht werden.336 Die Unsinnigkeit
religiösen Glaubens liegt nun nach Wittgenstein zunächst darin begründet,
daß die Religion keinerlei rationale Begründung und Rechtfertigung für
ihre Werturteile, keinerlei denkbare Verifikation für ihre wertbetonten
Aussagen besitze, und zwar gerade dann, wenn sie nicht einfach sagt, „Gut
ist, was Gott befiehlt“, sondern behauptet, Gott wolle das Gute, weil es in
sich gut sei.337 Denn Urteile über absolute Werte, wie sie Religion und
Ethik voraussetzen, seien inkohärente Ausdrucksweisen: der in ihnen
liegende Versuch, über Fakten hinauszugehen, stelle einen Versuch dar,
über die Welt hinauszugehen, und damit – sowie mit dem Fehlen jeder
Nachprüfbarkeit338 – werde das Reich sinnvoller Sprache verlassen.339 Ob
Wittgenstein ein überzeugendes Argument für diese aller Erfahrung
widersprechende Aussage bietet, daß uns absolute Werte nicht klar und
eindeutig als Eigenschaft von Seienden, z.B. von Personen oder gerechten
Handlungen auf Grund ihres Wesens und Daseins gegeben seien, muß
jedoch geprüft werden.
(2) Sodann liegt der Grund der behaupteten Unsinnigkeit von Religion
Wittgensteins Meinung nach noch in einem ganz anderen Faktor, nämlich
darin, daß wir in der Religion über etwas Aussagen machen, von dem wir
bildhaft reden, ohne daß es im nicht-bildhaften Ziel religiöser Aussagen –
in den spezifisch religiösen Inhalten der Schöpfung der Welt, der Gnade,
Schuld und Erlösung340 – irgendein etwas gäbe, wofür das religiöse
336
In diesem Punkte folgt ihm die Theorie Mackies. Vgl. J. L. Mackie, Ethics:
Inventing Right and Wrong (New York: Pinguin Books, 1977).
337
Wittgenstein, Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, S. 359-361, bes. S. 359. Dort betont Wittgenstein, die (schon in
Platons Eutyphro geäußerte) Auffassung, die Götter gebieten das Gute, weil es gut
ist, und es sei nicht gut, weil Gott es gebiete, sei oberflächlicher, nicht tiefer als
die erwähnte positivistische Zurückführung des Wertes auf einen unbegründeten
Willen oder Befehl Gottes.
338
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, in: Thomas
H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 362-385, S. 370 f.
339
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, S. 362-385.
340
Wittgenstein, ebd., S. 16.
und ganz subjektiv, wie ein bloß persönlich bevorzugtes Spiel, gedeutet
werden.345 Diese Ansicht findet sich besonders in Ludwig Wittgensteins
Lectures on Religious Belief.346
Wittgenstein zufolge bleiben deshalb für die religiöse Aussage nur
andere Funktionen außer ihrem Wahrheitswert übrig, die Wittgenstein an
verschiedenen Stellen je verschieden faßt:
a) Manchmal als psychologische Funktion (unsinniger) religiöser Sätze,
die nur „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein“ sind.
Anstatt dabei einen existentialistischen oder psychologistischen Wahrheits-
begriff einzuführen, demnach Wahrheit nur ein psychologischer und
existentieller Persönlichkeitsausdruck oder existentielle Eigentlichkeit
wäre, faßt Wittgenstein diese Deutung religiöser Wahrheit mit Recht als
ihre Falscherklärung, ja als eine Sinnloserklärung auf, da eine Aussage, die
einen Wahrheitsanspruch macht und eine bloße Äußerung eines Dranges
wesensverschieden sind.347
b) In anderen Texten sieht Wittgenstein in der Religion ein
spezifischeres psychologisch-sprachliches und zugleich prometheisches
Motiv: nämlich sinnlos „gegen die Wände unseres Käfigs“ anzurennen,
indem wir „über die sinnvolle Sprache“ und „über die Welt“ (was dasselbe
sei) „hinauszugelangen“348 suchen, oder von „Hirngespinsten“, die gar
keine Sachverhalte sein können,349 reden wollen. Dadurch würden wir aber
die Grenzen menschlicher Sprache übersehen.350
Es scheint mir, daß keines der Argumente Wittgensteins gegen die
wesentliche Beziehung zwischen Sinn, Wahrheit und Religion und für die
345
Von diesem Weg Wittgensteins vom Objektivismus zum Anthropozentrismus von
Sprachspielen in seiner Deutung des anthropomorphen Charakters der Religion
handelt ein interessanter Artikel: N. H. G. Robinson, After Wittgenstein, in: Relig
Stud (1976), 12, 493-507.
346
Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversations
on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, ed. by Cyril Barrett (Oxford: Basil
Blackwell, 1966/1970), S. 53-72, S. 53 ff.
347
Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleinere Schriften, S. 19.
348
Wittgenstein, ebd., S. 18.
349
Ebd., S. 14.
350
Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Philosophische Betrachtungen/Philosophische
Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.), Bd. 2 (Wien/New York:
Springer-Verlag, 1994,) S. 3, Nr. 5-7.
351
Zur Frage, wie Wittgenstein zur Phänomenologie im allgemeinen steht und wie er
den von Stumpf geprägten bzw. verfeinerten Sachverhaltsbegriff von Husserl
übernahm, vgl. Nicholas F. Gier, Wittgenstein and Phenomenology. A
Comparative Study of the Later Wittgenstein, Husserl, Heidegger, and Merleau-
Ponty (Albany: State University of New York Press, 1981), S. 103-104. Vgl. auch
Barry Smith, Wittgenstein and the Background of Austrian Philosophy, in
Lernfellner, W.; Berghel, H., and Hübner, A. (Hrsg.), Wittgenstein and His Impact
on Contemporary Thought, S. 31-35. Ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-
69. Ders., Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano (Chicago/LaSalle:
Open Court, 1995).
352
Mehr dazu in Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy
(by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik. S. 107-117.
andere gegenüberstehen, recht hat, ist Religion wirklich am Ende und gibt
es in ihr weder Wahrheit noch Wahrheitsansprüche.
353
Thomas sagt, es verleihe das Sein (die Existenz) einer Sache Wahrheit. In Quaestio
I, Artikel 1, von De Veritate sagt Thomas von Aquin:
„Wenn die Wahrheit in der Übereinstimmung besteht, so kann sie im Prinzip in drei Weisen
gefaßt werden, deren erste sie nach dem benennt, was der Wahrheit ordnungsgemäß
vorausgeht und worin das Wahre begründet ist.“
354
„Indivisio esse et eius quod est”. Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein.
Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg.
L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986), S. 257-
301, bes. 263-301.
und das Bestehen des negativen Sachverhalts, „daß X wirklich nicht ist“,
als seiend in jenem Sinne bezeichnen, in dem das Sein Grundlage der
Wahrheit ist.355 Ludwig Wittgenstein sagt an manchen Stellen etwas
Ähnliches, wenn er das Fundament von Sätzen in einem „es verhält sich so
und so” erblickt356 oder im Tractatus (1; 1.12) die Welt als „alles, was der
Fall ist“ inklusive dessen, „was alles nicht der Fall ist“, definiert.
So kann also das Wort ‚Wahrheit‘ im ontologischen Sinn Wirklichkeit
sowohl im engeren Sinn des tatsächlich Existierenden (das Wittgenstein als
„Tatsachen“ anspricht) als auch im weiteren aller in irgendeinem Sinn
bestehenden Sachverhalte meinen. Wenn wir hingegen vom wahren (im
Gegensatz zum rein konventionellen, uneigentlichen) Menschen oder von
der wahren Liebe reden, so meinen wir wieder etwas anderes mit ‚wahr‘:
nämlich einen Menschen oder eine Liebe, die ihrer eigentlichen
Bestimmung oder dem, was Platon und Augustinus als deren ewige Ideen
bzw. Eide und Paradigmata bezeichneten, entsprechen.357 Wenn wir
jedoch, ebenfalls im ontologischen Sinne, von Gott als der Wahrheit
sprechen, so meinen wir mit der Wahrheit nicht mehr irgendeine Art der
ontologischen ‚adaequatio‘ oder Entsprechung, sondern das Urbild des
Seins und des Guten und zugleich den Inbegriff aller Wahrheit des
Erkennens und der Urteile.
In einem anderen, vom ontologischen Wahrheitsbegriff verschiedenen
und strikte epistemologischen Sinne reden wir von Wahrheit, wenn wir mit
Platons Gorgias sagen, die Erkenntnis sei immer wahr und niemals falsch,
355
Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice
thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto
Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587 (meine Überset-
zung):
Darum sagt der Philosoph: „Die Negation oder Privation des Seienden werde in einem Sinne
seiend genannt.... Darum sagt auch Avicenna am Anfang seiner Metaphysik, es könne nur
vom Seienden eine Aussage (enuntiatio) gemacht werden, weil das, worüber ein Satz
(propositio) gebildet werde, notwendig unter der Erkenntnis befaßt sein müsse. Daraus wird
deutlich, daß alles Wahre in gewissem Sinne ein Seiendes sein muß.“
356
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical
Investigations, trans. Elizabeth Anscombe (Oxford: Basil Blackwell, 1958), 136,
S. 52 f. Vgl. auch ders., Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische
Abhandlung (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1963), 2.04-2.06.
357
Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1.
358
Vgl. Platon, Gorgias S 454, II/200:
SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich
jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du
bejahen, denke ich?
GORGIAS: Ja.
SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre?
GORGIAS: Keineswegs.
SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei.
GORGIAS: Du hast recht.
SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden.
Vgl. auch Platon, Theaitetos, 64a ff., 166a - 167e, 178a - 179b.
359
Diese gewaltigen, bei Platon, Aristoteles, Augustinus, René Descartes und vielen
anderen Philosophen vorhandenen Thesen versuchte ich andernorts, näher zu
begründen. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, I. Teil, Kap. 3,
sowie ders., Wahrheit und Person, Kap. 2.
360
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136. Vgl. auch
Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener
oder daß es nicht existiert, daß es so oder nicht so ist, sich so oder anders
verhält. Mit der Behauptung eines Sachverhalts im Urteil ist zunächst der
Anspruch verknüpft, daß die Dinge objektiv so sind oder so geschehen
sind, wie ich im Urteil behaupte, oder objektiv nicht so sind oder
geschehen sind, ebenfalls genauso wie ich im Urteil behaupte. So liegt in
jedem Urteil hinsichtlich seines Objekts ein Seinsanspruch; es wird das
Bestehen eines positiven oder negativen Sachverhalts – der unabhängig
vom Urteil selbst besteht – behauptet.
Unter einem Sachverhalt verstehen wir eine eigenartige ontische
Struktur, die sich von Dingen und deren Prädikaten und Attributen klar
unterscheidet und innerhalb deren wir positive von negativen
Sachverhalten unterscheiden müssen.361 Die allgemeinste Seinsform, die
man im Unterschied etwa zu Dingen als Sachverhalt bezeichnen kann,
kann daher präzise in der disjunktiven Sachverhaltsformel ausgedrückt
werden: „das a-Sein [oder das nicht-a-Sein] eines B“, oder mit
Wittgenstein „es verhält sich so und so“362 oder eben nicht so.363
Sachverhalte unterscheiden sich in vielen Hinsichten von Sachen und
Gegenständen, können aber alle Arten von Gegenständen in sich
einschließen. Sie können Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile
enthalten, sie bestehen aber niemals einfach aus diesen. Nicht ein Mensch,
eine Person überhaupt oder ein Tier und auch keine Ansammlung
derselben, kann ein Sachverhalt sein, sondern nur daß diese Seienden
existieren oder nicht existieren, so oder anders sind oder mit einander in
Beziehung stehen. Sachverhalte sind auch keine logischen Begriffe noch
bestehen sie aus diesen. Selbst Sachverhalte, die sich auf Begriffe
beziehen, etwa der Sachverhalt, daß sich in einem Urteil mindestens drei
Begriffe finden, beziehen sich zwar auf Begriffe, bestehen aber keineswegs
aus ihnen wie das Urteil selbst.
Besonders Anhänger der analytischen Philosophie könnten versucht
sein, den Sachverhalt selbst für einen Satz oder für ein Urteil zu halten, da
Wittgenstein, der meist Satz und Sachverhalt in ähnlicher Weise wie wir
364
Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 2.232; 4.016; 4.02-4.024.
365
Indirekt sprechen natürlich Urteile über die Sachen und Personen, die in die
Sachverhalte „eingehen“ bzw. in Bezug auf die Sachverhalte bestehen.
366
Man könnte freilich noch verschiedene Sachverhalte unterscheiden wie
‚Frageverhalte‘ oder Urteilsverhalte, je nachdem ob man auf sie in der Frage oder
dem Urteil abzielt. Vgl. Kevin Mulligan /Karl Schuhmann / Barry Smith,
Erst recht ist natürlich ein Sachverhalt, wie daß Napoleon gegen
Rußland in den Krieg zog, kein Satz im sprachlichen Sinne. Denn während
dieser aus Worten zusammengesetzt ist, die ihrerseits aus Silben, Vokalen
und Konsonanten bestehen und bestimmten Sprachen angehören, trifft
schon nichts von alledem auf die im Satz ausgedrückten Urteile als
Bedeutungseinheiten zu,367 die in der deutschen oder französischen
Sprache ausgedrückt werden, aber jeweils dieselben sind, und erst recht
nicht auf Sachverhalte, die offenkundig nicht verschiedenen Sprachen
angehören können wie Sätze.
Auf die erörterte Gegebenheit des Sachverhalts in seiner eigentümlichen
ontischen Struktur zielen wir in vielen Redeweisen ab, etwa wenn wir
sagen, daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so oder daß es nicht so ist
oder daß es sich so oder anders verhält.368
Daraus ergibt sich unmittelbar eine Fülle von psychologisch und
anthropologisch relevanten Beziehungen zwischen Sachverhalten und
bestimmten Akten der Person. So ist es klar, daß nicht nur das objektive
logische Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde des Urteils sich nur auf
Sachverhalte beziehen kann oder muß, sondern ebenso der personale
Urteilsakt, nicht nur viele Fragen, die sich in ganz anderer, die Antwort
offen lassender Weise auf Sachverhalte beziehen als das Urteil, sondern
auch der Akt des Fragens, nicht nur der Überzeugungsinhalt, sondern auch
der Akt der Überzeugung, des Glaubens usf.
Bei jedem Urteil müssen wir nicht nur den sprachlichen Satz, sondern
auch den bewußten personalen Akt des Urteilens vom Urteil selbst
unterscheiden. Dieses ist nämlich kein personaler Akt, kein bewußtes
Etwas, sondern ein logisches Gebilde besonderer Art, das aus Begriffen
bzw. Bedeutungseinheiten gebildet ist und aus ihnen besteht. Der personale
Akt des Behauptens, Urteilens oder Glaubens ist jeweils ein individuell
einmaliger, wenn auch das Glauben, wie Wittgenstein sagt, nicht ein
einzelner zeitlich punktueller Akt der Person, wie das Behaupten, sondern
ein dispositioneller oder überaktueller Akt, eine überaktuelle theoretische
Antwort ist.369 Das Urteil hingegen als logisches Gebilde ist nicht
individuell in mir und Dir verschieden, sondern allgemein in dem Sinne,
daß es von vielen Personen als dasselbe Urteil gefällt werden kann. Der
Urteilsakt besteht nicht aus Begriffen, sondern ist ein je individuelles
Erlebnis, ein Akt.
Das logische Urteilsgebilde ist also kein Akt, sondern eine Entität sui
generis, die aus Begriffsbedeutungen besteht. Im Urteil als logischem
Gebilde finden wir mindestens drei Begriffe, den Subjektsbegriff, den
Prädikatsbegriff und die Kopula, die beide verbindet und zugleich die
Behauptungsfunktion bzw. die Urteilsfunktion, ausübt.
Der positive oder negative Sachverhalt wird Gegenstand von Urteilen
dann, wenn sein Bestehen behauptet wird. Mit der Behauptung gelangen
wir zum Wesen des Urteils. Dabei zeigt es sich, daß die Kopula des
Urteils, wie Pfänder sieht, zwei sehr verschiedene Funktionen ausübt und,
wie Hedwig Conrad-Martius mit Recht hinzufügt, auch eine ontologische
Bedeutung hat.370 Das gilt auch für religiöse Urteile. Im Urteil ‚Gott ist
Mensch geworden‘ besitzt der im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückte Begriff
einmal jene Funktion, die Pfänder als die Hinbeziehungsfunktion
bezeichnet, sodann aber auch jene, die er Behauptungsfunktion nennt und
die den gemeinten Sachverhalt als solchen setzt, sein Bestehen
behauptet.371 Drittens liegt in der Kopula ein ganz allgemeiner
ontologischer Sinn, den Pfänder nicht bemerkt, ja implizite leugnet, wenn
er der Kopula ausschließlich zwei Funktionen zuspricht und von den ‚rein
369
Dieser letztere Begriff stammt von Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von
Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 17-
25; ders., Das Wesen der Liebe, Kap. 1-2.
370
Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel Verlag, 1957), S. 19-42.
371
Pfänder, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963), S. 42 ff. Die
Funktionen der Kopula brauchen freilich nicht im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückt zu
werden, sondern können sprachlich auch im Verb mit ausgedrückt sein. Vgl. auch
(Mariano Crespo, Hrsg.), Logik.
372
Pfänder, ebd., S. 42-44, 156-162.
373
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Vgl. auch Josef Seifert,
“Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit., und Josef Seifert, (with Barry
Smith) The Truth about Fiction, zit.
Das Urteil, und zwar genauso das religiöse wie das naturwissen-
schaftliche oder historische, besagt, meint, behauptet, daß ein Sachverhalt
besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus seinem
Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem
Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst
wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil „S ist P“ als Behauptung
verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet
werden: „Dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser
Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils
verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt
sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Auch Wittgenstein definiert das
Urteil, das er als Satz bezeichnet, in den Philosophischen Untersuchungen
dadurch, daß es wahr oder falsch sein kann.376 Und die Wahrheit des
Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart
der behauptenden Funktion des Urteils, und andererseits das Verstehen der
eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen
Bestehen die Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das
Urteil wahr ist.377
374
Alexander Pfänder, Logik, 3. Aufl. (München: A. Barth/M. Niemeyer, 1963), S. 43
f.
375
Vgl. ebd., S. 81.
376
Etwa in Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136:
„Im Grunde ist die Angabe von ‚Es verhält sich so und so‘ als allgemeine Form des Satzes
die gleiche, wie die Erklärung: ein Satz sei alles, was wahr und falsch sein könne.“ (136, S.
52). Vgl. auch ebd., 225, S. 86; 554 f., S. 146.
...und man könnte ein Kind lehren, Sätze von anderen Ausdrücken zu unterscheiden, indem
man ihm sagt: „Frag dich, ob du danach sagen kannst, ‚ist wahr‘. Wenn diese Worte passen,
so ist es ein Satz.“ (137, S. 53).
377
Vgl. Pfänder, Logik, S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit
des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.
378
Allerdings ist die Fassung der Wahrheit von Aussagen im Traktatus oft unklar,
indem der Sinn der adaequatio verkannt und eine Art Gleichheit der Form
zwischen Sachverhalt und Satz postuliert wird. Vgl. Hermann Oetjens,
„Wittgensteins Regeldiktum als Selbstkritik seiner Wahrheitstheorie im
„Tractatus“, Grazer Phil Stud (1980), 10, 53-64. Der Autor argumentiert, daß
Wittgenstein im Traktatus die Wahrheit als eine Relation zwischen Zeichen und
bezeichnetem Gegenstand auffaßt, die durch die Identität ihrer logischen Form
miteinander verknüpft sind, wobei Wittgenstein diese logische Form für intuitiv
einsehbar hält: sie zeige sich, sei jedoch nicht sagbar. Nach Philosophische
Untersuchungen hingegen sei der Appell an die Intuition eine „unnötige Ausrede“.
Die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit werde in dieser Spätphiloso-
phie Wittgensteins aber überhaupt nicht mehr erklärt.
besteht, daß er weiß ist. Gleichermaßen ist das Urteil „Gott existiert”
wahr, wenn Gott wirklich existiert.
379
Zum Unterschied zwischen Glauben an und Glauben, daß sowie ihrer Beziehung
vgl. Dietrich von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes
(Regensburg, 1968); 4., unveränderte Aufl. (St, Ottilien, 41992), S. 236-245.
Glauben, daß etwas ist, halten wir ferner ein Urteil für wahr. Mein Urteil
„Es gibt keinen Gott“ oder „Gott hat alles Sichtbare und Unsichtbare
geschaffen“ erhebt unweigerlich den Anspruch darauf, wahr zu sein. Und
das Urteil ist nur wahr, wie Aristoteles einsah, wenn es behauptet, daß das
ist, was wirklich der Fall ist, oder daß das nicht ist, was wirklich nicht der
Fall ist. Das erste der von uns als Beispiele gewählten Urteile ist also nur
dann wahr, wenn es wirklich keinen Gott gibt, wie der prae-Vaticanum II-
Atheist (wie sich Hans Albert witzig bezeichnete) behauptet;380 das zweite
ausschließlich dann, wenn es einen lebendigen Gott, Schöpfer aller
sichtbaren und unsichtbaren realen Seienden, gibt.
Im Lichte des Gesagten ist Wahrheit auch immer objektive Wahrheit
und nicht etwa auf eine kulturell bestimmte Sprachgruppe relativ, wie
Wittgenstein meint, wenn er sagt, daß „die Wahrheit...“ und das Weltbild
„zu unserem Bezugssystem gehören“,381 oder daß ein Weltbild eine „Art
von Mythologie“ sei, deren Sätze eine ähnliche Funktion wie Spielregeln
hätten.382 Spielregeln machen keinen Wahrheitsanspruch und urteilen nicht
über die wirkliche Welt, ebensowenig wie kulturell bedingte Sitten. In
seiner Reduktion der religiösen Glaubensaussagen auf kulturell bedingte
Sprachspiele383 verfehlt Wittgenstein den gewaltigen Unterschied zwischen
einer Religion und einem Theater oder Sprachspiel, in dem kein
Wahrheitsanspruch vorliegt. Den auf Grund der Unbegrenztheit seiner
Anwendung allzu konfusen und vagen Charakter des Begriffs
„Sprachspiel“ sieht Wittgenstein selbst, ja er stellt sogar zu Recht die
380
Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft.
381
Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und
G.H. von Wright (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969), 83, S. 29.
382
Barrett versucht, Wittgenstein weitgehend vom Einwand, er sei relativistisch
gewesen, zu befreien. Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious
Belief, Kap. 7, „Relativism“, ebd., S. 145 ff.
383
Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“ ist alles andere als präzise und schließt
neben vielen Satz- und Sprachformen auch alle möglichen Funktionen der
Sprache, aber auch die verschiedenen in der Sprache ausgedrückten Gedanken ein.
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 23, 27. Eine sehr
gründliche Untersuchung dieses Begriffs bietet Cyril Barrett, Wittgenstein on
Ethics and Religious Belief, S. 112-144.
384
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Sprachspiele und Lebensformen, in: Thomas H. Macho
(ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 236-267, bes. S. 254 ff. (Nr. 68 ff.).
385
Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Feuerbach arbeitet Stephen P. Thornton in
seinem Aufsatz Facing up to Feuerbach, in: Int J Phil Relig. (April 96), 39 (2), S.
103-120, heraus.
386
Die deutsche Übersetzung dieser und der folgenden Stellen des Textes Prof.
Anscombes stammen von mir. Die wahrscheinlich gemeinte Stelle wurde
publiziert in Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value,
S. 32. Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition and Philosophy
(by Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik, S. 93-105.
387
Anscombe, ebd.
388
Hans Jonas warnte protestantische und katholische Theologen, daß Heideggers
Philosophie und durch sie inspirierte Theologien absolut mit dem christlichen
Glauben unverträglich sind. Vgl. Hans Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a
Philosophical Biology (New York: Harper & Row, 1966).
389
Vgl. dazu Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration. Studien über L.G.A. de Bonald, bes. S. 115 ff.; 181-211. Zu dem
Einfluß Spenglers auf Wittgensteins Kulturbegriff und seine Idee der „Familie-
nähnlichkeiten“ vgl. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and
Value, S. 14 f.
Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit
überzeugt habe; auch nicht weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin.
390
Vgl. Josef Seifert, „A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy“ (by
Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik, S. 107-117. Vgl. auch Rudolf Otto, Das Heilige. Über das
Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen,
Sonderauflage (München: Verlag C.H. Beck, 1962). Vgl. auch Max Scheler,
„Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 101-354;
Vgl. auch Josef Seifert, “The Uninventable Glory of God as the Deepest Reason
for Our Faith in Jesus Christ”, in: Roy Varghese (Ed.), Theos (1999).
391
G. Elizabeth M. Anscombe , ebd., S. 102.
Die Idee eines „für mich wahren“ Urteils und gar die eines
Glaubensurteils, das gar keinen Anspruch auf Wahrheit machen würde,
wie eine Spielregel des Schachspiels, ist absurd. Denn ein religiöses Urteil
ist genausowenig eine Spielregel oder auch ein Spiel wie ein anderes
Urteil. Als Urteil aber kann es nur objektiv wahr oder falsch, nicht „wahr
für mich“ sein. Denn eine Wahrheit des von mir gefällten Urteils „für
mich“, aber „nicht für Dich“, oder „für den Christen“, nicht aber „für den
Moslem“, mit anderen Worten, die „Subjektivität der Wahrheit“ des
Glaubens und des Wissens, die Wittgenstein behauptet,393 ist schlechthin
sinnlos, wenn es um Aussagen über Gott und die Welt geht. Daß etwas nur
für einen Spielenden „wahr sein“ kann, gilt in gewissem Sinne für
subjektiv konstituierte und etwa in Spielen geschaffene Objekte. Selbst bei
Spielobjekten wie der Dame im Schach im Unterschied zur Dame im
Damespiel, ist diese „Relativität“ und „Subjektivität“ nicht eine der
Wahrheit, sondern bloß des (auf ein Regelsystem ‚relativen‘) Seins der
Spielwelt und der Sprache. Auch diese letztere gilt nur dann, wenn wir mit
denselben sprachlichen Ausdrücken wie „Dame“ verschiedene Gegen-
stände und Regeln meinen. Dann gilt etwa „die Königin kann sich gerade
und diagonal von einem Ende des Spielbretts zum andern bewegen“ und ist
für das Schachspiel in diesem Sinne wahr, nicht aber für die Dame im
Damespiel. Sobald aber der Sachverhalt eindeutig bestimmt ist, selbst
wenn er wie im Schachspiel durch Spielregeln konstituiert wird (wie die
392
Wittgenstein, Über Gewißheit, 94, S. 33. Vgl. ebd., 93-95. Ähnlich auch ebd., 108,
S. 37; 138, S. 44. Habermas übt Kritik an diesen Anschauungen Wittgensteins in
seinen Vorstudien zur Theorie kommunikativen Handelns (FfM 1984, S. 60 ff.),
und auch in seinem Aufsatz „Sprachspiel, Intention und Bedeutung“, in:
Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie (Frankfurt a.M., 1975), S. 319-
340. Fergus Kerr, Theology after Wittgenstein (Oxford, 1986) und Cyril Barrett,
Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, sowie Hordern, Hudson und D.Z.
Phillips liefern weitere Beispiele einer Wittgensteinrezeption auf dem Gebiet der
Religionsphilosophie.
393
Wittgenstein, Über Gewißheit, 179, S. 54.
394
Vgl. dazu auch Wittgensteins Gedanken in: Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Grammatik, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 5 (Wien/New York:
Springer-Verlag, 1996), S. 156, Nr. 5 (wo Wittgenstein eine Art von platonischer
ewiger Idee des Schachspiels erwägt); S. 157, Nr. 4. Vgl. auch Josef Seifert,
Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), wo
vier grundsätzlich verschiedene Arten von „Gesetzen“, die das Schachspiel
beherrschen, unterschieden werden, von denen nur die erste Konventionen sind.
395
Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2-3.
396
Etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, S. 3, Nr. 5.
397
Etwa Wittgenstein, Über Gewißheit, S. 57. Zum Wahrheitsbegriff Wittgensteins vgl.
auch ebd., 200, 205f, 222, 514f, 549, 607. Die klarste Aussage Wittgensteins
zugunsten der Korrespondenz (Adäquations-)theorie der Wahrheit bei
Wittgenstein sehe ich in Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkun-
gen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 3 (Wien/New York: Springer-
Verlag, 1995), S. 294, Nr. 6, und ebd., S. 295, 4, scheint Wittgenstein auch eine
Adäquationstheorie negativer Urteile über negative Sachverhalte zu verteidigen.
Vgl. auch ebd., S. 304, 253/1 ff., Nr. 1-7, wo auch so etwas wie ein
Sachverhaltsbegriff angedeutet ist.
398
Vgl. nur eines von vielen Werken Hicks, die die Quelle der total relativistischen
wittgensteinianischen „Theologie der Religionen“ bilden: John Hick, A
Concluding Comment On Religious Pluralism, in: Faith Phil (October 1988), 5,
449-455.
399
Vgl. Wilhelm Lütterfelds, „Weltbild-Glaube. Ein vorrationales Fundament unserer
Lebensform?“, in: J.P. Galvez/R.D. Baldrich (Hg), Wittgenstein und der Wiener
Kreis (Cuenca, 1998), 115-153; S. 144. Vgl. Karl Brose, „Religion und Ethik
beim späten Wittgenstein: Zu Themen in Über Gewißheit“, in: Wittgenstein Stud
(1994), wo Wittgensteins Religionsphilosophie bis zu seinen letzten Aufzeich-
nungen in Über Gewißheit bis unmittelbar vor seinem Tod am 29. April 1951, von
den frühen Tagebuch-Notizen der Jahre 1914-1916 und dem ETHIK-Vortrag von
1929 über die Vorlesungen über den religiösen Glauben von 1938 bis zu den
Philosophischen Untersuchungen (1947-1949) sowie den Aufzeichnungen in Über
Gewißheit verfolgt werden. Zur scharfen Kritik an der These, daß Religion nur
eine kulturell relativierbare „Lebensform“ oder ein aus dieser stammendes
Sprachspiel sei, vgl. Patrick Sherry, “Is Religion A ‘Form Of Life’?”, in:
American Philosophical Quarterly (April 1972), 9, 159-167.
ausdrückt.400 Aber sobald wir an das im Glauben gefällte Urteil denken, ist
jeder derartige an Wittgenstein anschließende Relativismus absurd, ja
uroborisch und hebt sich selber auf. Denn der Begriff einer „relativen
Wahrheit“ ist überhaupt ein Unbegriff und zielt auf etwas Absurdes ab;
zugleich setzt er notwendig eine objektive und absolute Wahrheit im Sinne
der Adäquationstheorie für die eigenen Urteile voraus und hebt sich
deshalb selber auf.401 Den Wahrheitsanspruch des Urteils und sein
Abzielen auf ihm selber transzendente Sachverhalte zu leugnen ist
geradeso absurd im Bereich der Religion wie irgendwo sonst. Das Urteil:
‚Es gibt einen lebendigen Gott, der von der Welt verschieden ist, ihr ewig
vorhergeht und sie geschaffen hat‘ kann nur entweder wahr oder falsch
sein; wenn es wahr ist, ist es in sich und deshalb auch für jedermann wahr,
ganz gleichgültig, ob er dies glaubt oder nicht; ist es falsch, ist es in sich
falsch und für niemanden wahr. Es kann nur fälschlicherweise für wahr
gehalten werden, nicht aber nur für jemanden wahr sein. Denn wahr ist
meine Aussage über das Dasein Gottes nur dann, wenn Gott wirklich ist,
und dann ist sie objektiv und auch dann wahr, wenn die ganze Welt
leugnet, daß Gott sei.
In diesem Zusammenhang ist die von Wittgenstein abweichende
Deutung interessant, die G. Elizabeth M. Anscombe dieser Lehre eines
religiösen Pluralismus während ihrer Liechtenstein-Vorlesungen gab. Sie
betonte dort, daß die Verehrung verschiedener Götter im Heidentum
durchaus akzeptabel war und daß erst im Judentum und Christentum jener
absolute Wahrheitsanspruch der Religion auftritt, der keine anderen Götter
außer dem einen, wahren Gott duldet. Dabei müssen wir aber, wie ich in
meinen Kommentaren zu G. Elizabeth M. Anscombes Ausführungen
betonte, zwischen dem jedem Wahrheitsanspruch eigenen Ausschließen
des Gegenteils und dem neuen Anspruch des Eingottglaubens unterschei-
den. Denn auch das Urteil „Zeus und Aphrodite sind Götter“ erhebt einen
Wahrheitsanspruch und schließt die gleichzeitige Wahrheit der Leugnung
dieser Aussage aus, auch wenn er die Existenz vieler anderer Götter
400
Vgl. etwa H. R. T. Roberts, “The Concept Of ‘Seeing-As’ In Wittgenstein’s
Philosophy of Religion”, Indian Phil Quart (Oktober 1979), 7, 71-82.
401
Zur Idee „uroborischer“, d.h. „sich selbst verschlingender“ oder „sich selbst
auffressender“, Philosophien vgl. John Visvader, “The Use of Paradox in Uroboric
Philosophies”, in: Phil East West (Oktober 1978), 28, 455-467.
403
Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments, Kap. 2
404
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 15.
405
Ludwig Wittgenstein, ebd., S. 16.
406
Ebd., S. 15-16.
407
“Wittgenstein’s own example was about feeling oneself to be absolutely safe.” In
der Anmerkung fügt sie hinzu: “In his’Lecture on Ethics’, published in The
Philosophical Review, 1965.” G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition
and Philosophy, S. 93-105, S. 104. Auf deutsch erschien der von Anscombe
zitierte Wittgenstein-Text in Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere
kleine Schriften, hrsg.v. Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 15-16.
408
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11.
wohl darüber wundern dürfen, daß die Welt ist und nicht vielmehr nicht
ist.409
Auch jenes Gefühl religiöser Geborgenheit, auf das Wittgenstein sich
als weiteres Beispiel bezieht, ist keineswegs das absurde innerweltliche
Gefühl, als das Wittgenstein es beschreibt. Ein solches Gefühl empirischer
Sicherheit vor Unfällen „egal was passiert“ wäre wirklich ein Unsinn, wie
Wittgenstein erkennt. Das Gefühl religiöser Geborgenheit hingegen bezieht
sich auf die absolute göttliche Liebe und unerschütterliche Hoffnung auf
Gott, die auch dann nicht zuschanden wird, wenn wir in unserem irdischen
Leben Tod, Unglücksfälle aller Art oder das Martyrium erleiden müssen.
Diese Geborgenheit bezieht sich auf die ewige göttliche Liebe und unser
ewiges Heil, worin nichts Absurdes liegt, und keineswegs auf eine absurde
„irdische Sicherheit vor Unglücksfällen, egal welche Unglücksfälle wir
erleiden“. Daher bringt Wittgenstein in den hier erörterten Ausführungen
absolut nichts über die Natur der Gefühle des Staunens und der Sicherheit
vor, was beweisen könnte, daß religiöse Gefühle und Wahrheitsansprüche
‚unsinnig‘ seien.
409
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11; vgl. auch ders., Gott als
Gottesbeweis, Kap. 10-11. Selbst wenn „Welt“ den notwendigen Sachverhalt
meint, daß irgend etwas der Fall oder nicht der Fall ist (Tractatus, 1; 1.12),
können wir staunen, daß überhaupt notwendig etwas der Fall und wahr ist und
doch nicht nichts der Fall oder nichts mehr sein kann.
410
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 19. Vgl.
zur These, daß Wittgenstein nicht jede Korrespondenztheorie der Wahrheit im
gilt auch für das Urteil des gläubig das Credo betenden Menschen, der
bekennt: „Gott existiert“, „Gott ist der Schöpfer aller sichtbaren und
unsichtbaren Dinge“, oder „Er ist auferstanden von den Toten am Dritten
Tage“.411 Auch in diesen auf der Grundlage des christlichen Glaubens
gefällten Urteilen liegt die These, ja die in einem unbedingt als wahr
behaupteten Urteil ausdrückbare Aussage, „Christus ist auferstanden, er ist
wahrhaft auferstanden“. Einen Wahrheitsanspruch finden wir ebenfalls in
den Urteilen der Gläubigen jeder anderen Religion, ganz gleich ob dieser
Wahrheitsanspruch erfüllt ist oder nicht.
Wittgensteins Idee, daß es sich hier gar nicht um Sätze, die wahr oder
falsch sein könnten, handle, sondern um Spiele bzw. Sprachspiele, die
bestimmten Regeln unterstünden, ohne Wahrheitsansprüche zu erheben,
kann verschieden gedeutet werden: man könnte sagen, die hier von
Wittgenstein implizierte Theorie der Wahrheit sei letzten Endes sprach-
behavioristisch und beinhalte eine Sprachtheorie, die – wenn sie auf
religiöse Aussagen angewendet werde – ein Mißverständnis derselben als
„bloßes Sprachverhalten“ darstelle, analog zu Gilbert Ryles Theorie des
Geistes.412 Man kann Wittgensteins Theorie aber auch im Sinne eines
Reich der Religion aufhebt, etwa Hilary Putnam, Wittgenstein on Religious Belief,
in: Rouner, Leroy S (Hrsg.), On Community, (Notre Dame, Ind.: Univ Notre
Dame Pr, 1992). Zu einer scharfen Kritik dieser Wittgenstein vom Autor
zugeschriebenen Auffassung vgl. Michael Martin, Wittgenstein’s Lectures on
Religious Belief, in: Heythrop J (July 91), 369-382.
411
Es wäre ein interessanter Gegenstand einer Untersuchung über das Verhältnis
zwischen Erkenntnis, Logik und Religion festzustellen, ob es neben dem
apodiktischen Urteil oder innerhalb desselben noch verschiedene logische
Gewichte und Phänomene gibt, die es uns erlauben, die evidenter rationaler
Einsicht entsprechende Apodiktizität von Urteilen auch in rein logischer Hinsicht
von einer Art ‚rein moralischer Apodiktizität‘ und diese noch einmal von einer
‚Apodiktizität‘ jener Urteile, die auf vernünftig begründete Glaubensansprüche
oder spezifisch religiös fundierte Überzeugungen zurückgehen, zu unterscheiden.
So wäre der Begriff der apodiktischen ‚Modalität‘ des Urteils noch ein sehr
abzustufender Begriff, der von der bisherigen Logik nur sehr grob gefaßt wird,
abgesehen davon daß die Modalität von Sachverhalten und von Erkenntnis-
gewißheiten häufig mit der rein logischen Modalität verwechselt werden.
412
Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind (London, 1949). Vgl. auch meine Kritik an
dieser Auffassung in J. Seifert, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige
415
Vgl. dazu die ausgezeichneten Ausführungen von R. Spaemann, „Funktionale
Religionsbegründung und Religion“, in: Die religiöse Dimension der Gesellschaft,
hrsg. P. Koslowski (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1985), S. 9-25.
416
Ich denke hier an H. Lübbes Religion nach der Aufklärung und seine Diskussion
mit R. Spaemann über die funktionalistische Religionsbegründung. Bei Lübbe
selbst bleibt es übrigens unklar, ob er wirklich die Religion selber und ihre
„Wahrheit“ auf ihre Funktionen reduzieren will.
6. Kritik von Wittgensteins Meinung, daß alles Reden über Gott rein
„anthropomorph“ und deshalb der Gegenstand der Religion
„wahrheitsunfähig“ und total unerkennbar sei: Zur Überwindung von
Wittgensteins ‚ontologischem‘ Relativismus und Agnostizismus
Wir haben einen weiteren besonderen Grund kurz gestreift, aus dem
Wittgenstein objektive Wahrheit über ökonomische, naturwissenschaft-
liche oder medizinische Sachverhalte zugibt, aber über Gott leugnet: wie
wir gesehen haben, meint er, die Religion verwende Gleichnisse und
Bilder, hinter denen „nichts liege“.417 Daher sei Religion sinnloser
Anthropomorphismus. Um daher Wahrheitsansprüche und zumindest um
die mögliche Erfüllung solcher religiöser Urteile zu rechtfertigen, setzt
man gewisse metaphysische und epistemologische Sachverhalte voraus,
auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte.
Wittgenstein will mit der eben zitierten Aussage nicht nur manche,
sondern alle religiösen Aussagen als unsinnig anthropomorph verstanden
wissen. Daher haben nach ihm religiöse Ideen, wie die der Personalität
Gottes oder Gottes als Adressat des Gebetes, nur eine mythologische
Bedeutung in dem Sinne, daß „Sprachspiele wie Gebete gespielt
werden“.418 Sie können uns nichts über die jenseits der Erfahrung liegende
Wirklichkeit lehren und nichts Sinnvolles über sie aussagen. Wittgenstein
leugnet hier das, was wir als reine Vollkommenheiten bezeichnen können.
Er wendet hier zunächst Erkenntnisse des Vorsokratikers Xenophanes an:
Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen
könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden
die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen
und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.419
417
Diese These findet sich in besonders unklarer, aber deutlich ausgesprochener Form
in Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversa-
tions on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, S. 53-72, bes. S. 70-72.
418
Vgl. D. Z. Phillips, The Concept of Prayer (London, Routledge & K Paul, 1965).
419
Fr. 15. Vgl. H. Diels-W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. (Berlin,
1951-52), 3 Bde Bd. I.
420
Vgl. zu diesem auf Gedanken von Xenophanes bis Anselms Monologion und Duns
Scotus zurückgehenden Begriff der „reinen Vollkommenheit“ und der Analyse
des hier Gemeinten Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Wittgenstein ist hier
auch der Theologie von Josef Fuchs und anderen verwandt, die Ideen Gottes wie
Gesetzgeber, Schöpfer und Richter für Anthropomorphismen halten. Vgl. Josef
Seifert, „Gott und die Sittlichkeit innerweltlichen Handelns. Kritische philoso-
phische Reflexionen über den Einfluß anthropomorphen und agnostischer
422
Vgl. dazu eine sehr freie, aber interessante Wittgenstein-Interpretation in ihren
Beziehungen zu Levinas: Kurt Wuchterl, Religion bei Wittgenstein und Lévinas,
in: Rudolf Haller und Johannes Brandl (Hrsg.), Wittgenstein. Eine Neubewertung.
Towards a Re-evaluation (Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1990) S. 313-
322. Nach dieser Interpretation wäre das Unsagbare weder das Nichts noch
Unsinn im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Transzendentes, das nicht mehr in
menschliche Sprache gefaßt werden kann und das der frühe Wittgenstein als
Mystik bezeichnete. Was dieses ‚Unsagbare‘ dann aber ist und ob es in
irgendeiner Weise erkennbar sei oder Gegenstand wahrer Aussagen sein könne,
darüber schweigen Wittgensteins eigene Texte und auch Wuchterl.
423
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S.
31 ff.
424
Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis; sowie ders., Essere e persona, cit., Kap.
9-15.
425
Die Gründe, aus denen ich diese Inhalte auch heute philosophisch begründbar
halte, habe ich verschiedentlich dargelegt, etwa in Josef Seifert, Leib und Seele.
Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973); ders.,
Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine
kritisch-systematische Analyse; ders., Was ist und was motiviert eine sittliche
Handlung? (What Is and What Motivates a Moral Action?), (Salzburg:
Universitätsverlag A. Pustet, 1976); ders., Gott als Gottesbeweis.
seinem zentralen Gedanken schließen, daß die Liebe die höchste Quelle
des Glaubens ist:
Dieser Text führt zum neuen Thema Liebe und Erkenntnis, welches wir
hier nicht behandeln können.426
Was neigt auch mich zu dem Gedanken an die Auferstehung Christi hin?
Ich spiele gleichsam mit dem Gedanken. – Ist er nicht auferstanden, so ist er
im Grab verwest, wie jeder Mensch. Er ist tot und verwest. Dann ist er ein
Lehrer wie jeder andere und kann nicht mehr helfen; wir sind wieder
verwaist und allein. Und können uns mit der Weisheit und Spekulation
begnügen. Wir sind gleichsam in einer Hölle, wo wir nur träumen können,
und vom Himmel, durch eine Decke gleichsam, abgeschlossen. Wenn ich
aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht
Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und
der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht
mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften,
gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut, muß erlöst werden, nicht mein
abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: nur die Liebe kann die
Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.
Man kann sagen: Die erlösende Liebe glaubt, auch an die Auferstehung;
hält auch an der Auferstehung fest. Was den Zweifel bekämpft, ist
gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an
diesem Glauben sein. Es heißt also: sei erst erlöst und halte an Deiner
Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, daß Du an
diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du Dich
nicht mehr auf die Erde stützst, sondern am Himmel hängst. Dann ist alles
anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht
kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende, aber das
Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes und er kann daher ganz anderes
tun, als der Stehende.)427
426
Vgl. Max Scheler, Liebe und Erkenntnis (1916), in: ders., Schriften zur Soziologie
und Weltanschauungslehre (Gesammelte Werke), Bd. 6. 3e. Aufl. (Bonn: Bouvier
Verlag, 1987).
427
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 33.
428
Vergleiche Alfred Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“,
deutsche Originalausgabe in: Studia filosofica comentarii societatis filosoficae
polonorum societatis 1, Lemberg, 1935, s. 264-405 (mit dem Nachwort von 1935);
Der Text ist wiederabgedruckt in Francesca Rivetti Barbò, L’antinomia del
mentitore nel pensiero contemporaneo da Peirce a Tarski (Milano: Vita e
Pensiero, 1964), S. 265:
Ich möchte nur erwähnen, daß es sich in der ganzen Arbeit ausschliesslich darum handelt,
die Intentionen zu erfassen, welche in der sog. ‚klassischen‘ Auffassung der Wahrheit
enthalten sind (‚wahr – mit der Wirklichkeit übereinstimmend‘) im Gegensatz z.B. zu der
‚utilitaristischen‘ Auffassung (‘wahr – in gewisser Hinsicht nützlich‘).
Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, „Tarskian Truth and the Correspondence
Theory“, Synthese, (2001) January; 126 (1-2): 123-147. Der Autor geht dort auf
die Frage ein, in welchem Ausmaß Tarski eine Korrespondenztheorie der
Wahrheit vetritt. Er faßt seinen Artikel im Philosopher’s Index 2002 so
zusammen: “Tarski’s theory of truth brings out the question of whether he
intended his theory to be a correspondence theory of truth and whether, whatever
his intentions, his theory is, in fact, a correspondence theory. The aim of this paper
is to answer both questions. The answer to the first question depends on Tarski’s
relevant assertions on semantics and his conception of truth. In order to answer the
second question Popper’s and Davidson’s interpretations of Tarski’s truth theory
are examined; to this end both Tarski’s definition of truth in terms of satisfaction
and the T-sentences are taken into account.”
429
Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“,
Zeitschrift für philosophische Forschung, (1995); 49 (4): 529-552.
430
Vgl. Tarski, ebd. S. 264 f.
431
Vgl. auch Alfred Tarski, „Die semantische Konzeption der Wahrheit“ in Sinnreich,
J. (Hrsg.), Zur Philosophie der idealen Sprache (München 1972), S. 53-100
(englische Originalausgabe 1944). Vgl. auch Tarski, „Grundlegung der
wissenschaftlichen Semantik“, in: Berka, K./Kreiser, L., Logik-Texte. Kommen-
tierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik (Berlin 1971), S. 350-356,
1.1. Fehler der philosophischen Methode und unzureichende Gründe Tarskis für
die Verwerfung der bisherigen Versuche einer Definition von Wahrheit für
die normale Sprache (Umgangssprache)
Tarski geht von der lapidaren Behauptung aus, daß zwar die Bedeutung
des Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache436 und jeder
anderen „semantisch geschlossenen Sprache“ (in der nicht zwischen
Sprache L und Metasprache M unterschieden und eine Anwendung von
Urteilen der Sprache L auf metasprachliche Aussagen nicht ausgeschlossen
werde) recht klar und verständlich zu sein scheine, aber alle Versuche einer
genaueren Präzisierung dieser Bedeutung bis dahin erfolglos geblieben
seien. Das Hauptkennzeichen dieser Erfolglosigkeit sieht Tarski437 darin,
daß dieser traditionelle Wahrheitsbegriff, wenn er, zumindest ohne
Beachtung der von ihm eingeführten Sprachebenen, auf die Umgangs-
sprache angewendet werde, notwendigerweise zu Paradoxien und Antino-
mien führe.438 Puntel stellt diese Auffassung so dar:
Nach Tarski treten solche Antinomien in den semantisch-geschlossenen
Sprachen notwendigerweise auf. Eine semantisch-geschlossene Sprache ist
diejenige, die neben den Aussagen auch die Namen der Aussagen
(Anführungsnamen, deskriptiv-strukturelle Namen) und außerdem
semantische Terme wie ‚wahr‘ in bezug auf diese Sprache enthält. Eine
solche Sprache ist nach Tarski notwendig inkonsistent: indem sie nämlich
die angegebenen Sprachebenen in ihrer Unterschiedenheit nicht beachtet,
führt sie zu Antinomien. Eine solche Sprache ist die Umgangssprache:
Universalismus – d.h. alles und jedes ohne Berücksichtigung der
436
Dieser Ausdruck ist unglücklich gewählt, da er gewöhnlich auf weniger schöne,
weniger differenzierte oder auch auf besondere typische Ausdrucksweisen
hinweist, die man der korrekten, poetischen oder feineren Verwendung einer
Sprache gegenüberstellt. Wenn man den Terminus „Umgangssprache“ hingegen
durch „normale Sprache“ ersetzt, ist dieser Terminus nicht nur ungebräuchlich
und häßlich, sondern ebenfalls unklar, weil er ja nicht „abnormaler“ Sprache oder
der Sprache abnormaler Menschen gegenübergestellt werden soll, sondern den
„technischen“ und symbolischen formalisierten Sprachen. Wir verwenden den
Ausdruck „Umgangsprache“ daher wie Tarski als terminus technicus und als
reinen Gegenbegriff zu „formalisierter Sprache“.
437
Tarski, .a.O., S. 264 f.
438
Vgl. dazu auch L.B. Puntel, Wahrheitstheorien, a.a.O., S. 56.
Anstatt auf die nach Tarskis eigener Anschauung schon vor seiner
Theorie möglichen und sogar mehr oder minder befriedigenden Lösungen
einzugehen, oder zu zeigen, daß ohne seine neue Wahrheitstheorie eine
Lösung der Antinomienproblematik nicht denkbar sei, setzt Tarski dies
einfach voraus und schreitet dann zuerst zu seiner neuen semantischen und
dann linguistisch strukturellen, nicht-semantischen Wahrheitstheorie fort.
Darin allein schon liegt ein philosophischer bzw. methodologischer
Fehler. Denn vor der Entwicklung einer so weittragenden neuen Theorie
der Sprache und der Wahrheit sollte zuerst genau geklärt werden, ob ein
solches Vorgehen nötig ist.
Es verhält sich hier ähnlich wie bei Kants ‚Antinomie der reinen
Vernunft‘ in der Kritik der reinen Vernunft, wo viel zu schnell angenom-
men wird, daß unter der Voraussetzung einer realistischen Philosophie
Antinomien unvermeidbar sind. Und ohne genaue Analyse geht Kant dazu
über, eine radikal neue Erkenntnistheorie zu entwickeln, welche die
Existenz des Dings an sich und den rezeptiv-entdeckenden Charakter der
Erkenntnis bestreitet und damit nicht nur dem evidenten Wesen des
Erkennens, sondern auch sich selber widerspricht.440 Ähnlich wie Kant, auf
die erwähnte Voraussetzung aufbauend, mit seiner widerspruchsvollen
‚Lösung‘ der Antinomien und seiner widerspruchsvollen und dem
evidenten Wesen des Erkennens widersprechenden Deutung desselben in
der ‚kopernikanischen Wende‘ einen zweiten unberechtigten Schritt tut,441
geht Tarski viel zu leicht von der Voraussetzung aus, Antinomien und
logische Paradoxien ließen sich nicht lösen, wenn man die bisherige
klassische Theorie der Wahrheit als Adäquation auf nicht-formalisierte
Sprachen überhaupt anwende und für formalisierte Sprachen nicht präziser
439
Puntel, ebd., S. 56 f. Er bezieht sich dabei auf Tarskis Wahrheitstheorie, Tarski,
a.a.O., S. 278.
440
Vgl. meine Kritik der Kant’schen Darstellung und Lösung der Antinomien: Josef
Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit
der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundpro-
blem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.
441
Zum evidenten Widerspruch einer solchen Theorie zum Wesen des Erkennens und
ihrem Selbstwiderspruch vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit.
bestimme, und geht, von dieser Annahme ausgehend, dazu über, den
gigantischen Bereich aller in normaler Sprache gemachten Aussagen von
der Adäquationstheorie der Wahrheit auszuschließen und auch für die
formalisierten Sprachen eine radikal neue Auffassung der Anwendbarkeit
des Wahrheitsbegriffs einzuführen.
Die Unnötigkeit eines solchen weiteren Schritts kann man dadurch
aufzeigen, daß man eine Lösung für die Antinomien und logischen
Paradoxien bietet, die durchaus im Rahmen einer klassischen Wahrheits-
theorie als Theorie der Wahrheit von Aussagen im Rahmen dessen, was
Alfred Tarski ‚Umgangssprache‘ nennt, verbleibt. Doch unabhängig von
der Frage, ob Tarski oder wir in der Sicht dieser Frage recht behalten,
bleibt es ein gravierender methodologischer Fehler, durch eine allzu kurze
Erwähnung und ohne sorgfältige Untersuchung der Antinomienproblema-
tik eine so umwälzende und gefährliche These zu vertreten wie die der
Unhaltbarkeit eines Festhaltens am Adäquationsbegriff der Wahrheit in
den natürlichen Sprachen (ordinary language).
Eine weitere Problematik442 der Methode Tarskis ergibt sich daraus, daß
dieser von einer ‚Konstruktion‘ der Definition der Wahrheit spricht, anstatt
zu erkennen, daß eine Definition der Wahrheit nicht konstruiert werden
darf, sondern vom vorgegebenen Wesen der Wahrheit her abgelesen
werden muß. Wenn wir die rezeptive Struktur jeder und insbesondere jeder
philosophischen Erkenntnis verstehen, werden wir einsehen, daß eine
Darlegung dessen, was Wahrheit ist, welche zu den allergrundlegendsten
Gegebenheiten überhaupt gehört, unmöglich durch eine Konstruktion,
sondern vielmehr nur durch eine sorgfältige Untersuchung der intelligiblen
Gegebenheit, die wir Wahrheit nennen, erreicht werden kann. Wir müssen
das Wesen dieser einsichtigen Gegebenheit ‚Wahrheit‘ entdecken, zu
sehen lernen – und nicht konstruieren.
Auch der weitere methodologische Schritt Tarskis, „jedenfalls werde ich
mich bei dieser Konstruktion keines semantischen Begriffes bedienen,
wenn es mir nicht vorher gelingt, ihn auf andere Begriffe
zurückzuführen“,443 geht von einer unbegründeten und unbegründbaren
methodologischen Voraussetzung aus und enthält zwei fehlerhafte
442
Tarski, a.a.O., S. 265.
443
Tarski, a.a.O., S. 265.
444
Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik, „Die Lehre vom Begriff“,
ebd., S. 129-179; oder „Die Lehre vom Urteil“, ebd., S. 31-128.
445
Nicht von ‚Sätzen, obwohl Tarski in seiner doppeldeutigen Verwendung von
‚Satz‘ den sprachlichen Satz oft mit dem objektiv begrifflichen Urteilsgebilde zu
identifizieren scheint‘, und auch nicht von Urteilsakten, sondern von den
objektiven Urteilen (Urteilsinhalten), die aus Begriffen gebildet sind und etwas
behaupten.
meinen, die diese nur aus einer Beziehung zu unabhängig von ihnen
bestehenden Sachverhalten besitzen.
5) Oder meint Tarski gar mit ‚semantischem Begriff‘ bzw. mit
‚semantischer Wahrheitsdefinition‘ eine solche (semantisch-)strukturelle
Wahrheitsdefinition, die – entgegen dem üblichen Begriff von ‚seman-
tisch‘ – von den Bedeutungselementen der Sprache ganz absieht und die
Wahrheit ganz immanent für sprachliche Zeichen als solche definieren
will, wie wenn man sagen will: „Eine Aussage ist wahr, wenn in ihr das
erste Wort ‚wenn‘, das dritte ‚so‘ und das zweite und vierte identisch
sind“?
Diese letzte Bedeutung von semantisch, die auch Tarski selbst meist
nicht „semantisch“ nennt, obwohl er sie in dem Aufsatz „Der Wahrheits-
begriff in den formalisierten Sprachen“, welcher der Verteidigung einer
semantischen Wahrheitsdefinition gewidmet ist, behandelt, ist eigentlich
das Gegenteil dessen, was ursprünglich mit dieser Bezeichnung gemeint
werden soll.
Versteht man eine „semantische Wahrheitstheorie“ in diesem Sinn, der
eigentlich das Gegenteil des Sinnes von ‚semantisch‘ darstellt, so führt dies
dazu, daß man nach Tarskis eigener Aussage alle semantischen Elemente
der Sprache in den vorherigen Bedeutungen von „semantisch“ durch nicht-
semantische strukturelle ersetzen will.
Beckermann liefert eine gute Erklärung der Wende Tarskis von einer
semantischen Wahrheitstheorie (in den Bedeutungen 2-3, die weder Tarski
noch Beckermann untereinander und von 4 differenziert) zu deren
Reduktion auf nicht-semantische Begriffe (ein Ausdruck der den verschie-
denen Bedeutungen von semantisch entsprechend wiederum ganz verschie-
dene Bedeutungen besitzen kann). Seine Hauptthese steht im Einklang mit
unseren Ergebnissen in diesem Kapitel: Beeinflußt von Neuraths
skeptischer Kritik, habe Tarski die (letztlich widersprüchliche) Theorie
vertreten, daß die von ihm vorerst mit Entschiedenheit verteidigte und
formulierte semantische Wahrheitstheorie nur dann aufrechterhalten
werden könne, wenn aus ihr alle semantischen Wortbedeutungen eliminiert
würden.446
446
Eine Tarski’sche Position, die schon die diversen Redundanztheorien der Wahrheit
vorwegnimmt. Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittenstein, Neurath, et Tarski sur la
Wie soll aber auch nur in Hinsicht auf die ersten drei, geschweige denn
auf die vierte Bedeutung von ‚semantisch‘ eine derartige Reduktion von
Wahrheit auf nicht-„semantisch-strukturelle“ und rein strukturell-
sprachliche Bestimmungen, denkbar sein oder begründet werden, wie
Tarski dies vorschlägt? Ja ist nicht der Wahrheitsbegriff nicht nur
unreduzierbar auf nicht-semantische oder rein strukturell linguistische
Momente, sondern ein semantische Begriffe in allen Bedeutungen zwar
voraussetzender, aber notwendigerweise trans-semantischer Begriff? Der
Wahrheitsbegriff kann nämlich als solcher niemals auf der bloßen Ebene
von Zeichen, aber ebensowenig auf der reiner sprachlicher Bedeutungen,
auch nicht der ‚Meta-Bedeutungen‘ von Metasprachen, deren Gegenstand
andere Bedeutungen von Objektsprachen niedrigerer Ordnung sind,
sondern nur auf jener des Verhältnisses zwischen in der Sprache ausge-
drückten Urteilen und von diesen Urteilen verschiedenen Sachverhalten
begriffen und definiert werden?
Und wieso soll dieses Verhältnis der Bedeutung umgangssprachlicher
oder metasprachlicher Aussagen zu den in ihnen behaupteten und jenseits
ihrer selbst liegenden Sachverhalten nicht der Aufklärung fähig sein? Etwa
wegen der Antinomien, von denen uns nicht weiter gezeigt wird, daß sie
aus der Anwendung der klassischen Wahrheitsdefinition auf die Umgangs-
sprache folgen oder deshalb, weil von Tarski auf das seit der Antike
wohlbekannte Lügner-Paradox verwiesen wird? Soll ein flüchtiger
Hinweis auf dieses Paradox hier genügen, wo es um präzise Unterschei-
dungen und Analysen geht, durch die allein nachgewiesen werden könnte,
daß das Antinomienproblem sich im Rahmen der auf Urteile, die in der
natürlichen Sprache (ordinary language) ausgedrückt werden, angewandten
klassischen Wahrheitsdefinition nicht lösen läßt?
In einer von Puntel zu Recht wiederholt bemängelten Ambiguität sagt
Tarski auf derselben Seite, er wolle eine präzise Wahrheitsdefinition geben
451
Vgl. dazu David DeVidi, Graham Solomon, “Tarski on ‚Essentially Richer’
Metalanguages”, Journal of Philosophical Logic, (1999); 28 (1): 1-28. Vgl. auch
Elke Brendel, in: Georg Meggle, (Hrsg.) „Was können wir über das Wissen
wissen? Erkenntnistheoretisches aus semantischer Perspektive“ in: Analyomen 2,
Vol. I: Logic, Epistemology, Philosophy of Science (Hawthorne: de Gruyter,
1997).
452
Tarski, a.a.O., S. 266.
fähig sein? Schon durch ein bloßes Aufwerfen dieser Frage hätte Tarski
einsehen können, wie wenig begründet seine diesbezüglichen Äußerungen
waren und daß sich seine Position selbst widerspricht. Denn der Sinn und
die Wahrheit seiner eigenen Darlegungen setzt notwendig voraus, daß
deren Wahrheit ein klar gegebenes und der Aufklärung fähiges Wesen
besitzt, das es erlaubt auch in der Objektsprache und Umgangssprache L
ausgedrückte Urteile, ja jedes Urteil überhaupt, als wahr oder falsch zu
erkennen.
Wir wollen uns also im Folgenden von solchen Voreiligkeiten und
methodologisch-reduktionistischen und dogmatischen Voraussetzungen
freihalten und das Problem, ob Tarskis Wahrheitsdefinition haltbar ist, mit
den Sachen selbst konfrontieren.
Tarski geht von der Meinung aus, daß von allen bisher gegebenen
Formulierungen der Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie der Wahr-
heit die semantische Definition die natürlichste sei: „Eine wahre Aussage
ist eine Aussage, welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten,
und die Sachen verhalten sich eben so und so.“ (268) Während ich dies den
additiv-repetitiven Charakter seiner Wahrheitstheorie nennen möchte,
reden manche andere Autoren vom enumerativen Charakter der
Tarski’schen Wahrheitstheorie453 und üben daran Kritik. Von dort gelangt
Tarski zu seinem berühmten allgemeinen Wahrheitsschema: „X ist eine
wahre Aussage dann und nur dann, wenn P“ (268), wobei X der Name für
irgendeine Aussage ist und P eben diese Aussage (sic!) sein soll. Als
Beispiel, das diese leere Formel inhaltlich füllt, bringt Tarski im selben
Aufsatz das berühmte Beispiel „‚es schneit‘ ist dann und nur dann wahr,
wenn es schneit.“ (269)
453
Vgl. Bo Mou, “The Enumerative Character of Tarski’s Definition of Truth and Its
General Character in a Tarskian System”, Synthèse, (2001) January; 126 (1-2): 91-
121. Vgl. auch Jaakko Hintikka, “Theories of Truth and Learnable Languages” in:
S. Kanger, (Ed), Philosophy and Grammar, (Boston: Reidel, 1981), S. 37-58.
454
Zur Idee einer rein logischen Grammatik vgl. neben Edmund Husserl, Logische
Untersuchungen II, I, 2, auch Josef Seifert, Wahrheit und Person..
457
Vgl. dazu Puntel, S. 70 ff. Vgl. auch Anil Gupta und Nuel Belnap, The Revision
Theory of Truth (Cambridge, MA: MIT Press, 1993). Gupta und Belnap beziehen
sich ausdrücklich und vollständig auf Tarskis semantische Wahrheitsdefinition
und sein Beispiel vom „Schnee“ (vgl.a.a.O., S. 3 ff.). Obwohl sie behaupten (S. 28
ff.), daß sie „disquotationalism“ und „deflationalism“ im Verhältnis zur Wahrheit
ablehnen, gelangen sie zu einer ähnlichen Auffassung des „Intensionalismus“,
dem zufolge die Satzpaare „Schnee ist weiß“ und „es ist wahr, daß Schnee weiß
ist“, „intensional äquivalent“ seien. (A.a.O., S. 28). So ist es schwer, ihre
Revisionstheorie der Wahrheit klar von der Redundance-Theory of Truth und von
einer deflationären Wahrheitstheorie zu unterscheiden. Auch was die Resentential-
theorie der Wahrheit, die von manchen Autoren als Alternative und Korrektur der
Redundanztheorie vorgeschlagen wird, sein soll, bleibt verworren. Vgl. Winfried
Franzen, „Zur neueren Wahrheitsdiskussion. Redundanztheorie versus Korrespon-
denztheorie der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Jänner-März
1981), 35, 73-89; ders., Zur Redundanztheorie der Wahrheit: Ein historischer und
systematischer Überblick“, Conceptus, Erster Teil 12 (1978), 54-69; Zweiter Teil
13 (1979), 47-62.
458
Black hat eine ähnliche Kritik vorgebracht. Nach seiner Meinung hat Tarski eine
Definition vorgelegt, die den Philosophen keineswegs befriedigen kann, indem sie
keinerlei allgemeine Definition oder Bestimmung des Wesens der Wahrheit
beinhalte, sondern nur eine Gruppe von Sätzen identifiziert, die wahr seien. Vgl.
M. Black, “The Semantic Definition of Truth”, Analysis (8/1948), 49-63. Vgl.
dazu auch Puntel, a.a.O. S. 65.
459
Vgl. Puntel, a.a.O. S. 47-69.
Namen nennen, von denen sich aus dem Zusammenhang ergibt, daß sie
nach Tarskis Meinung drei Funktionen erfüllen sollen460:
(1) Einmal sollen sie eigentlich nicht bloße Namen, sondern Aussagen
oder zumindest zusammengesetzte Begriffe sein, die angeben, aus welchen
Buchstaben, Konsonanten oder Vokalen einzelne Worte bestehen. Tarski
selbst bringt das Beispiel461 „so entspricht z.B. dem Namen ‚Schnee‘ der
Name: ‚ein Wort, das aus den sechs aufeinanderfolgenden Buchstaben: ES,
C, HA, EN, E, E besteht‘“.462
(2) Zweitens sagt Tarski in anderem Zusammenhang, sie sollen ‚Namen
sein, die beschreiben‘, d.h. Aussagen oder zusammengesetzte Begriffe,
welche die Ordnung der Aufeinanderfolge von Worten beschreiben. Tarski
kommt in Hinsicht auf diese Art von ‚beschreibenden Aussagenamen‘
manchmal zu einer rein immanent linguistischen Wahrheitsdefinition, die
nur noch die Satzstrukturen und Aussagenamen in diesem Sinne bzw. die
Aussageformen betrachtet und von ihnen Wahrheit aussagt, etwa wenn er
sagt: „Eine Aussage ist wahr, wenn das erste Wort in ihr ‚wenn‘, das dritte
‚dann‘, und das zweite und vierte Wort identisch sind.“ Ein solcher
deskriptiver Name gibt die formal-linguistische Struktur eines Satzes und
das Vorkommen zweier inhaltlich bestimmter Worte und einer Variablen
in ihm an. Dabei wird – durch die Beschränkung Tarskis auf formalisierte
Sprachen – zunächst von der erwähnten Vieldeutigkeit der normalen
Sprache abgesehen, in der einerseits jedes Wort verschiedene Bedeutungen
haben und deshalb derselbe Satz in einer Sprache (bzw. in einem
Wortverständnis) wahr, in einer anderen nicht wahr sein kann, und in der
andererseits ganz verschiedene sprachliche Ausdrücke dieselbe Wahrheit
ausdrücken können. So drückt etwa der Ausdruck ‚der Hund bellt‘
denselben Gedanken wie ‘the dog is barking’ aus, einen Gedanken, der
gerade dann wahr ist, wenn der gemeinte Hund bellt bzw. weil der hier
behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht.
Schon aus diesem doppelten Grund der Möglichkeit, denselben
Gedanken in verschiedenem sprachlichen Gewand, und in derselben
sprachlichen Formulierung ganz verschiedene Gedanken, auszudrücken, ist
460
Tarski, a.a.O., S. 269 f.
461
Ebd., S. 270.
462
Ebd., S. 270.
463
Ich halte mit anderen Autoren den von Tarski verwendeten Ausdruck ‚Umgangs-
sprache‘ hier für weniger glücklich, weil er mehr den Gegensatz zur Hochsprache
als den zu einer formalisierten und durchdefinierten Sprache, in welcher die
beiden erwähnten Eigenschaften der normalen Sprache wegfallen, zum Ausdruck
bringt und eher das heißt, was die englische Sprache ‚slang‘ nennt. Damit
verdeckt der Ausdruck aber, was Tarski beabsichtigt: nämlich von allen nicht
formalisierten Sprachen zu reden.
464
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.. Vgl. auch Josef Seifert,
“Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects
and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary
Work of Art”, in: Roman Ingarden a filozofia noszego czasu.
465
Hier werden von ihm die Sachverhalte als ‘truth-makers’ begriffen. Vgl. Peter
Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
466
Tarski, ebd., S. 270.
(1) Das erste Gesetz besagt, daß jede Aussage wahr sei, die aus vier
Teilen bestehe: nämlich aus (a) dem Wort wenn, (b) einer Aussage X, (c)
dem Wort dann, (d) derselben Aussage wie b: X.
Dieses Gesetz sieht ganz davon ab, daß hier erstens vorausgesetzt wird,
daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der Worte handelt, daß
zweitens dieses Gesetz viele andere Voraussetzungen hat und außerdem
nicht absolut gilt, und daß drittens ein solches oder ähnliches ‚Gesetz‘
keineswegs die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher Gesetze
besteht und worin sie gründet. Es ist aus Tarskis eigener Bemerkung, daß
dieselbe linguistische Einheit in einer Sprache ein wahres Urteil, in einer
anderen ein falsches ausdrücken und in einer dritten eine sinnlose
Aneinanderreihung von Lauten sein kann, klar, daß dieses Gesetz nicht von
den Sätzen im Sinne linguistischer Einheiten als solchen gilt, sondern nur
von ihren jeweiligen Bedeutungen und ganz bestimmten Bedeutungen der
Begriffe, die die Aussage X ausmachen. Zweitens ist die Wahrheit dieses
Gesetzes dadurch bedingt, daß es sich nicht um in sich widersprüchliche
und unmögliche Aussagen handelt, die gar keinen Bezug zur Wirklichkeit
bzw. zu tatsächlich bestehenden Sachverhalten haben können. Drittens
beantwortet dieses Gesetz gar nicht die Frage, worin diese Wahrheit
besteht bzw. worin sie gründet. Es würde sich zeigen, daß diese Wahrheit
ähnliche Grundlagen hat wie die notwendige Wahrheit analytischer und
anderer nicht-informativer Sätze, wie sie Fritz Wenisch und andere
Philosophen eingehend untersucht haben.467
(2) Tarski formuliert im zitierten Satz auch ein zweites Gesetz, das nicht
von Aussagen als solchen spricht, sondern von einer Aussage einer
bestimmten Struktur mit „wenn“ und „dann“, die zugleich zwei identische
(gleichlautende) Aussagen in sich enthält, von denen die erste im „wenn-
Satz“ als wahr behauptet wird. Daraus folgt logisch die Wahrheit der
Aussage als ganzer, wie Tarski sie charakterisiert. Auch hier führt Tarski
den Grund für die Wahrheit dieser Aussage nicht an; noch viel weniger
erklärt er ihre Wahrheit.
467
Vgl. Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the
Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily
True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107-197.
Diese Wahrheit gründet objektiv eben darin, daß die Wahrheit einer
genau (auch zeitlich und hinsichtlich aller Umstände) bestimmten Aussage
notwendig die Wahrheit jeder genau gleichen Aussage (Proposition)
impliziert. Deshalb ist es auch wahr, daß wenn X (eine bestimmte
Aussage) wahr ist, dann auch X (dieselbe bestimmte Aussage) wahr ist.
Deshalb ist auch die allgemeine Aussage, die den von Tarski gemeinten
logischen, aber von ihm unzureichend und rein linguistisch beschriebenen
Charakter hat und von allen wahren Aussagen X, die mit wahren Aussagen
X identisch sind, Wahrheit aussagt, ebenfalls wahr. All diese nicht-
informativen Aussagen (wenn es wahr ist, daß es schneit, ist es wahr, daß
es schneit, etc.) sind, allerdings nur unter der stillschweigenden
Voraussetzung, daß es sich bei ‚X‘ um eine sinnvolle (im Gegensatz zu
‚gibberisch‘) und nicht-widersprüchliche Aussage handelt, notwendig wahr
und stimmen notwendig mit Sachverhalten überein – auf Grund ihrer
Struktur einerseits und aufgrund der Wahrheit des Identitäts- und
Widerspruchsprinzips, andererseits.
Wiederum zeigt sich, wie negativ es sich philosophisch auswirkt, wenn
Bedingungen der Wahrheit, wie z.B. die strukturelle analytisch-
tautologische Natur eines Satzes, mit einer Beschreibung der Natur der
Wahrheit verwechselt werden. Denn solche ‚Sätze‘ sind genauso wie alle
anderen Urteile eben nur deshalb wahr, weil die in ihnen gesetzten
Sachverhalte notwendig bestehen – was in ihrem Fall durch ihre
strukturelle Natur (als Urteile, nicht als Sätze) gewährleistet ist.468
Alexander Pfänder hat in seiner Logik469 gerade diesen Punkt geklärt
und die hier liegenden Sachverhalte einer ungleich genaueren philoso-
phischen Klärung unterzogen als Tarski. So formuliert Tarski das Gesetz:
jeder Ausdruck, der aus vier Teilen besteht, von denen den ersten das Wort
„wenn“, den dritten das Wort „so“, den zweiten und den vierten dieselbe
Aussage bildet, ist eine wahre Aussage;
468
Wie wir gleich sehen werden, gilt dies nicht absolut, da auch analytische Urteile
noch weitere Wahrheitsbedingungen außer ihrer Form haben: z.B. die nicht-
widersprüchliche Natur des Subjektsbegriffs und des Verhältnisses zwischen
Subjekt und Prädikat.
469
Pfänder, Logik, S. 31 ff.; 69 ff.
Dieses Gesetz über Sätze sieht ganz davon ab, daß hier erstens
vorausgesetzt wird, daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der
Worte handelt und nicht um verschiedene Bedeutungen, die nur in
denselben sprachlichen Ausdrücken gemeint werden, was Tarski ja zugibt,
indem er sein Gesetz nur für formale Sprachen mit präzise definierten
Symbolen behauptet; und daß zweitens ein solches ‚Gesetz‘ keineswegs
die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher analytischer Aussagen
besteht. Diese Wahrheit besteht eben darin, daß solche Aussagen, die den
von Tarski gemeinten logischen, aber von ihm unzureichend und rein
linguistisch beschriebenen konditional-analytischen Charakter haben, unter
den oben genannten Voraussetzungen notwendig mit Sachverhalten
übereinstimmen – auf Grund ihrer Struktur einerseits und aufgrund des
Identitäts- und Widerspruchsprinzips andererseits.
Drittens wird von Tarski‘s angeblichem ‚Gesetz‘ übersehen, daß solche
von ihm beschriebenen Sätze und auch die in diesen ausgedrückten Urteile
keineswegs notwendig wahr sind, was anzunehmen allerdings zu
Antinomien führen würde, auch in den formalisierten Sprachen, sondern
daß sie vielmehr ausschließlich dann wahr sind, wenn die betreffenden
Sachverhalte, die den „gleichen Aussagen“ (welche den zweiten und
vierten Teil dieser Gesamtaussagen bilden) entsprechen, selbst möglich
sind und keinen notwendigen Sachverhalten widersprechen, und wenn sie
insbesondere nicht in sich selber widersprüchlich sind oder
widersprüchliche Begriffe enthalten, wie etwa der Satz „wenn jemand, der
immer lügt, die Wahrheit sagt, so sagt jemand, der immer lügt, die
Wahrheit“. In dieser Variante des Lügner-Paradoxes, wenn sie in Tarskis
Form angeblich immer wahrer Sätze gegossen wird, ist die Gesamtaussage
keineswegs wahr, weil die beiden Aussageteile (der zweite und vierte Teil)
gar nicht wahr sein können und im Sinne einer logischen Paradoxie gerade
dann falsch wären, wenn sie wahr wären. Denn auch die notwendige
Wahrheit analytischer oder hypothetischer Urteile der angegebenen Sorte
ist nicht unabhängig von bestimmten ontologischen Voraussetzungen wie
der Möglichkeit (Nichtwidersprüchlichkeit) der von solchen analytischen
Urteilen gesetzten Sachverhalte und der in ihnen enthaltenen Begriffe. So
sind die analytischen Sätze ‚Alle existierenden viereckigen Kreise
existieren‘ oder ‚alle viereckigen Kreise sind viereckig‘ falsch, weil die in
solchen Urteilen entworfenen Sachverhalte unmöglich sind und die
Auch die langen Ausführungen Tarskis darüber, wie man vom Beispiel
„es schneit“ und von den Umständen, unter denen diese Aussage wahr ist,
aus über eine Aussagenvariable zu einer allgemeinen Wahrheitstheorie
kommen könne (272), zeichnen sich mehr durch unnötige Komplikationen
als durch philosophische Klärung des Sinnes von Wahrheit aus. Es zeigt
sich im Verlauf seiner Untersuchungen immer deutlicher,471 daß Tarski
nicht zu einer philosophischen Untersuchung der Natur der Wahrheit
vordringt und insbesondere nicht nach deren Wesen und Träger fragt.
Offenbar hält er Worte oder auch strukturell-deskriptive Namen für die
Träger von Wahrheit, was offensichtlich nicht stimmt, da dieselben
Bedeutungen in zahllosen verschiedenen Sprachen und Namen ausge-
drückt werden können und – ebenso evidenterweise – niemals sprachliche
Sätze, sondern nur die in ihnen ausgedrückten komplexen Bedeutungs-
einheiten (die Urteile) wahr sein können. Auch unterscheidet Tarski nicht
zwischen der Angabe strukturell-deskriptiver Namen bzw. Aussagen, die
(als analytische oder andere nicht-informative Urteile) wahr sein müssen,
und einer Definition der Wahrheit. Angesichts dieser philosophischen
Unklarheiten ist es schwer zu verstehen, wie Tarskis Auffassung der
Wahrheit zu solchem Ruhm gelangte. Denn weder die logischen Gesetze
und Träger, noch das Wesen der Wahrheit werden von ihm einer Klärung
470
Tarski, a.a.O., S. 277 f.
471
Vgl. vor allem ebd., S. 273 f.
1.6. Tarski über wahre und beweisbare Sätze und seine Annäherung an den
Begriff der Wahrheit als Adäquation mithilfe seines Begriffs des
‚Erfülltseins‘ und Bedenken gegen diesen Ersatz der Idee der
Korrespondenz
setzt (307 ff.). Was aber soll an diesem Begriff gegenüber jenem der
Übereinstimmung mit den Sachverhalten klarer oder deutlicher sein, was
soll durch ihn gewonnen werden? Schon daraus, daß Tarski den Fall im
Auge hat, in dem eine gegebene Aussagefunktion nur eine freie Variable
enthält und von jedem einzelnen Gegenstand, für den die Gleichung gilt,
sinnvoll behauptet werden kann, daß er die gegebene Funktion erfülle
(308), zeigt sich, daß das Erfülltsein in Tarskis Sinn in diesem Zusammen-
hang nicht Wahrheit zu definieren vermag. Denn Wahrheit ist erstens von
der Anwendbarkeit der Gleichung oder eines Axioms auf einen einzelnen
Fall verschieden. Zu sagen, daß die Lichtstrahlen unter die Postulate nicht-
euklidischer Geometrien fallen, daß es „zur Geraden gar keine oder
unendlich viele Parallelen gibt“, oder daß für sie die Formel gelte Xy (wo y
„gerade Linie“ bedeutet) = , ist keineswegs dasselbe wie zu sagen, „es ist
wahr, daß es zu einer gegebenen Geraden (oder zu einem Lichtstrahl)
unendliche viele (oder gar keine) Parallelen gibt“, oder zu sagen „die
Ausdehnung einer geraden Linie ist unendlich“. Dasselbe gilt erst recht,
wenn die Formel nicht mathematischer Natur ist, sondern sich etwa nur auf
konventionell festgelegte Dinge, wie Spiele, bezieht. Die Anwendbarkeit
einer Formel auf ein Endspiel eines Schachspiels bedeutet nicht, daß dieses
Spiel oder die in ihm konventionell festgelegten Regeln „wahr“ sind.
Wenn Erfüllung gar nur die Einsetzbarkeit eines Namens in eine Gleichung
mit einer Variablen bedeutet, so hat dies offenbar nichts mit Wahrheit zu
tun, bzw. unterscheidet sich radikal von der Übereinstimmung mit
bestehenden Sachverhalten, die allein die Wahrheit eines Urteils zu
begründen bzw. darzustellen vermag. Damit zeigt sich auch die Unklarheit
des Ausdrucks und Begriffes des ‚Erfülltseins‘ und wie wenig dieser
geeignet ist, den klassischen Adäquationsbegriff zu ersetzen.
Auch aus einem weiteren Umstand geht hervor, daß der Begriff des
Erfülltseins (334 ff.) ungleich unklarer als jener der Korrespondenz oder
Adäquatio ist, obwohl auch diese der Klärung bedürfen. Das ‚Erfülltsein‘
gibt es ja auch im Falle von Spielen, die nichts mit Wahrheit und
Übereinstimmung mit Sachverhalten zu tun haben, etwa bei Schachspielen,
in denen einzelne Partien die Regeln und andere schachliche Gesetze oder
Ratschläge eines Meisterspielers erfüllen.472 Erfüllen in dem weiten
472
Vgl. Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2.
Tarskischen Sinne hat also nichts mit Wahrheit zu tun und ist außerdem ein
viel allgemeinerer Begriff, von dem das Erfülltsein einer Aussage durch
den ihr entsprechenden Sachverhalt höchstens eine mögliche Form ist.
Also kann unmöglich die Erklärung von Wahrheit durch den Begriff des
Erfülltseins als Fortschritt in der Klärung des Wahrheitsbegriffes gelten.
Das Einfache, zu klären, was die Wahrheit eines Urteils ist, wird von
Tarski nicht vollbracht, sondern andere allgemeinere Dinge werden erklärt.
Er selbst gibt zu, daß der Begriff des Erfülltseins durchaus mehrdeutig
ist,473 bestimmt aber weder diese vielen Bedeutungen klar noch hält er sie
de facto für getrennt. Dabei zeigen sich rasch die Folgen dieser Verwirrung
für die Wahrheitstheorie (347 ff.).
Noch an einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nehmen wir Anstoß,
an seiner atomistischen Erklärung von Allgemeinurteilen. Wenn er etwa
die Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von
endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine
gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann löst er den Wahr-
heitsanspruch eines Universalurteils in den aller einzelnen Aussagen, die
unter ihn fallen, auf. Ist dies jedoch haltbar? Spricht jedes Universalurteil,
auch wenn es nicht die Form eines Allsatzes, sondern scheinbar die eines
Singulärurteils annimmt, wie „der Mensch ist sterblich“ oder „die Gerade
ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten“, wirklich nur von den
konkreten einzelnen individuellen Fällen, auf die es hinweist? Hat es nicht
selbst einen allgemeinen Sachverhalt zum Gegenstand? Ist daher nicht
auch sein Wahrheitsanspruch ein einfacher und nicht einer, der sich in eine
potentiell unendliche Vielfalt individueller Urteile auflösen oder auf diese
reduzieren ließe, was vielleicht auf andere Universalurteile wie „jeder
Mensch in diesem Haus besitzt einen Paß“ zutrifft? Jedes singuläre Urteil,
indem es einen Namen oder ein Demonstrativpronomen verwenden muß,
um einen individuellen Sachverhalt, und jedes Partikularurteil, das
allgemeine Begriffe niedrigerer Ordnung, also spezifischerer Art, enthält,
473
Tarski, a.a.O., S. 346.
474
Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, S. 383.
475
Tarski, a.a.O., S. 313, Definition 23.
476
Ebd., § 1; vgl. auch ebd., S. 314.
1.8. Kritik an Tarskis Verwechslung von Wesen und Kriterium der Wahrheit
und an der These, das Widerspruchsprinzip folge aus der
Wesensbestimmung der Wahrheit statt umgekehrt von dieser vorausgesetzt
zu sein, sowie an der These, die Klasse aller wahren Sätze bilde ein
widerspruchsfreies deduktives System
477
Tarski, ebd., S. 359: „Diese beiden Sätze...zeigen, daß die Klasse aller wahren
Aussagen ein widerspruchsfreies und vollständiges deduktives System bildet.“
478
Vgl. Etwa Tarski, ebd., S. 359 ff.
479
Ebd., S. 359.
besteht, eine andere Wahrheit sei oder anders definiert werden müsse als
die von Tarski als semantische bezeichnete.480
Fassen wir noch einmal die Hauptpunkte unserer Kritik der Wahrheits-
theorie Tarskis zusammen:
480
A.a.O., S. 360.
würde jedoch gerade nicht das zum Ausdruck gebracht, was Wahrheit ist,
sondern nur eine notwendige oder hinreichende Bedingung derselben, die
von ihrem Wesen zu unterscheiden ist, wie wir schon in früheren Kapiteln
über Brentano, die Kohärenz- und die Konsenstheorie der Wahrheit
gesehen haben.
Um zum Ausdruck zu bringen, worin Wahrheit besteht, muß auf die
spezifische Struktur des Urteils und auf jenes Zusammentreffen der
urteilenden Setzung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten dieses
Sachverhalts bzw. mit dem Verhalten der Sachen selbst, zum Ausdruck
gebracht werden.
2. Weil Tarski diese schlichte und evidente Tatsache, das Wesen der
Wahrheit, niemals zum Ausdruck bringt, sieht er sich gezwungen, eine
ungeheuer komplizierte Theorie der Wahrheit verschiedener Sprachen und
verschiedener Ansatzpunkte zu entwickeln und viele Wahrheitsdefini-
tionen (die ‚semantische‘ additiv-repetitive, die enumerative, die durch das
„Erfülltsein“, die strukturelle, usw.) zu entwerfen, anstatt in die schlichte
Gegebenheit dessen einzudringen, was Wahrheit ist und was, wie er selber
sagt, jedermann in seiner vorphilosophischen Erkenntnis bekannt ist.
Wahrheit in diesem Sinn ist letztlich eine schlichte Urgegebenheit, die
einfach zu fassen ist; und sie ist prinzipiell genau dasselbe in formalisierten
Sprachen, in der Umgangssprache und in Metasprachen jeder Ordnung.
3. Der eigentliche Träger der Wahrheit, die komplexe Bedeutungs-
einheit und jenes besondere objektive Gedankengebilde des Urteils, das
allein wahr und falsch sein kann, wird von Tarski nicht deutlich, wenn
überhaupt, als solches gefaßt. Das Urteil als Träger der Wahrheit wird mit
dem Satz, dem sprachlichen Gebilde, das nur der Leib des Urteils ist,
welches durch den Satz ausgedrückt wird, identifiziert.
4. Deshalb gelangt Tarski unserem Urteil nach zum Irrtum, daß die
Wahrheit eines Urteils bzw. eines Satzes nur relativ auf die jeweilige
Sprache sei, was eben nur von der Sprache, die von Wortdefinitionen und
vom Wortgebrauch abhängt, nicht von Urteilen und Bedeutungseinheiten
gilt. Tarski verkennt, daß die Wahrheit überhaupt nicht von Sätzen,
sondern von den in ihnen ausgedrückten Urteilen getragen wird. Diesen
kommt jedoch Wahrheit im absoluten und nicht in einem relativen Sinne
zu. Ein Urteil, d.h. ein ganz bestimmtes Bedeutungsgebilde, kann nur
entweder wahr oder falsch sein, und ist dies absolut nicht in Abhängigkeit
von irgendeiner Sprache oder einem Sprechenden.
5. Aus den erwähnten Schwächen ergibt sich ferner der monströse, die
ganze Philosophie und alle Wissenschaften, die sich nicht formalisierter
Sprachen bedienen, erschütternde Gedanke, daß Tarski glaubt, für die
Umgangssprache könne überhaupt keine klare und tragfähige Definition
der Wahrheit von Urteilen gegeben werden. Darin irrt er, weil für jedes
Urteil, ganz gleich, ob es in symbolischer oder formalisierter Sprache, oder
in der Umgangssprache (normalen bzw. einfach nicht-formalisierten
Sprache) formuliert wird, für jedes behauptende Gedankengebilde, das wir
als Urteil bezeichnen, in genau gleicher Weise die Definition bzw. das
Wesen von Wahrheit gilt: jedes solche Urteil, inklusive dieses, setzt bzw.
behauptet seiner Natur nach einen Sachverhalt und erhebt damit einen
Wahrheitsanspruch, d.h. erhebt den Anspruch, in seiner behauptenden
Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen übereinzustimmen bzw.
zusammenzutreffen.
6. Es zeigt sich der Irrtum in Tarskis These, für die in normaler Sprache
formulierten Aussagen lasse sich keine klare Wahrheitsdefinition geben,
ferner daraus, daß seine eigene Theorie völlig an die Anwendbarkeit und
das Verständnis von Wahrheit innerhalb nicht-formalisierter Sprachen
gebunden ist. Für seine eigenen Aussagen beansprucht Tarski, daß sie wahr
sind und zwar genau deshalb, weil seine in umgangssprachlichen Sätzen
ausgedrückten Gedanken mit dem Selbstverhalten der Sachen übereins-
timmen. Diese ganz besondere Form und dieser irreduzible Modus der
Übereinstimmung bzw. Korrespondenz macht Wahrheit aus. Indem aber
Tarski dies und die Wahrheit seiner umgangssprachlich ausgedrückten
Urteile, auf denen seine Theorie aufbaut, voraussetzt, widerspricht er sich
selbst.
7. Von daher ergibt sich die Kritik der Idee einer Konstruktion eines
Wahrheitsbegriffs, was dem Wesen der rezeptiven Erkenntnis widerstrei-
tet. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, worin Wahrheit objektiv
besteht.
8. Der sogenannte ‚semantische Wahrheitsbegriff‘ ist nicht semantisch
und eine semantische Wahrheitsdefinition ist unmöglich, weil Wahrheit –
welchen Begriff von ‚semantisch‘ man auch zugrundelegt – immer trans-
481
Darauf weist Tarski selbst (a.a.O. S. 347) hin.
deskriptiver Namen von Aussagen und vor allem von jenen Aussagen, die
aufgrund ihrer formalen Struktur, als analytische oder andere nicht-
informative hypothetische Urteile, wahr sind. Die Angabe von
Bedingungen, unter denen Urteile einer bestimmten Art wahr sind, hat
nichts mit einer Bestimmung des Wesens bzw. mit einer Definition von
Wahrheit zu tun, sofern Wahrheit sich überhaupt durch Angabe ihrer
wesentlichen Merkmale (und nicht durch Erklärung anderswoher schon
verständlicher und erklärbarer Begriffe) definieren läßt.482
12. An einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nahmen wir Anstoß,
an seiner atomistischen Erklärung allgemeiner Urteile. Wenn er etwa die
Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von
endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine
gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann verquickt er Sinn
und Wahrheitsanspruch universaler, partikulärer und singulärer Urteile und
löst den Wahrheitsanspruch eines Universalurteils fälschlich in den aller
einzelnen Aussagen, die unter ihn fallen, auf, wie wir dargelegt haben.
13. Ebenso kritisierten wir seine Verwechslung zwischen der Frage
nach dem Wesen der Wahrheit mit der Feststellung hinreichender
Bedingungen für Wahrheit.
14. Dabei ist die noch grundsätzlichere Kritik angebracht, daß der
Versuch einer Wahrheitsdefinition selbst problematisch ist und eine
Tendenz zum Reduktionismus enthält. Im letzten, weil es sich bei der
Urteilswahrheit um ein irreduzibles Datum einer einzigartigen Form von
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit handelt, kann Wahrheit auch nicht
durch irgendetwas anderes oder als etwas anderes als sie selbst definiert
werden.483 Dennoch kann sie in einem Sinn ‚definiert‘ werden, den Tarski
gerade versäumt, indem nämlich in eindeutiger und unmißverständlicher
Weise auf jene besondere Form der Korrespondenz, das Zusammentreffen
zwischen behauptender Setzung eines Sachverhalts im Urteil und dem
Selbstverhalten dieses Sachverhalts, hingewiesen und in diesem Sinne die
Wahrheit als Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit oder mit
den von ihm selbst unabhängigen Sachverhalten, definiert wird. Und genau
482
Vgl. Tarski S. 270 ff.
483
Auch darauf weist Tarski selber an manchen Stellen hin.
484
Vgl. Etwa Tarski, a.a.O. S. 265.
485
Tarski, a.a.O. S. 369.
486
Tarski, a.a.O. S. 369.
487
Vgl. Alfred Tarski, Logic, Semantics, and Metamathematics (Oxford: Oxford
University Press, 1956).
488
Vgl. Donald Davidson, “The Emergence of Thought”, Erkenntnis (1999); 51 (1):
7-17. Vgl. auch Hannes Leitgeb, “Truth As Translation – Part A”, Journal of
Philosophical Logic, (2001), August; 30 (4): 281-307; ders., “Truth As
Translation – Part B”, Journal of Philosophical Logic, (2001), 2001 August; 30
(4): 309-328. Vgl. ebenfalls Wolfgang Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und
die Idee der Semantik. Eine Einführung in die Theorien von A. Tarski und R.
Carnap (Wien 1957; zweite unveränderte Aufl., 1977), S. 38 ff. Vgl. auch John F.
Crosby, “Refutation of Skepticism and General Relativism”, in: D. von
Hildebrand, (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 103-123; sowie Josef
Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit
der Wirklichkeit – trotz Kant; auch in einer vom Autor revidierten und korrigierten
Version auf Spanisch erschienen: Superación del escándalo de la razón pura. La
ausencia de contradicción de la realidad, a pesar de Kant. Biblioteca filosófica
“El Carro Alado”. Traducción Rogelio Rovira (Madrid: Ediciones Cristianidad,
2007); sowie ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller
Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.
in der Sätze über die Sprache vorkämen, über die diversen Satzteile,
Strukturen etc. der Objektsprache. So gehöre insbesondere jeder Satz, in
dem die Ausdrücke ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ vorkommen, der Metasprache
an.489 Weiters unterscheidet man Metasprachen verschiedener Ordnung
(M1, M2, M3, etc.). In einer Metasprache zweiter Ordnung würden z.B.
Sätze über Sätze vorkommen, in denen die Wahrheit oder Falschheit
anderer Sätze der Objektsprache behauptet werden. Vermeide man strikte,
das, was in der Metasprache über die Objektsprache gesagt werde, auf die
Sätze der Metasprache selbst anzuwenden, so ließen sich die logischen
Paradoxien vermeiden. Gerade dieses Verbot, irgendeinen Satz der
Metasprache über ‚alle Sätze‘ oder ‚die Wahrheit aller Sätze‘ auf sich
selber oder auf andere Sätze der Metasprache anzuwenden, führt zu jener
im Titel dieses Abschnitts als Dichotomie bezeichneten Trennung beider,
die ich als unbegründet und falsch ablehne, was ich eingehend begründen
werde.
Wenn Tarski meint, seine Kritiker dadurch abtun zu können, daß die „in
ihrer alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit an die Anwendung deduktiver
Methoden nicht gewöhnten Philosophen geneigt seien“, „alle formalisier-
ten Sprachen mit einer gewissen Geringschätzung zu behandeln, indem sie
diesen ‚künstlichen‘ Gebilden die einzige natürliche Sprache – die
Umgangssprache gegenüberstellen“,490 dann irrt sich unser Autor wieder.
Zwar mag es Philosophen geben, die alle formalisierten Sprachen mit
Geringschätzung behandeln. Dies ist aber keineswegs für das Suchen nach
einer universalen Bedeutung von Wahrheit in allen formalisierten und
Umgangssprachen vorausgesetzt; erst recht nicht dafür, um die Existenz
einer einheitlichen Bedeutung von Wahrheit auf allen sprachlichen
Ebenen, und universaler logischer Gesetze, die für sie alle gleichermaßen
gelten, zu behaupten.
Wenn daher Tarski fordert, um eine auf seinem Weg aufgebaute Theorie
der Wahrheit als widerspruchsfrei zu erkennen, daß jeweils die
Metasprache höherer Ordnung widerspruchsfrei sei, auf deren Boden man
eine zutreffende Definition der Wahrheit aufstelle und aus ihr diejenigen
Sätze, welche in der Theorie der Wahrheit als Axiome angenommen
489
W. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39.
490
Tarski, a.a.O., S. 392.
keiner Begründung durch Beweis fähig und bedürftig sind und zugleich für
sämtliche mögliche Systeme jeder möglichen Ordnung gelten. Wenn man
einmal erkennt, daß aus dieser Annahme keineswegs die von R. Carnap,
Gödel und Tarski angenommenen Antinomien folgen,496 so haben wir die
Grundlagen für eine erforderliche post-gödelsche und post-tarskische
Wissenschaftstheorie und Auflösung der Antinomien gelegt. Sicher
müßten unsere Grundthesen und, wie wir meinen, Einsichten weiter
entfaltet, begründet und erforscht werden.497 Doch mag das hier Gesagte
zumindest dafür ausreichen, um zu erkennen, daß die von Gödel, Tarski
und anderen Autoren gewiesenen Wege nicht die einzig möglichen, ja
nicht einmal richtige Wege sind, um die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit bzw. nach ihrer Definition, oder um die großen Probleme der
logischen Antinomien zu lösen.
Erst recht ist die von Tarski vermutete Geringschätzung für
formalisierte Sprachen nicht erforderlich, um einzusehen, daß eine
Beschränkung der Wahrheitsdefinition auf formalisierte Sprachen, und ein
Aufgeben des Versuches als hoffnungslos, den ursprünglichen Sinn des
Wortes Wahrheit zu entdecken, wie er sowohl auf die nicht-formalisierte
Sprache und Umgangssprache als auch auf die formalisierten Sprachen
Anwendung findet, als völlig unberechtigten Reduktionismus der
Wahrheitstheorie zu erkennen. Ja, wie wir gesehen haben, setzen Tarskis
eigene Untersuchungen, die ebenfalls in der Umgangssprache geführt und
erklärt werden, ständig voraus, was er leugnet: nämlich ein Verständnis der
Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen und die Anwendbarkeit von
gewissen Sätzen über alle objektsprachlichen Aussagen auf diese selbst.
Ein solches Verständnis oder Vorverständnis muß sich aber auch
philosophisch aufklären lassen, was auch möglich ist, wie wir gesehen
haben. Ohne formalisierte Sprachen zu verachten oder ihren großen Wert
496
Vgl. dazu auch R. Karna, „Die Antinomien und die Unvollständigkeit der
Mathematik“, Monatshefte für Mathematik und Physik, Band 41 (Leipzig 1934, S.
263-284); und ders., „Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen
Mathematik“, ibid., Band 42 (Leipzig 1935, S. 163-140); ders., Logische Syntax
der Sprache, (Wien 1934).
497
Vgl. auch Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die
Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant. Ein Werk über logische und
mathematische Antinomien ist in Vorbereitung.
499
Tarski, a.a.O. S. 271.
500
Siehe Peirce, Collected Papers, 5, S. 340.
antinomie sei, läßt sich unschwer als falsch erkennen.501 So läßt sich auch
die Behauptung Tarskis keineswegs rechtfertigen, daß durch seine Unter-
suchungen die Möglichkeit eines konsequenten und dabei mit den Grund-
sätzen der Logik und dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden
Gebrauchs des Ausdrucks ‚wahre Aussage‘ und, was daraus folgen würde,
die Möglichkeit des Aufbaus irgendwelcher korrekter Definitionen dieses
Ausdrucks ‚wahr‘, in Frage gestellt seien. Keine dieser Behaup-
tungen.Tarskis502 läßt sich rechtfertigen, wie wir sehen werden.
Die Meinung Tarskis, daß nur durch die Einführung der Unterscheidung
zwischen Sprache und Metasprache503 Antinomien vermieden werden
könnten, und vor allem daß diese sich nur durch ein striktes Verbot der
Selbstanwendung von Sätzen der Metasprache ausschließen ließen504 –
eine Lösung, die der Russell‘schen Typentheorie ganz ähnlich ist – läßt
sich durch eine Reihe kritischer Überlegungen, die wir im folgenden
ausführen möchten, widerlegen.
501
Tarski, a.a.O., S. 278.
502
Tarski, ebd., S. 279.
503
A.a.O., S. 282 f.
504
Vgl. Bertrand Russell/Whitehead, Principles of Mathematics, 2nd ed. (London,
1937).
505
A.a.O., S. 211 ff.
506
A.a.O., S. 34 f.
507
Sophisma der Aurea, Nr. 50. Vgl. auch Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48,
5. Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen
These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977),
38-52.
selbst spricht, indem jeder Satz seine eigene Wahrheit mitbehauptet. Doch
gehen wir der Reihe nach diese Widerlegungen durch:
Urteil einer Metasprache über sich selbst oder ein anderes Urteil der
Metasprache urteilen könnte, sondern vielmehr weil ein Wahrheitsurteil
immer ein anderes Urteil oder einen anderen Urteilsteil, der etwas anderes
als die eigene Wahrheit behauptet, voraussetzt.
Insofern erweist sich Tarskis Unterscheidung zwischen (Objekt)
Sprache und Metasprache als nützlich, um die Fassung des Lügner-
Paradoxes durch Lukasiewicz richtig zu fassen: „Der Satz erster Ordnung,
welcher in diesem Buch auf S. 107, Zeile 3, gedruckt steht, ist nicht wahr“.
Dort steht aber kein solcher Satz.510 Wenn Stegmüller diese Fassung des
Lügner-Paradoxes für besser hält als die antike, übersieht er, daß hier
überhaupt keine sinnvolle Aussage vorliegt, weil von einem nicht
existierenden Satz Falschheit ausgesagt wird. Wo soll da das Paradox
herkommen oder der paradoxe Widerspruch? Es handelt sich hier vielmehr
um einen sinnlosen Satz der Metasprache, der notwendig ein zweites Urteil
voraussetzt, ohne daß dieses vorhanden wäre. Nur wenn dieser Satz auf
sich angewendet wird, finden wir ein Paradox, das aber gleichfalls im
Gegensatz zum klassischen Lügner-Paradox ein uneigentliches Paradox ist,
wie wir anderswo ausführlich begründen möchten, und das eigentlich in
einem wegen seiner logischen Unvollständigkeit sinnleeren Satz besteht,
der die rein logisch-grammatischen Bedingungen des Sinnes von
Wahrheitsurteilen verletzt.511
Es ist wohl eine weitere Erkenntnis, die der Unterscheidung zwischen
Objektsprache und Metasprache zugrundeliegt, daß man niemals in einem
und demselben Urteil allein die Wahrheit eben dieses Urteils zum direkten
Gegenstand haben kann – ohne Bezug auf ein anderes Urteil, das nicht ein
Wahrheitsurteil ist; ich kann nicht sagen ‚dieses Urteil ist wahr‘ … und
sonst nichts.
Jedes Urteil als solches sagt einen Sachverhalt aus, der von ihm selbst
verschieden ist. Das Wahrheitsurteil, auch wenn es implizit in jedem Urteil
steckt, ist immer ein neues, zweites Urteil. Dies impliziert einen ganz
neuen Sinn der Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache:
kein Urteil kann unmittelbar die eigene Wahrheit zum Gegenstand haben,
510
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 40.
511
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen.
Vgl. auch Luis Flores, „Edmund Husserl’s Logische Untersuchungen“.
ohne selbst zugleich etwas anderes als die eigene Wahrheit zu behaupten
oder ohne sich auf ein zweites Urteil zu beziehen.
Stegmüller geht aber viel weiter in seiner Anwendung der Unterschei-
dung und behauptet, kein Urteil könne über das allgemeine Wesen von
Urteilen so sprechen, daß diese Aussagen auf es selbst anwendbar seien.512
Und genau diese These ist radikal falsch. Denn ebensosehr wie es
unsinnige Formen der Selbstanwendung von Urteilen gibt, wie wir eben
gesehen haben, gibt es sinnvolle und notwendige, wie aus den oben
erwähnten Einsichten Peirce’s und Alexander Pfänders in den Wahrheits-
anspruch jeden Urteils, der in einem Wahrheitsurteil über sich selbst
entfaltet werden kann, hervorgeht.
Wenn jeder Satz, genauer gesagt jedes Urteil, die eigene Wahrheit
mitbehauptet, und wenn ferner dieser Wahrheitsanspruch jedem Urteil
objektiv zukommt und thematisch von allen Urteilen aller Metasprachen
und Objektsprachen ausgesagt werden kann und muß, kann in einer
Anwendung dieses metasprachlichen Urteils auf sich selbst und alle
anderen metasprachlichen Urteile keinerlei Fehler gründen. Darin stimmt
Peirce auch, indem er sich scharf gegen Ockhams Vorwegnahme der
Typentheorie Russells wendet, mit Bonaventuras Analyse der wahren
Sätze bzw. des Wahrheitsanspruchs jedes Urteils, überein, ebenso wie mit
Pfänder.513 Statt daß kein Urteil über sich selbst sprechen kann, spricht also
jedes Urteil über sich selbst.514
512
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39. Vgl. den vollen Wortlaut weiter
unten.
513
Pfänder, a.a.O., S. 69 ff.
514
Rivetti-Barbo, S. 342.
2.3.2.2. Urteile über das universale Wesen von Urteilen widerlegen das allgemeine
Verbot der ‚Selbstanwendung‘
515
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39.
prinzip, das besagt, daß von zwei kontradiktorischen Urteilen nicht beide
wahr sein können, bezieht sich offenkundig sowohl auf sich selbst als auch
auf alle Sätze sämtlicher Metasprachen und sagt von ihnen Gültiges aus.
Damit wird der radikale Irrtum der totalen Aufsplitterung der beiden
Sprachen deutlich, vor allem wenn sie als strenge Disjunktion gedeutet und
die Behauptung aufgestellt wird, kein Satz überhaupt beziehe sich auf alle
Sprachebenen.
Diese Position läßt sich nicht halten.
2.3.2.3. Tarskis Verbot universaler Urteile über sich selbst als Quelle eines
Selbstwiderspruchs (als Quelle einer logischen Antinomie)
Der Satz Tarskis, kein Satz der Metasprache dürfe sich auf sich selbst
beziehen, enthält sogar auf Grund seiner notwendigen Falschheit selbst
eine logische Antinomie, denn er ist gerade ein Satz über sämtliche
Metasprachen und Sprachebenen und behauptet – fälschlicherweise -, ein
für alle diese gültiges Gesetz aufzustellen.
2.3.2.4. Die Universalität gewisser Urteile über alle Urteile verlangt notwendig, und
verbietet nicht, ihre Selbstanwendung
Was kritisiert wird, ist vielmehr nur dies, daß Tarski keinerlei universale
Urteile oder logische Gesetze zulassen möchte, die sich auf Urteile oder
Aussagen, die auf allen unendlich vielen möglichen Ordnungen von
Sprachen liegen, beziehen. Tarskis These gilt nämlich z.B. nicht für
Urteile, die das allgemeine Wesen von Urteilen überhaupt aussagen, das
sich ja in allen Arten und individuellen Beispielen von Urteilen finden muß,
wie etwa alle obersten logischen Grundsätze: der logische Satz von der
Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten oder vom
zureichenden Grunde. Dasselbe gilt erst recht von Urteilen über
sprachliche Sätze, zum Beispiel für das vollkommen legitime und wahre
Urteil: „Jeder Satz inklusive dieses Satzes besteht aus Worten – wenigstens
aus einem Wort (wie der Rufsatz: Halt!), wobei mehr als ein Begriff in
diesem Wort ausgedrückt ist – und diese Worte können gesprochen,
geschrieben oder nur vorgestellt werden.“
Wenn Tarski der Meinung ist, daß die mit Hilfe seiner Unterscheidung
und Methode konstruierten Definitionen „sich durch ihre logische
Einfachheit vorteilhaft auszeichnen“,516 so bietet er dafür keinerlei Evidenz
an. Im Gegenteil, seine Theorie führt zu unendlichen Komplikationen und
außerdem selbst zu Widersprüchen bzw. zu einem radikalen Agnostizis-
mus, indem ja für die jeweils gebrauchte Sprache n’ter Ordnung selbst
keinerlei logische Gesetze und ihre Anwendung gerechtfertigt werden
könnten, ohne jeweils auf eine höhere und noch nicht verwendete
Sprachebene zu rekurrieren, was zu einem unendlichen Regreß und zur
Unmöglichkeit führen würde, jemals ein letztes logisches Fundament des
Sinnes und der Nichtwidersprüchlichkeit der eigenen Aussagen zu finden
oder zu behaupten517.
Im übrigen ist ein ‚Sich auf sich selbst Beziehen‘ durch eine
Allgemeinaussage hindurch ganz verschieden von einem direkten ‚sich
zum Gegenstand haben‘. Der Satz des Kreters ‚alle Kreter lügen immer‘
hat nicht die eigene Aussage oder deren Falschheit zum Gegenstand,
516
Tarski, S. 352.
517
S. 354 ff.
518
a.a.O. S. 284 ff.
2.3.3. Es gibt auch individuelle, in einem Satz ausgedrückte Urteile über diesen
Satz selbst, die vollkommen berechtigt sind
2.3.4. Die Falschheit der Tarskischen und anderer Identifizierungen der Quelle
von Antinomien in einer Verletzung des angeblichen Prinzips der
Abgetrenntheit einer gegebenen Metasprache von den ihr
untergeordneten Metasprachen und Objektsprachen
An dieser Stelle wird auch der allgemeinere Irrtum einer zu engen und
gegenseitig ausschließenden Disjunktion zwischen Metasprache 1 und
Metasprache 2 deutlich. Es liegt hier eine Verwirrung derjenigen Urteile,
die nicht über sich sprechen können, mit jenen vor, die dies durchaus tun
können, tatsächlich tun und auch tun sollen. Die Möglichkeit der letzteren
Urteile, vor allem wenn sie sich auf schlechthin allgemeine Sachverhalte
beziehen, die sie selbst betreffen und von ihnen selbst gelten, ist notwendig
für die Einheit des Seins in der Metaphysik gefordert, und ebenso für die
Einheit der Logik und Wahrheit. Alle Philosophie, Metaphysik und Logik
wären von Anfang an in Paradoxe verstrickt, wenn es diesen Typus von
Selbstanwendung nicht geben sollte. Die radikale Auseinanderreißung
zwischen beiden Sprachen scheint einer positivistischen Auffassung zu
entspringen, nach der es keine echten Universalien, sondern nur Klassen
empirischer Allgemeinheiten oder konkreter Einzeldinge geben kann.
2.3.5. Kritik der These, daß echte Widersprüche und logische Antinomien aus
wahren bzw. möglicherweise wahren Urteilen möglich sind
519
Hamblin, Fallacies (London: Methuen & Co., 1970), S. 230 (eigene Übersetzung).
können and daß wir, wenn notwendig, mit dieser Situation zu leben
lernen...520
523
Vgl. zur Unterscheidung zwischen Aporien, Antinomien und logischen Paradoxen
und ihrer Verwendung als termini technici Josef Seifert, „Das Antinomienproblem
als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“;
sowie ders., “El problema de las antinomias considerado como un problema
fundamental de toda Metafisica: Critica de la ‘Critica de la Razón Pura’”, Revista
de Filosofía 3. epoca, vol 6 (1993); traducción de Rogelio Rovira, pp. 89-117,
sowie ders., Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchs-
freiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
2.4. Sprachtheorie und Logik der Antinomien jenseits von Tarski und Gödel
524
Vgl. dazu Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso.
525
Tarski, S. 278 ff.
526
Ebd., S. 283 ff.
527
A.a.O., S. 285 ff.
528
A.a.O., S. 289.
529
A.a.O., S. 289 ff.
530
A.a.O., S. 300 ff.
2.5. Kritik von Tarskis Verwerfung der Adäquationstheorie für Aussagen der
normalen Sprache, weil eine solche Theorie zu Antinomien führe
Wir haben gesehen, daß Tarski der Ansicht ist, daß die Bedeutung des
Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache zwar recht klar und
verständlich zu sein scheine, daß aber alle Versuche einer genauen
Präzisierung dieser Bedeutung bisher nicht nur erfolglos geblieben seien,
sondern daß das Ausgehen von scheinbar evidenten Prämissen bei der
Bestimmung des Sinnes von Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen oft
zu Paradoxien und Antinomien geführt habe.533 Wir haben auch gesehen,
daß Tarski die Vermutung aufstellt, der Universalismus der Umgangs-
sprache auf dem Gebiet der Semantik sei die Quelle aller sogenannten
semantischen Antinomien, wie der Antinomie des Lügners oder der
heterologischen Worte. Wir haben ferner festgestellt, daß Tarski annimmt,
diese Antinomien seien ein Beweis dafür, daß sich auf dem Boden jeder
531
A.a.O., S. 302 f.
532
Zum hier relevanten Unterschied zwischen Aporien (geheimnisvoll-undurch-
dringliche und anscheinend unverträgliche Zusammenhänge zwischen Leib und
Seele, absolutem Sein und Welt usf.), (immer nur) scheinbaren Antinomien, die
sich als im Wesen der Dinge und wahrer Urteile gründende Widersprüche
darstellen, und logischen Paradoxien, das sind Widersprüche, die sich aus
künstlichen und nur auf den ersten Blick sinnvollen, in Wirklichkeit falschen und
widersprüchlichen Annahmen und Äquivokationen ergeben, vgl. Josef Seifert,
Überwindung des Skandals der reinen Vernunft.
533
Tarski, S. 264 f.
Sprache, welche im obigen Sinne universal wäre und für welche hierbei die
normalen Gesetze der Logik gelten sollten, ein Widerspruch ergeben
müsse.534 Wir haben ferner ausgeführt, daß Tarski aus dieser Überlegung
heraus die weitestgehenden Konsequenzen zieht, indem er zur Überzeu-
gung gelangt, daß keine widerspruchfreie Sprache existieren könne, für
welche die gewöhnlichen Gesetze der Logik gelten und die zugleich
Aussagen über sich selbst machen könne. So gelangt Tarski zur weiteren
Konsequenz, daß durch seine angeblichen Entdeckungen die Möglichkeit
eines widerspruchsfreien und dabei mit den Grundsätzen der Logik und
dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden Gebrauchs des
Ausdrucks „wahre Aussage“ und die Möglichkeit des Aufbaus irgendeiner
korrekten Definition dieses Ausdrucks in Frage gestellt sei. In allen diesen
Punkten gelangten wir zu einem radikal verschiedenen Ergebnis. Das
Auftauchen der Lügnerantinomie hat demnach schlechthin nichts damit zu
tun, daß die Umgangssprache und die Grundgesetze der Logik nicht auch
zugleich Aussagen über diese Logik wären oder nicht auf sie angewendet
werden dürften, was evidenterweise der Fall ist, bzw. daß die Umgangs-
sprache keine Urteile kenne, die schlechthin universal und daher auch für
sie selbst gültig sind. Wir müssen vielmehr zwei völlig von Tarskis
angenommenen Wurzeln verschiedene Wurzeln der Lügnerantinomie
identifizieren. Denn:
1. Einmal sind Aussagen über Wahrheit oder Falschheit eines Urteils
wesensnotwendig in ganz bestimmtem Sinne sinnleer, wenn sie kein
zweites Urteil zum Gegenstand haben, von dem sie Wahrheit oder Falsch-
heit aussagen.
2. Zweitens erhebt sehr wohl jedes Urteil schlechthin einen Wahrheits-
anspruch und impliziert also ein zweites Urteil, das die Wahrheit des ersten
behauptet. In diesem Sinne spricht jedes Urteil über sich selbst, d.h. es
behauptet implizit seine eigene Wahrheit. Man könnte dies so zum
Ausdruck bringen, daß jedes Urteil aussagt „‚S ist P‘ (=x), und x ist wahr.“
3. Eine solche Wahrheitsaussage über sich selbst, wie sie in jedem
Urteil enthalten ist, führt zu keinerlei Widersprüchen, im Gegenteil: ein
Urteil, das seinen eigenen Wahrheitsanspruch suspendieren wollte, wäre
534
A.a.O., S. 278.
aussagen, aber unmöglich von jenem Urteil selbst, in dem er seine Lüge
zugesteht.
Daß die hier liegende Antinomie nicht darin ihren Grund haben kann,
daß kein Urteil über sich selbst eine Aussage implizieren könne, geht
schon aus dem nicht genug oft zu wiederholenden Sachverhalt hervor, daß
jedes Urteil notwendig ein Urteil über die eigene Wahrheit impliziert oder
daß für es das Widerspruchsprinzip Gültigkeit besitzt. Daraus ergibt sich
offenkundig schon deshalb kein Widerspruch und keine Antinomie, weil
sonst jedes Urteil überhaupt antinomisch sein müßte.
Das Lügner-Paradox und viele ähnliche Paradoxien ergeben sich, im
Gegensatz zu ihrer Tarski’schen Erklärung, aus der erwähnten und leicht
durchschaubaren, in sich absurden und unmöglichen Konstruktion der
wahren Aussage, die ihre eigene Falschheit mitteilt. Um dieses Paradox als
solches zu analysieren und zu vermeiden, muß also die besondere Natur
des Urteils einerseits, das notwendig Wahrheit für sich beansprucht, und
der Aussage der Falschheit andererseits, im Blick behalten werden, wobei
außerdem zu beachten ist, daß die einfache Feststellung „ich lüge“ nicht
einmal die prinzipiellen Bedingungen rein logischer Grammatik für
Aussagen über Falschheit des eigenen Urteils erfüllt.
Aufgrund unserer Ergebnisse hinsichtlich der Kritik der semantischen
Wahrheitsdefinition Tarskis und seiner versuchten Lösung des Antino-
mienproblems kommen wir auch zur Erkenntnis, daß Tarskis Meinung,
„die Sprache der allgemeinen Theorie der Wahrheit enthält genau aus
denselben Gründen wie die Umgangssprache einen Widerspruch“535 als
schlechthin unbegründete Folgerung bezeichnen müssen. Eine allgemeine
Theorie der Wahrheit und auch der Wahrheit aller Urteile, die auf allen
metasprachlichen Ebenen existieren, führt zu keinerlei Widerspruch. Zu
solchen Irrtümern gelangt Tarski aufgrund eines Mangels an sachlicher
phänomenologischer Untersuchung des Wesens der Wahrheit.
535
A.a.O., S. 389.
3. Abschliessende Bemerkungen
536
A.a.O., S. 352 ff.
537
Dieses Kapitel erwuchs aus Ausführungen, die ursprünglich im Rahmen eines von
der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und
vom unter der Leitung von N. Leser stehenden L. Boltzmann-Institut, Aussenstelle
Vorarlberg, gemeinsam veranstalteten Symposiums ‚Die Gedankenwelt Sir Karl
Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog‘ (26.-29.X. 1989) auf Schloß Hofen
gehalten wurden und inzwischen erschienen sind. Josef Seifert, „Objektivismus in
der Wissenschaft und Grundlagen philosophischer Rationalität. Kritische Überle-
gungen zu Karl Poppers Wissenschafts-, Erkenntnis- und Wahrheitstheorie“, in:
N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers:
Kritischer Rationalismus im Dialog, S. 31-74; und „Diskussion“, S. 75-82.
538
Vgl. Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach (Oxford,
Clarendon Press, 1972). Deutsche Übersetzung: Objektive Erkenntnis. Ein
evolutionärer Entwurf (Zürich: Buchclub ex Libris, 31985). Deutsche
Übersetzung (nach 4. verb. und erw. Aufl. des englischen Originals). Vgl. auch
Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers (Mohr-Siebeck: Tubingen, 2000).
539
Vgl. J. C. Eccles und K. P. Popper, The Self and Its Brain
(Berlin/Heidelberg/London/New York: Springer-Verlag International, 1977/
corrected printing 1981). Vgl. auch Seifert, Das Leib-Seele Problem und die
gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine kritisch-systematische Analyse, S.
180-214.
540
Popper, Objective Knowledge, 3 ff.
541
Ebd., 7.
542
Ebd., 4.
543
Ebd., 5.
544
Dieser Terminus wird hier nicht im spezifisch kantischen Sinne gebraucht, sondern
meint einfach informative, d.h. nicht-analytische, nicht-tautologische Urteile
(Sätze), in denen der Prädikatbegriff des Urteils zur Definition des Subjektbegriffs
etwas hinzufügt. Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus
dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I
(Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); Che cos’è la filosofia?/What
Is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, ‘Insight and Objective Necessity. A
Demonstration of Propositions Which are Simultaneously Informative and
Necessarily True’, 107-197, Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil.
545
Popper, Objective Knowledge, 5.
546
Sir Karl Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6.
547
Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6.
Wie läßt sich diese von Popper behauptete ‚Isomorphie zwischen Logik
und Psychologie‘ in irgendeinem vernünftigen Sinn mit seiner Rede von
‚unlogischen‘ Gründen für psychologische Meinungen über allgemeine
Beschaffenheiten der Dinge vereinbaren? Zeigen nicht gerade psycholo-
gische Eigengesetze und unlogische Gründe psychischer Akte, daß keine
Isomorphie zwischen Logik und Psychologie herrscht?
Popper selbst führt insbesondere die folgenden irrationalen Gründe für
Allgemeinaussagen an:
1. Rein biologische Gründe und ‚ein-‚ bzw. ‚angeborene Disposi-
tionen‘548;
2. Rein kulturelle bzw. historische Gründe.549 Auch scheint Popper unter
die angeborenen und irrationalen psychologischen Gründe für Meinungen
über Universalien
3. einen irrationalen Hang zu dogmatischen Annahmen zu rechnen, den
er sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen gefunden habe.550
Darf Popper unter diesen Annahmen eine ‚Isomorphie zwischen Logik
und Psychologie‘, zwischen dem logischen und psychologischen Induk-
tionsproblem behaupten? Müßte er unter dieser Voraussetzung nicht folge-
richtig mit Hume eine skeptisch-irrationale Erklärung der Annahme des
Allgemeinen und eine Divergenz zwischen der Antwort auf das logische
und jener auf das psychologische Induktionsproblem vertreten, was er an
anderen Stellen auch tut, mit der Konsequenz, daß es innerhalb aller
induktiv erschlossenen Sachverhalte gar keine Wahrheit oder wenigstens
keinen berechtigten Wahrheitsanspruch gibt? Poppers Ansichten über das
Verhältnis zwischen Logik und Psychologie des Induktionsproblems
scheinen daher unklar und widersprüchlich zu sein.
Induktion als logisches Problem wird von Popper zunächst in zwei
Fragen aufgespalten, von denen er auf die erste (nach Verifizierbarkeit)
eine verneinende Antwort gibt, während er die zweite, die er in Form einer
disjunktiven Frage faßt, bejahend beantwortet:
Läßt sich die Behauptung, eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr, mit
„empirischen Gründen“ rechtfertigen, das heißt dadurch, daß man
548
Ebd., 67, 71 (Anm.), 72 f., etc.
549
Z.B. ebd., 126-144.
550
Ebd., 24.
Auf diese Frage gibt Popper eine bejahende Antwort (obwohl er die
induktive Erkennbarkeit allgemeiner universaler Sachverhalte leugnet),
weil er die Falsifizierbarkeit allgemeiner erklärender Theorien lehrt553.
Also löst Popper die logische Frage der Induktion rein negativ, indem er
bloß die Falsifizierbarkeit allgemeiner Thesen durch Erfahrung, nicht aber
deren mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit erreichbare empirische
Verifizierbarkeit anerkennt.554 Auch hier legen allerdings seine Termini
einer ‚bewährten Hypothese‘ und der ‚verisimilitude‘ (dessen normale
lexikale Übersetzung Wahrscheinlichkeit ist) nahe, daß Popper dennoch so
etwas wie Wahrscheinlichkeit annimmt, wenn er auch diese Übersetzung
bzw. diese philosophische Deutung ablehnt.
Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß Poppers Idee der Falsifizie-
rung den klassischen Korrespondenzbegriff der Urteilswahrheit enthält.
Denn eine allgemeine Theorie oder Aussage zu falsifizieren, hat bei Popper
den Sinn, daß sie nicht mit den objektiv bestehenden Tatsachen über-
einstimmt, also im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht
wahr ist. Diese Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit
findet sich auch bei vielen seiner Anhänger, etwa den kritischen
551
Ebd., 7.
552
Ebd., 7 (Die Hervorhebung des entweder und des oder fügte ich der Klarheit
wegen hinzu.)
553
Ebd., 8 ff.
554
Zur radikal negativen Lösung des Induktionsproblems bei Popper und Hume und
der gleich negativen Lösung des Problems der Induktion und jeder wahrschein-
lichen oder gewissen Allgemeinerkenntnis vgl. insbesondere Popper, Objektive
Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsche Übersetzung (nach 4. verb. und
erw. Aufl. des englischen Originals), 86-92.
555
Vgl. dazu N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl
Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog, sowie Hans Albert, Traktat über
kritische Vernunft. Vgl. auch Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers; sowie
Wikipedia, „Karl Popper“: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl Popper; und Hans
Albert, „Varianten des Kritischen Rationalismus“, in: Jan M. Böhm, Heiko
Holweg, Claudia Hoock (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus heute. Zur
Aktualität kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie (Tübingen: Mohr Siebeck,
2002), S. 3–22, sowie Bernwald Gesang, Wahrheitskriterien im Kritischen
Rationalismus. Ein Versuch zur Synthese analytischer, evolutionärer und kritisch-
rationaler Ansätze (Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi, 1995) Schriftenreihe zur
Philosophie Karl R. Poppers und des Kritischen Rationalismus (Series in the
Philosophy of Karl R. Popper and Critical Rationalism, Bd. 7.
557
Als positivistisch deuten seine Philosophie auch andere Autoren. Vgl. etwa G.H.
v. Wright, Erklären und Verstehen. Vgl. auch K.R. Popper, ‚Die Logik der
Sozialwissenschaften,‘ in: Th. Adorno/H. Albert u.a., hrsg., Der Positivismusstreit
in der deutschen Soziologie, S. 105. Der durch Positivismus geprägte
Methodenmonismus, demnach die Methode aller Wissenschaften darauf
hinausläuft, „Lösungsversuche für ihre Probleme kritisch auszuprobieren“ (siehe
Dragan Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen Dualismus der
Natur- und Sozialwissenschaften und der Standpunkt kritischer Rationalisten“,
111.
558
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 58 ff. 44 ff.
559
In der deutschen Übersetzung (ebd., 58 ff., 44 ff.) wird der Ausdruck
‚Wahrheitsähnlichkeit‘ verwendet, der eigentlich eine andere Bedeutung hat und
überhaupt einen seltsamen Begriff zum Ausdruck bringt, der an sich nur von
Poppers gleich noch zu erörternder Deutung des Wahrheitsgehalts, der sich aus
der Zahl wahrer Urteile und Urteilsklassen (T1, T2, etc.), die aus einer Allgemein-
aussage logisch folgen, ergeben soll, verständlich wird. Wenn diese unendliche
‚Aufteilung‘ der Wahrheit als unangemessene Theorie verworfen wird, haben
auch die Ausdrücke der Wahrheitsähnlichkeit und der Annäherung an die
Wahrheit keinen Sinn mehr. Dann kann ein Urteil nur wahr oder falsch sein,
wenngleich auch falsche Urteile viele wahre implizieren mögen.
560
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis,, 47 ff., 52 ff.
561
Vgl. Karl R. Popper, “A Note on Tarski’s Definition of Truth”, Mind, (1955); 64:
388-391. Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, “Tarskian Truth and the
Correspondence Theory”, cit.
562
Vgl. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge
(London: Routledge and Kegan Paul, 1963), 27.
563
Vgl. Auch Herbert Keuth, “Verisimilitude of the Approach to the Whole Truth,”
Philosophy of Science (1976); 43: 311-336.
564
Auf die Verschiedenheit und doch enge Verwobenheit der Begriffe der Wahrheit
und ‚Wahrheitsnähe‘ in Poppers Denken werden wir im Rahmen unserer
kritischen Ausführungen zurückkommen.
565
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 55.
566
Vgl. die durch Anmerkungen ergänzte englische Ausgabe: Karl R. Popper, The
Logic of Scientific Discovery, 268. Vgl. auch ders., Objektive Erkenntnis, 371 ff.
567
Ich selbst nehme umgekehrt mit Reinach an, daß die ‚Relativitätstheorie‘ als
philosophische These über das Wesen von Zeit und Raum schlechthin falsch, ja
unsinnig ist. Siehe Reinachs Schrift „Vom Wesen der Bewegung“, in: Adolf
Reinach, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I. Siehe auch
J. Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft.
Popper verwirft mit der Induktion auch jeden Versuch, durch Intuition,
Wesenseinsicht, Ideenschau etc. zur Erkenntnis positiv-gegebener allge-
meiner Sachverhalte und Wesenszusammenhänge zu gelangen. Erst recht
verwirft er jede Gewißheit über allgemeine Sachverhalte,569 zumindest als
Folge seiner Ablehnung der ‚Induktion‘, als welche er jedweden Übergang
von Einzelerfahrung (Erfahrung überhaupt) zu Universalien deutet.
Die Universalität seiner Ablehnung jedweder induktiver oder intuitiver
Allgemeinerkenntnis geht insbesondere aus zwei philosophischen Gedan-
ken hervor, die er Hume entnimmt:
„Möchten die Menschen doch eines Tages von folgenden zwei Prinzipien
völlig überzeugt sein: Kein Gegenstand hat, für sich selbst betrachtet, etwas,
was einen Schluß über ihn hinaus erlauben könnte;“ und: „Auch nach der
Beobachtung der häufigen oder ständigen Verbindung von Gegenständen ist
kein Schluß auf irgendeinen Gegenstand außerhalb unserer bisherigen
Erfahrung möglich...“570
568
Vgl. David Miller, “Verisimilitude Redeflated”, British Journal for the Philosophy
of Science, (1976); 27: 363-38. Vgl. auch I. J. Good, “Comment on David Miller’s
Article in ‚Synthese’,” Synthese, (1975); 30: 205-206.
569
Siehe besonders Karl Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., VII: „Die absolute
Wahrheit wird manchmal erreicht; die Sicherheit nie: Die Suche nach Sicherheit
ist verfehlt...“; vgl. auch ebd., 47; 63 ff.; 68 ff., 134, 143 ff.
570
D. Hume, Treatise on Human Nature (Green and Grose, 1886), Treatise, Buch I,
Teil III, Abschnitt II; Selby-Bigge, 77.
571
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 90-91.
572
Vgl. Popper, The Logic of Scientific Discovery, 7-9.
573
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55, 310. Zum Versuch des näheren
Nachweises dieser Behauptungen vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves.
574
Vgl. K. R. Popper, Conjectures and Refutations, S. 4 ff. Augusto del Noce in
seinen zahlreichen Studien zum Faschismus und Nationalsozialismus, D. von
Hildebrand und andere haben gezeigt, wie radikal skeptisch-relativistisch diese
totalitären Ideologien waren. Siehe etwa D.v. Hildebrand, „Die Entthronung der
Wahrheit“, S. 309-339; Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un
pensiero.
Mit Hinweis auf Routledge’s Buch Everest 1933, in dem „der arme alte
Kipa ...hartnäckig an dem Gedanken fest(hielt), er sei tot“,579 meint Popper,
Descartes‘ Gewißheit des ‘cogito‘ abtun zu können, das er außerdem
575
Darin fühle ich mich Popper sehr verbunden. Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit.
576
Vgl. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., 27.
577
Vgl. Popper, Ebd., 16.
578
Ein anderer Grund für diese Bezeichnung liegt im spezifischen „Evolutionismus“
Poppers. Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 68 ff.
579
Ebd., 36.
580
Ebd., 24 f., 80 ff., 100-103, und an anderen Stellen.
581
Ebd., 80.
6. Die 3 Weltentheorie
582
Siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376 ff.
583
Vgl. dazu etwa Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, sowie auch die
zutreffende Kritik von Henke.
Betreffs des logischen Problems der Induktion dürfen wir mit Hume,
Popper und auch Pfänder586 darin übereinstimmen, daß, wenn unvollstän-
dige induktive Schlüsse als rein ‚formal-logisches‘ Verfahren angenommen
werden, die sogenannte ‚unvollständige Induktion‘ nicht zu rechtfertigen
ist; aus der Tatsache, daß viele beobachtete Exemplare einer Spezies oder
einer gewissen Eigenschaft sich in einem bestimmten Sinne verhalten,
kann über nichtbeobachtete Fälle derselben Art nichts gültig geschlossen
werden. Die bereits von Pascal schärfstens gerügte logische Ungültigkeit
eines formallogischen induktiven Schlusses wird nicht bloß durch die
Poppersche Bezugnahme auf das Überleben einer Spezies widerlegt
(falsifiziert), auf die weder daraus gültig geschlossen werden kann, daß sie
bisher immer überlebt hat, noch daraus, daß viele ähnliche Spezies überlebt
hätten. Vielmehr läßt sich auch die allgemeine Erkenntnis gewinnen, daß
auch für einen wiederholt beobachteten und konkret in Wahrnehmungen
gegebenen Sachverhalt zufällige Gründe verantwortlich sein können.
Deshalb waren auch in der Vergangenheit ‚klassische‘ weitere Bedin-
gungen für eine Induktion (Variation der Bedingungen, etc.) eingeführt
worden. Auch vor Popper war anerkannt worden, daß die Beobachtung
einer Eigenschaft in einer begrenzten Anzahl von Individuen als solche
nicht ausreicht, um etwas über alle übrigen Exemplare der gleichen Art zu
schließen. Dies weist auch Pfänder in seiner Logik stringent nach. Paul
Feyerabend hat sich nicht ohne Recht sehr kritisch zur Frage von Poppers
Originalität in diesem Punkte geäußert.587
586
A. Pfänder, Logik, 341 ff.
587
Der Autor kritisiert Poppers Anspruch auf Originalität in diesem Punkt sowie in
jenen Fragen, für die Popper absolute Originalität beansprucht: ob nämlich die
Man muß Popper ebenfalls darin recht geben, daß die Möglichkeit der
‚Falsifizierung‘ einer allgemeinen These durch Beobachtung möglich ist,
wenn die letztere entweder dieser Aussage selbst oder wenn sie einer mit
einwandfreiem logischem Verfahren aus ihr abgeleiteten Folge
widerspricht. So widerspricht die Beobachtung eines einzigen Weißen der
Meinung, daß buchstäblich alle Menschen schwarz seien.
Dieses Prinzip der Popperschen Philosophie, ja die ganze Poppersche
Kritik der Induktion wurde übrigens von Pascal glasklar formuliert. Er
betont, daß im Bereich der Erfahrungserkenntnis ein einziges Gegen-
beispiel zur Falsifizierung genügt und auch keine noch so große Zahl von
Beobachtungen genügt, um eine Allgemeinaussage zu begründen.588 Er
nimmt die inzwischen ohnehin durch Uran widerlegte These, daß Gold das
schwerste Metall und die bis heute nicht falsifizierte These, daß Diamant
„erfahrenen Fakten wirklich den Theorien vorausliegen. Für diese Ideen finden
sich von Aristoteles bis Goethe und Mach viele Vorläufer Poppers.“ Wir werden
gleich auf einen von Feyerabend nicht erwähnten Denker, nämlich Pascal,
hinweisen. Vgl. P. Hans Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle: Comments on the
Condition of Content Increase’, in: G Radnitzky und G. Andersson, Hrsg.,
Progress and Rationality in Science (Dordrecht: Reidel, 1978), 143-180, bes. 174-
175, Anm. 8.
588
Er bezieht sich auf die Frage, ob es einen leeren Raum gäbe, was die Alten
geleugnet haben, und betont, daß ein einziges Experiment, das einen leeren Raum
zeigen würde, genügt, um die noch so verehrungswürdigen Meinungen der Alten
zu widerlegen und formuliert dann:
Puisque, pour le dire généralement, ce ne serait assez de l’avoir vu constamment en cent
rencontres, ni en mille, ni en tout autre nombre, quelque grand qu’il soit; puisque s’il restait
un seul cas à examiner, ce seul suffirait pour empêcher la définition générale,...Car dans
toutes les matières dont la preuve consiste en expériences et non en démonstrations, on ne
peut faire aucune assertion universelle que par la générale énumération des toutes les parties
ou de tous les cas différents.
Bl. Pascal, Préface sur le Traité du Vide, in: Blaise Pascal, Œuvres complètes.
Hrsg. v. Louis Lafuma, (Éditions du Seuil) Paris 1963; Blaise Pascal, S. 232b.
die härteste Materieart sei, als Beispiele bisher nicht falsifizierter, aber
prinzipiell falsifizierbarer Allgemeinaussagen.589
589
In vorphilosophischer Weise kann jedes Kind diese Einsicht gewinnen: In
brillantem Natur-Popperianismus wurde z.B. von einem mir bekannten Kind als
Widerlegung der These seiner Mutter, alle Menschen seien mit ihrem Gesicht
unzufrieden, seine eigene vollendete Zufriedenheit mit dem eigenen Gesicht
festgestellt. Jede derartige Ausnahme von einer allgemeinen Aussage widerlegt
zumindest die Wahrheit der strikten Allgemeinheit einer Theorie.
590
Vgl. dazu P. Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle,’ a.a.O.
keinen leeren Raum gäbe. Diese würden durch einen einzigen Gegen-Fall
falsifiziert, weil sie Wahrheit für ein Universalurteil im strikten Sinne
beanspruchen. Wenn etwa ein Philosoph behauptet, Erkenntnis irgendeiner
Wahrheit sei schlechthin unmöglich oder es gäbe keine Freiheit, würde
auch ein einziger Fall, in dem die geleugneten Dinge sich evidenter
Erkenntnis darbieten, genügen, um eine solche Allgemeinaussage zu
widerlegen. Auch eine einzige von einem Skeptiker vorausgesetzte
Erkenntnis würde die radikale Skepsis und jeder einzelne freie Akt in der
Welt würden die These des Determinismus widerlegen. Ebenso läßt sich
die hedonistische Identifizierung des Guten mit der Lust durch eine einzige
Erkenntnis eines Gutes, das nicht mit Lust identisch ist, oder einer Lust, die
böse ist, falsifizieren. Sobald man mit Augustinus, Descartes und vielen
anderen Autoren evidente Erkenntnis über die Tatsache, daß wir in diesem
oder jenem Fall Erkenntnis oder Freiheit besitzen, anerkennt, ergibt sich
die Möglichkeit der Falsifizierungen gegenteiliger philosophischer Thesen.
Viele philosophische Widerlegungsversuche und Falsifizierungen setzen
dies voraus.
Doch liegen echte allgemeine philosophische Erkenntnisse jenseits jeder
empirischen Verifizierungsnotwendigkeit und zugleich jenseits der
Falsifizierungsmöglichkeit, die Popper als Bedingung des sinnvollen
Charakters einer allgmeinen Aussage fordert.591 Der Grund für die
Unmöglichkeit, diese Einsichten in Wesensnotwendiges empirisch zu
flsifizieren, liegt nicht in der Form ihrer Allgemeinheit und erst recht nicht
in ihrer Sinnlosigkeit, sondern vielmehr in der absoluten Notwendigkeit
ihres Gegenstands einerseits und in der evidenten einsichtigen Selbstge-
gebenheit des Wesens andererseits, welche jede empirische Widerlegung
prinzipiell ausschließt. Aus diesem Grund können Sätze wie „Das
Farbquale ‚Orange‘ liegt der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen gelb und
rot“ oder „sittliche Verantwortung setzt Freiheit voraus“ oder das
Widerspruchsprinzip nicht falsifiziert werden, weil sie notwendig wahr
sind und ihre Erkenntnis daher nicht von Daseins-Erfahrung nicht-
notwendiger Tatsachen abhängt und ihre evidente Wahrheit unwiderlegbar
ist. Keiner dieser Sätze ist dabei übrigens analytisch-tautologisch. Nicht
nur wird diesen Sätzen oft widersprochen (z.B. von Calvin hinsichtlich der
für Schuld und Verantwortung vorausgesetzten Freiheit oder von Hegel mit
591
Vgl. Poppers eigene kritischen Aussagen zu diesem Punkt in Conjectures and
Refutations.
592
Zu diesem entscheidenden Punkt der hier implizierten Erkenntnistheorie vgl. Adolf
Reinach, „Über Phänomenologie“; ders., „Die apriorischen Grundlagen des
bürgerlichen Rechtes“; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?; J. Seifert,
Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves.
593
Vgl. Wolfgang Wickler, Sind wir Sünder?, 83 ff., 222 ff.
eine absolut universale Aussage über Sollen (ought) mit einer absolut
universalen Aussage über faktisches Verhalten. Daß die meisten Menschen
oder gar Tiere einander töten, kann etwa nicht als Einwand gegen die
Absolutheit des Gebotes gegen Mord angeführt werden.
Noch einmal anders ist der Fall bloß scheinbarer Ausnahmen, wenn ein
allgemein behauptetes Sollen einer bestimmten Handlungsart (etwa
Versprechen zu halten) in einem bestimmten Fall als Sollen nicht besteht
(so sollen unsittliche Versprechen nicht gehalten werden). Hier sind wir
mit allgemeinen Regeln konfrontiert, die im Fall gewisser ‚Kollisionen‘
mit anderen höheren Forderungen nicht jene Anwendung finden, die sie
normalerweise fänden. (Dies gilt etwa für den von Ross als ‘prima facie
obligations’ gemeinten Sachverhalt der Suspendierung gewisser sittlicher
Forderungen durch höhere. Ross universalisiert diesen besonderen Fall zu
sehr, als gälte er von allen Sollensforderungen, was einen verhängnisvollen
Irrtum darstellt).
Diese Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Art des Allgemeinurteils
und der seinem jeweils verschiedenen Sinn entsprechenden Falsifizierung
durch Einzelbeobachtungen müssen im Auge behalten werden, wenn man
Russells Typentheorie, die in Wirklichkeit nur für solche Allgemeinheiten
gilt, die Ausnahmen für die Metasprache oder den Sprechenden zulassen,
oder Poppers Falsifizierungstheorie, die nur auf strikte allgemein gemeinte
Urteile zutrifft, anwenden will. Denn im Falle solcher „vager und nicht
strikte definierte Allgemeinheiten, wie des Barbiers von Sevilla, der alle
Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren, aber auch nur diese,“ ist es
sinngemäß möglich und notwendig, ihn selber auszunehmen und Russells
Typentheorie anzuwenden. Hingegen im Falle strikt allgemein gemeinter
Thesen würde deren Wahrheit auch durch ein einziges Gegenbeispiel
widerlegt.
Selbstverständlich hat Popper auch damit recht, daß die Widerlegung
einer allgemeinen These oder erklärenden Theorie (explanatory theory)
noch nicht eine alternative allgemeine Theorie darstellt und daß
Widerlegung allgemeiner Ansprüche (ihre Falsifizierung) ‚leichter‘ ist als
deren Begründung.
594
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, a.a.O.
Die Erkenntnis, daß es sich mit der Welt so verhält, ist schlechthin
evident im Falle notwendiger Wesenheiten wie denen der Farbe, des
Versprechens, des Seins als solchen, der Freiheit etc. Sie ist aber auch
hinsichtlich der Natur der Materiearten, der Pflanzen- und Tierarten oder
der Organe des menschlichen Körpers usf. mehr als wahrscheinlich, ja
praktisch so sicher, daß kein Mensch ernsthaft daran zweifelt, daß auch die
ganze Natur nach allgemeinen Spezies und Gattungen gestaltet ist. Der
eigentliche und gültige induktive Schluß setzt eben die begründete
Überzeugung voraus, daß die in einzelnen beobachteten Fällen
beobachteten Merkmale ihre Ursache darin haben, daß das P-Sein einer
Reihe von A’s in deren Eigenart S (Art) begründet ist. Die Verwerfung
jeder ‘what is question’ und jedes ‚Essentialismus‘ – zumindest beim
früheren Popper595 – macht ihn m.E. unkritisch gegenüber der sowohl
ontologischen als auch erkenntnistheoretisch-logisch relevanten Frage der
Universalien (Genus, Spezies) sowie gegenüber deren grundlegender
Bedeutung für das Induktionsproblem. So fragt Popper nicht nach den
erkenntnismäßigen und ontologischen Gründen, aus denen wir allgemeine
Wesen (Naturen) erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit annehmen können.
Während Popper selbst sieht, daß eine rein statistische Auffassung der
‚Regeln‘ nicht genügt, um diese zu erklären, setzt er sich weder mit der
Möglichkeit einer strikten Einsicht in notwendige und allgemeine
Sachverhalte (diese ist mehr und unvergleichlich gewisser als Induktion),
noch auch mit der Vernünftigkeit der Annahme empirisch allgemeiner
Naturen ernsthaft auseinander.
Allgemeine Naturen (genus, species) kommen ja nicht nur in Form
apriorisch-notwendiger Wesenheiten, wie etwa Philosophie und Mathema-
tik (ebenso wie die apriorische Rechtswissenschaft, Farbwissenschaft,
Naturrechtslehre etc.) sie zum Gegenstand haben, vor. Sie treten uns
nämlich schon in den von jedem Kind erfaßten Formprinzipien (der Katze,
des Hundes, Pferdes usf.) entgegen. Sie werden auch von den
Wissenschaften der Chemie, Physik, Medizin, Botanik, Zoologie usf.
angenommen, bzw. erkannt.
595
Mit der Einführung der ‚Dritten Welt‘ und der Bezeichnung der drittweltlichen
Strukturen als ‘Intelligibilia’ bewegt sich Popper immer mehr weg von seinem
früheren radikal anti-platonischen und anti-essentialistischen Standpunkt. Vgl.
dazu auch D. Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen
Dualismus“, a.a.O., 116-117.
keinen derartigen Anspruch erheben, lassen sie sich auch nicht durch die
Beobachtung von der Norm abweichender Einzelfälle falsifizieren.
Nur eine Art von ‚absolutem (positivem oder negativem) Universale‘
läßt sich durch einen einzigen Gegenfall widerlegen. Deshalb ist die
Widerlegung aus einer einzigen Gegeninstanz eine beliebte Form
philosophischer Kritik seit Sokrates‘ Zeiten. Man denke etwa an Platons
Gorgias, in dem Sokrates Kallikles’ Identifizierung des Guten mit der Lust
allein durch das Beispiel der Lust des Knabenschänders, von der Kallikles
zugibt, daß sie Lust, aber nicht gut sei, widerlegt.596
Wird hingegen die Natur bloß empirisch-induktiver Allgemeinheiten
durchdacht, zeigt es sich, daß die meisten der von Popper erwähnten
Beispiele von Falsifizierungen (hinsichtlich eines von ihm nicht weiter
geschilderten schlecht zubereiteten Brotes in Frankreich, an dessen Genuß
Menschen starben, des schweren Wassers usf.) keine wirklichen
Falsifizierungen darstellen.597 Denn die Artbeschaffenheit von Wasser,
Gewicht von Sauerstoff und Wasserstoff, Nährwert des Brotes etc. wird
nicht davon angetastet, daß es ‚Ausnahmen‘, sonderbare Reaktionen usf.
gibt, eben weil die hier bestehende und durch eine (recht verstandene)
materiale Induktion erschlossene Allgemeinheit keine strikte ausnahmslose
ist. Außerdem bestand wohl in Poppers Beispiel der Nährwert des Brotes
weiter, den er durch den Tod vieler Franzosen als allgemeinen Anspruch
für falsifiziert hält. Der Tod vieler nach Genuß eines schlechten Brotes war
anderen Ursachen zuzuschreiben als dem Nichtbestehen des Nährwertes
des Brotes, nämlich dem Brot beigemischter Gifte, einer schlechten Form,
es zu backen etc.
1.6. Lassen sich durch die Verschiebung von Verifizierung auf Falsifizierung
empiristische Erkenntnistheorie und Skepsis vermeiden?
596
Er führt auch das Beispiel einer neutralen Lust, die ebenfalls nicht mit dem Guten
identifizierbar sei, etwa wenn jemand sich kratzt, weil es ihn juckt, an.
597
Vgl. dazu auch Aristoteles, EN I,1; 1094 d 23 ff.
598
Im Sinne der Russell‘schen Analyse, siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 5.
599
Vgl. Popper, ebd., 86 ff.
600
Siehe F. Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; ders., “Insight and Objective
Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are
Simultaneously Informative and Necessarily True?”, S. 107-197.
prinzip und viele andere überhaupt kein vernünftiger, sich selbst nicht
vernichtender Gedanke möglich ist (wie übrigens auch Stegmüller in
seinem Buch Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft betont).601
Zweitens kann auch Poppers eigene These über das Falsifizierungs-
prinzip gar nicht gedacht und erst recht nicht als wahr oder wahrscheinlich
wahr hingestellt werden, ohne einige für unbestreitbar wahr angenommene
allgemeine Behauptungen anzunehmen, z.B. ‚Induktion als formallogischer
Schluß aus wiederholter Beobachtung von Einzelnem auf Allgemeines ist
ungültig‘; ‚Falsifizierung allgemeiner erklärender Theorien hingegen ist
möglich‘. Auch das Widerspruchsprinzip und Prinzip vom ausgeschlos-
senen Dritten wird nicht nur, wie Aristoteles im Buch Gamma der
Metaphysik nachweist, von jedem Menschen, sondern auch – wie Popper
selbst impliziert602 – von Poppers eigener Wissenschaftstheorie im
besonderen, ja auch von jeder Wissenschaft im Popperschen Sinn
vorausgesetzt. Und zwar setzt Popper offensichtlich diese durch Basissätze
weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Prinzipien nicht als völlig
unbegründbare Hypothesen voraus, was sie seiner Theorie zufolge sein
müßten, sondern als begründete, ja dogmatisch vorgetragene Behaup-
tungen, oder als evidente Gesetze, was sie auch tatsächlich sind. Das
geschieht nicht nur ausdrücklich in den eben angegebenen Texten
Poppers,603 sondern als notwendige logische Implikation seiner vielen
dogmatischen und apodiktischen Zurückweisungen des ‚Dogmatismus‘
und anderer Standpunkte, die alle das ebenso fraglos-dogmatisch
angenommene Widerspruchsprinzip voraussetzen. Also folgt aus der
Popperschen Theorie notwendig ein innerer Widerspruch. Dieser Wider-
spruch zwischen den Thesen der Popperschen Wissenschaftstheorie und
ihren eigenen Ansprüchen erweist sich als wesentlich universaler Wider-
spruch. Denn keine empirische Wissenschaft (wie aus der folgenden Kritik
an Poppers Wahrheitsannäherungsthese hervorgeht) kann ohne jede
positive Annahme über wahrscheinlich (und auch sicher) wahre allgemeine
Sachverhalte bestehen. Ja ohne die Annahme wenigstens wahrscheinlich
bestehender positiver und allgemeiner Sachverhalte wird auch die raison
d’être für die Falsifizierungsbestrebungen Poppers aufgehoben und
erhalten diese, wie Henke in seiner Kritik nachweist, einen perversen
601
Vgl. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft.
602
Z.B. Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13.
603
Siehe ebenfalls Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13.
1.7. Die Unhaltbarkeit der von Popper anerkannten positiven Rolle allgemeiner
wissenschaftlichen Hypothesen ohne Erkenntnisgewißheit
Die Rolle der allgemeinen Hypothesen und daher nicht selbst verifizier-
baren Annahmen im Vorhersagen empirischer Resultate (durch deren
‚Erlaubnis‘ Popper sich ebenfalls vom älteren Positivismus des Wiener
Kreises unterscheidet) ließe sich gewiß an sich erklären, ohne die Wahrheit
dieser allgemeinen Auffassungen vorauszusetzen, zumindest in jenen
Fällen (wie der Einsteinschen Relativitätstheorie), in denen keine direkte
Wirklichkeitsbezogenheit nötig ist, um den pragmatischen ‚Erfolg‘ einer
604
Siehe dazu neben den Ausführungen Aristoteles‘ über das Widerspruchsprinzip in
Metaphysik IV und der Zweiten Annalytik, sowie E. Husserl‘s ‘Prolegomena’ zu
den Logischen Untersuchungen auch F. Wenisch, Die Philosophie und ihre
Methode; ders., “Insight and Objective Necessity”, Aletheia IV (1988), 107-197; J.
Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit;Back to Things in Themselves. A
Phenomenological Foundation for Classical Realism.
605
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376-382.
606
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 378.
607
A.a.O. 380.
608
Vgl. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, a.a.O. 47 ff., 52 ff.
Vgl. auch Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, a.a.O., 17 ff.,
52 ff., 376 ff.
609
Objective Knowledge, 52.
wahre Sätze aus ihr folgen als aus einer anderen Theorie, und/oder weniger
falsche).610 Dabei bleibt es ganz unklar, welche von den folgenden
Begriffen der Terminus ‚Annäherung an Wahrheit‘ ausdrücken soll.
610
Ebd., 53.
sich selbst widerspricht, die aber total unbegründbar sind, weil jedes
Argument für sie sie bereits voraussetzt und deshalb zirkulär wäre.
Unwiderlegbarkeit in diesem Sinne ist daher das Gegenteil willkürlicher
Ideologien: es handelt sich vielmehr um unvermeidbare Voraussetzungen
allen Wahrnehmens und Denkens überhaupt, die Annahmen und Bedin-
gungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken darstellen, deren
inhaltliche Wahrheit aber nicht feststellbar ist, die also den Charakter
denknotwendiger subjektiver Voraussetzungen haben.
Nicht Falsifiziertheit kann aber auch Unwiderlegbarkeit in dem
klassischen und normalen Sinne meinen: daß eine These nicht eine ideolo-
gische Annahme oder nur eine subjektive notwendige Denkvoraussetzung
ohne jede Erfahrungsbasis ist, sondern in ihrer Wahrheit mit Gewißheit
und unzweifelhaft erkannt wird und deshalb unwiderlegt und unwiderleg-
lich ist.611 Dies wäre natürlich ein immenser Vorteil einer These, allerdings
ein Vorteil, den Popper leugnet (wenn er auch wenigstens im Falle
empirischer Einzelbeobachtungen und Basissätze, sowie im Falsifizie-
rungsgedanken selbst solche unwiderleglich wahren Basissätze ebenso wie
universale evidente Sachverhalte teils explizit, teils implizite voraussetzt).
Freilich müßte Popper in ihrer Wahrheit erkennbaren und einsichtigen
unwiderleglichen synthetischen Urteilen, würde er sie anerkennen, höchste
Wahrheitsnähe zusprechen. Denn wenn eine jede unwiderlegliche Theorie
oder Aussage logisch unendlich viele niemals von Beobachtungen falsifi-
zierte Thesen enthält, müßte sie nach der obigen Definition den größtmö-
glichen ‚Wahrheitsgehalt‘ haben (weil sie nicht nur noch nicht als falsch
erwiesen worden wäre, sondern gar nicht als falsch erwiesen werden
könnte). Freilich handelt es sich hier nicht mehr bloß um Wahrheitsnähe,
sondern um einsichtige Wahrheit.
Wie wir sehen, ist auch der erste Sinn der Popperschen „Wahrheitsnähe“
(die Unwiderlegtheit einer These) noch ein äquivoker Ausdruck.
Erst recht gilt dies von dem Popperschen Ausdruck „Annäherung an die
Wahrheit“. (1) Einmal könnte sich dieser Ausdruck (gegen die Intentionen,
aber als logische Folge aus den allgemeinen Behauptungen Poppers) auf
unkontrollierbare Sätze in drei der unterschiedenen Bedeutungen von nicht
falsifizierten Theorien (a-b; d) beziehen. (2) Andererseits könnte Popper
mit der Annäherung an die Wahrheit ein Prädikat allgemeiner Theorien mit
611
Vgl. D.C. Stove, “How Popper’s Philosophy began”, S. 381-387.
Ein fünfter Begriff der Wahrheitsnähe wurde bereits erwähnt, der sehr
sinnvoll ist und manchmal bei Popper durchklingt. Wenn man im
klassischen Sinne wahre Erkenntnisse oder besser wahre Sätze (Urteile)
voraussetzt, so ist doch klar, daß keines dieser wahren Urteile alle
Wahrheit über einen Gegenstand und erst nicht über die Gesamtheit der
Dinge erschöpft. Der Gegensatz zwischen unvollständiger Erkenntnis und
unvollständig in Sätzen ausgedrückter Wahrheit und der ‚ganzen Wahrheit‘
könnte auch mit dem Begriff der Wahrheitsnähe in einem klassischen, von
Platons Worten über den Philosophen in Politeia 6 und 7 und vom Phaidon
bis G. Marcel anerkannten Sinn, identifiziert werden. Man könnte darauf
hinweisen, daß sämtliche unvollständigen Erkenntnisse und die wahren
Urteile, in denen diese ihren Ausdruck finden, nicht das Ganze der
Wahrheit in ihrer inneren Einheit und Gesamtheit zu fassen vermögen. In
diesem Sinne können sie sich nur der Wahrheit annähern, diese aber nicht
erreichen. Auch jeder der Erkenntnis beigemischte Irrtum wäre selbst-
verständlich ein Hindernis zur volleren Wahrheitsannäherung in diesem
Sinn. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, um zu sehen, daß hier ein völlig
neuer Sinn von Wahrheitsnähe vorliegt.
approximation‘ mischen sich mit Poppers These über weder mit Sicherheit
noch mit Wahrscheinlichkeit erreichbare Erkennbarkeit der Wahrheit.
Daraus ergibt sich aber letzten Endes eine Krise, ja eine folgerichtige
Infragestellung des Wahrheitsbegriffs als Adäquation (mit dessen Anerken-
nung Popper übrigens wieder eine Evidenz über das Wesen der Wahrheit
und nicht eine unbegründbare Hypothese voraussetzt).
Im Grund geht es bei Popper um einen m.E. tragischen Widerspruch
zwischen philosophischer Intention und deren Realisierung. Popper hat ein
hohes Wahrheitspathos. Er sieht die ganze Wissenschaft auf deren Prüfung
ausgerichtet und versteht seine Theorie der Wahrheitsnähe als menschliche
Form dieses Bemühens. Im Laufe seiner Versuche, die nicht positiv
erkennbare und niemals sichere Wahrheit zu testen, gerät Popper jedoch in
eine unklare Theorie der Wahrheitsnähe, des Wahrheits- und Falschheits-
gehalts usf., infolge deren in seiner Philosophie eine bestimmte neue
‚Entthronung der Wahrheit‘ eintritt. Diese ähnelt der bei den Pragmatisten
vorfindlichen, weicht aber zugleich davon ab bzw. ersetzt deren Idee der
Wahrheit als praktischer Erfolg von Theorien durch eine Idee der Wahrheit
als ‚theoretischen Erfolg‘ von Theorien im Standhalten gegenüber
Falsifikationsversuchen und ihrem Erklärenkönnen vieler empirischer
Einzelbeobachtungen bzw. ihrer Kohärenz mit diesen.
612
Tarskis Theorie läßt sich in Poppers Worten zusammenfassen: „Die Aussage P der
Objektsprache stimmt genau dann mit den Tatsachen überein, wenn p“. Man kann
kaum behaupten, daß diese berühmte Aussage besonders philosophisch ist.
Während also Tarski die Adäquationstheorie eher wiederholt als den Sinn der als
Wahrheit bezeichneten ‚Übereinstimmung‘ philosophisch verdeutlicht hat, hat
etwa A. Pfänder den Sinn der Übereinstimmung philosophisch genau herausgear-
beitet. Vgl. A. Tarski, Logic, Semantics, Metamathematics, 152-278. Vgl. auch A.
Pfänder, Logik, a.a.O.
613
Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves.
614
Diese Hoffnung eines konsequenten kritischen Rationalisten versucht der
vorliegende Beitrag zu erfüllen.
615
Siehe besonders Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 31 ff.; 46-47; 56-57; 63-64;
68; 136.
616
Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55.
617
Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, Die
Philosophie und ihre Methode.
gar nicht von einem Eingehen auf dieses philosophische Grundproblem der
Einsicht sprechen, soweit ich sehe.618
618
Wolfgang Stegmüller hingegen diskutiert trotz seiner die Skepsis als mögliche
Option offenhaltenden Position die Einsicht als wissensschaftstheoretisches Zen-
tralproblem in Wissenschaft, Skepsis, Wahrheit.
619
Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 35-37.
620
Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Leib und Seele, S. 55 ff.
(„S ist nicht P“), ebenso wie auch jedem negativen Wahrheitsurteil „‚S ist
P‘ ist falsch“ ein wahres affirmatives Wahrheitsurteil entspricht, nämlich:
„Das Urteil ‚S ist nicht P‘ ist wahr“). Vielmehr ergibt sich aus Poppers
negativistischer Wissenschaftstheorie, sobald jemand die radikale Skepsis
und epoché jedes Wahrheitsanspruchs, die aus dieser Position logisch
folgen muß, nicht akzeptiert, daß der Wahrheitsbegriff selber ausgehöhlt
wird, indem an Stelle der Wahrheit eines Urteils als seiner Übereinstim-
mung mit einem Sachverhalt letztlich ein ganz anderer, evolutionär
pragmatischer Wahrheitsbegriff träte, infolgedessen Popper letzten Endes
die Wahrheit im Stile seines erkenntnistheoretischen Evolutionismus
folgendermaßen definieren müßte: „Wahrheit eines Urteils heißt nichts
anderes als: ‚Bisheriges Überleben des stärkeren Urteils im Feuer der
Kritik, ohne bis dato falsifiziert worden zu sein‘“, oder: „Wahr ist ein
Urteil solange es nicht der Falsifizierung, welche jedes Urteil treffen kann,
zum Opfer fällt.“
Damit würden aber nicht nur wahre Urteile für den menschlichen Geist
unerreichbar sein und sogar die von jedem Menschen unvermeidlich
erhobenen Wahrheitsansprüche ganz und gar unbegründbar werden.
Vielmehr, wollte man der destruktiven und radikal skeptischen Folge
dieser Ideen über die Wahrheit entfliehen, müßte man einen anderen,
konsensualistischen oder pragmatischen Wahrheitsbegriff einführen.
Popper scheint also nur der Intention nach am Charakter der Urteilswahr-
heit als Korrespondenz mit Sachverhalten festhalten zu können, in
Wirklichkeit aber deren Idee so weit zu unterhöhlen und von der
Erkenntniswahrheit loszulösen, daß ein Popperianer oder kritischer
Rationalist letzten Endes gezwungen ist, die von ihm ursprünglich als
adaequatio verstandene Urteilswahrheit, deren korrespondenztheoretische
Interpretation der Falsifizierungsidee zugrundeliegt, durch einen ganz
anderen Begriff der Urteilswahrheit zu ersetzen, der sich nur noch nach
Kriterien des rein intersubjektiv-konsensualistisch verstandenen „Überle-
bens“ von Ideen zu orientieren vermöchte. Von einer solchen Position aus
scheint sich, ganz abgesehen von den erwähnten Widersprüchen einer
ausschließlich die Möglichkeit der Falsifizierung (ohne Evidenz für
Wahrheit) zulassenden Theorie, unausweichlich ein Übergang zu einem
konsensualistischen oder pragmatischen oder ähnlichen Wahrheitsbegriff
zu ergeben. Warum?
All diese Folgen ergeben sich erstens dann, wenn man die Popper’sche
Skepsis nicht ausschließlich auf Allgemeinurteile, sondern auch auf das
Cogito ausdehnt, wie Popper dies an den zitierten Stellen tut; denn damit
müssen auch alle Erkenntnisse der Basissätze inklusive des von diesen
vorausgesetzten Urteils des Cogito und der Erkenntnis der eigenen
Beobachtungsakte bezweifelt werden, da die Evidenz des Cogito jener aller
anderen Erkenntnisse (in denen mir ja immer die eigenen Erkenntnisakte
mitgegeben sind) und damit auch jener der Basissätze zugrundeliegt.
Zweitens aber setzt jede Position und jedes Argument oberste logische
und ontologische Evidenzen über universale epistemologische, ontolo-
gische und logische Prinzipien voraus, ohne deren Erkenntnis überhaupt
nichts anderes erkannt werden kann, wie es ist, weshalb aus de folgenden
Skepsis die Flucht in eine andere Wahrheitstheorie wie den Pragmatismus,
Pragmatizismus, oder eine verwandte Wahrheitstheorie sich aufdrängt.
Allerdings hilft auch eine derartige Flucht nicht weiter. Denn sowohl die
Feststellung des Konsenses oder des Erfolges als auch die Falsifizierung
einer Theorie setzt wiederum notwendig im korrespondenztheoretischen
Sinne wahre Urteile sowie Erkenntniswahrheit voraus, in der die
Urteilswahrheit auch von der Person erkannt wird.
621
Dieses Kapitel ging aus einem Vortrag hervor, gehalten am 29.X.1986 nach einem
Vortrag Hans-Georg Gadamers, im Rahmen des Symposiums „Philosophie
heute“. Der hier wesentlich erweiterte Text bildete den 2. Teil eines Dialogs mit
Gadamer im Rahmen er Eröffnungsfeierlichkeiten der Internationalen Akademie
für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Der Beitrag sollte mit einer weiteren
Antwort Gadamers und zweier Rückantworten als echter Dialog bzw. Steit-
gespräch im Druck erscheinen, wozu es aber nicht kam.
622
Parmenides sagt ja, daß der nous (Geist) und das Sein (tò einai bzw. tò éstin)
dasselbe sind.
623
Siehe Parmenides, fr. 8: 4 ff.
624
Diese Entdeckung der Geschichtlichkeit der Philosophie als eines menschlichen
Bemühens lässt sich gewiss bis auf die pyrrhonische Skepsis und Autoren wie
Sextus Empiricus zurückverfolgen. Doch hat Hegel in völlig neuer Weise diese
Historizität der Philosophie hervorgehoben, wobei das Moment einer echten
philosophischen Bewußtwerdung dem konstruktiven Moment der Übertreibung
und Entstellung dieser „Geschichtlichkeit“, wie sie im folgenden kritisiert werden
soll, die Waage hält. Siehe dazu insbesondere G.F.W. Hegel, Geschichte der
der Geschichtlichkeit des Inhalts der Philosophie, ja sogar des Seins und
der Wahrheit selber, den Anspruch der Philosophie auf Erkenntnis des
Zeitlosen zuinnerst treffen, ja Philosophie negieren. Die Philosophie würde
durch ihre totale Kettung an wandelbare historische Ursachen ihrer
geistigen Abhängigkeit vom Sein des in ihr Erkannten vollkommen
verlustig gehen, obwohl Friedrich Dilthey meint, gerade durch die
Erkenntnis der Geschichtlichkeit erfahre die Philosophie Befreiung.
Friedrich Nietzsche schildert in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung
den radikalen Relativismus als die größte Bedrohung für Schopenhauers
und, wie wir aus Briefen wissen, sein eigenes Denken, in so
eindrucksvollen Worten, daß es gut ist, sie sich immer wieder vor Augen
zu halten:
Das war die erste Gefahr in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs;
Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese
Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus
seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch
in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und
Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit
dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint
mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig
eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man
überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht
glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor
allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete
es sein könnten... Sobald aber ... Kant anfangen sollte eine populäre
Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden
und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden, und
nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel
ausgehalten haben,... würde an seiner Stelle jene Erschütterung und
Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich
von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem“,
schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen
Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken
mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzlich
erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir
Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s
das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode
nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch
noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens
dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in
seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.“ Ja, wann werden
wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann
lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem „heiligsten
Innern“ messen?625
Nietzsche und Kleist machen mit diesen Worten die zentrale anthropolo-
gische Aussage, daß das „heiligste Innere“ des Menschen, seine Erkennt-
nisbemühung, Recht und Gerechtigkeit, Moral und Liebe, eigentliches
Glück und damit auch Sinn und Wert des menschlichen Lebens überhaupt,
nur dann bestehen können, wenn es Wahrheit gibt, die objektiv und in sich
wahr ist und deshalb „uns auch noch in das Grab folgt“. Nur unter der
vorausgesetzten Gültigkeit dieser anthropologischen Aussage kann durch
einen „zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus“ das „höchste Ziel“
getroffen und das „heiligste Innere“ verwundet werden.
Radikalste Skepsis und Verzweiflung an der Erkenntnis einer
nicht-relativen und ungeschichtlichen Wahrheit, die in sich und nicht bloß
für uns als historische oder individuelle Subjekte Bestand hat, bedrohten
jedoch auch fünfzehnhundert Jahre vor Nietzsche einen genialen Geist im
Raum abendländischen Denkens, von dem viele dies kaum vermuten
möchten Augustinus. Die großen Schulen der antiken Skepsis, die in der
späten Akademie eines Arkesilas und Karneades kulminierten, hatten ein
eindrucksvolles Arsenal von skeptischen Argumenten angehäuft, die den
dreißigjährigen Augustinus zutiefst beunruhigten. Da war einmal die
pyrrhonische Skepsis, die auf der Unzuverlässigkeit der Sinne beruhte und
einem Ideal von Glück (Atharaxie) ohne Wahrheitsfundament, auf dem
Boden einer skeptischen epoché (Urteilsenthaltung), nachstrebte.626
Auch spielte in der pyrrhonischen Skepsis die Tatsache der entgegen-
gesetzten Meinungen der bedeutendsten Philosophen eine große Rolle, also
eine ähnliche Tatsache wie jene, die Kant als „Skandal der Vernunft“
625
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 302.
626
Siehe Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. 1 (Brescia: La
Scuola, 1985).
628
Siehe Augustinus, Contra Academicos, II und III; Confessiones, V, xiv, 3 und die
in Anm. 3 angeführten. Zu den 11 (Aenesidemus von Knossos) bzw. 5 (Agrippa)
Hauptargumenten der pyrrhonischen Skepsis siehe Copleston, a. a. O., S. 186-189.
629
Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 124.
Siehe dazu Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. I, a.a.O.,
S 55.
630
Siehe Augustinus, De Trinitate, X, x, 14.
631
Siehe Platon, Theaitetos, 160 d-e; 161 c.
Doch schienen auch die augustinischen und zu Beginn der Neuzeit die
ähnlichen cartesischen Gedanken zur Begründung dieser objektivistischen
Weltsicht und zur Widerlegung des Subjektivismus und der Skepsis nur
relativen Wert zu haben. Wie Nietzsche formuliert, hat die Philosophie
nach Descartes – „und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines
Vorgangs“632 – versucht zu zeigen, daß selbst das Ich, das Augustinus und
Descartes als unbezweifelbare Realität ansahen, in Zweifel gezogen
werden kann, daß es vielleicht selbst nur ein Produkt des Denkens, nicht
dessen Bedingung sei. So gelangen wir über die Skepsis Humes am Ich zu
jener Kants, der annahm, daß alle notwendigen Prinzipien der Philosophie
und der Mathematik oder reinen Naturwissenschaften, und selbst das
erfahrene Subjekt, vom transzendentalen Subjekt, ja letztlich von einer
„transzendentalen synthetischen Apperzeption“ eines anonymen Denkens
her als reine Bewußtseinsobjekte erzeugt werden und keine objektive
transzendente Geltung und Wahrheit beanspruchen dürfen.
Die Überzeugung von der Unerreichbarkeit und Unerkennbarkeit des
Seins an sich wandte sich von seiner immer noch streng im transzenden-
talen Subjekt gegründeten Kantischen Form ab und wurde immer
empirischer und uneinheitlicher. So erschien in der neueren Philosophie in
zunehmendem Maß eine durch verschiedene innerweltliche Phänomene
(wie Bewußtsein, Gesellschaft, Sprache, Geschichte) oder auch durch reine
Chiffren (wie „transzendentales ego“, „reines Bewußtsein“) angezielte und
letzten Endes anonym-unerkennbare Subjektivität als absoluter Ursprung
aller Dinge, die nur als Gegenstand menschlichen Bewußtseins zu denken
wären.
Diese Position ist nach seiner anfänglichen radikalen Neubegründung
einer realistischen und objektivistischen Philosophie in den Logischen
Untersuchungen633 wiederum beim späten Husserl zu finden, der in den
Cartesianischen Meditationen schreibt, daß die Welt „ihren ganzen, ihren
632
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Das religiöse Wesen“, 54.
Nietzsche, Werke Bd. II (München, 1965).
633
Vgl. Josef Seifert, “The Significance of Husserl’s Logical Investigations for Realist
Phenomenology and a Critique of Several ‘Husserlian Theses’ on Phenomeno-
logy. In Commemoration of the 100th Anniversary of the Publication of Edmund
Husserl’s Logical Investigations (1901/01-2001/2)”, in: Instituto de Filosofía,
Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago, Seminarios de Filosofía,
Vols. 17-18 (Santiago de Chile: Instituto de Filosofía, 2004-2005), pp. 133-190.
634
Siehe Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 8.
635
Siehe E. Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzenden-
tale Phänomenologie (Den Haag, 1954).
Dennoch nahm Dilthey mit seiner Ablehnung der Skepsis betreffend die
Historie selbst an, es gäbe noch etwas Fixes, nämlich die wissenschaftliche
Objektivität des Historikers in Hinsicht auf etwas in historischen Subjekten
und Epochen selbst Bestehendes. Der Historiker vermöge sich in die
vergangenen Zeiten hineinzuleben, das Denken und Leben anderer
Kulturen und Epochen zu rekonstruieren und fände damit eine neue Basis
636
Dieser treffende Ausdruck stammt von Walter Hoeres, vgl. seine Kritik der
transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, sowie seinen Aufsatz “Critique
of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and Neo-
Scholastic Transcendental Philosophy” S. 353-69.
637
Siehe Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den
Geisteswissenschaften, 7. unveränd. Aufl., Gesammelte Schriften VII
(Stuttgart/Göttingen: Teubner/Vandenhöck und Ruprecht, 1979), S. 290-291.
638
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2, Hermeneutik II,
„Hermeneutik und Historismus“, S. 389.
Zur zunehmenden Abkehr Diltheys und Bettis von einem „naiven historischen
Objektivismus“ siehe ebd., bes. S. 393 f., S. 398 ff.
639
Siehe Gadamer, ebd., S. 397.
Vgl. auch R.G. Collingwood, Philosophie der Geschichte, eingel. v. H.-G.
Gadamer (Stuttgart, 1955), S. 260.
640
Siehe Hans-Georg Gadamer, „Hermeneutik und Historismus“, in: Gadamer,
Gesammelte Werke, Bd. II, Hermeneutik II, S. 411-412.
Verständnis hat da keinerlei Privileg, weder das heutige noch das morgige.
Es wird selbst von den wechselnden Horizonten umfaßt und mit ihnen
mitbewegt. (Ibid., S. 416-417).
Auch in bezug auf die Ethik wendet Gadamer mit Theodor Litt densel-
ben Historismus an, indem er den Versuch von Leo Strauss, trotz seines
Skeptizismus allgemein verbindliche übergeschichtliche naturrechtliche
Normen zu vertreten, historisch-psychologisch erklärt. Nach bestimmten
sittlich-politischen Verirrungen des Urteils (im Nazideutschland, aus dem
Strauss entkommen war) entstünde das „Verlangen nach einem festen, sich
gleichbleibenden Maßstab, ‚der dem zum Handeln Aufgerufenen die
Richtung weist‘“ (ibid., S. 423). Gadamer tritt dieser Auffassung, in der er
mit Litt die „Gefahr eines neuen Dogmatismus“ erblickt, entgegen: Litt
zeigt, daß damit keine allgemeine Norm gemeint sein kann, unter die der
zu beurteilende Fall praktisch-politischen Handelns subsumiert werden
könnte. (Ibid., S. 423)
Es wird nicht ersichtlich, wie Gadamer, der sich unter (m.E. einseitiger)
Berufung auf Aristoteles ausschließlich auf geschichtlich-wandelbare
Regeln der phronesis (praktischen Klugheit) beziehen will, um etwa dem
Terror eines Hitler zu widerstehen, die Konsequenz vermeiden kann, daß
nach solchen Voraussetzungen auch die Greueltaten totalitärer Regimes
unter bestimmten historischen Umständen gerechtfertigt sein könnten, was
nur derjenige ausschließen kann, der eben annimmt, daß konkrete histo-
rische Taten unter universal und ewig gültige Wahrheiten bzw. axiolo-
gische Wertgesetze fallen.
Um den Gedanken der Historizität der Wahrheit noch tiefer zu prüfen
und „die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit“ zu verteidigen, und
bevor wir uns noch mit Gadamers spezieller Position eingehend ausein-
andersetzen, wenden wir uns einer allgemeineren Analyse des Verhältnis-
ses zwischen Wahrheit, Philosophie und Geschichte zu.
641
Russell hat in den Principia Mathematica versucht zu zeigen, daß es zu logischen
Paradoxien in der Gruppentheorie und auf anderen Gebieten kommt, wenn man
die „Selbstanwendung“ eines Satzes oder einer Theorie auf sie selber zuläßt. Er
hat deshalb die „Typentheorie“ entwickelt, um die Legitimität eines solchen
Vorgehens zu bestreiten.
In anderer Weise versucht Heidegger (und Gadamer mit ihm) die Hinweise auf
innere Widersprüche der eigenen Position als blosse Überrumpelungsversuche
abzutun. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, daß man unmöglich
allgemein die Selbstanwendung ausschließen kann, schon weil damit die obersten
logischen und ontologischen Prinzipien, die notwendig auch für sie selber gelten,
ausgeschlossen werden müssten.
Auch kann man eine so elementare Wahrheitsbedingung wie Widerspruchs-
freiheit nicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, daß man den Hinweis auf sie
als Ueberrumpelungsversuch bezeichnet. Platon im Theaitetos, Aristoteles, und
andere klassische Denker erkannten mit Recht, daß innere Widersprüchlichkeit
schlechthin mit der Wahrheit einer Position unverträglich ist, ja diese selbst
aufhebt und uns, wie Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik ausführt, zu
totalem Schweigen und Nichtdenken verurteilen müsste. Siehe dazu auch J.
Crosby, „Kritik des Skeptizismus und Relativismus“, in: Wahrheit, Wert und Sein
(Regensburg: Habbel, 1974).
Zunächst einmal gibt es in sich rein formale Elemente gar nicht. In der
allgemeinen Ontologie und Logik werden die obersten ontologischen und
logischen Prinzipien genauso als material-inhaltliche Prinzipien verstanden
wie konkretere Prinzipien in anderen Wissenschaften.642 „Formale“
Voraussetzungen sind sie nur relativ zu anderen Seinsbereichen, für die sie
formale Bedingungen, nicht „materiale Inhalte“ darstellen.
Selbst wenn man die im Begriff des „Formalen“ implizierte Relativität
leugnen und im „Formalen“ eine innere Bestimmtheit von Prinzipien
erblicken wollte, etwa ihre Inhaltsarmut und Abstraktheit, könnte man
„formale Prinzipien“ in diesem Sinn keineswegs als den einzigen
Gegenstandsbereich evidenter Erkenntnis betrachten, der durch die
Geschichte nicht konstituiert, sondern nur vermittelt wird.
Denn erstens gehört zu diesem durch andere Menschen oder Geschichte
nur vermittelten Wissen alles empirische Wissen, alles historische und
philosophiehistorische Wissen, das nicht „formal“ in irgendeinem Sinne
dieses Ausdrucks ist.
Zweitens gibt es viele in jedem Sinne des Wortes material-inhaltliche
absolute Evidenzen, die sich auf wesensnotwendige Sachverhalte beziehen
und für deren Erkenntnis die Geschichte nur eine vermittelnde, nicht eine
konstituierende Rolle spielen kann. Man denke an das von Stumpf,
Husserl, Reinach, Hildebrand und anderen Phänomenologen oft verwen-
dete Beispiel der zweidimensionalen Ausdehnung der Farbe oder der
Tatsache, daß die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach
zwischen rot und gelb liegt. Oder man denke an die materialen apriorischen
Sachverhalte über das Wesen des Versprechens, die Reinach herausge-
arbeitet hat, wie daß das Versprechen notwendig ein sozialer Akt und also
„vernehmungsbedürftig“ ist, sodaß ein einsames Versprechen, das niemals
seinen Adressaten erreicht, ein Unding oder jedenfalls wie ein „abgesch-
leuderter Speer, der niemals sein Ziel erreicht“, wäre.643 Man kann aber
auch axiologisch-anthropologische Sachverhalte wie daß der Mensch als
Person eine Würde besitzt ganz unabhängig von seiner Rasse, eine
642
Siehe die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von „formal-material“ in D.
von Hildebrand, What is Philosophy?, übers. F. Wenisch, Was ist Philosophie?, D.
von Hildebrand, Gesammelte Werke Bd. I, Kap. IV, S. 88 f.
643
Siehe Adolf Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts: Die apriorischen Grundla-
gen des bürgerlichen Rechts, S. 37 ff.
644
Siehe J. Seifert und E. Morscher, „Über die Grundlegung der Ethik: Ein Dialog
zwischen Josef Seifert und Edgar Morscher,“ in: Vom Wahren und Guten:
Festschrift für Balduin Schwarz zum 80. Geburtstag, hrsg. J. Seifert, F. Wenisch
und E. Morscher (Salzburg: Verlag St. Peter, 1982), S. 102-122.
2. Die Geschichte als Quelle von Irrtümern und Ideologien: Geschichte und
Konstitution von „falschem Bewußtsein“ und bloß vermeintlichem „An
sich“
645
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenological Foundation
for Classical Realism wo dieser Unterschied und damit die Möglichkeit einer
Erkenntnis der Dinge an sich eingehend erörtert und begründet wird.
646
Vgl. Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: M. Scheler,
Vom Umsturz der Werte (Bern-München: Francke-Verlag, 1955); vgl. auch
Siegfried Johannes Hamburger, „Max Scheler’s Ressentiment im Aufbau der
Moralen (1941-1943)“, Aletheia VI (1992-1993).
647
Mit Recht hebt R. Lauth die schlechthinnige historische Unaufhebbarkeit der
Wahrheit solcher Urteile in seiner glänzenden Schrift Die absolute Ungeschicht-
lichkeit der Wahrheit (Stuttgart, 1966) hervor, auch wenn wir seiner Fichteschen
Begründung dieser These keineswegs folgen können.
648
Wir sehen hier von weiteren Unterscheidungen wie der von Johann Jacob Bacho-
fen gemachten zwischen Symbol und Mythos ab. Bachofen, darin anderen
Autoren seiner Zeit folgend, schreibt dem Symbol den Charakter des Einfachen zu
und meint, es gehe von Gott aus, der Mythos hingegen sei als menschengedichtete
Geschichte und durch seine Bestimmung der Deutung der Symbole, sowie durch
den dadurch bedingten kompositorisch komplexen Charakter unterschieden.
Neben J.J. Bachofen’s 1867 erschienenen Hauptwerk Mutterrecht ist dabei das
1959 erschienene Buch Gräbersymbolik wichtig.
649
Außer diesem Grund für die Nichtrelativität der Märchenwelt gibt es zumindest
noch einen anderen. Andere Menschen können an diesem Märchen teilhaben und
in diesem Sinne ist die Welt des literarischen (Kunst-)Werks und der in ihm
dargestellten Gegenstände und Personen – denen Roman Ingarden die heteronome
Existenzform der abgeleiteten rein intentionalen Gegenständlichkeiten zuweist –
intersubjektiv zugänglich. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk;
ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (Tübingen: Niemeyer, 1968).
All dies hindert freilich nicht, daß die von bewußten Akten und von
intersubjektiv zugänglichen Wortbedeutungen konstituierten Gegenstände eines
Märchens kein Sein an sich besitzen und in diesem Sinne „relativ“, „seinshetero-
nom“ und vom Märchen und seiner objektivierten Intentionalität total abhängig
sind.
Sein erheben, innerhalb der Philosopie kaum einen Platz haben,650 können
wir von einer weiteren Erörterung dieser Art von historischer Bewußtseins-
abhängigkeit absehen, mußten diese Bedeutung von historischer Abhängig-
keit von Gegenständen des Bewußtseins jedoch zur Abgrenzung einführen.
Neben diesen drei Rollen der Geschichte (als Bedingung und Vermitt-
lerin von Erkenntnis, als Konstitution von vermeintlichem An sich und als
Ursprung von Fabeln, Mythen, Parabeln, usf.) gibt es eine ganz andere Art
historischer Abhängigkeit, die in besonderer Weise die Philosophie betrifft.
Es geht um die Rolle der Geschichte beim Entstehen von konkreten
Sprachen, um den jeweiligen Wortreichtum derselben, um die Entwicklung
besonderer wissenschaftlicher und philosophischer Terminologien und um
Bedeutungsbesonderungen, die in ihnen sprachlich ausgedrückt werden
können, um grammatische Strukturen und viele andere Faktoren, die
jeweils historisch entwickelt und modifiziert werden.
Zwar gibt es, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen gezeigt hat,
eine „rein logische Grammatik“, und damit grammatische und sprachliche
Strukturen, die apriorisch-wesensnotwendige Gültigkeit besitzen und
deshalb allen Sprachen gemeinsam sind, wie sie auch Chomsky und andere
platonisierende Sprachwissenschaftler und Semiotiker sowie Semantiker
heute in zunehmendem Masse anerkennen.
Doch zugleich gibt es zweifellos jene historischen Besonderungen
semiotischer und semantischer Sprachelemente, die den einzelnen
Sprachen eigentümlich sind und die es etwa erlauben, in einer bestimmten
Sprache anders oder besser philosophieren zu können als in anderen.
In diesem Sinne besteht zweifellos ein Vorteil darin, nicht in einer
indianischen Sprache, wie einem der Apatschen- oder Komantschen-
650
Es sei denn, man denke an die philosophischen Aussagen der von Platon und
anderen Philosophen verwendeten Mythen, die dann aber nicht als reine Dicht-
werke, sondern als dichterischer Ausdruck philosophischer Thesen zur Philoso-
phie selbst gehören.
Wieder ein ganz anderer Einfluß der Geschichte betrifft das Aufwerfen
bestimmter Interessen, Fragen oder Probleme. Der Mensch und insbeson-
dere der Philosoph ist ja als zoon politikon nicht ein Wesen, das einen
luftleeren isolierten Raum bewohnt, sondern er steht in lebendigem
Kontakt mit der Welt, in der er lebt.
So sehen wir uns heute globalen Problemen der Umweltverseuchung
gegenübergestellt, die der mittelalterliche Mensch nicht kannte. Wissen-
schaftliche Entdeckungen wie die der Genetik, Vererbung, der Rolle des
Gehirns, aber auch mögliche Transplantationen oder genetische Eingriffe,
Genomanalysen usf. eröffnen der Technik und Manipulation des Menschen
völlig neue Möglichkeiten und werfen neue Probleme für den Philosophen
auf. Dadurch wird der Erfahrungshorizont, von dem ein Philosoph
ausgehen und über dessen Gegenstände er philosophieren kann, ungeheuer
erweitert. Es werden ihm etwa ganz neue Probleme der Leib-Seele-
Beziehung oder Ethik gestellt, die er durch neues Nachdenken über die
Dinge im Lichte solcher empirischer Befunde oder neuer Erfahrungs-
horizonte anzugehen hat. Neue Interessen stehen im Vordergrund. Man
denke an das im Spätmittelalter und der Renaissance neu erwachende
Interesse am Individuum oder an das im 19. Jahrhundert erwachende neue
Interesse an der Geschichte.
Für all dies ist gewiß die Geschichte zumindest partiell verantwortlich,
für all dies ist geschichtliches Leben und sind historische Entwicklungen
gewiß maßgeblich. Doch hindert nichts, daß die durch diese neuen
Die Geschichte spielt noch eine weitere Rolle für die Philosophie.
Geschichte ist auch selbst eine Urgegebenheit und liefert uns zugleich
zahlreiche neue Erfahrungsdaten, über die philosophiert werden muß.
Kunstwerke werden in ihr geschaffen, die viele psychologische
Probleme aufdecken, wie die Romane Dostojewskis. Neue Kunstarten
werden hervorgebracht, die nach einer eigenen ästhetischen Analyse
verlangen. Neue wissenschaftliche Forschungen werden durchgeführt, neue
651
Vgl. dazu etwa die von I. Quiles mit so vielem Erfolg durchgeführten Dialoge mit
dem japanischen und chinesischen, hinduistischen und buddhistischen Denken und
die von ihm hervorgehobenen authentischen Erkenntnisse in demselben. Siehe
Ismael Quiles, Filosofia budista (Buenos Aires, Ed Troquel, 1973); ders., Qué es
el Yoga? (Buenos Aires: Ed. Depalma, 1987).
Eine andere Dimension der Rolle der Geschichte und der Geschichtlich-
keit des Philosophierens folgt aus den eben genannten (4-6) ebensowohl
wie aus der metaphysischen Tatsache der Endlichkeit menschlichen
Erkennens. Denn so objektiv und daher absolut wahr auch ein Urteil, wie
652
Einleitung zur Rechtsphilosophie: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein
soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät.
Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit
ihren Bildungs-Prozeß vollendet und sich fertig gemacht hat... Mit Grau in Grau
läßt sie (eine Gestalt des Lebens) sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die
Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Werkausg. 7, 27/8).
daß der Mensch frei und verantwortlich und nicht kausal historisch
determiniert sei, ist und sosehr es deshalb Teil der allumfassenden
Wirklichkeit und Wahrheit und in dieser enthalten ist, so ist es doch
andererseits ein in unendlich vielen Richtungen ergänzungsfähiges,
differenzierungsbedürftiges und von möglichen Mißverständnissen zu
befreiendes Urteil.
Wegen der potentiellen Unendlichkeit der Erkenntnis und des Seins und
der Begrenztheit jeden menschlichen Wissens ist es natürlich, daß in einem
bestimmten Lebensabschnitt und von einem bestimmten Menschen nur ein
kleiner Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit erkannt wird. Der eine wird
Handwerker und versteht vieles über den Bau von Häusern, wovon ein
Philosophieprofessor keine Ahnung hat. Ein anderer versteht mehr von
Politik, wieder ein anderer von Mathematik usf.
Diese Partialität und Unvollständigkeit menschlichen Erkennens ist Teil
von dessen Wesen, und seine konkrete Gestalt hängt von vielen bega-
bungsmäßigen, charakterologischen und lebensgeschichtlichen Faktoren
individueller Art ab.
Jedoch ist es ebenso klar, daß es neben diesen und anderen individuellen
oder sozialen Faktoren die Geschichte ist, und zwar nicht eine abstrakte
Gegenwart, sondern die konkrete historische Gestalt, in der sich etwa die
Philosophie und Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit in einem
bestimmten Land befindet, von der es mit abhängt, mit welchen Dingen
sich ein Mensch besonders beschäftigt und welche Teile der grundsätzlich
möglichen Erkenntnis er erwirbt.
Damit ist freilich nicht eine gewisse von Schleiermacher und der
hermeneutischen Philosophie hervorgehobene und schon in der Antike
erkannte Dialektik von Ganzem und Teilen geleugnet, kraft deren auf jeden
Teil durch alle anderen sowie durch das Ganze neues Licht geworfen wird.
Doch während diese Dialektik beweist, daß der Teil nur im Licht des
Ganzen vollkommen verstanden werden kann, beweist sie keineswegs die
Vorläufigkeit, Relativität oder gar den bloßen Vorurteilscharakter
irgendeiner gültigen Einzelerkenntnis, die durch weitere Erkenntnisse zwar
differenziert und ergänzt, niemals jedoch im Sinne des Ungültigwerdens
oder Unwahrwerdens aufgehoben werden kann. Dies wäre nur bei
Irrtümern möglich, niemals bei gültigen Erkenntnissen, die im Ganzen der
Wahrheit voll bewahrt bleiben.
Damit rühren wir an eine weitere Bedeutung der Geschichte für die
Philosophie und der Philosophie für das Begreifen der Geschichte. Die
Philosophie und andere Wissenschaften und Forschungszweige haben eine
Aufgabe in der Geschichte, insoferne sie von der historischen Situation
Erfahrungen, Probleme, aber auch bestimmte Irrtümer, die das soziale-
historische Klima einer Zeit bestimmen, empfangen und zugleich kritisch
zu erforschen haben.
So ist die jeweilige historische Epoche eine Herausforderung an die
Philosophie. Kant sah sich bewogen, auf die beherrschenden philoso-
phischen Strömungen seiner Zeit, den Rationalismus und Empirismus zu
653
Siehe G.F.W. Hegel, Philosophie der Geschichte, cit., S. 75-76.
654
Siehe Machiavelli, Der Prinz, Kap. xviii.
Eine bedeutsame Quelle des Historismus und der Meinung, alle philoso-
phischen Syteme seien von der Geschichte erzeugt, liegt in Philosophien,
die einen radikalen Neuheitsanspruch erheben. Dies gilt insbesondere für
den Historismus selber.
Denn wenn man sein eigenes System für eine völlig neue Philosophie
hält und damit vielleicht sogar – unwahrscheinlicherweise – recht hat, und
dann fälschlicherweise die Wahrheit einer solchen radikal neuen Philoso-
phie ansetzt, kann man leicht den Eindruck bekommen, daß es keine
Kontinuität und Selbigkeit der Wirklichkeit und Wahrheit zu allen Zeiten
gibt, sondern einen radikalen, an die Wurzeln der Dinge und Erkenntnis
selbst gehenden Wandel. Heidegger ging aus diesen Gründen so weit,
einen Wandel der Wahrheit selber anzunehmen.
Wenn man hingegen einer klassischen realistischen Philosophie, etwa
dem Thomismus oder phänomenologischen Realismus, anhängt und die
ungezählten historischen Vorläufer und Gestalten der im Grunde gleich-
bleibenden einen und umfassenden Philosophie (philosophia perennis)
sowie auch die immer wiederkehrenen Gestalten philosophischer Grund-
irrtümer bemerkt, wird man weder an einen radikalen Wandel der
Philosophie noch auch an die inhaltliche Geschichtlichkeit philosophischer
Erkenntnisse glauben, sondern vielmehr frei sein, neben den historischen
auch die zeitlosen inhaltlichen Dimensionen der Philosophie, die diese
besitzt, insoferne sie an der zeitlosen Wahrheit teilhat, anzuerkennen.
So wird man etwa in der skotistischen Philosophie des Guten mehr
wahre Erkenntnisse finden als in zahllosen Formen des Wertsubjektivismus
oder kantischen Wertidealismus der letzten Jahrhunderte, oder in Platons
und Aristoteles’ Einsichten in unwandelbare Wesenheiten mehr Wahrheit
erblicken als im französischen strukturalistischen Nihilismus mancher
Denker der eigenen Zeit. Wenn man viele, ja ungezählte Erkenntnisse ewig
gültiger Wahrheit über Seele, Geist, Verantwortung, Moral, das Gute,
Von der pyrrhonischen Skepsis bis zur Gegenwart ist ein hauptsäch-
licher Grund für den Historismus und Skeptizismus wohl das Phänomen,
das Kant in einem Brief an Garve als den „Skandal der Vernunft“ und als
Hauptmotiv für die Kritik der reinen Vernunft bezeichnete und das wohl
655
Wie alle derartige Versuche einer Beschreibung der Entwicklung und Motive einer
Philosophie handelt es sich auch hier um Schematisierungen und der historischen
Interpretation eigene Abstraktionen, die es durchaus möglich erscheinen lassen,
daß einzelne Denker der hermeneutischen Philosophie, etwa Gadamer, der mit
seinen vielen und hervorragenden Arbeiten über Platon und Aristoteles ein
außerordentliches Verständnis für und Einverständnis mit der klassischen
Philosophie beweist, nicht dieselben Motive hatten.
Paradoxerweise wirkt die gegenüber Dilthey und Droysen radikalisierte
hermeneutische Version des Historismus in Gadamer, obwohl er deren Mitbe-
gründer ist, als Fremdkörper angesichts seiner klassisch-platonischen Geistesrich-
tung. So müsste es etwa von seinen Voraussetzungen her folgen, daß wir
Kunstwerke immer vom neuesten eigenen und je subjektiven Interpretations-
horizont und den eigenen Vorurteilen aus interpretieren sollten, aber Gadamer
führt in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele beeindruckend aus,
daß Mozarts und andere Werke nicht von willkürlichen und fremden Gesichts-
punkten, sondern von der morphe (Gestalt) der Werke selbst aus interpretiert
werden müssten.
656
Die spezifischen Probleme der angeblichen Antinomien, die Kant und moderne
Philosophen in verschiedenen Formen behaupten, werden im folgenden nicht
behandelt. Ich verweise dazu auf meine Arbeiten; Überwindung des Skandals der
reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; „Das
Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der
reinen Vernunft“.
657
Siehe dazu das bedeutende Werk von Balduin Schwarz, Der Irrtum in der
Philosophie (Münster i.W.: Verlag der Aschendorff’schen Verlagsbuchhandlung,
1934).
658
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves, cit. und die dort referierten
Erkenntnisse Augustins, Descartes’, Hildebrands u.a.
659
Siehe dazu J. Seifert, Essere e Persona : Verso una Fondazione Fenomenologica
di una metafisica classica e personalistica, Kap. 5; 9-15, sowie ders., Gott als
Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen
Arguments, 2. Aufl. 2000.
660
Siehe Platon, Politeia, VII, 517 c.
solche Bedingung, sondern nur für die Erkenntnis von deren letzter
wirklicher Stelle im Ganzen.
Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, jedwede
Form einer grundsätzlichen Skepsis an einem übergeschichtlich wahren
philosophischen und auch historischen Wissen in durchaus kritischer
Weise zu überwinden.
oder Urteile, zwischen denen unser Zweifel uns hin und her schwanken
läßt: nämlich ob jedes Objekt des Verstehens von historisch wechselnden
Interpretationshorizonten konstituiert ist oder nicht. Entweder es gibt ein
Sein und ein Leben, das wir als solches erkennen können und das
keineswegs bloß noema historischer Bewußtseinsvollzüge und Vorurteile
ist oder es gibt kein solches Leben! Die Antwort auf diese disjunktive
Frage mag ungewiß sein. Daß jedoch der Zweifel selbst dieses doppel-
strukturierte Objekt besitzt, steht außer Frage. Wir könnten nicht zweifeln,
ohne zu erkennen, woran wir zweifeln und näher, daß wir daran zweifeln,
ob es transhistorische Bedingungen allen Verstehens und aller
Hermeneutik gibt oder nicht.
Mit diesem „oder nicht“ ohne das der Zweifel als solcher sich überhaupt
nicht zu konstituieren vermag, ist uns jedoch auch jenes Prinzip
mitgegeben, von dem Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik sagt, es
sei das allergewisseste und unbezweifelbarste Prinzip, nämlich das des
Widerspruchs. Denn unser Zweifel würde absolut ins Leere greifen, wenn
uns dies eine nicht gewiß wäre: Die objektive Existenz des Lebens
historischer Subjekte und nicht auf geschichtliches Bewußtsein relativer
Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie deren Gegenteil. Der Sachverhalt „S ist
P“, d.h. es gibt eine nicht bloß historisch entworfene Wirklichkeit, und der
Sachverhalt „S ist nicht P“, es gebe also keine solche, sind nicht identisch
und schließen sich außerdem gegenseitig aus. Ohne dieses Entweder-Oder,
wie wir auch mit Kierkegaard formulieren können, läßt sich der
hermeneutisch und historisch motivierte Zweifel überhaupt nicht
vollziehen. In diesem Entweder-Oder und im Prinzip, daß dasselbe
intelligibel macht, rühren wir jedoch mit Augustinus661 an das Wider-
spruchsprinzip als Bedingung der Möglichkeit jedes, und damit auch des
historisch-hermeneutischen Zweifels.
Auch die Einsicht in die objektive, nicht standortbedingte Tatsache, daß
wir zweifeln, ist gewiß. Ferner sind wir in unserem ernsthaften Dialog
zwischen der Position der Hermeneutik und unserer augustinischen
Antwort auf das Problem der Geschichtlichkeit bemüht, eine Antwort zu
finden. Ja der Ernst unseres Dialogs hängt gerade davon ab, ob wir
erkennen wollen, welche der beiden Positionen und welche der
661
In Contra Academicos III, xiii, 29 hat Augustinus das Widerspruchsprinzip als
unbezweifelbare Bedingung jeden Zweifels formuliert.
662
Siehe Emerich Coreth, Metaphysik, 3. Auflage (Innsbruck/Wien: Tyrolia, 1982).
Siehe auch Gadamer, „Was ist Wahrheit“, in: Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2,
S. 44-56, bes. S. 52 ff. Siehe auch G.W.., Bd. I, S. 304 ff, 368 ff., 374 ff.
Im Anschluß an Alexander Pfänders Logik hat auch Friedrich Löw eine
gediegene Arbeit über „Logik der Frage“ vorgelegt: Archiv für die gesamte
Psychologie Bd. 66 (1928), S. 357-436.
663
Siehe Platon, Menon, 80 c-d.
664
Siehe E. Coreth, S. 86 f., 90-131. Coreth analysiert das Wesen der Frage in
bewundernswerter Weise und zeigt die Bedingungen auf, die in ihrem Wesen
gründen. Deshalb stimmen wir jedoch nicht mit dem Versuch überein, spezifische
Momente der kantischen Philosophie mit einer klassischen oder thomistischen
Metaphysik zu verbinden. Siehe dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist
Philosophie?. Siehe auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Siehe
auch Walter Hoeres, „Transcendental Metaphysics of Knowing”, S. 353-369;
ders., Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie. Damit ist die
transzendentale Methode als Frage nach den (objektiven!) Bedingungen der
Möglichkeit des Subjekts in keiner Weise geleugnet. In einem besonders auf die
Interpretation der transzendentalen Methode bei Coreth eingehenden Sinn will der
Autor versuchen, in einem Aufsatz das legitime Moment der Frage nach unleug-
baren und immer vorausgesetzten Wahrheiten von anderen s.E. philosophisch
unhaltbaren Elementen der tranzendentalen Erkenntnistheorie zu scheiden.
665
Siehe oben, Anm. 7, sowie Josef Seifert, Discours des Méthodes. The Methods of
Philosophy and Realist Phenomenology, (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster /
New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009); ders., Siehe auch Josef Seifert, Back to
Things in themselves: A phenomenological Foundation for classical Realism.
666
Siehe H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Hermeneutik I), S. 451.
667
Vgl. dazu Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 5, „Ich bin die Wahrheit“ und
die scharfe Auseinandersetzung mit Michel Henrys Buch, Ich bin die Wahrheit.
Für eine Philosophie des Christentums.
668
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Hermeneutik II: Wahrheit und
Methode, Ergänzung und Register, „Vom Zirkel des Verstehens“, S. 57-65.
669
Ebd., S 57.
671
Ibid., S. 177 ff.
672
Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 451.
673
Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 350.
sprechen sie keine überlegene Einsicht aus, die fruchtbar wäre. Daß die
These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich
insofern selber aufhebt, ist ein unwiderlegliches Argument. Aber wird damit
irgend etwas geleistet? Das Reflexionsargument, das sich derart als
siegreich erweist, schlägt vielmehr auf den Argumentierenden zurück,
indem es den Wahrheitswert der Reflexion suspekt macht. Nicht die
Realität der Skepsis oder des alle Wahrheit auflösenden Relativismus wird
dadurch getroffen, sondern der Wahrheitsanspruch des formalen Argumen-
tierens überhaupt.
Doch mit welchem Recht wird beim Nachweis eines von Gadamer aus-
drücklich zugestandenen Selbstwiderspruchs von Überrumpelung gespro-
chen und behauptet, ein solches Argument, das aufdeckt, die kritisierte
Position setze urteilsmäßig einen Sachverhalt, den sie zugleich leugne,
„leiste nichts“?
Man darf jedenfalls nicht unbesehen Widerlegungen aus inneren
Widersprüchen abtun, da immerhin Denker vom Rang eines Platon, eines
Aristoteles, Augustinus, Bonaventura oder Kant sie verwenden.674 In
Platons Theaitetos entwickelt Sokrates mehr oder weniger sämtliche
möglichen Argumente gegen Protagoras und andere Formen des
Relativismus, wobei die Widerlegung aus inneren Widersprüchen eine
entscheidende Rolle spielt. Die These des Protagoras vom Menschen als
Maß aller Dinge hebt sich selbst auf, da auch Protagoras voraussetzt und
unter dem Druck der Erforschung seiner Position zugeben müßte, daß er
mit sich selber uneins ist und sich selber widerspricht.675
674
Wir finden das Argument aus Widersprüchen in Platons Theaitetos, insbesondere
152d – 170d. Aristoteles verwendet es in Buch Gamma der Metaphysik,
Augustinus in Contra Academicos, Bonaventura in De Trinitate, wenn er in der
Einleitung die Existenz einer unbezweifelbar gewissen Wahrheitserkenntnis
(cognitio certitudinalis) nachweisen will. Kants Antinomie der reinen Vernunft
beruht geradezu darauf, daß Positionen, die uns in notwendige Widersprüche
verwickeln, auch notwendig falsch sein müssen. Deshalb gilt Kant der Realismus
als Dogmatismus und als notwendig falsch, da er meint, daß jeder Realismus zur
Behauptung antinomischer Thesen und Gegenthesen zugleich führe. Die kritische
Philosophie soll der Vorrede der Zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft
zufolge gerade dies zum „einzigen Probierstein“ haben, daß sie allein eine
Position vertrete, die frei von inneren Widersprüchen sei.
675
Das Argument aus dem Selbstwiderspruch des Relativismus finden wir im
Theaitetos 170 e ff., wo Platon zeigt, daß trotz aller mehr oder minder raffinierten
Versuche von Protagoras, sich von dem Vorwurf des Selbstwiderspruchs zu
Gewiß, darin stimmen wir mit Gadamer überein, das letzte Fundament
einer Widerlegung kann nicht in der formalen Tatsache des Nachweises
eines Selbstwiderspruchs einer Position liegen, da ein solcher auch in der
„suspekten“ und irrtumsbehafteten Struktur des Denkens überhaupt
gründen könnte und deswegen zur Widerlegung einer Position nur
ausreicht, wenn die innere Wahrheit jener logischen Prinzipien zur Evidenz
gebracht werden kann, auf denen Argumente aus dem Selbstwiderspruch
beruhen. Es bedarf der letzten Evidenz der Wahrheit des Widerspruchs-
satzes, um dieses Reflexionsargument als zwingend einzusehen. Doch steht
einmal fest, daß wirklich zwei kontradiktorische Sachverhalte nicht
zusammen bestehen und deshalb auch nicht die sie behauptenden
kontradiktorischen Urteile im selben Sinn bzw. gleichzeitig wahr sein
können, erweist sich die absolute Stringenz jener Argumente, die innere
Widersprüche einer Position dartun. Wenn auch Unleugbarkeit eines
Prinzips als solche keine Widerlegung seiner Verwerfung darstellt, so zeigt
sich – über den formalen Hinweis auf Selbstwiderspruch hinaus – das
Fundament der Logik selbst als wahr. Erst aus diesem Grund ist die
Unleugbarkeit mancher Wahrheiten, weil deren Leugnung sie notwendig
voraussetzt, ein tiefes und in einem objektivistischen Sinn transzendentales
Argument für sie. Auf dieser Basis ist jeder Nachweis des Selbstwider-
spruchs einer These notwendig auch ein Nachweis von deren Falschheit.
Denn eine wahre These kann sich nicht notwendig selbst aufheben oder in
Konflikt mit dem notwendig wahren Widerspruchssatz treten.676
Aber auch abgesehen von der Fundierung des „Reflexionsargumentes“
auf der evidenten Wahrheit des Widerspruchsprinzips dürfte es doch
keinen Menschen, der wie Aristoteles zeigt, in jedem Urteil und jeder
Handlung das Widerspruchsprinzip voraussetzt, ruhig bleiben lassen, wenn
er zugleich urteilend etwas setzt und denselben Sachverhalt wieder aufhebt.
Denn dies widerstreitet der Erfüllung der innersten und ebenso evidenten
befreien, er doch notwendig gerade leugne, was er selber behaupte, also die
homo-mensura-These zugleich vertrete und zugleich aufhebe.
676
Siehe Josef Seifert, Verso una Fondazione di una Metafisica Classica e
Personalista, II. Teil, Kap. V, wo das Fundament dieser Thesen im Buch G der
Metaphysik des Aristoteles diskutiert und die dreifache Hinsicht erörtert wird, in
der u.a. Husserl, Pfänder, Reinach und Hildebrand das philosophische Verständnis
des Satzes vom Widerspruch vertieft haben.
677
Siehe Gadamer, „Vom Zirkel des Verstehens“, Gesammelte Werke Bd. II, 57-65,
S. 62.
678
Gesammelte Werke, Bd. II, S. 66-76.
679
Siehe gerade dazu die ausführliche Diskussion der Problematik des „Dinges an
sich“ bei J. Seifert, Back to ‘Things in themselves’: A phenomenological
Foundation for Classical Realism, Parts III und IV.
680
„Hermeneutik und Historismus“, S. 415 ff.
681
„Was ist Wahrheit?“ (1957), (Gesammelte Werke Bd. II, S. 44-56).
behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt –
beide Teile des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht
verstehende Intellekt auch aus jenem Falschen beide Teile des
Widerspruchs und damit schließen, daß die These wesenhaft falsch und
nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.682
Es ist uns im begrenzten Rahmen dieser Ausführungen nicht möglich,
tiefer in die Einsichten einzudringen, die in großem Reichtum in Gadamers
umfangreichem Werk enthalten sind, in dem uns Schritt für Schritt Erken-
ntnisse über Verstehen, Verstehenshorizonte, Zeitlichkeit, Kontinuität im
Wandel, Wesen des Wandels und Wechsels, menschliches Bewußtsein, die
Ungerechtigkeit von Reduktionismen aller Art und die Notwendigkeit, den
naturwissenschaftlichen Methoden-Monismus zu überwinden, und zahlrei-
che weitere Erkenntnisse begegnen, ganz abgesehen von dem immensen
historischen Wissen über die Meinungen anderer. Gewiß kann weder von
Gadamers Wesenserkenntnissen noch von wahren Urteilen über historische
Fakten gesagt werden, daß sie sämtlich auf derselben Stufe der Urteile
eines Ungebildeten stünden und nicht wirklich und objektiv wahr seien.
Die historischen Fakten, aber auch allein die zeitlosen Wesensstrukturen
des Historischen, des Verstehens und Interpretierens, des Menschen
überhaupt, die in Gadamers Werk offenbar werden, würden ohne weiteres
den Stoff für ein eigenen Buch hergeben. In diesem Sinne bleibt trotz allem
Gegensatz zwischen einer Position, die die historische Relativität allen
menschlichen Verstehens behauptet und einer, die in dem Erfassen
zeitloser Wahrheit die Bedingung der Geschichtlichkeit erkennt, ein
erheblicher gemeinsamer Erkenntnisboden und damit Boden möglicher
Verständigung, von dem aus ein sinnvoller philosophischer Dialog
erfolgen kann.
An dieser Stelle wird uns auch die Unhaltbarkeit der eingangs
erwähnten Skepsis deutlich, die mit einer von Gadamer zu recht gerügten
Oberflächlichkeit die Gegensätze der vorsokratischen Lehrsysteme und die
Kraft der jeweils für sie vorgebrachten Argumente als Zeichen dafür
nimmt, daß zwischen diesen Positionen absolut nichts Verbindendes sei.
682
Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5 (eigene Übers., JS). Vgl. dazu auch
J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendi-
gen Sein der Wahrheit“, 38-52.
Man könnte etwa zeigen, daß Heraklit und Parmenides je viele tiefe
Einsichten gewannen, Einsichten, die als solche keineswegs in gegenseiti-
gem Widerstreit stehen, sondern vielmehr ein gemeinsames Fundament der
Erkenntnis und Wahrheit bilden, auf dessen Boden erst die allerdings
bestürzenden Gegensätzlichkeiten der beiden Positionen sich bewegen. Mit
der Entdeckung eines solchen gemeinsamen Erfahrungs- und Erkenntnis-
bodens jedoch ist der auf der Tatsache von Widersprüchen aufbauenden
Skepsis der Boden entzogen, denn es ergibt sich mit aller Deutlichkeit, daß
auch für die gegensätzlichsten Positionen das Wort Heraklits gilt, das den
Grund der Möglichkeit der Philosophie und auch unseres hier angestrebten
Dialogs bildet; „Der Logos ist allen gemeinsam“.683
8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der
hermeneutischen Philosophie Gadamers
683
Dieses Wort ist aus dem umfangreicheren Fragment # 2 des Heraklit genommen,
das (in eigener Übersetzung) lautet: „Deshalb soll man dem Allgemeinen folgen.
Obwohl jedoch der Logos das (allen) Gemeinsame ist, lebt die Menge doch so, als
hätte sie je eine private Erkenntnis.“
684
Siehe Hans-Georg Gadamer, „Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen
Brief“, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. VI, Griechische Philosophie II, S.
90-115.
Stufen primär durch Dialog vermittelt werde und erst nach entsprechender
geistiger Reinigung (Katharsis) erfolge. Dann erst könne die Sache selbst
und vor allem der letzte Urgrund der Dinge ansichtig werden.
Gadamer deutet jedoch die betreffende Stelle so, worin wir ihm ganz
folgen, daß auch das letzte dieser vier Momente, die Erkenntnis, noch nicht
mit dem zusammenfällt, worum es eigentlich in der Philosophie geht: der
„Sache selbst“.685 Mit Recht auch gibt Gadamer Platons Ausführungen eine
weitere Deutung als Platon selbst sie ausdrücklich vermerkt, indem er
darauf hinweist, daß es im philosophischen Dialog überhaupt kein
Gewaltmittel gegen Sophistik gibt, auch nicht in den mündlichen Reden
und Dialogen, von denen Platon spricht.686 Nur Worte, Worte, nicht die
Sachen selbst und den Blick auf diese kann ja der Philosophierende
unmittelbar einem andern vermitteln. Darum geht es jedoch in der
Philosophie.
Nun zieht Gadamer daraus einen Schluß, der von seiner PlatonDeutung
in Richtung auf die Hermeneutik abweicht, wie mir scheint. Er sieht
nämlich in allen vier Medien inklusive der Erkenntnis jene Schwäche, die
uns keinen unbezweifelbaren Zugang zur Wahrheit erlaubt. Daher seien die
historischen lógoi und philosophischen Dialoge unendlich. Darum wird
einer z.B. auch wohl viel Tiefes über die sittliche und rechtliche
Verbindlichkeit von Versprechen vorbringen, aber den letztlichen Grund
ihrer Verbindlichkeit nicht mit Gewißheit ergründen können, weshalb auch
immer sophistische Ablehnung einer Philosophie von Verbindlichkeit des
Versprechens möglich sei.
Gadamer sieht den Grund für diese Endlosigkeit des Dialogs und die
Unmöglichkeit, unbezweifelbare Erkenntnisse zu gewinnen, auch in der
weiteren platonischen Erkenntnis der unendlichen und vielfachen
Verquickungen und Abhängigkeiten aller Ideen und Wesenheiten, sodass
es in der Philosophie niemals um eine Idee, sondern um deren Fülle und
Einheit, das Ganze gehe.687
685
Ebd., S. 96-110.
686
A. a. O., S. 106-110.
687
Ebd., S. 112-113. Gadamer versteht diese vielfache und wechselseitige Verwoben-
heit der Ideen bei Platon als eine solche, die es nicht erlaubt, eine einsinnige klare
Abhängigkeit der Ideen untereinander und von ersten Prinzipien anzunehmen
(Parmenides). Er schreibt:
Was die Möglichkeit der sophistischen Freiheit betrifft, jede auch noch
so einsichtige Wahrheit zu leugnen, so ist diese offenkundig gegeben.
Doch stellt sich sowohl vom Standpunkt getreuer Platon-Interpretation als
auch vom rein systematisch-philosophischen Standpunkt die Frage, ob der
Grund für diese Freiheit sophistischer Dialektik darin liegt, oder gar liegen
muß, daß es keine unbezweifelbare Wahrheit gibt, die durch Logoi und
Episteme vermittelt werden kann. Uns scheint Platon vielmehr zu sagen,
und darin auch recht zu haben, daß nur der intellektuell und sittlich
gereinigte Mensch durch die Vermittlung von Schriften und, betreffend der
höchsten Gegenstände, von denen Platon nicht schreiben will, durch das
Medium des Dialogs Erkenntnis gewinnen kann. Nach Platon entzünden
nicht historische Horizonte, sondern die Wahrheit wie ein Funke den Geist
mit Licht, sodass er der Erkenntnis des Höchsten teilhaftig wird. Gewiß,
kein Geist kann den unerschöpflichen Reichtum intelligiblen Seins
ausschöpfen und es wird der Philosophie immer um eine „ganze Wahrheit“
gehen, die sie selbst jedoch niemals vollkommen erreicht. Doch aus dieser
Endlichkeit des Erkennens folgt noch nicht die mögliche Falschheit dessen,
was der Mensch erkennt. Aus der Tatsache, daß jedes erreichte Ergebnis,
wie daß jeder Zweifel Bewußtsein von seinem Objekt einschließt, daß das
Versprechen ein sozialer Akt ist, daß der Mensch eine unveräußerliche
Würde besitzt, unvollständig ist, folgt nicht, daß diese unvollständigen
Erkenntnisse durch weitere zukünftige Einsichten jemals aufgehoben
werden könnten.
Dies widerspricht auch nicht der Hermeneutik. Im Gegenteil! Wäre es
nicht möglich, unvollständige und doch wahre Erkenntnis zu gewinnen, so
könnte der Erkenntnisprozeß nie beginnen. Dann könnten wir niemals von
einem Teil ausgehen, da dieser ja durch und durch unverständlich wäre,
noch könnten wir im hermeneutischen Zirkel auch nur zu einer
bruckstückhaften Erkenntnis des Ganzen fortschreiten, oder gar von
„Es scheint wie ein dürrer Schematismus, in den Erzeugungsprinzipien der Zahlen, der Eins
und der Zwei, die Erzeugungsprinzipien aller Einsicht und das Aufbaugesetz aller
sacherschließenden Rede zu erblicken, und es dürfte dieser Schein gewesen sein, der Plato
die schriftliche Fixierung dieser Lehre unratsam erscheinen ließ.”
In dieser Deutung stimme ich mit Gadamer ebenso überein wie wenn er von der
im Philebos beschriebenen beglückenden Erfahrung fortschreitender Einsicht und
jener Euphorie spricht, in der dem Geist die letzten Prinzipien und die innere
Einheit aller Dinge mehr und mehr aufgehen.
Während der erste Band des vorliegenden Werkes primär der systema-
tischen philosophischen Darstellung der Seinswahrheit, Erkenntniswahr-
heit und Urteilswahrheit sowie dem metaphysischen Status der Urteils-
wahrheit und der Beziehung zwischen Wahrheit und Person, die in dem
letzten metaphysischen Zusammenfallen der Wahrheit selbst mit dem
absoluten personalen Sein („Ich bin die Wahrheit“) gipfelt, gewidmet war,
beschäftigte sich der zweite mit einer kritischen Untersuchung der diversen
alternativen Wahrheitstheorien und mit dem Streit um die Wahrheit, der
ihnen zugrundeliegt und sich in ihnen bekundet.
Heftiger als jemals zuvor ist in den vergangenen Jahrhunderten, so
haben wir an den markantesten Beispielen und Positionen gezeigt, unter
den einflußreichsten Denkern ein Riesenstreit, eine wahre Gigantomachie,
um die Wahrheit ausgebrochen.
Dieser Streit um die Wahrheit betrifft alle Ebenen und Bedeutungen der
Wahrheit. Soweit er die Erkenntniswahrheit und Seinswahrheit angeht,
haben wir bereits in Wahrheit und Person und anderswo ausführlich von
diesem Streit um die Wahrheit gehandelt,688 dem zu guten Teilen auch ein
Streit um das Sein und um die Welt vorausgeht.689 Im vorliegenden Buch
Der Streit um die Wahrheit ging es dagegen in erster Linie um die scharfen
Auseinandersetzungen über die Urteilswahrheit und vornehmlich um die
Kritik verschiedenster Wahrheitstheorien, welche die klassische Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit immer mehr zu verdrängen drohen. Eine solche
Kritik ist keineswegs leicht. Es kostet vielmehr eine Riesenmühe, die
vielfältigen Argumente zu prüfen, die in dem erbitterten Streit um die
Wahrheit von den verschiedenen Seiten vorgebracht werden, ja es erfordert
eine wahrhaft herkulische Anstrengung, dem Verständnis der Urteils-
688
Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in
der Erkenntnis; Ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological
Foundation for Classical Realism.
689
Vgl. Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt; Josef Seifert, Sein und
Wesen.
wahrheit als einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bzw. mit dem
Sein und, noch präziser, mit den Sachverhalten und dem Selbstverhalten
der Dinge, zu einem neuen Durchbruch gegen die zahlreichen brillanten
Einwände und scharfen Angriffe gegen die Adäquationstheorie der
Wahrheit zu verhelfen. Der Kampf wird auf einem so breiten Schlachtfeld
geführt, daß das vorliegende Buch höchstens ein kleines Gefecht in diesem
Krieg der Geister liefern oder gewinnen kann.
Denn obwohl die Urteilswahrheit seit unvordenklichen Zeiten vom
gewöhnlichen Menschen, und seit über zwei Jahrtausenden von der
Mehrheit der Philosophen, in prinzipiell gleicher Weise als Übereinstim-
mung (adaequatio) anerkannt worden war, so wandte sich das Blatt und
das Geschick der Adäquationstheorie der Wahrheit in dieser Schlacht und
deren Ausgang wurden immer zweifelhafter. Daher erwies sich die
Erfüllung der Aufgabe, dieser heute fast schon gefallenen alten Lehre über
die Wahrheit auf dem Kampfplatz zu Hilfe zu kommen, als unrealisierbar,
ohne dabei die echten Einsichten der verschiedensten, selbst der in ihren
Grundzügen gegen die Wahrheit als adaequatio streitenden, Wahrheits-
theorien zu würdigen und sie zu integrieren. Und dies konnte nicht
gelingen, ohne das in der Tradition zu wenig klar als Übereinstimmung des
Intellekts mit der Wirklichkeit bezeichnete Wesen der Urteilswahrheit ganz
neu zu untersuchen und herauszuarbeiten,690 sowie gegen scharfsinnige
Einwände aller Art zu verteidigen und dadurch noch besser und
differenzierter zu verstehen.
Der Kern des von uns im vorliegenden Werk verfolgten Streites gegen
die authentische Natur der Urteilswahrheit richtet sich gegen die, von
Platon und Aristoteles an, den Großteil der Philosophiegeschichte und
Geschichte der Religionen prägende Überzeugung, daß die Wahrheit des
Urteils in einer besonderen Art seiner Übereinstimmung mit der Wirklich-
keit besteht. An die letzten Endes unverrückbare und unentthronbare Stelle
dieser „Übereinstimmung“ haben sich viele Bastarde gedrängt: Erfolg,
Konsens, Kohärenz und zahlreiche andere Phänomene, durch die man das
Wesen der Wahrheit bestimmen wollte.
Wer ist nun Sieger in diesem titanischen Streit vieler neuer und alter
Wahrheitstheorien gegen die Erkenntnis des Wesens der Urteilswahrheit
690
Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.
als adaequatio (Korrespondenz)? Nicht ein Mensch oder eine Schule, nein,
die Urteilswahrheit selbst, deren Natur wir mit den klassischen Methoden
der Phänomenologie und der Philosophie überhaupt zu erhellen suchten,
hat sich im Streit der Titanen gegenüber einer Reihe von Wahrheits-
theorien, die sie umdeuten, durch andere Wahrheitsbegriffe ersetzen, oder
ganz ausschalten möchten, als siegreich erwiesen.
Unter Sieg verstehen wir hier selbstredend nicht den sozial-historischen
Sieg in den Köpfen, oder vielmehr in den Erkenntnissen oder Meinungen,
der Menschen im allgemeinen und der Philosophen im besonderen, welche
vielmehr – obwohl sie das wahre Wesen der Urteilswahrheit als adaequa-
tio überall voraussetzen und ihm dadurch wider Willen Tribut zollen – in
überwiegender Mehrheit Anhänger der Skepsis, des Relativismus und
alternativer, oder sogar der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüber
ausdrücklich feindlich eingestellter Wahrheitstheorien sind. Auch wenn
wir sehnlich wünschen, einen Beitrag zu einem neuen historischen Sieg der
richtigen Fassung der Wahrheit als adaequatio in den Köpfen von
Menschen geleistet zu haben, ist es nicht dieser Sieg, den wir eben
meinten. Der Sieg der Wahrheit, von dem die Rede war und dessen die
Wahrheit sich immer schon erfreut, ist vielmehr ein rein geistiger Sieg, ein
Sieg des Logos und der Vernunft, der in der idealen Welt rein logischer
Urteile und Argumente zeitlos gewonnen wird bzw. immer schon
gewonnen ist.
Diesem Sieg in der Welt der reinen ewigen Ideen aber steht ein Sieg der
Wahrheit und des richtigen Verständnisses der Urteilswahrheit in der
Geschichte, in der sprachlich verkörperten Welt der Philosophie gegen-
über, der erst errungen werden will. Dieser Sieg der richtigen Auffassung
der Wahrheit in der Geistes- und Philosophiegeschichte ist keineswegs
mühelos durch eine Rückkehr zur bewährten und althergebrachten,
Jahrtausende lang anerkannten Adäquationstheorie der Wahrheit zu
gewinnen. Nein, die Geistesgrößen, welche, insbesondere von Brentano
an,691 in den vergangenen Jahrhunderten die klassische Korrespondenz-
theorie der Wahrheit attackiert haben, können durch eine einfache
691
Nach ihren Vorläufern im 18. Jahrhundert und auf dem Rücken einer
Vorgeschichte, die auf Hume und Kant sowie bis auf die griechische Sophistik
zurückreicht.
692
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen
Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie.
693
Vgl. dazu neben den Erörterungen in den elf vorhergehenden Kapiteln den ersten
Band dieses Werkes: Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.
Wahrheit der Fall gewesen war. Wenn wir jedoch auch zwischen einer
Wahrheitstheorie im Sinne einer Wesenstheorie, einer Kriteriologie und
einer Lehre von den Bedingungen und den Folgen der Wahrheit, sowie
einer Theorie ihrer Erkenntnis zu unterscheiden und all diese, freilich im
einzelnen objektiv eng mit einander verquickten und gerade deshalb häufig
mit einander verwechselten, Aspekte zu berücksichtigen hatten, so stand
doch im Zentrum der Überlegungen des vorliegenden Bandes die Frage
danach, was die Wahrheit des Urteils ist, die Frage nach ihrem Wesen. Um
diese Frage tobt insbesondere seit den letzten drei Jahrhunderten der
Hauptstreit. Und auf diese Frage hat sich deshalb die Analyse des
vorliegenden Bandes konzentriert.
In der Auseinandersetzung mit den einzelnen Wahrheitstheorien haben
wir freilich auch eine Fülle anderer Probleme, die mit diesem Streit um die
Urteilswahrheit zusammenhängen, aber von dieser verschieden sind,
berührt, wie – insbesondere im Dialog mit Franz Brentano – die Wahrheit
des evidenten Erkennens und – vor allem im kritischen Gespräch mit
Martin Heidegger – die existentielle sowie die ontologische Wahrheit.
Wir sind jedoch trotz der notwendigen Abstecher in andere Teile der
Lehre über die Wahrheit und der Metaphysik der Wahrheit in diesem Band
in erster Linie der dramatischen Auseinandersetzung über die Urteils-
wahrheit und dem um sie geführten heißen Kampf gefolgt und haben eine
Vielzahl von Theorien kritisch geprüft, welche – mit ungeheuren Auswir-
kungen auf die Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Ethik und
Religionsphilosophie, und damit auf das gesamte menschliche Leben – den
klassischen Begriff der Urteilswahrheit in Frage stellen bzw. durch ganz
andere Wahrheitsbegriffe ersetzen wollen: wie dies in der Evidenztheorie,
Konsenstheorie, Diskurstheorie, und anderen geschieht.
Dabei hatten wir schmerzlicherweise auch auf der eigenen Seite, jener
der Verteidiger der Korrespondenztheorie der Wahrheit (wie die Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit auch genannt wird), Gegner zu überwinden und
die Anschauungen so hervorragender Denker und Freunde dieser Lehre
wie Alfred Tarskis, in Auseinandersetzung mit dem wir die Relation der
Wahrheit zu formalisierten und nicht formalisierten Sprachen und das
Antinomienproblem zu erörtern hatten, Sir Karl Poppers, Hans Alberts und
anderer, welche die Korrespondenztheorie der Wahrheit befürworten, zu
kritisieren. Denn wir fanden in ihrer Verfechtung der Korrespondenz-
theorie der Wahrheit eine Fülle von Momenten, die zur Verwirrung des
Begriffs der Übereinstimmung, ja sogar zu dessen Eliminierung aus dem
philosophischen Diskurs beitragen. Wir haben gesehen, wie Tarski – auf
Grund seiner Meinung, es gäbe kein präzises Verständnis des Wesens der
Urteilswahrheit für umgangssprachliche Urteile und Aussagen reicherer
formalisierter Sprachen – die Sphäre der Urteilswahrheit, oder wenigstens
einen klaren Begriff derselben, aus allen Lebensbereichen und Wissen-
schaften zu eliminieren sucht, welche keine inhaltsarme formalisierte
Sprache verwenden, und damit zu einer unannehmbaren, ja verheerenden
und überdies in sich widersprüchlichen Einschränkung des Reiches der
Urteilswahrheit gelangt. Wir mußten in ähnlicher Richtung gleichfalls
Ludwig Wittgensteins Behauptungen, daß die Bereiche der Werte, der
Ethik und der Religion völlig jenseits der möglichen Sphäre der
Urteilswahrheit, ja sogar der sinnvollen Sätze liegen, widerlegen, um die
unendliche Ausdehnung des Dominiums der Urteilswahrheit neu zu
erschließen und nicht zuzulassen, sie zwar anzuerkennen, aber nur auf
einen kleinen Bereich einzuschränken. Auch Sir Karl Poppers rein negative
Konzeption der Urteilswahrheit und der Erkenntniswahrheit auf noch nicht
widerlegte und bisher nicht falsifizierte Hypothesen, sowie seine Ersetzung
der Idee der Wahrheit durch die verisimilitude und Wahrheitsnähe,
erkannten wir als eine verworrene, unhaltbare und gleichfalls wider-
spruchsvolle Auffassung und Einschränkung der Urteilswahrheit.
Erst kraft einer kritischen Untersuchung dieser Theorien und Auf-
deckung ihrer Äquivokationen und Verwirrungen sowie durch das Licht
zahlreicher notwendiger phänomenologischer Unterscheidungen und einer
neuen Untersuchung des Trägers und gegenständlichen Bezugspunktes der
Urteilswahrheit setzte sich diese in ihrem unleugbaren und überall
vorausgesetzten Wesen siegreich durch. So ergab sich: Wer den eigent-
lichsten Sinn der Urteilswahrheit als adaequatio durch andere Theorien
ersetzen oder gar entthronen will, den straft das Wesen der Urteilswahrheit
durch Selbstwidersprüche und unsinnige Folgen; und dem widerspricht sie
vor allem durch die einleuchtende und unentthronbare Struktur ihres
Wesens, die durch die notwendigen Unterscheidungen und durch den Streit
mit der Legion ihrer Gegner in glanzvoller Klarheit ans Licht kommt.
Die aus diesem Verständnis der Wahrheit heraus verlangte Unterwer-
fung des Urteils und des menschlichen Geistes unter die Wirklichkeit, bzw.
unter die Totalität der unabhängig von allen von Menschen gefällten
Urteilen bestehenden positiven und negativen Sachverhalte, soll, so haben
die verschiedensten Denker von Brentano bis Heidegger und Habermas aus
sehr verschiedenen Gründen geltend gemacht, unannehmbar sein; und so
haben sie die Korrespondenztheorie der Wahrheit durch Evidenztheorien,
Kohärenztheorien, Konsenstheorien, pragmatische und konstruktivistische
und andere Wahrheitstheorien ersetzen oder wenigstens in ihrer Ausdeh-
nung ungeheuer einschränken wollen.
Wir dagegen haben den Versuch unternommen zu zeigen (und hoffen,
tatsächlich erwiesen zu haben), daß keine dieser alternativen Wahrheits-
theorien jenes Fundament allen menschlichen Denkens, Seins und Lebens
zu erschüttern vermag, dessen Aufklärung der vorliegende Band über den
Streit um die Wahrheit gewidmet war: jene Wahrheit, welche einzig und
allein in der Übereinstimmung des Urteils mit dem geurteilten positiven
oder negativen Sachverhalt liegt – auf welcher Ebene und in Bezug auf
welchen Seinsmodus der Sachverhalt auch, ganz unabhängig vom Urteil
selbst, bestehen mag, angefangen vom Bezug wahrer Urteile auf bloß
mögliche Welten oder sogar auf das Sein der „reinen Objekte“ bzw. rein
intentionaler Gegenstände, bis hinauf zur Wahrheit von Urteilen über das
reale und das allerrealste Sein. Das Urteil kann ja Sachverhalte über
jegliche Art von Sein und Nichtsein zum Gegenstand haben und erhebt, wo
immer es auftaucht, einen Wahrheitsanspruch, der im wahren Urteil erfüllt
ist, im falschen unerfüllt bleibt. Ob Urteile sich in formalisierten Sprachen
finden oder in der Umgangsprache gefällt werden, ist dabei nicht von
Belang.
Aus keinem Teilbereich des unermeßlichen Reiches des Seins – der
Zahlen und des Raums, der Zeit und der geometrischen Körper, der
leblosen und lebendigen Natur, der Ethik und der Welt der Werte, ja aus
keinem Reich über, auf oder unter der Erde, aus keiner Höhe des Himmels
und aus keinem Höllenabgrund, ja nicht einmal aus der Sphäre des Nicht-
seins und Nichts, und deshalb auch aus keinem sprachlich ausgedrückten
oder auch nur gedachten Urteil über all dies, läßt sich jene schlichte
Urgegebenheit der Urteilswahrheit verdrängen, die es über alles und jedes
gibt, auch wenn sie der menschlichen Vernunft in zahlreichen Fällen und
Wohl aber hoffen wir, nicht nur zur in der Zeit stattfindenden
Entdeckung des zeitlosen Sieges der Wahrheit, sondern auch zu ihrem Sieg
in der Geschichte, in den Köpfen der Menschen, menschlichen Gemein-
schaften und künftiger Epochen, einen Beitrag geleistet zu haben. Und
dieser Sieg der rechten Auffassung der Wahrheit in der Zeit und in
menschlichen Köpfen ist keineswegs deshalb belanglos, weil die richtige
Theorie über die Urteilswahrheit in einer zeitlosen Sphäre immer schon
den Sieg davongetragen hat.
Denn in dem Streit um die Wahrheit geht es auch um den Sieg der
Wahrheit in der Geschichte und im realen Leben und Denken der
Menschen, in der Person, die in ihrer Würde und ihrem realen Leben und
Dasein allen reinen Ideen – jedenfalls in gewisser Weise – unendlich
überlegen ist.
Der Sieg der wahren Philosophie der Wahrheit im menschlichen Leben
besteht nicht nur einer korrekten philosophischen Theorie der Wahrheit, zu
der allein die Philosophie einen direkt relevanten Beitrag zu liefern vermag
und zu der wir einen in Jahrzehnten philosophischer Arbeit gereiften
bescheidenen Beitrag gemacht zu haben hoffen, sondern auch um den Sieg
einer auf der richtigen theoretischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit
beruhenden Praxis und Tat. Diesen ihren schönsten Sieg in der Geschichte
und im Leben jedes einzelnen Menschen kann die Wahrheit aber nicht
ohne freie Entscheidung des Menschen und überdies nur in einem Bereich
gewinnen, der jenseits philosophischer Erkenntnis, die auch freie Akte
voraussetzt,697 im Reich des Lebens liegt.
Nicht in der reinen Welt der Ideen, und auch nicht in der philoso-
phischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit durch einzelne Denker oder
ganze Generationen von Philosophen, so wichtig diese auch ist, sondern
erst in dem Sieg der Wahrheit in Form der veritas vitae, erst in der
Wahrheit des Lebens, erst in dem Sieg der Wahrheit über die Person, den
jeder Einzelne in seinem Innersten zu kämpfen und zu gewinnen hat,
entscheidet sich in erster Linie das Geschick jeder einzelnen Person und
der ganzen Menschheit.
697
Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso.