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Josef Seifert

De Veritate – Über die Wahrheit


Band 2: Der Streit um die Wahrheit. Wahrheit und Wahrheitstheorien

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Realistische Phänomenologie:
Philosophische Studien der Internationalen Akademie für
Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der
Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/

Realist Phenomenology:
Philosophical Studies of the International Academy for
Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia
Universidad Católica de Chile en Santiago

Band IV.2/Volume IV.2

EDITORS
Professor Juan-Miguel Palacios
With
Professor John F. Crosby and
Professor Czesław Porębski

ASSISTANT EDITORS
Dr. Cheikh Mbacké Gueye
Dr. Matyas Szálay

EDITORIAL BOARD
Professor Rocco Buttiglione, Rom, Italy
Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic
Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile
Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain
Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary
Professor Giovanni Reale, Milan, Italy
Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain
Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile
Professor Tadeusz Styczeî, Lublin, Poland

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Josef Seifert

De Veritate – Über die Wahrheit

Wahrheit und Wahrheitstheorien


Band 2: Der Streit um die Wahrheit

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ISBN 978-3-86838-026-2
ISBN des zweibändigen Gesamtwerks: 978-3-86838-027-9

2009

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Herzlich gewidmet meiner geliebten Tochter Maria Michaela
Seifert, deren philosophischer Eros, Liebe zur Wahrheit und
erfolgreiche Lehre und Forschung auf dem Gebiet der
Philosophie eine Quelle großer Freude für mich sind.

Josef Seifert

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INHALTSVERZEICHNIS

DER STREIT UM DIE WAHRHEIT

WAHRHEIT UND WAHRHEITSTHEORIEN

PROLEGOMENA
DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES
WAHRHEITSBEGRIFFS…………………………………………………….. 25

1. Der Streit um die Urteilswahrheit……………………………………... 25

2. Einige Gedanken zur Krise des Wahrheitsbegriffs…………………… 26

3. Radikale Infragestellung der Wahrheit und ihres Wertes bei


Friedrich Nietzsche und (un)moralische Quellen der Umdeutung
der Wahrheit……………………………………………………………33

4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes
der Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis
ihres Wesens voraus……………………………………………………48

5. Eine knappe Darstellung und Verteidigung der klassischen Lehre


von der Urteilswahrheit als Adäquatio – der Streitgegenstand………...52

6. Fünf Bedeutungen und Aufgaben einer „Wahrheitstheorie“………….. 58

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8 Inhaltsverzeichnis

TEIL I
WAHRHEIT – EVIDENZ – KOHÄRENZ

KAPITEL 1
FRANZ BRENTANOS EVIDENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE
KRITISCHE ANALYSE

1. Grundlinien der Evidenztheorie der Wahrheit Franz Brentanos und


ihre hauptsächlichen Motive…………………………………………... 63
1.1. Existenzialurteile beweisen nach Brentano, daß das wahre Urteil
keiner res entspricht……………………………………………….. 66
1.2. Negative Urteile entsprechen nach Brentano ebensowenig
einer res……………………………………………………………. 68
1.3. Die Verwerfung der Irrealia als dritter Grund der Ablehnung der
Adäquationstheorie durch Brentano………………………………. 69
1.4. Brentanos kriteriologisches Argument gegen die klassische
Wahrheitstheorie…………………………………………………... 72
1.5. Die Schwierigkeiten, den Sinn der Adäquation zu bestimmen, als
Argument gegen die Evidenztheorie der Wahrheit………………... 73
1.6. Das Argument gegen die unendlich vielen Sachverhalte………….. 74

2. Evidentes Urteil bzw. Übereinstimmung mit ihm als neue


Wahrheitstheorie………………………………………………………. 75

3. Einwände gegen Brentanos Kritik der Adäquationstheorie der


Wahrheit………………………………………………………………..77
3.1. Die verlorene ‘res’ als ‚Sachverhalt‘: sobald ‘res’ als Sachverhalt
geklärt ist, erübrigt sich Brentanos Verwerfung der
Adäquationstheorie – Die ‘res’ in negativen Urteilen und
Existentialurteilen…………………………………………………. 77
3.2. Es gibt die negativen Sachverhalte………………………………… 78
3.3. Das eindeutig gegebene Bestehen von unabhängig vom Urteil
bestehenden Gegenständlichkeiten, die nicht Dinge sind, ist
Bedingung jeder Adäquationstheorie der Wahrheit und macht
Brentanos Position unnötig………………………………………... 81

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Inhaltsverzeichnis 9

3.4. Kritik von Brentanos viertem, kriteriologischem Argument:


Evidenz setzt in Wirklichkeit Korrespondenz voraus. Über die
Möglichkeit eines Wahrheits-Kriteriums im Rahmen der
Adäquationstheorie der Wahrheit…………………………………. 83
3.5. Der Sinn der ‚Adäquatio‘ läßt sich unschwer bestimmen…………. 85
3.6. Ist die Annahme unendlich vieler Sachverhalte für den
Philosophen alarmierend? Über die Notwendigkeit einer
realistischen Grundlegung der Urteilswahrheit in der
‚Wirklichkeit‘ im weitesten Wortsinn……………………………... 87

4. Innere Widersprüche und Irrtümer in der Evidenztheorie der
Wahrheit………………………………………………………………..89
4.1. Evidenz setzt Wahrheit als Adäquation voraus……………………. 90
4.2. Wenn der evidente Charakter des Urteils dessen Wahrheit
ausmacht, gelangen wir zu einem circulus vitiosus der
Wahrheitsdefinition………………………………………………... 91
4.3. Die Evidenztheorie der Wahrheit als Tor zum radikalen
Subjektivismus in der Erkenntnistheorie…………………………...93
4.4. Zusammenfassende Kritik zur Evidenztheorie als
Wesenstheorie der Wahrheit………………………………………. 93

5. Die Einsichten in Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit, vor allem
seine unverzichtbare Errungenschaft, die Übereinstimmung mit dem
Urteil eines „mit Evidenz Erkennenden“ als notwendig Bedingung
bzw. Folge der Wahrheit eines Urteils erkannt zu haben………………96

6. Verteidigung der Einsicht Brentanos in Evidenz als nicht-zirkuläres
„Kriterium aller Kriterien“ von Wahrheit gegen Einwände…………...97

7. Evidenz als einziges Kriterium, um echte Evidenz von leichtfertiger
Berufung auf Evidenz zu unterscheiden………………………………101

8. Während Evidenz ein Kriterium der Wahrheit und ihrer Erkenntnis
ist, ist „Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz
Erkennenden“ keinerlei philosophisches Kriterium für Wahrheit
und Erkenntnis………………………………………………………..102


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10 Inhaltsverzeichnis

9. Der Einwand der Transzendentalphilosophie gegen Evidenz als


Kriterium von Wahrheit und eine neue Deutung der philosophischen
Methode der Transzendentalen Deduktion als Aufdeckung unleugbarer
„Wahrheiten“ und als im Einklang mit Brentanos Erkenntnis der
Evidenz als höchstes Wahrheitskriterium stehend – Evidente
Gegebenheiten, die auch bei ihrer Leugnung notwendig vorausgesetzt
werden und die objektive Evidenz der Bedingungen der Möglichkeit
von Erfahrung und Denken…………………………………………... 103
9.1. Notwendige Voraussetzungen allen Denkens und Erfahrens als
notwendige Voraussetzungen des Seins selbst und als in sich
notwendige Gegebenheiten……………………………………..... 108
9.2. Die volle Berechtigung der These Brentanos, daß Evidenz allein
das letzte und auch von jeder transzendentalen Theorie
vorausgesetzte Wahrheitskriterium ist und die von Brentano
übersehene Notwendigkeit, dieses Brentano’sche
Wahrheitskriterium der Evidenz im Licht der Wahrheit als
Adäquatio und der Transzendenz der Erkenntnis neu zu deuten… 114

10. Abschließende Bemerkung zur Verteidigung der Brentano’schen
Lehre von der Evidenz als letztem Wahrheitskriterium und zur
Verwerfung seiner Loslösung der Evidenz von der Adäquatio…….. 124

KAPITEL 2
DIE KOHÄRENZTHEORIE DER WAHRHEIT –
EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG

1. Einleitung…………………………………………………………….. 127

2. Was heißt Kohärenz?............................................................................ 139
2.1. Widerspruchsfreiheit oder Nichtwidersprüchlichkeit…………….. 139
2.1.1. Formalontologische Widerspruchsfreiheit……………………. 140
2.1.2. Formal-logische Widerspruchsfreiheit………………………... 140
2.1.3. Materiale Kohärenz bzw. materiallogische Kohärenz………... 141
2.2. Kohärenz als intelligible und sinnvolle Beziehung zwischen
Sachen (Sachverhalten), Erkenntnissen oder Urteilen…………… 143
2.3. Kohärenz als notwendige Verknüpfung von Urteilen,
Wahrheiten, Erkenntnissen, oder Sachverhalten………………… 144

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3. Kohärenz wovon? Über das Subjekt „der Kohärenz“………………...145


3.1. Urteile/Sätze……………………………………………………… 145
3.1.1. Ein einziges Urteil……………………………………………. 145
3.1.2. Kohärenz als Relation zwischen verschiedenen Urteilen
(einigen Urteilen)…………………………………………….. 146
3.1.3. Kohärenz sämtlicher Urteile/Sätze…………………………… 147
3.1.4. Kohärenz als Eigenschaft aller wahren Urteile/Sätze………… 147
3.1.5. Kohärenz im Bereich der Erkenntnis und der Erfahrung……... 148
3.1.6. Kohärenz der Erkenntnis/Erfahrung einer einzigen Person…... 148
3.1.7. Kohärenz in der Erkenntnis und Erfahrung verschiedener
Personen……………………………………………………… 149
3.1.8. Kohärenz der Erfahrung aller Subjekte………………………. 149
3.1.9. Kohärenz als Eigenschaft objektiver Sachen und
Sachverhalte………………………………………………….. 149

4. Kohärenz womit? Zum Terminus der Kohärenz……………………...150


4.1. Kohärenz mit sich selbst (innere Kohärenz)……………………… 150
4.2. Kohärenz mit einigen wahren Urteilen, Erkenntnissen oder
Sachverhalten…………………………………………………….. 151
4.3. Kohärenz aller Urteile, aller Dinge, aller Erkenntnisse…………... 151
4.4. Kohärenz mit der bereits erkannten Wahrheit, Wirklichkeit
oder mit der bereits gewonnenen Erkenntnis…………………….. 152
4.5. Kohärenz als Eigenschaft bzw. Relation aller wahren Urteile,
aller Fakten, oder aller Erkenntnisse……………………………... 153

5. Kohärenz und Wahrheit……………………………………………… 153
5.1. Kohärenz darf nicht mit dem eigentlichen Wesen der Wahrheit
identifiziert werden………………………………………………. 154
5.2. Kohärenz macht nicht das Wesen der Wahrheit aus, stellt aber
ein wichtiges Wesensmerkmal derselben dar……………………. 166
5.3. Kohärenz als Wahrheitsbedingung……………………………….. 167
5.4. Kohärenz als Grund der Wahrheit………………………………... 173
5.5. Kohärenz als Folge der Wahrheit………………………………… 174
5.6. Kohärenz als Wahrheitskriterium………………………………… 175
5.7. Kohärenz als Erkenntnis von Wahrheit…………………………... 182

6. Kohärenz als wichtiges Wahrheitskriterium des Detektivs, Ermittlers
und Richters, sowie in der Hermeneutik von Texten…………………182

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7. Neuerliche Bemerkungen zu den Motiven der Kohärenztheorie……..184



8. Abschließende Bemerkungen über Wahrheit als adaequatio als
Grundlage des einzigen vollkommenen kohärenten Systems – und
über die Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit jedes Versuchs,
Wahrheit selber als Kohärenz zu deuten……………………………...191


II. TEIL
KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT

KAPITEL 3
KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT

1. Was ist und was heisst ‚Konsens‘?....................................................... 199
1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als
bloße Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden
und von Personen gefällten Urteils; als objektive
Übereinstimmung der Überzeugungen, und als rein statistisch
erfaßbarer ‚linguistischerKonsens‘………………………………. 202
1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche
Übereinstimmung, die ein einseitiges oder gegenseitiges
Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt…………………… 217
1.3. Konsens als eigener Akt ausdrücklicher gegenseitiger
Übereinstimmung, die über das gegenseitige Wissen der
Gleichheit des Urteils wesenhaft hinausgeht…………………….. 220
1.4. Konsens als bloße implizite Übereinstimmung: Die sokratische
Auffassung von Konsens………………………………………… 221
1.5. Konsens als Frucht und Teil ‚kommunikativen Handelns‘………. 222
1.6. Konsens als „Konsensfähigkeit“: Vier grundsätzlich
verschiedene Bedeutungen von Konsensfähigkeit……………….. 223
1.7. Konsens als intersubjektive „Verifizierbarkeit“,
Falsifizierbarkeit oder „Nachprüfbarkeit“………………………... 226
1.8. Konsens als bloßer Wegfall von Widerspruch…………………… 227
2. Konsens hinsichtlich seiner Subjekte…………………………………227
2.1. Verschiedenheiten der Subjekte hinsichtlich ihrer Zahl…………. 228
2.1.1. Konsens als Übereinstimmung Aller…………………………. 228

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2.1.2. Konsens als Übereinstimmung Vieler (einer Mehrheit)……… 228


2.1.3. Konsens als Übereinstimmung zweier………………………... 229
2.1.4. Konsens als Übereinstimmung eines einzigen Menschen mit
sich selber……………………………………………………. 229
2.2. Konsens vom Standpunkt der „Qualität“ der Subjekte aus:
Konsens der Weisen, etc…………………………………………. 229
2.2.1. Qualität der theoretischen Begründetheit……………………... 229
2.2.2. Die Qualität der Persönlichkeiten, die Subjekte des
Konsenses sind……………………………………………….. 230
2.2.3. Qualität von Autoritäten, nicht Personen……………………... 232
2.2.4. Qualität des Konsenses nach dem Grad seiner dialogischen
Vermittlung…………………………………………………... 234
2.2.5.Der Konsens mit der Philosophie und der Wahrheit………….. 236

3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der
Wahrheit und Einwände gegen dieselbe……………………………... 237
3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit
dem Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der
Verschiedenheit beider…………………………………………… 240
3.2. Argument aus der „logischen Zirkularität“ und Sinnlosigkeit
der Bestimmung des Wesens der Wahrheit durch Konsens,
weil damit jeglicher Sinn des Wortes ‚Konsens‘ zerstört wird…... 243
3.3. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw.
Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit als solcher….. 245
3.4. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw.
Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit durch die
widersprüchlichen Inhalte des Konsenses und aus der
empirischen Evidenz, daß Konsens (Für wahr Halten) nicht
gleich Wahrheit ist……………………………………………….. 246
3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile
aus Konsens ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des
Konsenses im Verhältnis zur Totalität aller wahren Urteile……... 248
3.6. Darlegung und Kritik der Habermas’schen Version der
Konsens-Theorie der Wahrheit – Ist Wahrheit durch rationalen
Diskurs erreichter Konsens?........................................................... 249

4. Konsens als Wahrheitskriterium – Argumente und Einwände………. 256


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5. Konsens als Wahrheitsbedingung?....................................................... 264



6.Konsens als Wahrheitsfolge?................................................................265

7.Konsens und Ethik – Ein besonderer Fall der Konsenstheorie der
Wahrheit und ihre Kritik……………………………………………... 268
7.1. Konsens als schöpferische Instanz für sittliche Normen………… 268
7.2. Konsens als Kriterium für das Bestehen sittlicher Normen……… 269
7.3. Konsens und Konsensfähigkeit als Wesen ethischer Wahrheit….. 270


III. TEIL
WAHRHEIT UND ERFOLG
KRITIK PRAGMATISCHER UND FUNKTIONALISTISCHER
UMINTERPRETATIONEN DER WAHRHEIT

KAPITEL 4
PRAGMATISCHE, PRAMATIZISTISCHE UND NEOPOSITIVISTISCHE
WAHRHEITSTHEORIEN

1. Was heißt Nützlichkeit oder Erfolg?.....................................................275



2. Ist Erfolg gleich Wahrheit? Evidente Irrtümer und Widersprüche
pragmatischer Wahrheitstheorien……………………………………. 280
2.1. Erfolg – Bedingung oder notwendige Folge der Wahrheit?........... 287
2.2. Erfolg als Kriterium der Wahrheit?................................................ 290

KAPITEL 5

1. Kritik funktionalistischer Wahrheits- und Religionsauffassungen…... 300




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IV. TEIL

EXISTENTIELLE WAHRHEIT UND VERITAS VITAE


KRITISCHE UNTERSUCHUNG EXISTENTIALISTISCHER UND ANALYSTISCHER
WAHRHEITSTHEORIEN

KAPITEL 6
CHIFFRE-THEORIEN DER WAHRHEIT
KRITIK DER WAHRHEITSTHEORIE VON KARL JASPERS UND VERWANDTER
THEORIEN

KAPITEL 7
KRITIK SUBJEKTIVISTISCHER EXISTENTIALISTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN

1. Grundbedeutungen von „existentieller Wahrheit“…………………… 309


1.1. Die unbestreitbare Bedeutung der existentiellen Wahrheit
(der veritas vitae)………………………………………………... 309
1.2. Existentielle (subjektive) Wahrheit als Frucht der Loslösung
vom Fundament der Wahrheit als adaequatio……………………. 310
1.3. Existentielle Wahrheit als Umdefinition der Urteilswahrheit
oder als Ersatz für diese………………………………………….. 312

2. Kritische Analyse der genannten Auffassungen……………………... 313
2.1. Existentielle Wahrheit als Veritas Vitae – ein grundlegender
und wichtiger Begriff…………………………………………….. 313
2.2. „Existentielle (subjektive) Wahrheit“ als Loslösung der
existentiellen Wahrheit von der Wahrheit des Urteils bei
Lessing und manchen Stellen bei Soeren Kierkegaard…………... 314
2.3. Die radikale Loslösung des Lebens von der Wahrheit als
adaequatio: Von deren Leugnung zur Umdeutung der Illusion
und Lüge im außermoralischen Sinn in Wahrheit: Friedrich
Nietzsche und die Geburt der „subjektiven Wahrheit“ im Werk
einiger Existentialisten…………………………………………… 315
2.4. Kritik an der existentialistischen subjektiven Wahrheit als
Ersatz der objektiven Wahrheit und als Umdeutung der

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Wahrheit in eine leidenschaftliche Übereinstimmung allein


mit sich selber oder als Selbstschöpfung, in der wahr einfach
das wäre, von dem ich will, daß es wahr sei……………………... 338


KAPITEL 8
HEIDEGGERS VERWERFUNG DER ADÄQUATIO-(ORTHÓTES) THEORIE DER
WAHRHEIT UND KRITIK AN SEINER WAHRHEITSTHEORIE UND THESE VOM
WESENSWANDEL DER WAHRHEIT

1. Einige positive Beiträge Heideggers zur Philosophie der Wahrheit….341



2.Erste Darstellung der Gegenstände unserer Kritik der
Heidegger’schen Philosophie der Wahrheit als Freiheit……………...342

3. Kritische, aufrichtige und allgemeine Vorbemerkungen über
Heideggers Philosophie……………………………………………… 347

4. Kritik an Heideggers Kritik des platonischen
Wahrheitsverständnisses und der Adäquationstheorie überhaupt
durch seine Identifizierung der Wahrheit mit Unverborgenheit
und seine These vom „Wesenswandel der Wahrheit“ in Platons
Höhlengleichnis……………………………………………………… 353
4.1. Heideggers Grundthesen………………………………………….. 353
4.2. Platons Idee der Wahrheit und der paideia und die These vom
angeblichen Verlust der „anfänglichen Idee der Wahrheit“……... 354
4.3. Kritik an der Subjektivierung der „Ontologischen Wahrheit“
durch ihre Deutung als Unverborgenheit………………………… 356

5. Die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs und des Guten bei
Heidegger…………………………………………………………….. 366

6. Der eigentliche „existentialistische Wahrheitsbegriff“ bei
Heidegger im Unterschied zu jenem der Unverborgenheit…………...370
6.1. Darstellung des existentialistischen Wahrheitsbegriffs bei
Heidegger………………………………………………………… 370

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6.2. Kritik der existentialistischen Wahrheitstheorie als


Wesenstheorie der Wahrheit……………………………………... 371


KAPITEL 9
WITTGENSTEIN UND DAS PROBLEM „RELIGIÖSER WAHRHEIT“ – KRITISCHE
REFLEXIONEN ÜBER WITTGENSTEINS WAHRHEITSBEGRIFF

1. Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit der Religion und ihre


Gründe………………………………………………………………...379

2. Was ist Wahrheit?................................................................................. 386

3. Wahrheit im Bereich von Weltbild und Religion und Kritik an
Wittgensteins Ausschaltung religiöser Wahrheitsansprüche………… 396

4. Kritik einer schlechten Phänomenologie religiöser Akte als Quelle
der Wittgensteinschen These der Unsinnigkeit der Religion…………405

5. Wahrheit und Wahrheitserkenntnis im religiösen Glauben und
Kritik der Elemente existentialistischer, konsensualistischer und
sprachpragmatistischer Wahrheitstheorien bei Wittgenstein………… 408

6. Kritik von Wittgensteins Meinung, daß alles Reden über Gott rein
„anthropomorph“ und deshalb der Gegenstand der Religion
„wahrheitsunfähig“ und total unerkennbar sei: Zur Überwindung von
Wittgensteins ‚ontologischem‘ Relativismus und Agnostizismus……412

7. Kritik an Wittgensteins theologischem Agnostizismus und seiner
Leugnung jedes vernünftigen Glaubensgrundes und
Erkenntnischarakters des religiösen Aktes und an den sich daraus
ergebenden Folgen für seine Philosophie der Wahrheit und seinem
Ausschließen der Möglichkeit einer neben der Erkenntniswahrheit
im strengen Sinn bestehenden Glaubenswahrheit…………………….417


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18 Inhaltsverzeichnis

V. TEIL

WAHRHEIT, KORRESPONDENZ UND ADÄQUATION
KRITIK UNGENÜGENDER VERSIONEN DER KORRESPPONDENZTHEORIE,
SEMANTISCHER UND SYNTAKTISCH STRUKTURELLER THEORIEN DER
WAHRHEIT

KAPITEL 10
ALFRED TARSKIS PHILOSOPHIE DER WAHRHEIT UND VERWANDTE
WAHRHEITSTHEORIEN UND MIT IHNEN VERBUNDENE THEORIEN DER
VERMEIDUNG LOGISCHER ANTINOMIEN (BEI GÖDEL, RUSSELL, MEINONG
UND ANDEREN AUTOREN) – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG

1. Tarski’s ‚semantische Wahrheitstheorien‘ und ihre Kritik…………... 425


1.1. Fehler der philosophischen Methode und unzureichende
Gründe Tarskis für die Verwerfung der bisherigen Versuche
einer Definition von Wahrheit für die normale Sprache
(Umgangssprache)……………………………………………….. 428
1.2. Die ‚semantische Wahrheitsdefinition‘ Tarskis in ihrem
ersten Sinn: als rein additiv-repetitive Fassung der klassischen
Adäquationstheorie und ihre Kritik……………………………… 438
1.3. Tarskis rein immanent-linguistischen Wahrheitsdefinitionen
bzw. die nicht-semantische strukturelle Wahrheitstheorie
Tarskis und ihre Kritik…………………………………………… 442
1.4. Die philosophischen Mängel der semantischen und der nicht-
semantisch strukturellen Neufassung der Adäquationstheorie
durch Tarski……………………………………………………… 449
1.5. Weitere Kritik von Tarskis nicht-semantischer und rein
linguistisch-struktureller (syntaktischer) Wahrheitstheorie der
formalisierten Sprachen………………………………………….. 450
1.6. Tarski über wahre und beweisbare Sätze und seine Annäherung
an den Begriff der Wahrheit als Adäquation mithilfe seines
Begriffs des ‚Erfülltseins‘ und Bedenken gegen diesen Ersatz
der Idee der Korrespondenz……………………………………… 451
1.7. Kritik der atomischen Theorie der Wahrheit von
allgemeinsätzen…………………………………………………... 453

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Inhaltsverzeichnis 19

1.8. Kritik an Tarskis Verwechslung von Wesen und Kriterium der


Wahrheit und an der These, das Widerspruchsprinzip folge aus
der Wesensbestimmung der Wahrheit statt umgekehrt von
dieser vorausgesetzt zu sein, sowie an der These, die Klasse
aller wahren Sätze bilde ein widerspruchsfreies deduktives
System……………………………………………………………. 456
1.9. Hauptpunkte der Kritik an Tarskis Wahrheitstheorie – eine
Zusammenfassung………………………………………………... 458

2.Kritik an Tarskis Objektsprache-Metasprache-Dichotomie und an
seinem Lösungsversuch der Antinomien durch seine Neufassung
des Wahrheitsbegriffs………………………………………………... 464
2.1. Tarskis Unterscheidung zwischen Objektsprache und
Metasprache und die durch sein Verbot der Grenzüberschreitung
geschaffene Dichotomie zwischen beiden……………………….. 464
2.2. Allgemeine Kritik an Tarskis Konstruktion einer Dichotomie
zwischen Objektsprache und Metasprache und seinem Verbot
der ‚Selbstanwendung‘…………………………………………… 468
2.2.1.Führt die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit
auf Gedanken, die in der normalen Sprache ausgedrückt
werden, wirklich zu logischen Antinomien? Die
Fragwürdigkeit dieser Thesen………………………………... 468
2.2.2.Eine antizipatorische Kritik Tarskis durch Peirce
und Schröder…………………………………………………. 470
2.3. Kritik der Position Tarskis im Einzelnen………………………… 471
2.3.1.Einsichten Tarskis und Fälle unberechtigter
‚Selbstanwendung‘ metasprachlicher Aussagen
auf sich selbst…………………………………………………471
2.3.2.Die Rechtfertigung der ‚universalistischen Tendenz‘ der
natürlichen Sprache und die Kritik am universalen Verbot
der ‚Selbstanwendung‘ und ‚Grenzüberschreitung‘…………. 473
2.3.2.1. Die ‚Selbstanwendung‘ des Wahrheitsurteils in jedem Urteil
widerlegt das universale Verbot der Selbstanwendung, wie
Peirce mit Recht bemerkt………………………………….. 473
2.3.2.2. Urteile über das universale Wesen von Urteilen widerlegen
das allgemeine Verbot der ‚Selbstanwendung‘ …………………..474
2.3.2.3.Tarskis Verbot universaler Urteile über sich selbst als
Quelle eines Selbstwiderspruchs (als Quelle einer
logischen Antinomie)…………………………………….... 475

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20 Inhaltsverzeichnis

2.3.2.4.Die Universalität gewisser Urteile über alle Urteile verlangt


notwendig, und verbietet nicht, ihre Selbstanwendung…........475 
2.3.2.5.Statt der versprochenen „Einfachheit“ Komplikationen über
Komplikationen…………………………………………… ..476 
2.3.3.Es gibt auch individuelle, in einem Satz ausgedrückte Urteile
über diesen Satz selbst, die vollkommen berechtigt sind………. 478
2.3.4.Die Falschheit der Tarskischen und anderer Identifizierungen
der Quelle von Antinomien in einer Verletzung des angeblichen
Prinzips der Abgetrenntheit einer gegebenen Metasprache von
den ihr untergeordneten Metasprachen und Objektsprachen…... 479
2.3.5.Kritik der These, daß echte Widersprüche und logische
Antinomien aus wahren bzw. möglicherweise wahren
Urteilen möglich sind…………………………………………... 479
2.4. Sprachtheorie und Logik der Antinomien jenseits von Tarski
und Gödel………………………………………………………… 482
2.5. Kritik von Tarskis Verwerfung der Adäquationstheorie für
Aussagen der normalen Sprache, weil eine solche Theorie zu
Antinomien führe………………………………………………… 483

3.Abschliessende Bemerkungen………………………………………...487


KAPITEL 11
OBJEKTIVISMUS IN DER WISSENSCHAFT UND POPPERS THEORIE DER
WAHRHEIT UND PHILOSOPHISCHER RATIONALITÄT

I. GRUNDLINIEN DER EPISTEMOLOGIE UND WAHRHEITSTHEORIE


K. POPPERS………………………………………………………….....490
1. Kritik der Induktion und jeder Allgemeinerkenntnis – Ist Popper der
Befreier vom Positivismus des Wiener Kreises oder positivistischer
als die von ihm kritisierten Positivisten?.............................................. 490

2. Poppers originelle Wahrheitstheorie als Verbindung der
Tarski‘schen Version der Adäquationstheorie mit einer neuen
Theorie der Wahrheit allgemeiner Aussagen………………………... 498

3. Induktion, Intuition, Wesenserkenntnis……………………………… 501


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Inhaltsverzeichnis 21

4. Auch über empirische (individuelle) Sachverhalte sei keine


Gewißheit möglich (Descartes‘ Kritik)……………………………….504

5. Die ‚best bewährten‘ (nicht widerlegten) allgemeinen Theorien
können auch Grundlage für Handeln (Ethik etc.) bieten:
Probabilismus und das Problem des ‚Hypothetischen‘ im Bereich
des Handelns…………………………………………………………. 505

6. Die 3 Weltentheorie………………………………………………….. 506

II. KRITIK VON POPPERS WISSENSCHAFTS-, WAHRHEITS- UND
ERKENNTNISTHEORIE………………………………………………… 507
1. Zu Induktion, Positivismus, Fallibilismus etc………………………...507
1.1. Zur versteckten Herrschaft des Positivismus in Poppers
Fragestellungen:………………………………………………….. 507
1.2. Übereinstimmung mit Poppers Kritik der (unvollständigen)
Induktion als formallogischer Schlußform………………………. 508
1.3. Poppers echte Einsichten in die Möglichkeit der Falsifizierung
universaler Aussagen durch Einzelbeobachtungen und Pascals
Vorwegnahme der Popperschen Kritik der Induktion…………… 509
1.4. Nicht alle Universalurteile lassen sich durch (empirische)
Einzelbeobachtungen falsifizieren. Kritische Überlegungen zu
Einschränkungen und Bedingungen der Anwendbarkeit des
Falsifizierbarkeitsprinzips………………………………………... 510
1.5. Zur Rettung empirischer Wissenschaft: die Popper’sche
Mißdeutung der Induktion, die als Formalschluß ungültig ist,
aber als Materialschluß unter bestimmten philosophischen und
methodologischen Voraussetzungen gültig sein kann…………… 514
1.6. Lassen sich durch die Verschiebung von Verifizierung auf
Falsifizierung empiristische Erkenntnistheorie und Skepsis
vermeiden?...................................................................................... 517
1.7. Die Unhaltbarkeit der von Popper anerkannten positiven Rolle
allgemeiner wissenschaftlichen Hypothesen ohne
Erkenntnisgewißheit……………………………………………… 520

2.Zur Verisimilitude (Wahrheitsnähe, Annäherung an die Wahrheit)
und deren Widerspruch zur These Poppers, daß Verifizierung
allgemeiner Aussagen unmöglich sei…………………………………521

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22 Inhaltsverzeichnis

2.1. Vieldeutigkeit und selbst-kritische oder widerspruchsvolle


Diskussion des Begriffs Wahrheitsnähe bei Popper……………... 521
2.1.1. Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude)?
Sechs ganz verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks bei
Popper – ohne die nötigen Unterscheidungen……………….. 523
2.1.1.1.Wahrheitsnähe als Unwiderlegtheit oder Nichtfalsifiziertheit
einer Hypothese oder Theorie oder als Unwiderlegtheit ihres
empirischen ‚Wahrheitsgehaltes‘ – Weitere Vieldeutigkeiten
der Ausdrücke „Wahrheitsnähe“ und „Annäherung an die
Wahrheit“…………………………………………………….523
2.1.1.2.Wahrheitsnähe als Wahrscheinlichkeit oder als ‚begründete‘
Hypothese………………………………………………….... 526
2.1.1.3.Wahrheitsnähe als mathematische Proportion zwischen
Wahrheitsgehalt und Falschheitsgehalt einer Theorie oder
als anzahlenmäßiges Überwiegen des ‚Wahrheitsgehaltes‘
einer Theorie gegenüber deren ‚Falschheitsgehalt‘…………. 527
2.1.1.4.Wahrheitsnähe als Reinheit des empirischen
Wahrheitsgehalts……………………………………………. 528
2.1.1.5.Wahrheitsnähe als ‚ungefähre Entsprechung‘ mit der
Wirklichkeit…………………………………………………. 528
2.1.1.6.Wahrheitsnähe als Annäherung an die ‚ganze Wahrheit‘?...... 529
2.1.2. Zum Widerspruch zwischen Poppers objektivistischem
Wahrheitsbegriff und seiner im Begriff der Wahrheitsnähe
(vor allem in der 3. und 4. Bedeutung) implizierten neuen
Wahrheitstheorie………………………………………………..529
2.2.Kritik der implizierten ‚neuen Wahrheitstheorie‘
Poppers………………………………………………………….530

3. Zu Conjecturalism und Wesenseinsicht: Der Widerspruch zwischen
bescheidenem wissenschaftstheoretischem Ziel und ‚Anspruch‘ des
kritischen Rationalismus……………………………………………... 532

4. Zur Ablehnung des Cogito und empirischer Evidenz und
Wahrheitsansprüche und deren Folgen für die Aufgabe der von
Popper verteidigten Korrespondenztheorie der Wahrheit…………….536

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Inhaltsverzeichnis 23

KAPITEL 11
DER KAMPF GEGEN DIE UNGESCHICHTLICHKEIT DER WAHRHEIT UND DIE
GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN ZUR WAHRHEITSTHEORIE HANS-
GEORG GADAMERS

I. DIE HERAUSFORDERUNG DER PHILOSOPHIE DURCH HISTORISMUS


UND HERMENEUTIK…………………………………………………...539

II. RELATIVIERENDE UND NICHT-RELATIVIERENDE DIMENSIONEN DER


GESCHICHTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE……………………................551
1. Geschichte als Vermittlerin philosophischer Erkenntnis zeitloser
Wahrheit ………………………........................................................... 552

2. Die Geschichte als Quelle von Irrtümern und Ideologien: Geschichte


und Konstitution von „falschem Bewußtsein“ und bloß
vermeintlichem „An sich“...……..........................................................556

3. Die Rolle der Geschichte in der Konstituierung von Noemata,


Mythen und Märchen, die kein „An sich“ beanspruchen.....................558

4. Die Geschichte als Grenze und Ermöglichung der Philosophie:


Historische Modifikationen von Sprache, Terminologien und
Kulturen, die ein An-sich-Sein weder beanspruchen noch auflösen....560

5. Die Geschichte als Quelle bestimmter Interessen, Fragen und


Probleme...............................................................................................562

6. Geschichte als Quelle von Erfahrung und Erfahrungsdaten................563

7. Geschichte als Ursprung gewisser Aspekte und komplementärer


Ausschnitte aus der Gesamtwirklichkeit..............................................564

8. Geschichte als Herausforderung an den Philosophen und an alle,


die sich um Wahrheitserkenntnis bemühen: Geschichte als Grund
eines bestimmten Dialogs……………................................................566

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24 Inhaltsverzeichnis

III. VIER WURZELN DES HISTORISMUS …….…………………................568


1. Der Historismus als Erzeugnis seiner selbst Konstitution des
Historismus durch die Meinung, eine total neue Philosophie sei die
einzig wahre: der Historismus selber……............................................568

2. Der Skandal der Widersprüche in der Geschichte der Philosophie:


Von Pyrrho bis zur Hermeneutik ….……............................................569

3. Der Zweifel an einer Erkenntnis der „transzendentalen“


Prinzipien und Seinsproprietäten.........................................................572

4. Die behauptete Unerkennbarkeit des absoluten Seins…………..........573

5. Erkenntnisse ungeschichtlicher Wahrheit und transgeschichtlich


wahre Urteile als Bedingung der Geschichtlichkeit des Menschen:
Im Dialog mit Gadamer……………………………………..…..........575

6. Übergeschichtliche Wahrheitserkenntnis in der hermeneutischen


Position……………………………………….……………..…..........580

7. Zum Problem einer Kritik auf Grund von Selbstwidersprüchen in der


hermeneutischen Position …………………………………..…..........585

8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der
hermeneutischen Philosophie Gadamers ………….………..…..........593

EPILOG

NUR STREIT UM DIE WAHRHEIT – ODER AUCH SIEG DER WAHRHEIT?...597

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PROLEGOMENA

DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES
WAHRHEITSBEGRIFFS

1. Der Streit um die Urteilswahrheit

Während wir in Wahrheit und Person1 Wahrheit in ihrem vielfältigen


Sinn betrachtet und von der Wahrheit des Seins, des Erkennens und des
Urteils, sowie vom ontologischen Status der Urteilswahrheit und der
Beziehung zwischen Wahrheit und Person mit gleicher Ausführlichkeit
gehandelt haben, gilt der vorliegende Band vorwiegend dem Streit um den
Sinn und das Wesen der Urteilswahrheit, auf den sich die Gigantomachie
um die Wahrheit der letzten zweieinhalb Jahrhunderte bis zur Gegenwarts-
philosophie in besonderem Maß konzentriert hat. Obwohl der Streit um die
Wahrheit spätestens mit der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und
Protagoras einsetzt,2 kann man ohne Übertreibung, wenn auch nicht ohne
erhebliche Vereinfachung der Geschichte der Philosophie, sagen, daß von
Sokrates, Platon und Aristoteles an, zumindest von allen großen und ein-
flußreichen Philosophen in der antiken und mittelalterlichen Philosophie,
die Wahrheit des Urteils gewissermaßen ohne Disput über ihre prinzipielle
Natur als eine besondere adaequatio oder Korrespondenz zwischen Urteil
und Sein verstanden wurde, auch wenn der genaue Sinn dieser Korres-
pondenz und die Natur des Urteils und seines Gegenstands sehr wohl
Gegenstand subtiler Diskussionen gewesen sind und sich als überaus
klärungsbedürftig erwiesen haben.
In scharfem Gegensatz dazu ist in der neueren Zeit nicht nur ein
gigantischer Streit um den Sinn der Urteilswahrheit entbrannt, sondern ist
es heute geradezu selten geworden, einflußreiche Philosophen zu finden,

1
Josef Seifert, Wahrheit und Person. Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntnis-
wahrheit und Urteilswahrheit. De veritate – Über die Wahrheit Bd. I (Frankfurt /
Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009).
2
Vgl. bes. Platon, Theaitetos; Protagoras. Vgl. Auch Martin Cajthaml, Kritik des
Relativismus (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003).

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26 PROLEGOMENA

die diesen klassischen Begriff der Urteilswahrheit verteidigen und ihn


nicht durch Evidenztheorien, Kohärenztheorien, Konsens-, Diskurs- oder
andere Wahrheitstheorien ersetzen wollen.
Diesem Streit, dem wir uns im folgenden zuwenden und in dem wir eine
kritische Neubegründung der Theorie der Wahrheit des Urteils als adae-
quatio intellectus et rei mit einer eingehenden Auseinandersetzung mit den
alternativen Wahrheitstheorien verbinden werden, ist eine gewaltige Krise
des klassischen Wahrheitsbegriffs vorausgegangen, nachdem gewichtige
Einwände erhoben und Schwierigkeiten in der traditionellen Wahrheits-
theorie entdeckt worden waren, die nicht durch eine einfache oder gar
gedankenlose Rückkehr zur Korrespondenztheorie der Wahrheit erledigt
werden können, sondern eine tiefschürfende kritische Analyse des Sinnes
der Urteilswahrheit, ihrer Träger und ihres Gegenstandes (der res) sowie
eine grundlegende und neue Untersuchung der eigenartigen adaequatio, in
der die Urteilswahrheit besteht, ja eine „siebte Ausfahrt“ der Philosophie3
im Sinne eines radikalen Neudurchdenkens dessen, was die Wahrheit ist,
verlangen.
Selbst unter den selten gewordenen und verdienstvollen modernen Ver-
teidigern der klassischen Wahrheitstheorie wie Tarski oder Popper finden
wir mehr oder minder radikale Neudeutungen derselben, die gleicherma-
ßen eine kritische Untersuchung erfordern.
Eine solche kritische Untersuchung wollen wir nach einigen Refle-
xionen über das Ausmaß und die Radikalität der Krise des Wahrheits-
begriffs in Angriff nehmen.

2. Einige Gedanken zur Krise des Wahrheitsbegriffs

In zunehmendem Maß sind wir Zeugen einer in der modernen und


zeitgenössischen Philosophie eingetretenen gewaltigen Krise und Revolu-
tion des Wahrheitsbegriffs, die sich nicht nur auf die Theorien der
Wahrheit des Urteils, der logischen Wahrheit, sondern auch auf jene des

3
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen
und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie, hrsg. v. Paula
Premoli/Josef Seifert (Heidelberg: Carl Winter, 1996).

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 27

Erkennens, des Seins, der Kunst und des Lebens auswirken. Doch verdich-
tet sich die philosophische Krise des Wahrheitsbegriffs, schon seit dem 18.
Jahrhundert, immer mehr in einer revolutionären Abwendung vom
klassischen Verständnis der Wahrheit des Urteils als adaequatio.4 Daher
sei in dieser Einleitung nur von diesem Teil der Wahrheits-Krise die Rede.
Mächtiger als die Skeptiker und Relativisten der Antike haben zahl-
reiche Philosophien in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren ausge-
prägte Ideengebäude und Wahrheitstheorien entworfen, welche die
klassische und in diesem Buch neu verteidigte Auffassung der Wahrheit als
einer, grob gesprochen, einzigartigen Form der „Übereinstimmung
zwischen Geist und Sein“ durch andere Richtpunkte des Wahrheitsbegriffs
wie Konsens, Kohärenz, geschichtliche Einheit des Bewußtseins, usf. zu
ersetzen suchen.
Eine Revolution dieses sensibelsten Bereichs einer Philosophie, ihres
Wahrheitsbegriffs, besteht auch dort, wo eine Philosophie nicht ausdrück-
lich, wohl aber durch ihre Implikationen, eine neue Theorie über die
Wahrheit des Urteils einführt.5 Letzteres gilt etwa für Kants Philosophie
der Wahrheit, die sich trotz eines scheinbaren Beibehaltens der klassischen
Theorie der Urteilswahrheit als Adäquatio6 letztendlich im Bereich der

4
Allerdings auch in einer Umdeutung des Erkennens und einem Angriff auf das
angemessene Verständnis der Erkenntniswahrheit. Auf diese Krise werden wir im
zweiten Kapitel eingehen und sind ihr in anderen, dort zitierten, epistemolo-
gischen Werken, aufbauend auf wichtigen Arbeiten anderer Philosophen und
realistischer Phänomenologen, tiefer nachgegangen, in dem Bemühen, sie zu
überwinden.
5
Wir sehen hier von ihrer ebenso bedeutsamen Stellung zur ontologischen und
gnoseologischen Wahrheit ab.
6
So hat Juan-Miguel Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría
de la Verdad (Madrid: Editorial Gredos, 1979) gezeigt, daß Kant explizit die
Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Eine ähnliche Position nimmt R.
Hiltscher in seiner Studie, „Kants Begründung der Adäquationstheorie der
Wahrheit in der transzendentalen Deduktion der Ausgabe B“, Kantstudien (1993),
84 (4), 426-447, ein. Der Autor stützt sich auf die Verteidigung der Adäquations-
theorie der Wahrheit in Kants B-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, in: Kants
Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Kap. 15-
20, wo die Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Objekt
aufgezeigt werden soll. Dabei seien die objektive Synthese des Urteils und die

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28 PROLEGOMENA

Ethik auf eine besondere Form moralisch-pragmatischer und in jenem der


theoretischen Philosophie auf eine kohärenzbezogene Wahrheitstheorie
zubewegt,7 die zahlreiche andere Wahrheitsauffassungen sowie Relativie-
rungsversuche oder Zweifel an aller Wahrheit überhaupt (trotz aller beste-
henden Unterschiede zu diesen) inspiriert hat. Ja, einerseits durch seine
Leugnung der Erkennbarkeit der Wahrheit im klassischen Sinne (der
Übereinstimmung unserer Urteile mit Dingen an sich), andererseits durch
seine kohärenztheoretische Idee der Wahrheit als bloßer ‚Einhelligkeit‘
und Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst, hat Kant sogar
Nietzsches radikal ablehnende Stellung zur Wahrheit als einer Anglei-
chung des Urteils an eine unabhängig vom menschlichen Geist bestehende
Wirklichkeit vorweggenommen und jedenfalls gewaltig beeinflußt.8

Synthese des Gegenstands der Anschauung denselben Prinzipien der Einheit


unterworfen. Beide entsprächen der „Synthesis überhaupt“. Ebd., Kap. 21-27, sind
dem erheblichen Unterschied zwischen beiden Synthesen gewidmet. Vgl. auch
Thomas Nenon, Objektivität und endliche Erkenntnis. Kants transzendental-
philosophische Korrespondenztheorie der Wahrheit (Freiburg: Alber, 1986).
7
Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, 7 B.
Dem entsprechen auch gewisse Stellen in Fichtes Werk. So trägt Fichte eine
radikale transzendentalphilosophische Kohärenztheorie der Wahrheit gerade nach
seiner schönen Hervorhebung des Interesses des „reinen Interesses an der
Wahrheit“ um ihrer selbst willen, weil sie Wahrheit ist, vor:
Unser Interesse für Wahrheit soll rein seyn; die Wahrheit, bloss weil sie Wahrheit ist, soll
der letzte Endzweck alles unseres Lernens, Denkens und Forschens seyn.
Die Wahrheit an sich aber ist bloss formal. Uebereinstimmung und Zusammenhang in allem,
was wir annehmen, ist Wahrheit, sowie Widerspruch in unserem Denken Irrthum und Lüge
ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem höchsten Gesetze:
sey stets einig mit dir selbst!
Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber
Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII344.
8
Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Friedrich
Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta (München: C. Hanser,
1956-1966); und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta (München: C.
Hanser, 1965), Bd. 1, S. 302/ 3.
Vgl. auch Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und
sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Dietrich von Hildebrand (Hrsg.), Rehabilitie-
rung der Philosophie (Regensburg: J. Habbel, 1974), S. 197-211.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 29

Allgemeiner gesprochen untergräbt jedes auch fast unmerkliche Erset-


zen des im dritten Kapitel des Werkes Wahrheit und Person in phänome-
nologischer Analyse entfalteten und nun im Streit um die Wahrheit zu
verteidigenden klassischen Wahrheitsbegriffs als Adäquatio durch Kohä-
renz, Konsens, oder durch pragmatisch gedachte Wirkungen von Urteilen
und Ideologien auf das moralische, kognitive oder gesellschaftliche Leben
die von einem Denker noch scheinbar festgehaltene klassische Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit zutiefst.
Selbst wenn der klassische Wahrheitsbegriff nicht aufgegeben, aber
doch de facto die Frage danach, ob eine bestimmte Theorie wahr ist (etwa
ob physikalische Theorien über Raum und Zeit wahr sind, ob es wahr ist,
daß Raum und Zeit relativ oder absolut sind und der Raum euklidisch ist
oder nicht-euklidischen Geometrien entspricht, etc.), durch die Frage nach
der besseren Brauchbarkeit bestimmter Theorien in der Praxis wissen-
schaftlicher Experimente, Erklärungen oder Anwendungen ersetzt wird,
stehen wir vor einem Versuch der Entthronung der Wahrheit und ihres
Primats und zugleich vor einem unausgesprochenen historischen Wandel
des Wahrheitsbegriffs, wie er in jeder seiner vielfältigen Formen einen
ungeheuren Einfluß auf das Ganze einer Philosophie ausübt, da kein
anderer Teil einer Philosophie unberührt bleiben kann, wenn einmal ihr
Zentralstück, die Lehre über die Wahrheit, angetastet worden ist.
Auch in so noblen Philosophien wie jener Kants, in denen sich
angesichts ihres anscheinenden Festhaltens an der klassischen Wahrheits-
auffassung nur stillschweigend und unterschwellig eine Revolution der
Wahrheitstheorie vollzieht, wirkt sich diese in sehr radikaler Weise aus.9

9
Sicherlich hat Kant, wie J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental:
Teoría de la Verdad, gezeigt hat, explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit
bejaht. Vgl. etwa die Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft B 82 und 83:
B 82 Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte
und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Dialexe mußten
betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen
sollten, ist diese: Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die
Übereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und
vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium
der Wahrheit einer jeden Erkenntniß sei.
B 83... Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntniß mit ihrem Gegenstande
besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine

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30 PROLEGOMENA

Mit der Feststellung von Kants Festhalten an einem gewissen korres-


pondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist nämlich keineswegs bewiesen,
daß nicht aus Kants Philosophie, zumindest als Folge ihres neuen Ver-
ständnisses der synthetischen Urteile a priori als im Verstand und nicht in
den Dingen begründet (als Übereinstimmung mit den „allgemeinen und
formellen Gesetzen des Verstandes“), ein radikal neues Verständnis der
Wahrheit resultiert.10
Außerdem stimmt Kant, der die klassische Wahrheitsdefinition an
vielen Stellen erwähnt und beizubehalten scheint, ihr nicht an allen Stellen
zu, sondern bestimmt Wahrheit, insbesondere in ihrem Verständnis inner-
halb der formalen Logik, in einer Reihe von Zusammenhängen im Sinne
einer rein subjektiven Kohärenztheorie der Wahrheit, einer „in sich
Stimmigkeit der Vernunft mit sich selber“,11 worauf wir in dem Kapitel
über die Kohärenztheorie der Wahrheit zurückkommen werden.12
Schon die Leugnung der Erkennbarkeit des ‚Dings an sich‘, des Seins in
seinem vom menschlichen Subjekt unabhängigen Dasein und Wesen, stellt,
wenn nicht die Urteilswahrheit selber, so doch die Erkenntniswahrheit und
jede Gewißheit über eine objektive Wahrheit von Urteilen über die vom
Subjekt unabhängige Wirklichkeit und damit auch die sinnvolle Anwend-
barkeit eines Wahrheitsbegriffs als Korrespondenz mit der vom Menschen-
geist unabhängigen Wirklichkeit radikal in Frage, wie dies in einem
Schreiben Heinrich von Kleists, das Friedrich Nietzsche im folgenden

Erkenntniß ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht
übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten
könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von
allen Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da
man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntniß (Beziehung auf ihr Object) abstrahirt,
und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem
Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein
hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich
angegeben werden könne.
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des
Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976), II. Teil. Für K. Poppers
und A. Tarskis Wahrheitstheorien werden wir in Der Streit um die Wahrheit
Ähnliches zeigen.
10
Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 85.
11
Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52.
12
Vgl. unten, Kap. 2.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 31

Text, auf dessen Bedeutung wir im Kapitel über existentialistische Wahr-


heitstheorien ausführlicher zurückkommen werden, zitiert, bewegend zum
Ausdruck kommt:
Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs.
Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese
Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus
seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch
in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk und
Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit
dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat, ja es scheint
mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig
eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man
überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht
glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor
allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete
es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung
auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und
zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei
den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten
haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung in aller
Wahrheit eintreten, wie sie z.B. Heinrich von Kleist als Wirkung der
Kantischen Philosophie erlebte. ‚Vor kurzem‘, schreibt er einmal in seiner
ergreifenden Art, ‚wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und
dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten
darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. – Wir
können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft
Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist die
Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles
Bestreben ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt,
ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft,
so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern
davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und
ich habe keines mehr.‘ Ja, wann werden die Menschen wieder dergestalt

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32 PROLEGOMENA

Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie


erst wieder an ihrem ‚heiligsten Innern‘ messen?...13

Wir wissen, wie Nietzsche, selber von dieser Verzweiflung an der


Erkennbarkeit der Wahrheit ausgehend, eine radikal fiktionalistische und
konstruktivistische Wahrheitstheorie an die Stelle der Adäquatio setzte und
ein Leben des Übermenschen, der sich von jeder Bindung an eine vorgege-
bene Wirklichkeit und Wahrheit zu lösen habe, verkündete. Während
Nietzsche noch die ganze Dramatik dieser Verwerfung der klassischen
Wahrheitstheorie, viel deutlicher als Kant sah, der nicht einmal die aus
seiner Kritik der reinen Vernunft folgende Auflösung des klassischen
Wahrheitsbegriffes deutlich erkannte, finden wir heute Konstruktivisten
wie Kenneth Gergen, die ohne Wimpernzucken und ohne den in ihrer
Position liegenden Widerspruch zu bemerken, es wie die harmloseste
Theorie der Welt verbreiten, die Idee der Wahrheit sei die gefährlichste
Idee überhaupt, der soziale Konstruktivismus mache keinen Wahrheits-
anspruch und Sein und Wahrheit inklusive der konstruktivistischen
Erkenntnistheorie selber seien nichts als soziale Konstrukte, eine im
Vergleich zu Nietzsche ungemein oberflächliche Form des Konstruktivis-
mus.14
Mit Kants, Nietzsches15 und vieler anderer Denker Abwendung von
einer korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeption aber fallen auch
viele zentrale Dimensionen der ontologischen und der Erkenntniswahrheit
weg und verbreitet sich der von Nietzsche als Wirkung der Kantschen
Philosophie vorausverkündete „alles zernagende und zerbröckelnde Skepti-
zismus und Relativismus“ immer weiter, eine Entwicklung, die sich nur
durch eine prinzipielle Kritik der von Hume und Kant in sehr verschie-

13
Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302/ 3 Die
zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl. Heinrich von
Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163.
14
Vgl. Kenneth Gergen, papers online:
http://www.swarthmore.edu/SocSci/kgergen1/web/page.phtml?id=manuscripts&st=manuscri
pts#construction.
15
Vgl. George L. Stack, “Kant and Nietzsche’s Analysis of Knowledge,” Dialogos,
(1987), (22), 7-40.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 33

dener Gestalt ausgehenden Wende zum philosophischen Subjektivismus


überwinden läßt.
Daß eine Wahrheitstheorie scheinbar an der Wahrheit im klassischen
Sinne festhalten, sie aber zugleich umstürzen kann, trifft auch auf diverse
moderne Wahrheitstheorien, wie jene Tarskis und Poppers, zu: obwohl
auch diese scheinbar an der klassischen Wahrheitsauffassung festhalten,
deren Gültigkeit wir zu erweisen hoffen, untergraben sie diese mehr oder
minder radikal, worauf wir ausführlich eingehen werden.16
Auch umgekehrt beeinflussen alle übrigen Teile einer Philosophie,
insbesondere deren Ontologie, die Wahrheitstheorie derselben, da der
Wahrheitsbegriff vom Seinsbegriff unablösbar ist, wie auch andererseits
eine Wahrheitstheorie die ihr entsprechende Ethik, Erkenntnistheorie,
Ontologie usf. entscheidend mitbestimmt, da sich der Wahrheitsbegriff
einer Philosophie unvermeidlich auf all diese Bereiche auswirkt, indem
etwa eine Ethik, die keine Seinswahrheit und keine Urteilswahrheit (im
Sinne der adaequatio) über unwandelbare Prinzipien anerkennt, zu einer
Diskursethik oder einem anderen ethischen System, das die unbedingte
sittliche Verbindlichkeit der Wahrheit nicht anerkennt, abgleiten wird. So
erweist sich die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als eine Grundfrage
und eine erste Frage der Philosophie sowie als Teil der praeambula ethica
und bedeutet ihre Krise eine Krise der gesamten Philosophie.

3. Radikale Infragestellung der Wahrheit und ihres Wertes bei Friedrich


Nietzsche und (un)moralische Quellen der Umdeutung der Wahrheit

Das Bemühen um Wahrheit ist also ein wahrer Brennpunkt philoso-


phischer Bemühungen, und zugleich ist ihre Infragestellung oder Umdeu-
tung eine Urversuchung jedes Menschen und insbesondere jedes Philoso-
phen. Das zeigt sich mit unvergleichlicher Deutlichkeit am Beispiel einer
Nietzsche-Stelle, in der nicht nur die Existenz der Wahrheit und der Wille
zur Wahrheit, sondern der Wert dieses Willens zur Wahrheit, radikal in
Frage gestellt wird:

16
Darauf werden wir in Der Streit um die Wahrheit in den Kapiteln über Tarski und
Popper zurückkommen.

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Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit
Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit
uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen
Fragen! Was wunder wenn wir endlich einmal mißtrauisch werden, die
Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx
auch unsrerseits das Fragen lernen: Wer ist das eigentlich, der uns hier
Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? – In der Tat, wir
machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir
zuletzt vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir
fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt wir wollen Wahrheit:
warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissendheit?
– Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wir’s,
die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx?
Und sollte man’s glauben, daß es uns schließlich bedünken will, als sei das
Problem noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male
gesehn, ins Auge gefaßt, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei und
vielleicht gibt es kein größres.17

Wenn Friedrich Nietzsche in der Infragestellung der Wahrheit und ins-


besondere des Wertes der Wahrheit als Richtlinie menschlichen Handelns
das vielleicht größte Wagnis überhaupt erblickt, hat er zweifellos prophe-
tisch gesprochen. Denn das vergangene Jahrhundert kann nicht nur als
eines betrachtet werden, in dem ein gigantischer theoretischer Versuch
unternommen wurde, die Wahrheitsfrage auszuschalten, sondern es ist auf
weite Strecken hin ein erschreckendes praktisches Experiment einer
Ausschaltung oder Uminterpretation der Wahrheit und dokumentiert als
solches die möglichen und über alle Phantasie des Normalbürgers hinaus-
gehenden unausdenkbaren Greuel und realpolitischen Folgen dieses
„größten Wagnisses“. Ist nicht das 20. Jahrhundert, dessen ‚Geist‘
Nietzsche mit heraufbeschworen hat, gerade eines, das dieses Wagnis
unternommen hat, den Wert der Wahrheit in Frage zu stellen und Wahrheit
als Grundlage menschlichen Handelns auszuschalten und in den großen
Ideologien des Jahrhunderts andere Gesichtspunkte an deren Stelle zu
setzen? Daß nicht die Annahme der Absolutheit der Wahrheit menschen-
verachtender Ideologien, sondern die Ausschaltung und Entthronung der
Wahrheit an der Wurzel des Nationalsozialismus, Dialektischen Materialis-

17
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse I, 1.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 35

mus und Kommunismus, sowie des Faschismus lag, wurde von verschie-
denen Denkern nachgewiesen und soll hier nicht näher ausgeführt
werden.18
Häufig wurde bei einer Entthronung der Wahrheitsfrage nicht einfach
die Bedeutung der Wahrheit geleugnet, oder – wie bei Nietzsche – der
Wert des Willens zur Wahrheit überhaupt in Frage gestellt, sondern
vielmehr die Wahrheit umdefiniert, und die Urteilswahrheit, anstatt sie
durch die eigentümliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit den
bestehenden Sachverhalten, als die sie sich erweisen wird, zu bestimmen,
umgedeutet, z.B. als Nützlichkeit. Wahr, so behauptete man, ist etwa „was
der kommunistischen Partei“ oder „was dem Nationalsozialismus nützt,“
„was der arischen Rasse entspricht,“ was dem Fortschritt dient, was uns
befriedigt oder uns zur „Kontingenzbewältigung“ verhilft, was wir in
schöpferischer Selbstgestaltung unseres Lebens wünschen oder als unsere
soziale Realität konstruieren, was mit den Ideen unserer Zeit oder dem
Zeitgeist übereinstimmt, was Konsens erhält oder sich im Diskurs bewährt,
was kohärent ist, usf.
Mit diesen und anderen Namen benennt man jene neuen Maßstäbe, die
den angeblich veralteten und von Nietzsche als zu überwindenden
bezeichneten Maßstab der Wahrheit ersetzen sollen.
Sogar Nietzsche jedoch, obgleich er das „größte Wagnis“ eines
wahrheitslosen Lebens verteidigt, erkennt die Gefährlichkeit dieses Wag-
nisses an, das die ganze Gesellschaft und Rechtsordnung wie eine Flut-
welle mit sich fortreißen und Chaos gebären kann,19 und das tatsächlich
18
Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, in: Dietrich von
Hildebrand, Idolkult und Gotteskult. Gesammelte Werke Band VII, (Regensburg:
Josef Habbel, 1974), S. 309-339); vgl. Rocco Buttiglione, Augusto del Noce.
Biografia di un pensiero (Casale Monserrato: Piemme, 1991); vgl. Josef Seifert,
„Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche
Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unbezweifelbarer Wahrheits-
erkenntnis“ in: Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990.
19
Auch Cicero hat auf dieses „größte Wagnis“ einer von Wahrheit losgeketteten
Gesellschaft und Rechtsordnung hingewiesen. Vgl. Josef Seifert, „Demokratie,
Wahrheit und Gerechtigkeit. Cicero und das Problem des Pluralismus“, in: H.
Schuschnigg, D. Gutsmann, H. Starhemberg (Hrsg.), König und Volk. Demokratie
im Wandel der Zeit, Maximiliana Bd. VI, (Wien-München, Amalthea Verlag,
1992), S. 27-51.

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inzwischen zu Millionen Toten geführt hat, und zwar nicht nur in den
Kriegen oder den totalitären Schreckensherrschaften, welche Millionen
Erwachsene hingemordet haben, sondern auch heute in der sogenannten
freien Welt, der „Achse des Guten“, wie Präsident Bush sie (ohne wirk-
liche Rechtfertigung) genannt hat, in der alljährlich Millionen geborene
und ungeborene Menschen Opfer einer Entthronung der Wahrheit sind,
herrsche diese nun in der freien Welt oder in einem von der marxistischen
Ideologie beherrschten Land wie China, dessen Ministerin sich öffentlich
rühmen kann, innerhalb kürzester Zeit durch ihre forcierte und rein
pragmatische Einkind-Familienpolitik 200 Millionen Menschen ermordet
zu haben, wobei in dieser Tat – ebenso wie in einer Art Selbstkritik ihrer
Folgen – nur noch die praktischen und insbesondere die wirtschaftlichen
Folgen dieser Politik bedacht werden (z.B. ein disproportioniertes Absin-
ken der weiblichen Bevölkerung, darauf folgende Mädchenentführungen
und Zwangsheiraten, eine bedrohliche Bevölkerungspyramide, etc.) und
nicht einmal mehr die Frage geprüft wird, ob eine solche Politik der
Wahrheit über den Menschen und seiner Würde widerspricht oder nicht.
Das ‚Wagnis‘ einer derartigen Entthronung der Wahrheit kann jedoch
nicht nur nach den real-politischen Folgen oder sonstigen praktischen
Konsequenzen alleine, die aus der Entthronung der Wahrheit faktisch
erflossen sind, hinreichend ermessen werden. Denn dieselben und ähnliche
realpolitische Konsequenzen könnten auch dogmatisch geglaubten Irrtü-
mern über den Menschen entspringen, die einen Wahrheitsanspruch
enthalten und seine Würde leugnen. Auch wenn etwa die nationalsozialis-
tische Ideologie nicht von einem zynischen Relativismus und einer
versuchten Entthronung der Wahrheit durchzogen, sondern von jemandem
als letzte und objektive Wahrheit geglaubt worden wäre, was ja auch wohl
bei ihren Anhängern vielfach der Fall war, wären ihre Wirkungen im
Wesentlichen gleich schlimm geblieben.
Wir können deshalb die Greuel und Unmoral, die sich aus dem von
Nietzsche angesprochenen „größten Wagnis“ ergeben, nicht als bloße
Historiker und Empiriker daraus ablesen, daß im Namen der schlechthinni-
gen Entthronung der Wahrheit und ihrer Ersetzung durch wahrheitsfremde
Maßstäbe gigantische Archipel Gulags aufgerichtet und Holocauste ins

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 37

Werk gesetzt wurden.20 Welch großes Wagnis in diesem Versuch der


Loslösung von einer objektiven Wirklichkeit und Wahrheit menschlichen
Handelns liegt, kann man nicht nur aus dem ermessen, was im Namen
eines faschistischen Relativismus Mussolinis, im Namen der Entthronung
der Wahrheit durch eine ‚arische Wahrheit‘ oder durch kommunistische
Parteiinteressen in unserer empirischen Welt tatsächlich geschehen ist, so
furchtbar dies auch ist und so sehr es genügt, um die Bedeutung des
angemessenen Verständnisses von Wahrheit zu begreifen und die Absurdi-
tät der Behauptung des Ägyptologen Jan Assmann zu erkennen, Moses‘
Abwendung von den vielen Göttern Ägyptens und dessen (bzw. des auf
Sinai erschienenen Gottes) absolutistischer Wahrheitsanspruch sei die
Wurzel solcher Greuel wie Auschwitz gewesen, so als hinge es nicht vom
Inhalt einer Ethik oder Religion, sondern von ihrem Wahrheitsanspruch als
solchem ab, ob ihre Anwendung zu Frieden oder zu totalitär verbreche-
rischem Verhalten führe, und als ob nicht gerade jeder rationale
Widerstand gegen Chaos und Verbrechen Wahrheit voraussetzte, sodaß die
Quelle von ungerechten Kriegen und Vernichtungslagern keineswegs in
Wahrheitsansprüchen als solchen liegen kann.21

20
Vgl. Dietrich von Hildebrand, “The Dethronement of Truth,” in: The New Tower of
Babel (London: Burns & Oates, 1954), S. 57-100; übersetzt als „Die Entthronung
der Wahrheit“, S. 309-339. Vgl. ders., Memoiren und Aufsätze gegen den
Nationalsozialismus 1933-1938. Veröffentlichungen der Kommission für
Zeitgeschichte, mit Alice von Hildebrand und Rudolf Ebneth hrsg. v. Ernst
Wenisch (Mainz: Matthias Grünewald Verlag, 1994), sowie Alexander
Solschenizyn, Macht und Moral zu Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v.
Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im
Fürstentum Liechtenstein, Akademie-Reden (Heidelberg: Universitätsverlag C.
Winter, 1994).
21
Wir leben heute sicherlich in einer Gesamtkultur, der Assmanns Ideen vernünftig
erscheinen mögen, in einer Zivilisation, die im Namen grenzenloser Freiheit, die
in Willkür umgedeutet wird, und mit Hilfe einer relativistischen Religionsphiloso-
phie und Religionspsychologie, in zunehmendem Maße die Unterscheidung
zwischen wahrer und falscher Philosophie, Ethik oder Religion, sowie den
Gedanken eines einzigen wahren Gottes als Friedensstörer zurückweist.
Gegen diesen evolvierenden oder sogar explodierenden kulturellen Hintergrund
mit seinen polytheistischen Sympathien fand am 6. Juli 2004 der Einführungs-
vortrag des damaligen Heidelberger Gadamer-Professors Jan Assmann statt, der in

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Auch setzt jede Aussage Assmanns Wahrheit und also voraus, daß deren
Gegenteil falsch ist. Assmann läßt sich durch solche Nachweise der Wider-
sprüchlichkeit seiner Position nicht beeindrucken: Ja selbst solche letzte
Einsichten griechischer Philosophen in die ontologischen und logischen
Grundgesetze, welche derartige Widersprüche verbieten, sind für Assmann
Teil des Programms der „mosaischen Unterscheidung“ und jedenfalls
dieser vergleichbar: nichts als Denkzwänge, denen sich zu unterwerfen
ähnlich negative einengende Folgen habe wie die Unterwerfung unter die
„mosaische Unterscheidung“ zwischen dem wahren Gott und falschen
Göttern, die zu einer „Gegenreligion“ führe.22 Und der Preis der

der vor Zuhörermassen platzenden „alten Aula“ der Universität über das Thema
„Ausschließlichkeit – der Preis des Monotheismus“ sprach und dort seine aus
einer Reihe von Büchern bekannten und höchst brisanten Thesen vor dem
Publikum ausbreitete, ja mit sanfter Stimme beschwor:
Während Aristoteles und Darwin erkannt hätten, daß die Natur keine Sprünge mache, habe
es diese in der Geschichte der Menschheit sehr wohl gegeben. Der größte dieser Sprünge
aber sei der Übergang vom alten Polytheismus der primär-religiösen Kulturen zur
„Gegenreligion“ des Monotheismus gewesen, am eindringlichsten durch Moses’ Auszug aus
Ägypten symbolisiert. Auf diesem Exodus gab es auf einmal den einen Gott, dessen Gesetze
das ganze Leben kontrollierten; und ebenso plötzlich sei die ‚mosaische Unterscheidung‘
zwischen wahren und falschen Religionen aufgetaucht, eine von einem Historiker schwer
begreifliche Behauptung.
Assmann, der die Unterscheidung von wahr und falsch „mosaisch“ nennt,
erwähnt selber, daß wir die Unterscheidung zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch
unabhängig von Moses am Anfang der griechischen Philosophie finden. – Etwa
bei Xenophanes, der an Homer und Hesiod aussetzte, sich die Götter wie
Menschen mit menschlicher Stimme und menschlichem Gesicht vorgestellt und
vor allem, ihnen alle Schandtaten angedichtet zu haben, wie „Stehlen, Ehebrechen
und einander Betrügen“, die unter Menschen eine Schande sind, und der gerade
diesen falschen oder menschlich-allzumenschlichen Gottesbildern die Wahrheit
über Gott entgegenstellte, indem er sagte, es herrsche in Wahrheit „nur ein
einziger Gott, unter Menschen und Göttern der Größte, weder an Aussehen den
Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“
Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit in den Religionen ist
aber auch schon deshalb keine mosaische Erfindung, da sie eine simple Folgerung
der Logik ist: einander widersprechende Religionen können evidenterweise nicht
zusammen wahr sein.
22
Ich zitiere Assmann:

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 39

dreieinhalb Jahrtausende währenden welterobernden und weltumspannen-


den Herrschaft monotheistischer Religionen und ihres Wahrheitsanspruchs
seien Ausschließlichkeit, Gewalt und Intoleranz gewesen.23

Wie ich diese Bezeichnung <Gegenreligion> meine, möchte ich an dem Parallelfall der
Wissenschaft deutlich machen. Wie die monotheistische Religion auf der Mosaischen, so
beruht die Wissenschaft auf der Parmenideischen Unterscheidung. … Die eine unterscheidet
zwischen wahrer und falscher Religion, die andere zwischen wahrem und falschem Wissen.
Diese Unterscheidung, die sich in den Sätzen von der Identität, vom Widerspruch und vom
ausgeschlossenen Dritten (“tertium non datur”) artikuliert, wird gemeinhin mit dem Namen
des Parmenides verbunden, … Mit Recht spricht Werner Jäger von einem ‚Denkzwang‘, der
hier eingeführt wird ‚…, der von der Unvollziehbarkeit des logischen Widerspruchs
ausgeht.‘ Dieser Denkzwang … zieht eine Grenze zwischen dem ‚wilden Denken‘ als den
traditionellen, mythischen Weisen der Welterzeugung und dem logischen Denken, das sich
dem Denkzwang des Satzes vom Widerspruch unterwirft.“
Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus,
(München/Wien: Carl Hanser Verlag, 2003), S. 23-24.
23
Der Professor behauptet dies natürlich nicht ganz offen, sondern flüstert und
insinuiert es bis auf wenige Passagen nur, und ist überhaupt ein Meister darin, das,
was er eben doch gesagt hat und was alle verstanden haben, gleich wieder
aufzuheben, sich sehr erstaunt darüber äußernd, wieviel „Staub seine Bücher doch
immer wieder aufwirbeln“, und dabei den Hörer und Leser, geradeheraus
gesprochen, als simplistischen, Mißverständnissen erliegenden, grobschlächtigen
Menschen darstellt, der sich über irgendwelche Gedanken aufregt, die doch weit
entfernt von Assmanns wirklichen Ideen über Moses den Ägypter seien. Doch
Assmanns Aufzählen der Ausrottung ganzer Städte durch den Makkabäerfürsten,
seine Hermeneutik des Martyriums der sieben Makkabäerbrüder und zahlloser
anderer Märtyrer als „passive Gewalt“ ausübende Menschen, die sich, so kann
man schließen, eher negativ von der Geistigkeit und Friedfertigkeit ihrer Mörder
abheben, und sein Schweigen über die von einem Hannibal, Julius Caesar,
Alexander, begangenen und von ihnen und Tausenden Anderen beschriebenen
Untaten zivilisierter und „wilder“ polytheistischer afrikanischer, germanischer,
amerikanischer oder afrikanischer Stämme, sowie über die von atheistischen
totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts begangenen Greuel, nicht zuletzt auch
sein Nichterwähnen der Zentralbotschaft der Seligpreisungen der Friedfertigen in
den als Quellen der Intoleranz angeprangerten monotheistischen Religionen, läßt
die Botschaft des neuen Professor-Propheten ahnen: der viel geehrte Mann, oder
gar ein Größerer, verheißt uns den neuen Propheten, oder ist gar selber der „Moses
der Ägypter“, der uns an der Hand nehmen und in ein neues und zugleich das
urtümliche Europa, ins gelobte Land der vielen Götter, zurückführen wird. Wer
sich dem Propheten in den Weg stellt – wie ein Zuhörer beim Vortrag, der
entrüstet aufstand und, wenn auch gegen die guten akademischen Manieren, so

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doch anerkennenswerter Weise und beherzt öffentlich sagte, nicht Moses, sondern
der polytheistische Pharao, sei der Unterdrücker und Mann der Gewalt gewesen –
wird kurzerhand von drei Männern gepackt und unter dem Applaus der gebannt
dem Preisträger des höchsten deutschen Historikerpreises lauschenden Menge
durch den ganzen Saal getragen und zur Tür hinausgedrängt. Vielleicht ist solches
Verhalten Vorbote des neuen toleranten akademischen Stils, den wir von
polytheistischen Akademikern erwarten dürfen.
Ein Universitätsprofessor und Rektor einer Nachbaruniversität, der nicht an
unerlaubtem Orte wie das unglückliche Opfer besagter Gewalt, sondern dort die
ungeheuerliche Geschichtskonstruktion des Historikers kritisierte, wo dies erlaubt
ist, nämlich beim Gadamer zu Ehren veranstalteten Empfang nebenan, wird keiner
Antwort gewürdigt, sondern muß sich sagen lassen, er habe den Vortragenden so
schlecht verstanden, daß man mit ihm beim besten Willen nicht weiterreden
könne.
Dies ungeachtet der Tatsache, daß auch Zenger, Koch, Kuschel und die andern
Kritiker, die im Anhang des Werks des Ägyptologen, Die mosaische Unter-
scheidung oder der Preis des Monotheismus, zu Worte kommen, die Botschaft des
Autors im wesentlichen gleich hören wie der mit Nichtbeantworten bestrafte
Professor.
Die entrüstete Frage eines Zuhörers kommt mir in den Sinn:
„Sind wir an einem Punkt angelangt, wo mit Preisen ausgezeichnete Ordinarien und
Historiker berühmter Universitäten Unsinn reden dürfen, für die jeder Maturant das Abitur in
Geschichte wiederholen müßte?“
Es war ein beängstigendes Erlebnis.
Ist dies der neue, den Exodus rückwärts gehende Prophet Europas, der große
Historiker, der alle Grausamkeiten, Kriege, Greuel und Menschenopfer der
Baalsdiener, der Antike und heutiger polytheistischer Völker mit keinem Wort
erwähnt?; der die Intoleranz und das Verbrechertum des durch und durch
relativistischen und atheistischen Kommunismus und des Nationalsozialismus
und Faschismus, die die „mosaische Unterscheidung“ zwischen wahr und falsch
abschafften und einem zynischen Pragmatismus frönten, der nur noch die
Unterscheidung „nützlich“ oder „schädlich für die Partei“ machte, vergißt? Der
der Millionen Opfer atheistischer totalitärer Staaten des 20. Jahrhunderts und
zynisch aufgeklärter Herrscher mit keinem Worte gedenkt, aber insinuiert, daß
eigentlich Moses der Jude, als er an die Stelle Moses’ des Ägypters getreten sei,
selber an Eichmanns und Hitlers Verbrechen gegen die Juden schuldig geworden
sei, weil er, „wenn er überhaupt existiert habe“ und nicht eine Fiktion unserer
historischen Erinnerungspur sei, den falschen Weg der radikalen Abgrenzung
eingeschlagen habe, auf dem Hitler nur konsequent weitergegangen wäre? Vgl.
Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un pensiero; ders., Dietrich von

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In Wirklichkeit können Ungerechtigkeit und ungerechte Gewalt aus-


schließlich dann rational zurückgewiesen werden, wenn dies von einer ob-
jektiven Wahrheit aus geschieht, die der Falschheit entgegengesetzt ist und
führt die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit so wenig zu
diesen, daß im Gegenteil gerade ihre Abschaffung bzw. Leugnung rein
objektiv noch viel grauenhaftere Folgen hat als das historische Experiment
des 20. Jahrhunderts sie uns offenbart hat.
Die grauenerregenden Folgen des „größten Wagnisses“ und der
Infragestellung des Wertes der Wahrheit ergeben sich nämlich rein logisch
aus dem von Nietzsche als „größtes“ bezeichneten Wagnis, nämlich nicht
mehr Wahrheit über den Menschen und sein Handeln als Richtschnur
menschlichen Handelns beibehalten zu wollen, sondern so ganz wahrheits-
fremde pragmatische Gesichtspunkte wie den des Nutzens eines Volkes
oder der Ziele einer Partei, zum obersten Maßstab des Handelns und einer
von der klassischen Adäquationstheorie der Wahrheit abweichenden prag-
matischen oder funktionalistischen Wahrheitstheorie zu wählen. Deshalb
geht uns das ganze Ausmaß der Schrecklichkeit des größten ‚Wagnisses‘,
wie Nietzsche es nennt, der Loslösung menschlichen Handelns von dem
Richtmaß der Wahrheit, erst durch reines Denken auf, bzw. durch die
Einsicht: Wenn es keine Wahrheit als Richtmaß gibt und aus diesem
Grunde andere Maßstäbe des Handelns wie Utilität, Macht, Lust, Kapital,
Parteiwünsche, die Willkür des Diktators usf. suprem sind bzw. Wahrheit
nur in ihnen besteht, und wenn deshalb wirklich „alles erlaubt ist“ – wie
Ivan in den Brüdern Karamasoff annimmt – dann ist eben auch wirklich
alles erlaubt!24 Dann gibt es also für menschliches Handeln kein Recht,

Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus (Heidelberg: Universitäts-


verlag Carl Winter, 1998), N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die
Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog (Heidelberg:
Universitätsverlag C. Winter, 1991). Vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter:
Entzifferung einer Gedächtnisspur (Müchen1998), sowie ders., Die Mosaische
Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus.
24
Genau genommen hat selbst dieser Begriff des „Erlaubtseins“ keinen Sinn mehr,
wenn man einmal den widerspruchsvollen Gedanken einer Abschaffung der
Wahrheit angenommen hat. Im übrigen sagt Ivan Karamasoff (in Dostojewskis
Die Brüder Karamasoff, wenn es keinen Gott gäbe, sei alles erlaubt, woraus sein
Halbbruder Smerdjakow den Schluß zieht, auch der Vatermord sei erlaubt. Doch

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keine Pflicht, keinen Wert und kein Gut mehr, die der Mensch als
verbindlich für eigenes Handeln anzusehen hätte. Ja nicht einmal mehr für
den Inhalt eines neuen Ersatzkriteriums für menschliches Handeln – ob es
die Nazis und der Ku-Klux-Klan oder deren Gegner sein sollten, die uns
die Ersatzrichtlinie für unser Handeln liefern – kann es unter solchen
Voraussetzungen Kriterien geben, deren vorausgesetzter Wahrheits-
anspruch einlösbar wäre. Vielmehr gilt nun als Richtlinie, was immer von
jemandem als solche definiert wird und darf getan werden, was immer
Trieb oder Dämon uns eingeben, Parlamente beschließen oder Macht
erlaubt. Cicero hat in seiner Schrift Über die Gesetze die logischen Konse-
quenzen einer solchen Anschauung mit rhetorischer Brillanz beschrieben
und die ihnen zugrundeliegende Meinung als die eines Wahnsinnigen
bezeichnet (dementis est). Mit diesem starken Ausdruck will er wohl die
ungeheuerlichen und letzten Endes von keinem Menschen, der den Ge-
brauch seiner Vernunft besitzt, akzeptablen Folgen bezeichnen, die aus
dem größten Wagnis, nämlich dem eines Lebens ohne jede vorgegebene
Wahrheit über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, entspringen, bzw. unter
der Voraussetzung des Wertnihilismus gerechtfertigt erscheinen müßten,
wenn die Rede von ‚Rechtfertigung‘ unter dieser Voraussetzung überhaupt
noch Sinn hätte.25
Doch dieses größte „Wagnis“, das eigene Leben von der Bindung an die
Wahrheit loszuketten, ist keineswegs nur wegen seiner Folgen gefährlich,
es ist also nicht nur ein „Wagnis“, dabei aber vielleicht sittlich neutral,
sondern eine derartige Loskettung des Lebens von der Wahrheit ist in sich
selber böse – es ist sogar Teil des Urbösen, und zwar nicht nur wegen
seiner Folgen. Denn die moralische Urverpflichtung jedes denkenden
Wesens besteht der Wahrheit gegenüber und verlangt eine Grundoption:
die Wahrheit zu suchen und nur das zu tun, was in Wahrheit verpflichtend
oder erlaubt ist, und zu unterlassen, was in Wahrheit nicht erlaubt oder
verboten ist. Die hier gebietende und vorausgesetzte Wahrheit aber ist in
erster Linie eine Angemessenheit an die Wirklichkeit und setzt sie voraus.

obwohl objektiv alles Sein und alle Wahrheit von Gott abhängen, so können wir
das Wahre, Gerechte und Gute doch unabhängig von unserer Erkenntnis Gottes
erfassen, weshalb die Aussage Ivans falsch ist. Hingegen gilt sie von der
Abschaffung der Wahrheit und von den meisten alternativen Wahrheitstheorien.
25
Vgl. Cicero De legibus (I, 42 ff.), sowie ders., De re publica, III. xxii, 33.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 43

Dabei richtet sich nicht nur eine Leugnung oder ein Frontalangriff auf
die Urteilswahrheit als angemessenes Verhältnis zum Sein (adaequatio)
oder auf den Wert der Wahrheit gegen diese Urgrundverpflichtung,
sondern auch die vielen alternativen Wahrheitstheorien.
Dies führt uns zu einer weiteren Erkenntnis. Die hier angesprochene
Wurzel derartiger Wahrheitstheorien, die sich als falsch herausstellen
werden, ist nicht eine rein methodologische Schwierigkeit oder die Tiefe
und Komplexität der Wirklichkeit, sondern vielmehr ein Aufstand gegen
jene moralische Urbindung des Philosophen, welche die Bedingung aller
echter Philosophie ist: die Bindung an die Wahrheit, die bereits Platon als
schlechthin notwendige Voraussetzung aller Philosophie bezeichnet hat:

Nächstdem betrachte nun dieses, ob es wohl neben jenem die notwendig in


ihrer Seele haben müssen, welche so werden sollen wie wir sie beschrieben.
Was doch?
Daß sie ohne Falsch sind und mit Willen auf keine Weise das Falsche
annehmen, sondern es hassen, die Wahrheit aber lieben.
Wahrscheinlich wohl, sagte er.
Nicht nur wahrscheinlich, Freund, sondern ganz notwendig wird, wer in
irgend etwas von Natur verliebt ist, alles seinem Lieblingsgegenstande
Verwandte und Angehörige auch lieben.
Richtig, sagte er.
Könntest du nun wohl etwas der Weisheit Verwandteres finden als die
Wahrheit?
Wie sollte ich, sprach er.
Kann also wohl dieselbe Natur weisheitsliebend sein und trugliebend?
Keineswegs wohl.
Der in der Tat Wißbegierige also muß nach aller Wahrheit gleich von
Jugend an möglichst streben.
Allerdings ja.26

Auch der Relativismus und die von ihm so oft ausgehende Entthronung
der Wahrheitsfrage, selbst wenn wir sie bei vielen der brillantesten Geister
der letzten Jahrhunderte finden, können angesichts ihrer gewaltigen inne-
ren Widersprüche, die es eigentlich einem rational denkenden Menschen

26
Platon, Der Staat 6.485a-d. Dies ist der Text, von dem das Motto der Internationa-
len Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein diligere veritatem
omnem et in omnibus stammt.

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unmöglich machen sollte, sie zu vertreten, kaum als rein theoretische


rationale Irrtümer angesehen werden, sondern ergeben sich viel eher und
viel öfter aus einem von Nietzsche propagierten, aber zutiefst unmora-
lischen Nicht(sehen)wollen der Wahrheit. Auf eine solche unmoralische
Entthronung der Wahrheitsfrage haben Dietrich von Hildebrand27 und
Allan Bloom hingewiesen. Bloom schreibt in seinem 1987 erschienenen
Bestseller:
Solche Unterscheidungen wie authentisch-inauthentisch (echt-unecht), tief-
oberflächlich, kreativ-unkreativ ersetzen den Gegensatz von wahr und
falsch... Es ist nicht die Wahrheit ihrer Gedanken (der Gedanken von
Moses, Jesus, Homer und Buddha, die diese Männer auszeichnet, sondern
bloß noch ihre Fähigkeit, Kultur hervorzubringen... Nicht Wahrheitsliebe,
sondern nur noch intellektuelle Redlichkeit kennzeichnet den erstrebens-
werten Geisteszustand. Da es keine Wahrheit mehr in Werten gibt, und der
Rest Wahrheit über das Leben nicht als liebenswert erachtet wird, wird das
Merkmal des authentischen Selbst nur noch, das eigene Orakel zu befragen,
und zu betrachten, wer man selbst ist und was man erlebt. 28

Selbst die Verteidiger einer Existenz ohne Wahrheitsbindung aber


können sich nicht ganz von der Sonne der Wahrheit losketten. Denn wenn
dieses größte Wagnis, von dem Nietzsche redet, nicht total absurd sein soll,
dann muß eben doch auch Nietzsche voraussetzen, daß es entweder wahr
ist, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt oder daß wenigstens die These
wahr ist, daß Wahrheit und das Streben nach ihr keinerlei Wert besitzen.

27
Siehe Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalso-
zialismus, zit. Vgl. auch Josef Seifert, „Personalistische Philosophie und Wider-
stand gegen Hitler: Zum Kampf Dietrich von Hildebrands gegen die Nationalso-
zialistische Ideologie.“ 12 Artikel in: Liechtensteiner Vaterland (Mai-September
1995), sowie ders., (Hrsg.), Dietrich von Hildebrands Kampf gegen den
Nationalsozialismus; Josef Seifert, “La filosofia personalista di Dietrich von
Hildebrand e la sua opposizione contro il nazionalsocialismo,” Acta Philosophica.
Rivista Internazionale di Filosofia 6 (1997), S. 53-81.
28
Allan Bloom, The Closing of the American Mind (New York: Simon and Schuster,
1987), S. 201 (meine Übersetzung); Dietrich von Hildebrand, The New Tower of
Babel, “The Dethronement of Truth” S. 57 ff. Siehe auch Josef Seifert, „Friedrich
Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“
in: Balduin Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein: Festgabe für Dietrich von
Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: J. Habbel, 1970), S. 183-215.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 45

Nietzsche nennt mit Recht die Frage nach dem Werte der Wahrheit eine
„noch gründlichere Frage“ als die nach der Existenz von Wahrheit. Denn
für unseren Willen und für menschliches Handeln kann Wahrheit nur dann
ein verbindlicher Maßstab sein, wenn sie nicht nur einfach besteht, wie das
neutrale Faktum des Bartwuchses, das wir auch durch Rasieren korrigieren
dürfen, sondern wenn sie einen Wert, und zwar einen sittlich relevanten
Wert besitzt. Und mehr als vom Glauben an die faktische Existenz von
Wahrheit, einem Glauben, dessen Verlust ihn zunächst in Verzweiflung
gestürzt hatte, will Nietzsche uns von der Überzeugung des Wertes der
Wahrheit befreien und damit menschlichem Denken und Handeln alle
Horizonte, jedes „Don Juan Abenteuer“ des Gedankens und Tuns,
eröffnen.29
Und wen lockt nicht irgendwo in seinem Herzen dieser Gedanke? In
dem Maß, in dem uns dieses traurige Kunststück der „Befreiung von der
Wahrheit“ gelingt, wird allerdings unser Leben dunkel und böse. Man
könnte sogar die Urform des Bösen nicht sosehr in einer Verletzung von
bestimmten einzelnen Werten und Gütern erblicken, sondern in dem
Versuch der Loslösung unseres Lebens von der Wahrheit.

29
Friedrich Nietzsche, Morgenröte, 4. Buch, 327.
Eine Fabel. – Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter
entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist,
Kitzel und Genuß an Jagd und Intrige der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten
Sterne der Erkenntnis hinauf! – bis ihm zuletzt nichts mehr zu erjagen übrig bleibt als das
absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und
Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle – es ist die letzte
Erkenntnis, die ihn verführt…
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von
K. Schlechta, I/S. 1198.
Diese radikale Freiheit des Gedankens bringt Nietzsche auch mit dem Tod
Gottes in Verbindung. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 343,
„Wir Furchtlosen“, 5. Buch, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur
Ausgabe von K. Schlechta, II/S. 205/06:
In der Tat, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, daß der „alte
Gott tot“ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von
Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder
frei, ... endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes
Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da,
vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“.

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46 PROLEGOMENA

Fassen wir jene Stelle ins Auge, von der Heidegger zu Recht in seinem
Nietzsche-Buch sagt, sie spräche Nietzsches „Grunderfahrung“ aus:
Das Leben. . .geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier
über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des
Erkennenden sein dürfe.30

Doch darf es dies wirklich sein? In dem „sein dürfe“ ist doch wieder als
Rechtfertigung für solches Leben als Experiment die These impliziert, daß
das Leben eben wirklich so ein Experiment sein darf, daß es also wahr ist,
daß weder Wahrheit einen unbedingten Wert besitzt noch der Wille zur
Wahrheit jenen Status der Ehrwürdigkeit trägt, den man ihm von jeher
zugesprochen hatte. Es liegt auf der Hand, daß ohne die Wahrheit dieser
Annahmen Nietzsches Behauptung falsch und seine Aufforderung zu
einem Leben des Irrtums, der Täuschung und Ungewißheit und zu einem
„radikalen Experiment“ unvernünftig und vor allem unsittlich wäre.
Auch Nietzsche kann nicht umhin, bei der Begründung seines neuen,
von Wahrheit befreiten Lebens anzusetzen, daß ein solches Leben wirklich
erlaubt sei, daß Wahrheit tatsächlich keinen Wert besäße. Denn es ist
offenbar: wenn all dies nicht wahr wäre, dann wäre eben das, was
Nietzsche Befreiung nennt, keine Befreiung, und das, was er erlaubt nennt,
nicht wirklich erlaubt.31
So erkennen wir einen Aspekt dessen, was Tadeusz StyczeĔ
verschiedentlich als „Schlinge der Wahrheit“ bezeichnet hat.32 Der Mensch
und sein Handeln ist in der Schlinge der Wahrheit gefangen, in dem Sinne,

30
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, »Viertes Buch: Sanctus Junarius«,
§324, KSA 3, 552f., hier 552/1882.
31
Mit Wahrheit meinen wir hier noch jenes Einfache und ganz Selbstverständliche,
nämlich die Wirklichkeit und noch präziser die Übereinstimmung mit derselben,
kraft deren unser Urteil wahr ist. Wie Aristoteles sagt: „wahr ist die Rede, wenn
sie sagt, daß ist, was wirklich ist und daß nicht ist, was tatsächlich nicht ist, falsch
hingegen, wenn sie sagt, daß ist, was nicht ist und umgekehrt.“
32
Vgl. Tadeusz StyczeĔ, „Karol Wojtyáa – Philosoph der Freiheit im Dienst der
Liebe,“ in: Karol Wojtyáa – Johannes Paul II, Erziehung zur Liebe (Augsburg,
1979), S. 156 ff.; ders., „Zur Frage einer unabhängigen Ethik“, in: Karol Kardinal
Karol Wojtyáa, Andrzej Szostek, Tadeusz StyczeĔ, Der Streit um den Menschen.
Personaler Anspruch des Sittlichen (Kevelaer: Butzon und Bercker, 1979), S. 111-
175.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 47

daß er niemals umhin kann, die Wahrheit jener Überzeugungen vorauszu-


setzen, auf denen sein Handeln beruht. Versucht er, sich und sein Handeln
von dieser Wahrheitsvoraussetzung loszulösen, so fällt er nicht nur not-
wendig in einen Selbstwiderspruch, sondern verfällt mit gleicher Not-
wendigkeit einer Autodestruktion von Denken und Handeln und vor allem
in ein Urböses. Dies tritt in einer anderen Nietzsche-Stelle deutlich
hervor:33
Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage
aufgemacht haben, wo die Pflanze ,Mensch‘ am kräftigsten in die Höhe
gewachsen ist, vermeinen, daß dies jedesmal unter den umgekehrten
Bedingungen geschehen ist, daß dazu ... seine Erfindungs- und
Verstellungskraft (sein ,Geist’) unter langem Druck und Zwang sich ins
Feine und Verwegne entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten
Macht-Willen gesteigert werden mußte – wir vermeinen, daß Härte,
Gewaltsamkeit, Sklaverei ... Versucherkunst und Teufelei jeder Art, daß
alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubtier- und Schlangenhafte am
Menschen so gut zur Erhöhung der Spezies Mensch dient als sein
Gegenteil.

Wird Wahrheit als Richtschnur menschlichen Handelns aufgegeben,


muß logisch zwingend alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, ja Teufelei
jeder Art zugelassen werden. Wir erkennen aber wiederum zugleich, daß
selbst zur Rechtfertigung dieses Standpunkts Wahrheit vorausgesetzt
bleibt, die Wahrheit nämlich, daß in der Tat alles erlaubt ist.
Beide Gedanken, daß es neben dem Willen zur Wahrheit auch einen
solchen zur Unwahrheit gebe und denjenigen, daß selbst dieser Wille zur
Unwahrheit, will man ihn rechtfertigen, letzten Endes Wahrheit für sich
beanspruchen muß, um nicht schlechtweg absurd zu sein, hat fast
eineinhalb Jahrtausende vor Nietzsche ein Mann ausgesprochen, der bei
aller radikalen Gegensätzlichkeit zu Nietzsches Standpunkt doch eine
ähnliche Leidenschaft für ein ungeschminkt-rückhaltloses Aussprechen der
Dinge besaß wie Nietzsche: Augustinus.34

33
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Der freie Geist“.
34
Augustinus, Bekenntnisse X. 23: X. 26. Übers. G. Graf von Hertling (Freiburg i.B.:
Herder, 1922).

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48 PROLEGOMENA

4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes der
Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis ihres
Wesens voraus

Versuchen wir uns, diese Gedanken abschließend, noch bewußt zu


machen suchen, wie selbst Nietzsches radikalste Infragestellung der
Wahrheit und des Wertes des Willens zur Wahrheit – Wahrheit nicht nur
subjektiv voraussetzt, sondern in objektiver Erkenntnis entdeckt. Gehen
wir zu dem Nietzsche-Zitat zurück, das über den vorangegangenen
Überlegungen stand: Wie sollten wir überhaupt den Willen zur Wahrheit
und die Wahrhaftigkeit in Frage stellen können, ohne zu verstehen, nicht
bloß was linguistisch mit diesen Worten gemeint ist, sondern was Wahrheit
und Wahrhaftigkeit ihrem Wesen nach sind? Denn Wahrheit und Wahrhaf-
tigkeit sind nicht nur Urphänomene, sondern gehören zu jener grundle-
genden Art von Urgegebenheiten, die jeder denkende Mensch nicht nur als
solche kennt, sondern auch notwendig ausdrücklich oder stillschweigend
an irgendeiner Stelle seines Denkens voraussetzt und anerkennt, wie auch
Bonaventura und Thomas von Aquin treffend ausführen.35

35
Vgl. Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5:
Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß nämlich kein Urteil
(contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil (contradictoriam) impliziere, ist zu
erwidern: dies ist wahr, insofern zwei Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen,
daß eine bejahende Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft
deren sie ein Prädikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie behauptet, sie
selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie sich von der negativen Aussage,
die ein Prädikat von einem Subjekt abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die
negative Aussage mit der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die
bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten Behauptungs-
ebene sind die Aussagen kontradiktorisch, nicht auf der zweiten (als solcher). Wenn man
deshalb sagt: es gibt keine Wahrheit, so impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom
Subjekt negiert, nicht ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber
für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, impliziert sie, daß es Wahrheit gibt; dies ist nicht
verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so jedes Falsche die Wahrheit.
Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es keine Wahrheit gibt – da es wegen der
Abtrennung des Prädikats vom Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behauptung, mit
der es behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt – beide Teile
des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht verstehende Intellekt auch
aus jenem Falschen beide Teile des Widerspruchs und damit schließen, daß die These
wesenhaft falsch und nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.(Eingene
Übersetzung, aus dem Lateinischen Original, JS.)

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 49

Auch aus dem Nietzsche-Text geht hervor, daß der Sinn der Infragestel-
lung des Willens zur Wahrheit bei Nietzsche eine Adäquationstheorie der
Wahrheit, bzw. die Einsicht, daß Wahrheit eines Urteils in dessen
Wirklichkeitsentsprechung besteht, voraussetzt. Denn es hätte keinen Sinn,
den von Nietzsche kritisierten Willen zur Wahrheit zu verachten, wenn
sich nicht auch Nietzsches Verachtung der Wahrheit auf eine wahre
Einsicht in die Verachtungswürdigkeit eines solchen Willens stützte.
Ebensowenig sinnvoll wäre es, die von uns erstrebte Wahrheit gemäß
manchen modernen Wahrheitstheorien als bloße Nützlichkeit oder als
bloße Kohärenz zu deuten, wenn sich unsere Verachtung ebenfalls auf
diese Kriterien oder Substitute für Wahrheit erstrecken und wir Nützlich-
keit nicht für ein Kriterium oder gar für das Wesen der Wahrheit halten
sollten. Auch ist der Wille zur Wahrheit nach Nietzsche gewiß der Wille,
das zu erkennen und in unseren Urteilen dem zu entsprechen, was wirklich
der Fall ist. Nur weil er diese Einsicht in das objektive Wesen der Wahrheit
als Adäquatio voraussetzt, kann Nietzsche auch in anderen Stellen der
Erkenntnis der Wahrheit den Irrtum oder die Täuschung entgegensetzen.
Denn wenn wir das Wesen der Wahrheit nicht als Zusammentreffen
unserer Urteile mit der Wirklichkeit verstünden, könnten wir auch nicht
den Gegensatz zwischen ihrer Erkenntnis und dem Irrtum erkennen, der
eben darin besteht zu glauben, daß etwas der Fall ist, was nicht der Fall ist:
zu meinen, daß ein Sachverhalt besteht, der in Wirklichkeit nicht besteht,
etwas für wahr zu halten, was es in Wirklichkeit nicht ist.
Um den Willen zur Wahrheit in Frage zu stellen, muß Nietzsche ferner
auch den Unterschied zwischen Täuschung und Lüge einerseits und
Wahrhaftigkeit andererseits verstehen. Doch noch mehr, Nietzsche
kritisiert die Wahrhaftigkeit und stellt sie als hohle Pseudotugend und
Schwäche dar, er reißt ihr die Larve der Ehrwürdigkeit vom Gesicht – doch
wohl nur im Dienste einer tieferen Wahrhaftigkeit, in deren Namen und
mit deren ganzem Pathos Nietzsche spricht.

Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These


vom notwendigen Sein der Wahrheit“, 38-52.
Diesen Gedanken bringt auch Thomas von Aquin in einem sehr schönen Text
zum Ausdruck in Summa contra Gent., Lib. 2, cap. 33, Nr. 8.

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Dies führt uns zu einem Weiteren. Indem Nietzsche den Wert der
Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Frage stellt, setzt er sie in elementarer
Weise voraus. Denn die Intelligibilität und Freude, die er in seinen Lesern
erwecken will, ist doch die, daß hier endlich einer den Betrug der
Wahrhaftigkeit und des Willens zur Wahrheit durchschaut hat – aber
wodurch hat er sie durchschaut, wenn nicht durch eine Metawahrhaftigkeit,
die selber nur eine tiefere Wahrhaftigkeit sein kann, mit der den Pseudo-
Tugenden die Maske vom Gesicht gerissen oder ihr Schein-Geist entlarvt
werden und folglich eine Wahrheit erkannt werden soll?
Ohne den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erkennen, kann der
Sinn und das Pathos der Nietzsche’schen Texte gar nicht begriffen werden.
Ohne Wahrheit und Wahrhaftigkeit als solche und in ihrer fundamentalen
Bedeutung und ihrem grundlegenden Wert zu erkennen, kann auch das
Wagnis, als das Nietzsche „kein größres“ kennt, niemals als solches
verstanden werden. Auch in der Erkenntnis, daß das Problem des Wertes
der Wahrheit ein tieferes als das der bloßen faktischen Existenz und
Eigenart von Wahrheit ist, liegt eine für seine Position unentbehrliche
Wahrheitserkenntnis Nietzsches, die die Tiefe seiner Fragestellung bedingt
und ohne die seine ganze Infragestellung der Wahrheit in sich zusammen-
bräche. Viele weitere Erkenntnisse und implizite Übereinstimmungen
zwischen unseren Ausführungen und Nietzsches anscheinender radikaler
Antithese zu ihnen könnten entwickelt und damit ein universaler Konsens
besitzender Wahrheitsfundus aufgewiesen werden. Dabei handelt es sich
nicht um einen faden und nichtssagenden gemeinsamen Nenner zwischen
konträren und kontradiktorischen Positionen, sondern vielmehr um solche
Wahrheitserkenntnisse, wie sie ihrer inneren Logik nach den offenen
Thesen Nietzsches widersprechen. Es handelt sich gleichsam um einen
Bestand verdeckter Wahrheitserkenntnis bei Nietzsche, die den offen von
ihm erhobenen Ansprüchen entgegentritt und die Universalität und Allge-
meingültigkeit des Sinnes und der Wahrheit dokumentiert, auf die Heraklit
mit dem Satz hingewiesen hat:
Man sollte dem Richtmaß dessen folgen, was allen gemeinsam ist. Doch
obgleich der Logos (die Wahrheit) allen gemeinsam ist, so leben doch die

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 51

Vielen so als besäßen sie eine nur für sie allein geltende (eigene, private)
Vernunft (Denkkraft, Weisheit).36

Auch Nietzsche spricht, als hätte er eine private und von ihm abhängige
Wahrheit und stehe in schlechthinnigem Gegensatz zur abendländischen
Wahrheitstradition. Und doch haben wir entdeckt, daß er genau jenen
Wahrheitsbegriff und jene Wahrhaftigkeit, die er angreifen möchte,
erkennt und für seinen Angriff voraussetzt. Hinter der Ebene des in der Tat
radikalen und von Heidegger geteilten Widerspruchs Nietzsches zum
Gedanken, daß die Wahrheit das Richtmaß menschlichen Handelns sein
solle, verbirgt sich der universale Logos der Wahrheit, von dem Heraklit
spricht und ohne dessen Erkenntnis und implizite Anerkennung Nietzsches
Kampf gegen die Wahrheit unmöglich, ja undenkbar wäre.
Zumindest in einigen wichtigen Fragen gibt es evidente und unbezwei-
felbare, ja selbst noch in der Ablehnung der Wahrheit erfaßte Wahrheiten.
Wenn es aber, wie diese Beispiele zu zeigen suchten, überhaupt Wahrheit
und sogar Gewißheit über Wahrheit gibt, dann ist auch der Mut der über
„Ethik und Entscheidung“ Nachdenkenden begründet, diese Wahrheit dort
zu suchen, wo sie die konkreten Grundlagen unseres Handelns betrifft.
Diese einführenden Überlegungen sollen nur dazu anregen, die zentrale
Bedeutung der Frage nach der objektiven Eigenart und dem Wert der
Wahrheit zu ermessen, sowie nach dem wahren Fundament der Ethik, nach
Wesen und Wert der Person, des Rechtes und der Gerechtigkeit, und vieler
konkreterer Lebensbereiche zu fragen.
Im vorliegenden Werk werden wir uns angesichts des Disputes über die
Wahrheit fragen, ob es möglich ist, eine Gewißheit über das Wesen des
Urteilswahrheit und eine Einsicht in die Einsichten und Irrtümer verschie-
dener Wahrheitstheorien zu gewinnen.
Wenn wir in manchen Fällen unbezweifelbare Gewißheit über Wahrheit
erlangen können, werden wir ferner dazu ermutigt, Wahrheit auch dort zu
suchen, wo sie viel weniger gewiß und offenkundig ist als im Falle von
Einsichten in notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte wie sie
Mathematik, Logik oder auch unsere philosophische Auseinandersetzung
mit verschiedensten Wahrheitstheorien anstreben und wie wir sie zur
Evidenz zu bringen suchen. Dann ist es auch sinnvoll, in der Geschichts-
36
Siehe Heraklit, 32 fr. 2 (eigene Übersetzung).

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52 PROLEGOMENA

wissenschaft, in der Politik, in jenen konkreten Entscheidungen der


Wirtschaft, Naturwissenschaft und des Lebens, wo es oft um Modelle und
Theorien, um Vermutungen und Annahmen geht, die aber auch letztlich
auf Wahrheit abzielen und ihrerseits unumstößliche Wahrheiten vorausset-
zen, nach Wahrheit zu forschen. Dann muß, und mit dieser Erwägung
schließe ich diese Betrachtungen ab, Wahrheit sich auf allen Gebieten als
Richtlinie und Maß menschlichen Denkens und Handelns erweisen; sie ist
Ziel allen Urteilens und Denkens und Maß allen Handelns. Und gerade
deshalb ist der Streit um sie, in den wir nun eintreten wollen, von höchstem
Interesse.

5. Eine knappe Darstellung und Verteidigung der klassischen Lehre von


der Urteilswahrheit als Adäquatio – der Streitgegenstand

Im Buch Wahrheit und Person37 stand im Kern eines wichtigen Teiles


unserer Überlegungen, die der Urteilswahrheit galten, eine Verteidigung
der klassischen Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit auf
dem Boden einer objektivistischen phänomenologischen Methode und
unter Berücksichtigung der Beiträge, die Edmund Husserl, Adolf Reinach
und Alexander Pfänder zur Aufklärung des Objekts des wahren Urteils, des
Sachverhalts, geleistet haben. Fassen wir das Wesentliche zusammen:
Das Urteil (als objektives logisches Bedeutungsgebilde) meint und
behauptet, daß ein Sachverhalt besteht. In seiner behauptenden Setzung –
und das leuchtet aus deren Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den
Anspruch, mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und
infolgedessen selbst wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil als
Behauptung verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil
entfaltet werden. „S ist P“ und: „dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich
kann dieser Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des
Urteils verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder
unerfüllt sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein.
Die Wahrheit des Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das
Verstehen der Eigenart der behauptenden Funktion des Urteils, und ande-

37
Josef Seifert, Wahrheit und Person.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 53

rerseits das Verstehen der eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des


Sachverhalts, dessen Bestehen das Urteil kraft der Behauptungsfunktion
der Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das Urteil
wahr ist.38
So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit liegt in
jenem Adäquationsverhältnis oder kommt einem Urteil kraft jenes
Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht, daß ein Urteil in seiner
Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als solchen intendierten
Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentrifft, daß sich
also die Sachen wirklich so verhalten, wie das Urteil dies behauptet.39 Wie
wir sehen werden, wurde dieser klassische Wahrheitsbegriff von vielen
Philosophen direkt und explizit in Frage gestellt, von anderen nur
implizite, so etwa von Sir Karl Popper, Alfred Tarski, und Immanuel Kant,
die auf den ersten Blick zu den großen Verteidigern dieser Lehre zählen.40
Eine Reihe der Kapitel des vorliegenden Bandes werden die Adäquations-
theorie der Wahrheit gegen explizite und implizite Einwände verteidigen,

38
Vgl. Pfänder, ebd., S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des
Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.
39
Zu nicht phänomenologischen modernen Verteidigungen der Adäquations- bzw.
Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Philip Kitcher, “On the Explanatory Role
of Correspondence Truth”, Philosophy and Phenomenological Research, 64 (2),
March 2002, 346-364:
“The focal criticism alleges that appeals to success cannot deliver conclusions that parts of
science are true in the sense of truth-as-correspondence that realists prefer. The paper
responds to that criticism, in versions proposed by Michael Williams, Michael Levin, and,
especially, Paul Horwich, by arguing that critics typically stop at a shallow level of
psychological explanation. If we prove more deeply we discover a genuine explanatory role
for correspondence truth.” (edited)
40
Zwar hat J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la
Verdad, gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht
hat. Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 82, 83 und 85. Vgl.
auch Harold Langsam, “Kant’s Compatibilism and His Two Conceptions of
Truth”, Pacific Philosophical Quarterly, 81(2) June 2000, 164-188. Der Autor
verteidigt die Auffassung, daß, wie wir schon in früheren Kapiteln argumentiert
haben, Kant letztlich von seiner Erkenntnistheorie her zu einer Art der
Kohärenztheorie der Wahrheit gelangt. Vgl. dazu auch Josef Seifert, Erkenntnis
objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil.
Vgl. auch die Kapitel über Tarskis und Poppers Wahrheitstheorien.

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54 PROLEGOMENA

sowie unhaltbare oder unzureichende Formen der Verteidigung einer


Korrespondenztheorie der Wahrheit der Kritik unterwerfen – aber im
Unterschied zu vielen anderen derartigen Versuchen, nicht auf dem Boden
einer fixierten schematischen Theorie, sondern auf jenem einer Methode
des phänomenologischen Realismus, welche die Urgegebenheit der
Urteilswahrheit und der besonderen Form von ‚Entsprechung‘ herauszuar-
beiten sucht, die in dieser liegt, und sie gegen die verschiedensten
verkürzten und unrichtigen Wahrheitstheorien und Kritiken verteidigt.41

41
Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche
Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, sowie Dietrich von Hildebrand, What is
Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London:
Routledge, 1991); Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenolo-
gical Foundation for Classical Realism (London/Boston: Routledge and Kegan
Paul Press, 1987). Zu anderen Formen der Verteidigung der Korrespondenztheorie
der Wahrheit und einer zeitgenössischen Disputation zwischen Verteidigern und
Kritikern der Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Richard Schantz (Hrsg.),
What Is Truth? (Berlin: de Gruyter, 2002). Ein Teil der dort vereinten Aufsätze
kritisieren die Idee, die wir als evidente Grundlage jeder Philosophie der Wahrheit
betrachten: daß nämlich Wahrheit ein Wesen besitzt und einen Inhalt hat, und
deshalb nicht, wie die deflatorischen Wahrheitstheorien, auf die wir zurückkom-
men werden, als eigenständiger Begriff eliminiert werden darf, ja nicht einmal
kann, weil Wahrheit einer jener unleugbaren Urgegebenheiten ist, die man
unmöglich leugnen kann, ohne sie schon wieder vorauszusetzen. Andere
Beitragende verteidigen die These, daß Wahrheit ein Wesen besitzt und daß dieses
in einer Art der Korrespondenz besteht. Vgl. zu einer eher minimalistischen
Verteidigung der Korrespondenztheorie etwa William P. Alston, “Truth: Concept
and Property”, ebd., S. 11-26. Vgl. auch David M. Armstrong, “Truths and
Truthmakers” in: What Is Truth?, ebd., S. 27-37. Zum Thema der ‚Wahrmacher‘
in dem objektiven Sinne irgendwelcher objektiver Faktoren in der Welt, die
bestehen müssen, damit ein Urteil wahr sein könne. Vgl. dazu auch den Beitrag
des Herausgebers Richard Schantz, “Truth, Meaning, and Reference”, in: What Is
Truth?, Richard Schantz (Hrsg.), S. 79-99, sowie Michael Devitt, “The
Metaphysics of Deflationary Truth”, ebd., S. 60-78. Vgl. auch Peter Simon/Barry
Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers”, Philosophy and Phenomenological
Research (1984), 44, 287-322. Interessant ist in diesem Zusammenhang einer
Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit auch Alejandro Llano,
“‘Being as True’ According to Aquinas”, Acta Philosophica, 4 (1) 1995, 73-82.
Dieser argumentiert, daß gerade der ontologische Wahrheitsbegriff bei Thomas
von Aquin erst das Phänomen der Wahrheit als Korrespondenz erklären kann.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 55

Im so differenzierten Sinn können wir mit der scholastischen Formel für


die Adäquationstheorie sagen, daß die Wahrheit die Angemessenheit
zwischen Intellekt und Wirklichkeit ist, veritas est adaequatio intellectus et
rei.42 Diese Definition kann im Rahmen einer Diskussion der Erkenntnis-
wahrheit auch als Angleichung (Adäquation) des Geistes an die Wirklich-
keit, intellectus ad rem, gefaßt werden. Die Erkenntniswahrheit ist eine
Adäquation, eine Entsprechung zwischen Intellekt und Sache, aber das
kann nicht der logische Sinn der Wahrheit des Urteils sein.
Die Urteilswahrheit liegt vielmehr in einer Angemessenheit und
Angleichung bzw. in einem Zusammentreffen der setzenden Behauptung
des objektiven Urteilsgebildes mit dem Selbstverhalten und wirklichen
Bestehen des in ihm behaupteten Sachverhalts.
Doch genau an dieser Stelle setzen die Kritiker des klassischen und
mittelalterlichen Begriffs der Urteilswahrheit an: Ist es nicht offenkundig,
wendet Brentano ein, daß ein Urteil wie „es gibt keine Drachen“ seine
Wahrheit nicht daraus schöpft, mit einem Ding übereinzustimmen? Denn
welches Ding sollte auch „ein nicht existierender Drache“ sein?
Ist dann die These der Scholastiker, die Wahrheit des Urteils sei dessen
Übereinstimmung mit der Sache, mit der Wirklichkeit (der res) falsch?
Unsere Antwort darauf lautete „Nein“. Wenn aber die Wahrheit des Urteils
weiterhin, gegen die luziden Einwände Brentanos und anderer als
adaequatio intellectus ad rem bezeichnet werden darf und soll, so konnte
und kann dies nur durch eine gründliche Behandlung verschiedener
Einwände geschehen. Intellectus heißt hier nicht der Urteilsakt, sondern
das objektive Urteilsgebilde, und res nicht die Sache, sondern der
Sachverhalt: das „a-sein-[oder-nicht-a-Sein] eines B“. Urteilswahrheit ist
also die Übereinstimmung des Urteils in seiner Behauptung eines
Sachverhalts mit dem unabhängig vom Urteil bestehenden Sachverhalt,
dem Selbstverhalten der Sachen selbst. Eine solche Formulierung des

Vgl. Auch die Verteidigung der These, daß bei Descartes die Korrepondenz- oder
Adäquationstheorie der Wahrheit in engem Zusammenhang mit seinen Lehren der
klaren und distinkten Ideen und der Evidenz stehen in Georges J. D., Moyal, “Les
structures de la vérité chez Descartes”, Dialogue, (1987); 26, 465-490.
42
Vgl. Günther Pöltner, „Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprächs-
beitrag des Thomas von Aquin zum Problem der Übereinstimmung“, Zeitschrift
für philosophische Forschung (1983); 37: 563-576.

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56 PROLEGOMENA

Wesens der Urteilswahrheit, die übrigens Thomas von Aquin schon als
Übereinstimmung mit der dispositio rei (ein Ausdruck, der vielleicht
bereits den Sachverhaltsbegriff vorwegnahm), sowie nicht nur mit der
Sache als solcher, sondern auch mit Privationen,43 deutete, ist nicht falsch,
auch wenn wir die res primär nicht als Sache, sondern als Sachverhalt
auffassen müssen.44 Aber dadurch, daß der intellectus, was hier als Urteil
übersetzt werden muß, mit dem Sachverhalt, der allein unmittelbarer
Gegenstand des Urteils ist, übereinstimmt, stimmt das Urteil auch indirekt
überein mit der Natur der res selbst im buchstäblichen Verständnis dieses
Ausdrucks, d.h. mit den Sachen selbst, von denen das Urteil handelt und
mit denen die Sache eine enge Einheit bildet.45
Je nach der Art des Sachverhalts, z.B. eines Sachverhalts, der in der
Welt eines Romans vorkommt, über den wir urteilen können, oder eines
Sachverhalts der wirklichen Welt, wird freilich noch einmal der Sinn
dieser dem Urteil gegenüber vorliegenden Autonomie des Bestehens eines
Sachverhalts entscheidend modifiziert sein, worauf weder Conrad-Martius
noch Pfänder hinreichend hingewiesen haben, wobei auch hier noch einmal
der fiktive Sachverhalt als Teil der im Roman beschriebenen und von ihm
oft konstituierten gegenständlichen Sphäre und die tatsächlich und ganz
autonom bestehenden Sachverhalte über fiktive Sachverhalte unterschie-
den werden müssen. Der Sachverhalt, daß Shakespeares Figur Hamlet

43
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, [23493] Contra Gentiles, lieb. 1
Cap. 1 n. 5. Vgl. auch: “dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione”
(In Metaphysicam, IX, 11, n. 1897).
Während der Ausdruck “dispositio rei” hier ohne Gewalttätigkeit als
Sachverhalt übersetzt werden kann, bedeutet er oft „Zustand der Sache“ oder auch
„Disposition“ und kann nicht als Sachverhalt übersetzt werden. Vgl. Auch
Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei
Thomas von Aquin (Regensburg: Josef Habbel, 1960). See also Barry Smith,
“Logic and the Sachverhalt,” The Monist, 72:1 (Jan. 1989), pp. 52-69.
44
Pfänder, ebd., S. 79-82, vor allem S. 80: „Die richtige Ausdeutung des Sinnes der
Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten
Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die ‘adaequatio intellectus et rei’, wenn
wir unter dem ‘intellectus’ hier das Urteil und unter der ‘res’ den von dem Urteil
betroffenen Gegenstand verstehen.“
45
Darin liegt wohl auch eine Intention von Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulli-
gan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 57

nicht der Mohr von Venedig ist, ist nicht selber ein fiktiver Sachverhalt,
auch wenn er nur in Bezug auf eine Fiktion besteht.
Ein Wort noch zu dem eigentümlichen Sinn von ‚Entsprechung‘, die
hier gemeint wird. Es geht selbstverständlich nicht um jene Entsprechung,
die bei ähnlichen Wesen vorliegt, wo die Eigenschaften eines Dinges oder
eines Menschen jenen eines andern genau entsprechen können. Es geht
vielmehr um eine von Ähnlichkeit ganz verschiedene, grundsätzlich
andersartige Entsprechung, die nur vom Wesen des urteilenden Gedanken-
gebildes her begriffen werden kann.46
Schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, ob die adaequatio, in
welcher die Urteilswahrheit besteht, das Urteil selbst in seinem Verhältnis
zum Sachverhalt, oder aber das Verhältnis zwischen dem behaupteten und
dem wirklichen Sachverhalt kennzeichnet. Ich meine, es geht aus verschie-
denen Gründen um eine Entsprechung des Urteilsgebildes bzw. der in ihm
liegenden Behauptung selbst und des ihm transzendenten Sachverhalts.
Deshalb ist der Begriff der ‚Korrespondenz‘ viel zu oberflächlich, um der
Eigenart der logischen Wahrheit des Urteils gerecht zu werden. Alexander
Pfänder kennzeichnet dieses Wesen der Urteilswahrheit als Korrespondenz
folgendermaßen:
Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der
Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit
einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Macht-
spruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem
Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuord-
nen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei
ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen
Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig
anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und sich ihm in

46
Auch hat etwa Roman Ingarden im Literarischen Kunstwerk gezeigt, daß sich die
Entsprechung zwischen einem historischen Roman und den in ihm befindlichen
Quasi-Urteilen und Gegenständen und Sachverhalten der wirklichen Welt ganz
von der Entsprechung zwischen Urteil und behauptetem Sachverhalt unterschei-
det. Es liegt im historischen Roman so etwas wie eine ‘matching intention’ (eine
Intention der Übereinstimmung mit historischen Tatsachen und Persönlichkeiten),
nicht eine Serie von Behauptungen über historische Fakten vor. Vgl. R. Ingarden,
Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontolo-
gie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972.

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58 PROLEGOMENA

jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste


Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde wider den
Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen. Man muß
daher aus dem Sinn des Behauptungsmomentes jeden Anflug von eigen-
sinniger Entgegensetzung entfernt halten... Das Urteil meint irgendwelche
Gegenstände, die es sich unterwirft und über die es, eine Bestimmtheit
hinzusetzend oder abspreizend, in Anschmiegung an das Selbstverhalten
der Gegenstände, eine Behauptung vollzieht.47

...es [das Urteil] muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten
Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbst-
herrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut
aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.48

Im folgenden wollen wir in erster Linie die Ergebnisse unserer Analyse


der Urteilswahrheit im Dialog mit vielen radikal oder partiell widerstrei-
tenden Theorien über die Wahrheit des Urteils vertiefen. Bevor wir dies
tun können, müssen wir uns kurz darüber Klarheit verschaffen, daß der
Ausdruck „Wahrheitstheorie“ ganz verschiedene Bedeutungen haben und
eine Theorie der Wahrheit ganz verschiedene Fragen stellen und Probleme
zu lösen versuchen kann, die wir streng von einander scheiden müssen, um
zur gebotenen Klarheit vorzudringen.

6. Fünf Bedeutungen und Aufgaben einer „Wahrheitstheorie“

Es gibt wenigstens fünf Bedeutungen dessen, was man als „Wahrheits-


theorie“ bezeichnet bzw. fünf mögliche Bedeutungen und Aufgaben von
Wahrheitstheorien. Diese können entweder:
(1) Theorien über das Wesen der Wahrheit sein und zu erklären
beabsichtigen, was die (Urteils-)Wahrheit ist. Im folgenden werden wir die
erwähnten, die Adäquationstheorien der Wahrheit ersetzenden, Theorien
primär unter diesem Gesichtspunkt betrachten, da sie alle primär Wesens-
theorien der Wahrheit sind. Oder aber eine Wahrheitstheorie kann eine:
(2) Theorie über Wahrheitsbedingungen sein; als solche stellt sie eine
ganz andere These auf als wenn sie vom Wesen der Wahrheit redet, und
47
Ebd., S. 43 f.
48
Vgl. ebd., S. 81.

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Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs 59

muß ganz anders beurteilt werden, weil die Urteilswahrheit notwendige


Bedingungen hat, welche keineswegs ihr Wesen ausmachen. Daher erfor-
dert eine Wahrheitstheorie als Theorie über Wahrheitsbedingungen eine
ganz andere Art von kritischer Untersuchung. Eine Wahrheitstheorie kann
ferner:
(3) Eine Theorie über notwendige Folgen und Implikationen der Wahr-
heit darstellen, oder sie kann auch:
(4) Eine Theorie über ‚Wahrmacher‘ oder gegenständliche Korrelate der
Wahrheit darstellen, oder schließlich:
(5) Eine Theorie über das Kriterium der Erkenntnis von Wahrheit sein.
Erst wenn wir in den einzelnen mit der Adäquationstheorie der Wahr-
heit in Streit tretenden Wahrheitstheorien hinsichtlich deren jeweiliger
Aufgabenstellungen und von diesen her die Gründe klar in den Blick
bekommen, die das hauptsächliche Motiv für die Verwerfung der Adäqua-
tionstheorie oder – positiv formuliert – für eine alternative Wahrheits-
theorie darstellen, können wir deren Eigenart und Ursprung begreifen und
sie angemessen kritisieren sowie ihre echten Erkenntnisse würdigen. Z.B.
werden wir finden, daß die Evidenztheorie der Wahrheit eine glänzende, ja
die beste kriteriologische Wahrheitstheorie darstellt, hingegen als Theorie
vom Wesen der Wahrheit rational unbegründet, gänzlich ungeeignet, irrig
und widersprüchlich ist.

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KAPITEL 1

FRANZ BRENTANOS EVIDENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE


ANALYSE

1. Grundlinien der Evidenztheorie der Wahrheit Franz Brentanos und ihre


hauptsächlichen Motive

Wohl die wichtigste der von der klassischen Adäquationstheorie abwei-


chenden Wahrheitstheorien ist Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit,
nicht zuletzt deshalb weil sie sich direkt und polemisch, vor allem aber
weil sie sich am tiefsten und umfassendsten mit der Frage auseinander-
setzt, ob die „Adäquation“, also diese eigentümliche Übereinstimmung
zwischen setzendem Hinstellen (bzw. Behaupten) eines Sachverhalts und
dem Selbstverhalten der Sachen selbst, die unserer Meinung nach das
Wesen der Urteilswahrheit ausmacht, wirklich das Wesen der Wahrheit
darstellt und weil er diese klassische Lehre verworfen hat, obwohl er ihr
von seiner realistischen und objektivistischen Grundposition her naheste-
hen sollte. Mehr noch, die Theorie Brentanos geht direkt von einer Kritik
der Konzeption der Wahrheit als Adäquation aus und erwächst logisch aus
dieser, weshalb wir im Rahmen seiner Theorie einige der wichtigsten
Einwände gegen die Korrespondenztheorie (Adäquationstheorie) antreffen
und beantworten können.
Brentano hält stets daran fest, daß es unter allen Bewußtseins-
phänomenen (Vorstellungen, Liebe, Haß, etc.) primär das Urteil sei, das
wir wahr oder falsch nennen können:
Die Wahrheit und Falschheit im eigentlichen Sinne findet sich im Urteil.
Und zwar ist jedes Urteil entweder wahr oder falsch.49

49
Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“ (Vortrag gehalten in der Wiener
Philosophischen Gesellschaft am 27.III.1889), in: Franz Brentano, Wahrheit und
Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, ausgew., erl. u. eingel.
v. Oskar Kraus (Leipzig, F. Meiner 1930; 31979), S. 3-29, S. 6.

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64 KAPITEL1

Dabei hat zwar Brentano, wenn er das Wort ‚Urteil‘ verwendet, wohl
dasselbe Datum des aus Begriffen gebildeten eigentümlichen Gebildes im
Auge, das wir das Urteil nennen und in einem Behauptungssatz ausdrücken
können, doch besteht bei Brentano noch eine tiefe Unklarheit hinsichtlich
des präzisen, von Edmund Husserl, Adolf Reinach und Alexander Pfänder
entwickelten Unterschiedes zwischen Urteilsakt und Urteil selbst.
Brentano, wie schon Aristoteles, identifiziert das Urteil primär mit dem
Urteilsakt.50 Das logische Urteilsgebilde, dem wir Wahrheit zusprechen,
unterscheidet sich jedoch radikal von einem Urteilsakt, diesem je indivi-
duellen bewußten Akt, in dem eine Person einen Sachverhalt durch das
logische Gebilde des Urteils, das eine bestimmte, von den Akten
unterschiedene und bis zu einem gewissen Grad von ihm „losgelöste“
Existenzform besitzt, hindurch behauptet.
Brentano, der in seiner früheren Philosophie die Adäquationstheorie der
Wahrheit verteidigt hatte, übte in mehreren späteren Schriften über die
Wahrheit51 eine ganze Reihe von Kritiken an der Korrespondenztheorie der

50
Vgl. dazu, außer dem eben zitierten Werk Brentanos, auch Alexander Pfänder,
Logik, (Mariano Crespo, Hrsg.), 4. Aufl., Philosophy and Realist Phenomenology.
Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality
Liechtenstein Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International
Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Hrsg. v. Rocco
Buttiglione und Josef Seifert, Bd. 10 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter,
2000); Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke.
Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische
Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140;
sowie Artur Rojszczak, „Wahrheit und Urteilsevidenz bei Franz Brentano,“
Brentano Studien 5 (1994), 187-218, S. 193 ff. (Ich kann mich hier eines
persönlichen Kommentars nicht enthalten und um ein Gedenken an diesen Autor
bitten, kurze Zeit einer unserer begabtesten polnischen Studenten an der
Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, der nach
seiner Rückkehr nach Krakau wegen einer absurden ungerechten Habsucht eines
Miteigentümers seines Hauses in grausamster Weise zusammen mit seinem Vater
ermordet wurde; seine Frau, die ein Kind erwartete, wurde durch die Schüsse des
Miteigentümers zeitleben querschnittgelähmt und erlag einige Jahre danach ihren
Verletzungen).
51
Siehe Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz, vor allem S. 121-150; auch schon
87-118; 73-83. In diesem Band sind 6 frühe Abhandlungen Brentanos, die seine
frühere Lehre enthalten, drei Schriften der Übergangszeit und – außer einer Reihe

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 65

Wahrheit, die ihm schließlich so entscheidend und gewichtig zu sein


schienen, daß er die Auffassung der Wahrheit als Adäquation ganz aufge-
geben hat oder zumindest dahin tendierte, die Korrespondenztheorie der
Wahrheit vollkommen zu verwerfen, worin ein Widerspruch zu seiner und
der österreichischen Philosophie sonst naheliegenden aristotelischen und
auch platonischen52 Tendenz liegt.53

von Briefen – auch 6 Abhandlungen über Brentanos neuere Lehre (Evidenz-


theorie) versammelt. Siehe auch, ebd., die Einleitung des Herausgebers (Kraus)
und Francesca Modenato, Coscienza ed essere in Franz Brentano, (Bologna:
Patron 1979), bes. S. 121 ff.; 205 ff.; sowie Adriano Bausola, Coscienza e
Moralità in Franz Brentano (Mailand, 1968), bes. S. 27 ff.; 44 ff.; 72 ff.; 80 ff. Ich
kann nicht mit J. Srzednicki einverstanden sein, der in seinem Buch Franz
Brentano’s Analysis of Truth (The Hague: Nijhoff, 1966) Brentanos Ablehnung
der Korrespondenztheorie der Wahrheit verteidigt. Noch weniger kann ich dem
Autor folgen, wenn er gar die Verwerfung aller entia rationis, und damit auch der
Korrespondenztheorie der Wahrheit, für die Voraussetzung des Realismus
Brentanos hält. Vgl. Jan Srzednicki, “Some Elements of Brentano’s Analysis of
Language and Their Ramifications”, Rev Int Phil, 20, 434-445. Vgl. auch Gershon
Weiler, “Jan Srzednicki’s ‘Franz Brentano’s Analysis Of Truth’”, Austl J Phil
(May 1967), 45, 113-121.
52
Auch Plato vertritt ja – im Gegensatz zu den subjektivistischen Interpretationen der
Eide und Wesenheiten – einen Realismus. Gerade dieser platonische Realismus
idealer Wesenheiten, aber auch hinsichtlich der Realität des Demiurgen und der
Seele, wirkt sich auf Bernhard Bolzanos Wissenschaftslehre aus, und auch auf den
frühen Brentano und seine Nachfolger. Vgl. Giovanni Reale, Zu einer neuen
Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im
Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. v. L. Hölscher, mit einer Einleitung
von H. Krämer, hrsg. und mit einem Nachwort von J. Seifert (Paderborn:
Schöningh, 1993). Vgl. auch Vlastimil Hala, “On Patoþka’s Interpretation of B.
Bolzano” (tschechisch), Filosof Cas (1997), 45 (5), 879-898. Dort wird Jan
Patoþkas Interpretation, der zufolge Bolzanos stark platonisierende Theorie der
„Wahrheiten an sich“ auf Franz Brentano großen Einfluß gehabt hätte, dargestellt.
Dieser Auffassung Jan Patoþkas ist freilich entgegenzuhalten, daß gerade die
Evidenztheorie der Wahrheit – sowie auch die Zurückweisung aller idealen
Gegenstände beim späteren Brentano radikal antiplatonisch sind.
53
Vgl. dazu Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach
Aristoteles (Freiburg i.B., 1862; reprinted Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1960); vgl. auch Sonja Rinofner-Kreidl, “Barry Smith:
‘Austrian Philosophy: The Legacy of Brentano’”, Grazer Phil Stud (1996/97), 52,

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66 KAPITEL1

Was sind die Gründe, aus denen heraus Brentano die Auffassung der
Wahrheit des Urteils als einer eigentümlichen Übereinstimmung desselben
mit der Wirklichkeit ablehnte?54 Wir betrachten im folgenden nicht alle
seine Gründe, denen wir zum Teil auch in der Auseinandersetzung mit
anderen Wahrheitstheorien wieder begegnen werden, sondern nur die
charakteristischsten. Seine Hauptgründe für die Annahme der Evidenz-
theorie anstatt der Adäquationstheorie waren die folgenden:

1.1. Existenzialurteile beweisen nach Brentano, daß das wahre Urteil keiner res
entspricht

Der erste Einwand Brentanos gegen die Evidenztheorie der Wahrheit


ist der, daß es bei näherer Analyse gewisser Arten von Urteilen kein Ding,
keine res, gibt, die Gegenstand jedes Urteils wäre und daß es vor allem
nicht eine Angemessenheit (Adäquation) mit Dingen und deren Ei-
genschaften ist, welche die Wahrheit dieser ausmache.
In der Tat bemerkte schon der frühere Brentano richtig, daß es keine
„Sachen“ sind, mit denen alle wahren Urteile übereinstimmen. Brentano
wurde insbesondere durch seine Fassung des Existentialurteils zur
Verwerfung der Theorie als adaequatio an „die Dinge“ geführt, indem er
neben der aristotelischen Urteilsform „S ist P“ auch das einfache Urteil

191-219. Dort findet sich eine kritische, aber letztlich positive Stellungnahme zu
Barry Smith’s Grundthese, daß in der österreichischen Philosophie, vor allem der
von Franz Brentano inspirierten, im Gegensatz zur deutschen, eine realistische
und aristotelische Richtung vorherrsche, die sich besonders in Brentanos
Psychologie und Metaphysik, in Martys Wahrheitstheorie, aber auch bei Meinong,
Witasek, Twardowski, und in Kotarbinskis Reismus, sowie in Ehrenfels’s
Werttheorie, in Menger’s ökonomischen Theorien und anderen nachweisen lasse.
Unbekümmert um die Frage, ob es überhaupt eine spezifisch österreichische
Philosophie gibt und wie sehr Brentano sich in diese einordnen läßt, möchten wir
nur die Frage der Stichhaltigkeit seiner Einwände gegen die Korrespondenztheorie
und die Frage der Wahrheit seiner eigenen Position der Evidenztheorie der
Wahrheit untersuchen.
54
Vgl. dazu Paul Weingartner, “Brentano’s Criticism of the Correspondence Theory
of Truth”, in: Chisholm, R M (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos
(Amsterdam: Rodopi, 1978), S. 183-197.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 67

annahm, „S ist“. Und dieses „ist“ entspricht keiner „Sache“; ebensowenig


identifiziert oder verbindet, so meint Brentano, dieses Urteil zwei Dinge
oder Eigenschaften wie im Falle des Urteils ‚S ist P‘.
Dasselbe gelte für Urteile, die nicht reale Existenz, sondern eine andere
Existenzform meinen, die mit dem deutschen Ausdruck „es gibt“, dem in
ungefähr der englische Ausdruck “there are” und der spanische „hay…“
entspricht, gemeint wird.55 Wenn ich etwa sage: „Es gibt unendlich viele
mögliche Welten“, dann bezieht sich dieses Urteil nicht auf reale Dinge.
Was sind „unendlich viele mögliche Welten“? Es sind keine handgreif-
lichen res, es sind keine Dinge in der Welt. (Nach Brentano sind unend-
liche Vielheiten überdies absurd, wie wir sehen werden.)56 Oder wenn ich
sage: „Die Existenz eines Seienden ist zufällig“, dann ist das Dasein
(Existenz) oder das Zufälligsein der Existenz nicht eine Sache, nicht ein
Ding, usf.
In seiner allgemeinen Evidenztheorie der Wahrheit aber versäumt es
Brentano, ähnlich wie vor ihm Kant, das ‚ist‘ der Kopula im Urteil, das
keinen gegenständlichen Bezug außer dem ‚reinen Sachverhaltssein‘ hat,57
von dem existentialen ‚ist‘ zu unterscheiden und ferner die einzigartige
innere Aktualität des Seins, die dieses letztere ‚ist‘ meint, als solches
anzuerkennen und von Wesensbeschaffenheiten ebenso wie von Dingen,
sowie von jenen realen Prädikaten, welche die Existenz dieser Dinge
bereits voraussetzen, zu unterscheiden.58 Auf Grund eines solchen Fehlens

55
Vgl. auch Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia (Mexico
D.F.: Ed. Limusa, 1982).
56
Vgl. den Text aus einem Schreiben an Anton Marty vom 2. September 1906, WE,
S. 96.
57
Vgl. Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957), die diese
Seinsform als einen ontologischen Sinn der Kopula in jedem Urteil enthalten
sieht, im Unterschied zu Alexander Pfänder, der in seiner Urteilslehre meint, daß
die Kopula nur ein rein funktionierender Begriff sei, dem nichts auf der
Gegenstandsseite entspreche: eine Hinbeziehungsfunktion, die Kopula auch in
Fragen oder Befehlen ausübt und eine Behauptungsfunktion, die ausschließlich
dem Urteil zukomme und gleichsam dessen Seele ausmache. Vgl. Alexander
Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik (Tübingen:
Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963).
58
Vgl. dazu Josef Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes.
Reflexionen über das ontologische Argument“ in: Theologia (Athens 1985), 3-30;

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68 KAPITEL1

der Betrachtung weiterer Alternativen schließt Brentano implizite: weil


weder Existenz mit einem realen Prädikat in dem Sinne einer Wesens-
eigenschaft von etwas gleichgesetzt werden darf noch das ‚ist‘ der Kopula
eine sachliche Bedeutung hat und einen Gegenstand meint, ist Existenz in
keinem Sinne eine res und daher entspricht diesen wahren Existenzurteilen
nichts in der Wirklichkeit.

1.2. Negative Urteile entsprechen nach Brentano ebensowenig einer res

Daneben waren es primär die negativen Urteile wie das Urteil, „es gibt
keine Drachen“, die Brentano zu beweisen schienen, daß es keine Sache
gibt, die hier auf der Objektseite stünde und durch Übereinstimmung mit
der das Urteil wahr würde und daß ferner auch die platonisch-aristotelische
Bestimmung der Urteilswahrheit hier nicht zutreffe, dernach das wahre
Urteil verbinde, was in Wirklichkeit verbunden, oder trenne, was in
Wirklichkeit getrennt sei.
Erst recht etwa, wenn ich sage: „Es gibt keinen Teufel“ oder „Es gibt
keinen Drachen“ (Brentanos Beispiele) oder „Das Nichts ist kein
Gegenstand“, dann ist in diesen negativen Urteilen, deren Subjekt etwas
Nichtseiendes oder das Nichts ist, keine Sache auf der Objektseite
vorhanden, mit der mein Urteil übereinstimmt oder nicht überein-
stimmt. Oder wenn ich mit Gorgias sage: „Es gibt überhaupt nichts“, –
nehmen wir an, dieses Urteil wäre wahr – dann ist Gegenstand dieses
Urteils gerade nicht ein Ding und eine res, sondern die völlige Abwesen-
heit aller Dinge und aller res. Ähnliches gilt von dem Satz, daß die Welt
aus dem Nichts geschaffen wurde, oder von Urteilen über Gewesenes.
In diesem Sinne argumentiert schon der frühere Brentano (1889) zu
Recht, daß nicht immer die res im Sinne einer Sache aufgefunden werden
kann, in Entsprechung zu der ein Urteil wahr genannt wird.

ders., Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/ Philosophy


and Realist Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philoso-
phie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the International Academy of Philo-
sophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef
Seifert, Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), Kap. 2.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 69

Statt ihn aber ein anderes gegenständliches Korrelat für diese Urteile
oder das Urteil überhaupt suchen und finden zu lassen, führten diese und
andere Schwierigkeiten Brentano schließlich zur Verwerfung der Adäqua-
tionslehre, wenn auch Brentano zunächst (1889) noch meinte, daß es
genüge, die Adäquationstheorie der Wahrheit dahingehend umzuformu-
lieren, daß das richtige Urteilen – zumindest in vielen Fällen – in einem
Anerkennen und Verwerfen von Existenz oder Nichtexistenz, von Sein
oder Nichtsein, bestünde, die dem wirklichen Sein oder Nichtsein der
Dinge entsprächen.59
Sogar in jenem Brentano’schen Spätwerk, das Kraus als Kerndokument
seiner Verwerfung des Adäquationsgedankens der Wahrheit gilt, verwen-
det Brentano noch eine Formulierung, die wie eine Tarskis Wahrheits-
theorie verwandte Neuformulierung der Adäquationslehre aufgefaßt
werden könnte:
Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß
derjenige, der urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei,
von jemandem gedacht, geglaubt, geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß
es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das betreffende Ding ist, nicht ist,
möglich ist, gedacht ist ...usw.60

1.3. Die Verwerfung der Irrealia als dritter Grund der Ablehnung der
Adäquationstheorie durch Brentano

Ferner nahm Brentano ursprünglich Möglichkeiten, Unmöglichkeiten,


Sachverhalte und andere Irrealia an, mit denen Urteile übereinstimmen

59
Siehe dazu Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, bes. S. 22, 24-27;
und, aus der Vierten Abteilung des Bandes Wahrheit und Evidenz, die O. Kraus
betitelt: „Die neue Lehre, dargestellt in Abhandlungen“: „Über den Sinn des
Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“, in: Franz Brentano, Wahrheit und
Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, S. 131-136, wo
Brentano eine Reihe von Deutungen der adaequatio verwirft, aber immer noch
sagt, was O. Kraus in der Anmerkung bekrittelt „So dürfen wir also an dem alten
Satz [veritas est adaequatio rei et intellectus] festhalten...“ (ebd., S. 136). Siehe
auch ebd., Einleitung von O. Kraus, S. vii-viii; xv.
60
„Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, WE, S. 139.

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70 KAPITEL1

könnten. Weil er diese Irrealia (worunter er sogar Existenz rechnete!)


später verwarf,61 sowie in seinem Reismus nur noch physische und
psychische Dinge und deren Eigenschaften anerkannte, mußte er infolge
dieser neuen Lehre und seiner früheren Einsichten, daß eindeutig nicht
jedes wahre Urteil einer Sache entspricht, in einer solchen Welt, in der
nichts außer Sachen (res) existiert, gerade die Seinsaussage „X ist“ nur
noch als Ausdruck der Anerkennung und nicht mehr als Prädikation
betrachten und auch die Adäquationstheorie der Wahrheit verwerfen, eben
weil er außer den Sachen (res) keine weiteren Termini der Übereinstim-
mung in der Wirklichkeit mehr anerkannte.62 Daraus folgt aber notwendig
und logisch die Verwerfung der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Denn
ohne negative Sachverhalte, Möglichkeiten, Unmöglichkeiten, Existenzen
und Nichtexistenzen, etc. bleibt für viele wahre Urteile nichts mehr auf der
Seite der res bestehen, mit dem sie übereinstimmen könnten. In Brentanos
irreführender und undifferenzierter Terminologie und Denkweise, die
Gegenstände von Irrtümern, direkte und abgeleitete rein intentionale
Gegenstände, ideale Wesenheiten, Möglichkeiten, und sogar reale Existenz
‘Irrealia’ nennt, und auf Grund eines Denkens, das all dies aus dem Reich
der res, mit denen wahre Urteile übereinstimmen können, verbannt, läßt
sich in der Tat die Wahrheit vieler Typen von Urteilen nicht als
„Übereinstimmung“ erklären.
Im Licht der Schwierigkeiten, die dem ersten Grund für Brentanos
Neufassung der Wahrheitstheorie zugrunde liegen, folgt aus einer Verwer-
fung aller Irrealia (inklusive der Existenz!), sowie aus der Verwerfung
aller Privationen, alles Nichtseins, aller Möglichkeiten und Unmöglich-

61
Vgl. Franz Brentano, „Über die Entstehung der irrigen Lehre von den entia irrealia“
(Aufzeichnungen von A. Kastil nach einem Gespräche mit Brentano. Mai 1914 in
Innsbruck), „Wie ich zu dem irrigen Gedanken der Existenz von Nichtrealem
kam“, Wahrheit und Evidenz (im Folgenden abgek. WE), S. 162-164.
62
Siehe Franz Brentano, „Zur Frage der Existenz der Inhalte und von der adaequatio
rei et intellectus“ (20. November 1914), WE, S. 121. Siehe zur Analyse des
einzigartigen, aber wahren Prädikats „Existenz“ J. Seifert, “Essence and
Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of
‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist
Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I,2 (1977), pp. 371-459, sowie die
wesentlich erweiterte deutsche Version dieses Werkes, Sein und Wesen, Kap. 1-3.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 71

keiten usf. die Verwerfung der Adäquationstheorie der Wahrheit, die sich
nur dann halten läßt, wenn man mit Aristoteles63 und mit Thomas von
Aquins De Ente et Essentia64 im Hinblick auf die Wahrheit von der
Existenz von Irrealia bzw. von einem weiteren Begriff des Seins ausgeht,
der allen wahren Aussagen, auch jenen auch über Privationen, Nichtsein
usf. entspricht. Für diese eigentümliche ontische Formation, welche der
Wahrheit jedes Urteils ihr Fundament gibt, und die Edmund Husserl und
Adolf Reinach als solche entdeckt und herausgearbeitet haben: das „a-
Sein-[oder-nicht-a-Sein-]eines-B“ war Brentano zunehmend blind.65

63
Vgl. Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth”, in
Kevin Mulligan, (ed): Mind, Meaning and Metaphysics, (Dordrecht: Kluwer,
1990). Smith behandelt dort die Rolle des aristotelischen Begriffs des Seins als
Wahrheit bei Brentano. Vgl. auch Barry Smith, Austrian Philosophy, The Legacy
of Franz Brentano (Chicago/LaSalle: Open Court, 1995).
64
Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice
thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto
Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587, bes. Den folgenden
Text, die Anfangssätze von Kap. 1:
Sciendum est igitur quod, sicut in V metaphysicae philosophus dicit, ens per se dicitur
dupliciter, uno modo quod dividitur per decem genera, alio modo quod significat
propositionum veritatem. Horum autem differentia est quia secundo modo potest dici ens
omne illud, de quo affirmativa propositio formari potest, etiam si illud in re nihil ponat. Per
quem modum privationes et negationes entia dicuntur; dicimus enim quod affirmatio est
opposita negationi et quod caecitas est in oculo. Sed primo modo non potest dici ens nisi
quod aliquid in re ponit. Unde primo modo caecitas et huiusmodi non sunt entia.
65
Es ist aber auch schwer, bei Thomas von Aquin einen klaren Sachverhaltsbegriff
zu finden – trotz der klaren Texte in De Ente et Essentia. Innerhalb der
thomistischen Philosophie gibt es keinen festen Platz für jene Kategorien von
Gegenständlichkeiten, die Brentano in seiner früheren Phase voraussetzt, die wir
mit Sachverhalten identifizieren, welche sich übrigens innerhalb aller Seinsmodi –
im realen, idealen, rein intentionalen, rein logischen und möglichen Sein –
nachweisen und von Dingen oder Gegenständen unterscheiden lassen. Vgl.
meinen Versuch, die Gegebenheit des Sachverhalts aufzuklären in Josef Seifert,
Sein und Wesen, besonders Kap. 2; sowie Mariano Crespo, “En torno a los estados
de cosas. Una investigación ontológico-formal,” Anuario Filosófico, XXVIII/1
(1995), 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente
necesarios. Tesis doctoral. Departamento de Metafísica y Teoría del
Conocimiento. Universidad Complutense, Madrid 1995.

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72 KAPITEL1

1.4. Brentanos kriteriologisches Argument gegen die klassische


Wahrheitstheorie

Ein viertes Hauptargument Brentanos gegen die Adäquationstheorie der


Wahrheit betrifft die Adäquationstheorie als Grundlage einer Kriteriologie
der Wahrheit. Woher nehme ich ein Kriterium für einen solchen „Ver-
gleich“ zwischen Erkenntnis (Urteil) und Sache? Das einzige Kriterium,
zumindest das einzig letzte Wahrheitskriterium, kann nur in der Evidenz
der Erkenntnis bzw. des Urteils liegen, die sich radikal von jeder subjek-
tiven Denknötigung unterscheidet:
Die Eigentümlichkeit der Einsicht, die Klarheit, Evidenz gewisser Urteile,
von der ihre Wahrheit untrennbar ist, hat wenig oder nichts mit einem
Gefühle der Nötigung zu tun. ...; und kein Bewußtsein einer Notwendigkeit,
so zu urteilen, könnte als solches die Wahrheit sichern. Wer beim Urteilen
an keinen Indeterminismus glaubt, der hält alle Urteile unter den
Umständen, unter welchen sie gefällt werden, für notwendig, aber – und mit
unleugbarem Rechte – darum doch nicht alle für wahr.

... Warum doch sollte ... jeder andere Denkende ... derselben Nötigung
unterliegen? ...
... Auch kommt dem Urteile, dessen Wahrheit einer einsieht, immer
Allgemeingültigkeit zu; d.h. es kann von dem, der es einsieht, nicht ein
anderer das Gegenteil einsehen, und jedermann irrt, der das Gegenteil
davon glaubt. Auch mag ... wer etwas als wahr einsieht, erkennen, daß er es
als eine Wahrheit für alle zu betrachten berechtigt ist. Aber es hieße sich
einer starken Begriffsverwechslung schuldig machen, wenn man aus einem
solchen Bewußtsein der Wahrheit für alle das Bewußtsein einer allgemei-
nen Denknötigung machen wollte.66

Indem Brentano und sein Schüler Kraus im Anschluß an berühmte


Äußerungen Descartes‘ und Spinozas überzeugend zeigen, daß es unmö-
glich ein Kriterium für Wahrheit außerhalb und völlig unabhängig von der
Evidenz des Erkenntnisaktes geben kann,67 meinen sie in einer keineswegs
66
Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, eingel. und hrsg. v. Oskar
Kraus, unv. Nachdr. der 4. Aufl. (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1955),
„Anmerkung 27: ‚Von der Evidenz‘“, S. 66-67.
67
Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 28; ders., „Zur Frage der
Existenz der Inhalte und von der adaequatio rei et intellectus“, WE S. 126; „Über

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 73

selbstverständlichen und überdies unrichtigen Schlußfolgerung aus dieser


wahren Einsicht schließen zu dürfen, daß nicht nur das oberste Kriterium
der Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch deren Wesensbestimmung nicht
durch Übereinstimmung mit Sachen, sondern durch Evidenz allein zu
leisten sei. Ja ein Vergleichen zwischen Urteil und Wirklichkeit als
Kriterium führe zu einem unendlichen Regreß. So akzeptierte Brentano,
trotz seiner früheren Polemik gegen Windelband und Kants kopernika-
nische Wende immer mehr deren Wahrheitsbegriff des „als gerechtfertigt
charakterisierten Urteils“,68 leugnete allerdings die reine Subjektivität und
Relativität solcher Evidenz.69

1.5. Die Schwierigkeiten, den Sinn der Adäquation zu bestimmen, als


Argument gegen die Evidenztheorie der Wahrheit

Eine besondere Rolle in der Argumentation Brentanos nehmen fünftens


die Schwierigkeiten ein, den Sinn von Adäquatio, die gewiß nicht
Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit bedeutet,70 angemessen zu erklären.
Denn wenn diese Übereinstimmung weder eine Ähnlichkeit zwischen
Urteil und Sachverhalt noch eine Austauschbarkeit oder Gleichwertigkeit
sein kann, wie eine einfache Betrachtung des Urteils erweist, worin soll
dann diese adaequatio bestehen?
Brentano meint, aus der Tatsache, daß die Übereinstimmung des Urteils
mit der Wirklichkeit weder Ähnlichkeit noch Gleichheit noch Gleichwer-

den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE 133; „Über den
Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, in: Franz Brentano, WE, S. 137-
139. Siehe ebd., Einleitung Kraus, S. xii-xiv.
68
Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, S. 10 ff. Siehe ebd. (Einleitung
Kraus), S. ix.
69
Siehe Brentanos Korrespondenz mit Husserl (1905), in WE, S. 153 ff.; bes. S. 157,
wo er sich gegen den relativistischen Psychologismus verwahrt. Vgl. vor allem die
hervorragenden Ausführungen Brentanos über Evidenz in „Von der Evidenz“ aus
den Anmerkungen zu Sigwart in Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis,
abgedruckt in WE, S. 61-69.
70
Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 22 ff.; „Über den Sinn
des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE, 132 ff.

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74 KAPITEL1

tigkeit oder Ähnliches ist, schließen zu dürfen, daß man die Urteilswahr-
heit gar nicht mehr als adaequatio bestimmen dürfe.

1.6. Das Argument gegen die unendlich vielen Sachverhalte

Es gibt noch eine andere von Brentano hervorgehobene, sechste


Schwierigkeit in bezug auf die Sachen oder auch die Sachverhalte, eine
Schwierigkeit des Sachverhaltsbegriffs, die sowohl Brentano als auch
Roman Ingarden hervorgehoben haben.
Es bestehen nämlich unendlich viele Sachverhalte, die alle Gegenstand
wahrer Urteile sein könnten, vor allem, aber nicht ausschließlich, unend-
lich viele negative Urteile, ja es folgen sogar aus jedem einzelnen positiven
Urteil, bzw. aus jedem positiven Sachverhalt, unendlich viele Sachverhalte.
Was für Urteile gilt, gilt übrigens auch für die Wahrheit von Urteilen.
Wenn es etwa wahr ist, daß in diesem Raum nur 25 Menschen, nicht mehr
und nicht weniger, sind, folgt daraus die Wahrheit unendlich vieler negati-
ver Urteile wie: „Es sind in diesem Raum nicht 50 Menschen“, oder „Es
sind in diesem Raum nicht 51, es sind in diesem Raum nicht 1’500’000
Menschen“, „Es sind in diesem Raum nicht 2’989’007 Menschen“, usf. So
kann ich unendlich viele ähnliche negative Sachverhalte dieser Form
erfassen und in wahren Urteilen ausdrücken. Dostojewskis „Notizen aus
dem Untergrund“ enthalten ähnliche Reflexionen, die einen Menschen
geradezu in den Wahnsinn treiben können, wenn er beginnt, sie alle
denken zu wollen.
Außerdem hätten die unendlich vielen negativen Sachverhalte, die es zu
jedem Sachverhalt gibt (wenn hier nur ein Stuhl steht, folgt daraus, daß
hier nicht 2, 3, etc., also nicht unendlich viele andere Anzahlen von
Stühlen stehen, etc.) absurde Konsequenzen im Rahmen einer Philosophie
der Wahrheit als Adäquatio. Denn zu der unendlichen Fülle negativer
Sachverhalte könne man sich keineswegs unendlich viele Sachen (res)
denken und sie bezögen sich alle weder auf Dinge noch auf Seiendes,
sondern eben einfach auf Nichtseiendes.
Augustinus spricht auch von der unendlichen Zahl wahrer affirmativer
Urteile, deren Wahrheit wir mit Gewißheit wissen und die aus jedem
wahren Cogito-Urteil folgen und den Stufen der Reflexion entsprechen.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 75

„Ich weiß, daß ich weiß, daß ich bin; und ich weiß, daß ich dies weiß“, usf.
ad infinitum. Dieser Gedankengang läßt sich auch auf die entsprechenden
Sachverhalte, wenn man diese als Gegenstand des Urteils annimmt,
übertragen.
Nicht zuletzt aus dem Grund, daß er nicht nur unendlich viele
Sachverhalte, sondern auch negative Sachverhalte und Irrealia jeder Art
ablehnt, verwirft Brentano, und das ist ein sehr folgenschwerer Schritt, die
Adäquationstheorie als solche und sagt, wir müßten eine bessere Beschrei-
bung dessen finden, was Wahrheit sei. Brentano meint nun, er könne diese
ihm absurd scheinende Konsequenz durch Einführung seiner Evidenz-
theorie der Wahrheit vermeiden. Dabei ist nicht ganz klar, ob er eine ganz
neue Definition der Wahrheit einführen möchte oder – Tarski vorwegneh-
mend – von dem Versuch abgeht, das Wesen der Wahrheit selbst über-
haupt zu erklären und nur eine bessere operationale Definition der
Wahrheit einführen möchte.

2. Evidentes Urteil bzw. Übereinstimmung mit ihm als neue


Wahrheitstheorie

Um nach dem vermeintlichen Zusammenbruch der Adäquationstheorie,


die an einer objektiven Bestimmung der Wahrheit des Urteils durch sein
Verhältnis zu seinem Gegenstand festhält, einen besseren Bestimmungs-
grund der Wahrheit zu bieten, bezieht Franz Brentano sich in seiner
Evidenztheorie der Wahrheit auf die Erkenntnis und das letzte Kriterium
der Wahrheit, das ausschließlich in Evidenz bestehen kann, und definiert
die Wahrheit ganz vom Bezug des Urteils auf Evidenz und damit auf
Erkenntnis aus, und zwar so:
Es läuft dies alles eigentlich auf nichts anderes hinaus als darauf, daß die
Wahrheit dem Urteile des richtig Urteilenden zukommt, d.h. dem Urteile
dessen, der urteilt, wie derjenige darüber urteilen würde, der mit Evidenz
sein Urteil fällt; also der das behauptet, was auch der evident Urteilende
behaupten würde.71

71
Aus der Abhandlung von Brentano, „Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et
intellectus’“, WE, S. 139. Doch geht auch diesem Satz, in welchem Kraus den

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76 KAPITEL1

Ein Urteil ist also dann wahr, wenn es die Dinge, oder was immer sonst
ist oder nicht ist, so beurteilt wie derjenige, der sein Urteil mit Evidenz
fällt, urteilen würde. So führt also Brentano diesen neuen Gesichtspunkt
der vollkommenen Evidenz des Urteils, oder besser der vollendeten
Evidenz der Erkenntnis eines Urteilenden, als neues und ideales Maß und
als Bestimmungsgrund der Urteilswahrheit ein.
Dabei kommt es für die Wahrheit eines Urteils nicht darauf an, ob die
Erkenntnis des Urteilenden nun tatsächlich Evidenz besitzt oder nicht,
nicht darauf, ob das Urteil mit eigener Evidenz geurteilt wird, sondern nur
darauf, ob ein Urteil objektiv mit jenem Urteile übereinstimmt, der mit
Erkenntnisevidenz urteilt.
Man könnte im Hinblick auf das „reine Ideal der absoluten Evidenz“ als
Maß jeder Urteilswahrheit von einem Platonismus in Brentanos Evidenz-
theorie sprechen. Denn für Brentano ist das „reine Ideal“ der Evidenz der
Erkenntnis das beste Bestimmungsmerkmal der Wahrheit oder der Falsch-
heit von Urteilen. Ein falsches Urteil ist eines, das ein mit Evidenz
Urteilender verwerfen würde, ein wahres Urteil eines, das ein mit Evidenz
Urteilender für wahr halten würde. Dieser neue Bestimmungsgrund der
Wahrheit durch den Bezug auf Evidenz ist daher keine Aussage über ein
Wahrheitskriterium oder über tatsächlich vorliegende Evidenz, sondern
über eine neue Form der Übereinstimmung des Urteils mit etwas, das
größtenteils jedem Menschen unerreichbar ist.
So meint Brentano, die Schwierigkeiten der Adäquationstheorie voll-
ständig vermieden zu haben, weil er eben die Wahrheit von der Evidenz
her bestimmt und daher alle genannten Schwierigkeiten umschifft.

Kern der neuen Lehre Brentanos über die Wahrheit sieht, noch ein anderer
unmittelbar voraus, der eigentlich eine differenziertere Form der Adäquations-
theorie impliziert und deshalb einen anderen Folgesatz erwarten ließe:
Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß derjenige, der
urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei, von jemandem gedacht, geglaubt,
geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das
betreffende Ding ist, nicht ist, möglich ist, gedacht ist ...usw. (Ebd., S. 139).

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 77

3. Einwände gegen Brentanos Kritik der Adäquationstheorie der Wahrheit

Wir müssen zunächst, vor einer inhaltlichen kritischen Analyse der


Brentano‘schen Theorie selbst, fragen, ob Brentanos Gründe, das Wesen
der Wahrheit als Adäquation zu verwerfen, hinreichend sind oder nicht.
Sollte sich zeigen, daß sie es nicht sind, so bestehen Ausgangspunkt und
rationaler Grund für die Evidenztheorie der Wahrheit nicht mehr, sodaß ein
entscheidender Einwand gegen die Theorie ihrer inhaltlichen Kritik vorher-
geht und die von Brentano angeblich aus guten, ja zwingenden Gründen
verworfene Adäquationslehre der Wahrheit – noch vor der inhaltlichen
Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit – sich in ihrer ungeminderten
Überzeugungskraft empfiehlt .

3.1. Die verlorene ‘res’ als ‚Sachverhalt‘: sobald ‘res’ als Sachverhalt geklärt
ist, erübrigt sich Brentanos Verwerfung der Adäquationstheorie – Die ‘res’
in negativen Urteilen und Existentialurteilen

Brentano verwirft die ‘res’ als Fundament einer realistischen Wahrheits-


theorie vor allem, weil er meint, negative wahre Urteile und Existenzurteile
ließen sich durch keinerlei Sache auf der Objektseite erklären. Daß aber die
res zugegebenermaßen keine Sache ist, genügt keineswegs, um einen doch
evidentermaßen bestehenden und von Brentano immer und immer wieder
vorausgesetzten Wirklichkeits-bzw. gegenständlichen Bezug des wahren
Urteils aufzugeben. Läßt sich denn die res nicht so klären, daß ihre
scheinbare Absurdität verschwindet? Gerade durch die Herausarbeitung
des allgemeinen Sinnes jenes „Etwas“, mit dem wahre Urteile übereinstim-
men, ließe sich in Brentanos eigenem Aufsatz (1889) „Über den Begriff
der Wahrheit“72 – und viel klarer innerhalb der Phänomenologie nach
Brentano – ein solches gegenständliches Korrelat der Wahrheit unschwer
finden. Und zwar ist es der recht zu verstehende Sachverhaltsbegriff, der
auf den eigentlichen unmittelbaren „Gegenstand“ des Urteils abzielt und
die Grundlagen dafür bereithält, von denen her die Fassung der Wahrheit

72
Siehe Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 3-29; bes. S. 24
(Nr. 48-49).

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78 KAPITEL1

als adaequatio neu begründet werden kann und die Verwerfung der
Adäquationstheorie auf Grund der von Brentano aufgedeckten Schwierig-
keiten unnötig wird. Denn die These, daß das „irgendetwas“ auf der
Objektseite, an das sich das wahre Urteil angleicht oder mit dem das wahre
Urteil in bestimmtem Sinne übereinstimmt, Sachverhalte und nicht Dinge
sind, deckt alle Fälle, von denen Brentano spricht und die in der Tat für
jede „dinglich“ verstandene Adäquationstheorie unübersteigliche Hinder-
nisse errichten.73

3.2. Es gibt die negativen Sachverhalte

Den Einwänden Brentanos liegen zweifellos echte Erkenntnisse dieses


großen Philosophen und eigentlichen Begründers einer phänomenolo-
gischen und insbesondere einer realistischen phänomenologischen Philoso-
phie zugrunde. Wie dies für alle Philosophie zutrifft, täuschte sich auch
Brentano keineswegs in jenen evidenten Sachverhalten hinsichtlich des
Wahrheitsproblems, die er einsah, sondern nur in deren inkorrekten und
keineswegs einsichtigen Interpretationen.
Anstatt nämlich aus seinem scharfsinnigen Nachweis, wie schwierig es
ist, ein gegenständliches Korrelat von Existentialurteilen und negativen
Urteilen zu finden, den Schluß zu ziehen, daß es eben keine Sachen,
sondern positive oder negative Sachverhalte sind, mit denen das wahre
Urteil übereinstimmt, oder daß, wie man weniger präzise formulieren
könnte, das Urteil entweder Seiendem (res) oder Nichtseiendem entspre-
chen kann, verwarf Brentano – nach seinen ersten, in den mittleren
Schriften zum Wahrheitsproblem vorfindlichen Versuchen einer vergleich-
baren Art, die klassische Theorie umzuformulieren – in seinen späteren
Aufsätzen die Adäquationstheorie der Wahrheit völlig und meinte, kein

73
Vgl. dazu auch Jan Wolenski, “Brentano’s criticism of the correspondence con-
ception of truth and Tarski’s semantic theory”, Topoi, 8, 105-110. Auch Wolenski
meint, daß eine adäquate Wahrheitstheorie alle Einwände Brentanos gegen die
Korrespondenztheorie der Wahrheit zu entkräften vermag. Allerdings kann ich
Wolenskis Meinung nicht zustimmen, Tarskis „semantische Wahrheitstheorie“
habe alle Einwände Brentanos und Probleme der Zirkularität überwunden.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 79

objektives gegenständliches Korrelat wahrer Urteile, eben so etwas wie


einen Sachverhalt, erkennen oder anerkennen zu können.74
Wenn ich sage: „Es gibt keinen Drachen“, „Das Nichts ist kein Ding“,
oder „Es gibt überhaupt nichts“ – und wenn ich annehme, daß diese Urteile
wahr sind – dann müssen sie auch, dies ist evidenterweise mit ihrer
Wahrheit gegeben, mit dem Sachverhalt, daß es keinen Drachen oder daß
das Nichts in der Tat kein Ding ist, oder daß es nichts gäbe, „übereinstim-
men“.
In diesem Sinne könnte man sagen, daß der Begriff des Sachverhalts
einer ist,75 der sowohl das einzig mögliche gegenständliche unmittelbare
Objekt des Urteils ist als auch alle möglichen Formen von „Objekten“ aller
möglichen Arten von Urteilen trifft, sodaß es weder nötig ist, diesen
Sachverhalt als Ding zu deuten noch – aus dem nämlichen Grunde – nötig
ist, die Kritik, die Brentano an der Adäquationstheorie geübt hat, zu
teilen.76

74
Alexius Meinong hat in Form der „Objektive“ ähnliche gegenständliche Korrelate
des Urteils wie Sachverhalte anerkannt, wie wir schon im Kapitel 3 von Wahrheit
und Person ausgeführt haben. Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in:
Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akkad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977),
Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff. Vgl. auch Reinhardt Grossmann, “Thoughts, Objectives
and States of Affairs”, Grazer Phil Stud (1995), 50, 163-169. Vgl. dazu ferner
Josef Seifert, „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis zwischen Satz, Urteil und
Sachverhalt“, in: Alex Burri (Hrsg.), Sprache und Denken/ Language and Thought
(Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997), S. 301-324.
75
Zu einer ausführlichen Analyse des Sachverhalts vgl. Mariano Crespo, Mariano
Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,”
143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente
necesarios, sowie mein Sein und Wesen, Kap. 2-3.
76
Siehe dazu Adriano Bausola, Coscienza e Moralità in Franz Brentano, a.a.O., S.
27 ff., wo dieser (ebd., S. 30 ff.) neben vielen ausgezeichneten Kritiken am
„Dualismus“, der insbesondere in Brentanos kriteriologischem Argument liegt,
das Dinge und Erkenntnis hoffnungslos von einander trennt, zu wenig die
Transzendenz des Erkennens hervorhebt und statt dessen eine Art „im Geist
Seins“ (être objectif) trotz esse formale behauptet, also eine Art Identitätsthese
verteidigt.

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80 KAPITEL1

In eine derartige Richtung geht auch die Kritik, die Roman Ingarden77
schon an jener Theorie der negativen Sachverhalte geübt hat, welche Adolf
Reinach in seinem Aufsatz „Zur Theorie des negativen Urteils“ entwickelt
hatte. Reinach meint, daß es positive und negative Sachverhalte gibt, die
beide gleichermaßen bestehen und die entsprechenden Urteile wahr
machen.78
Ingarden entwickelt den Standpunkt, daß die „negativen Sachverhalte“
nicht wie die positiven einfach bestehen, sondern daß sie gleichsam erst,
wenn sie als solche denkend „entworfen“ werden, aus allen möglichen
Sachverhalten „herausgehoben“ und damit gleichsam vom Denken, das sie
überhaupt erst als solche faßt, mitkonstituiert werden, allerdings so daß sie
als solche ein fundamentum in re besitzen. Die Tatsache, daß in einem
Raum 3 Stühle und nicht mehr sind, macht es möglich, von diesem
objektiv vorgegebenen Sachverhalt ausgehend, unendlich viele negative
denkend zu entwerfen und wahrheitsgemäß auszuschließen: Es sind nicht
vier, nicht fünf etc. Stühle in diesem Raum.
Barry Smith, Peter Simon, and Kevin Mulligan haben eine ähnliche,
aber noch weitergehende Theorie der Sachverhalte im Verhältnis zur
Wahrheit entworfen, nach der die Sachverhalte zwar objektiv in den
Dingen gründen, aber nicht von sich aus schon als solche bestehen,
sondern gleichsam erst durch die Heraushebung aus den unendlich vielen
möglichen Sachverhaltspotentialitäten zu eigentlichen Sachverhalten
werden.79
Nun liegt in alledem zweifellos viel Wahres und jedenfalls besteht hier
ein sehr schwieriges Problem, ob alle Sachverhalte gleich objektiv
schlechthin „im Sein vorgebildet“ sind oder ob es Sachverhalte gibt (wie
die unendlich vielen negativen Sachverhalte, die in Bezug auf jedes Ding
bestehen), die nicht schon einfach fix und fertig in der Wirklichkeit vor uns
liegen, sondern die erst, indem wir sie denken und als solche entwerfen,
gleichsam als Gegenstand von Urteilen auftauchen und nicht schon in der

77
Siehe R. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I, Existentialontologie
(Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965).
78
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.
79
Siehe Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 81

Wirklichkeit so fest vorgegeben sind wie jene, die im Dasein und Wesen
eines Dinges gleichsam fest verankert sind.
Auch wenn wir die Meinung teilen, daß es verschiedene Stufen der
Verwurzelung von Sachverhalten im Sein und Wesen der Dinge gibt und
daß negative Sachverhalte wie daß Professor Heidegger nicht auf der Zahl
3 oder 4 ad infinitum in der Luft herumreitet, nicht auf derselben Stufe der
Verbundenheit mit Heidegger stehen wie andere nicht-künstlich ausge-
dachte, ohne die zu erkennen wir weder Heidegger noch sonst einen
Gegenstand erkennen können, so werden wir dennoch die Vorgegebenheit
aller unendlich vielen Sachverhalte, auf die sich wahre Urteile beziehen
können, behaupten und uns von dieser Unzahl negativer Sachverhalte,
auch solcher, die Absurditäten ausschließen, ebensowenig schrecken lassen
wir von der unendlichen Anzahl der Zahlen der natürlichen und anderer
Zahlenreihen wie der Primzahlen oder der Punkte auf einer Linie. Die
Konsequenz der These, daß jedes wahre Urteil mit der Wirklichkeit
übereinstimmen muß, daß es nämlich in diesem Falle auch eine unendliche
Anzahl von res (nämlich Sachverhalten) geben muß, auf Grund deren
Brentano die Korrespondenztheorie verwirft, nehmen wir also bewußt an.
Damit will ich nicht behaupten, daß die von Ingarden herausgearbeiteten
Differenzierungen unnötig seien, auch wenn ich meine, daß diese nicht
dazu führen dürfen, jedes vom Urteil unabhängige Bestehen jener
Sachverhalte zu bestreiten, die ontologisches Korrelat der Urteilswahrheit
sind, auch wenn sie noch so an den Haaren herbeigezogen wirken wie der
Sachverhalt, daß der (nach einer langen komischen Diskussion Karl
Valentins in einem Beispiel von als „saudumm“ bezeichneten Annahme
gedachte) Sachverhalt, „daß jemand sich die Hand vor die Augen halten
und dadurch sehen kann, was der andere riecht“, nicht besteht oder gar
nicht bestehen kann.

3.3. Das eindeutig gegebene Bestehen von unabhängig vom Urteil bestehenden
Gegenständlichkeiten, die nicht Dinge sind, ist Bedingung jeder
Adäquationstheorie der Wahrheit und macht Brentanos Position unnötig

Es wird nicht nötig sein, hier eine so fundierte Analyse der von
Brentano Irrealia genannten Gegenständlichkeiten zu entwickeln, wie wir

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82 KAPITEL1

sie Millán-Puelles’ grundlegendem Werk über den reinen Gegenstand


verdanken, um dies einzusehen.80 Mit welchem Recht aber möchte
Brentano leugnen, daß etwa vergangene historische Sachverhalte, die nicht
mehr real sind, doch nicht einfach nichts sind und in gewissem Sinne als
vergangene Seiende bestehen – und dadurch auch gegenwärtig bestehende
Sachverhalte über ihr Gewesensein begründen – und also die Urteile des
Historikers wahr oder falsch machen? Wie kann man vernünftigerweise
jedwede Existenz der Romanfiguren eines Dostojewski-Romans leugnen,
die Ingarden als abgeleitete rein intentionale Gegenstände bezeichnete und
die die Urteile des Literaturkritikers wahr oder falsch machen können und
dabei besondere Eigenschaften besitzen, die auch besondere Folgen für die
Wahrheit und Falschheit haben?81 Wie will man das Bestehen von
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten leugnen, die Urteilen über die
Unmöglichkeit viereckiger Kreise oder die Möglichkeit eines neuen
Krieges vorhergehen?
Brentano wenigstens hat nicht im geringsten ernsthafte Beweise gegen
verschiedene Seinsmodi und gegen solche ‘res’ und Sachverhalte geführt,
die sich auf diese beziehen und es uns sehr wohl erlauben, die Wahrheit
als adaequatio aufrechtzuerhalten.
Allerdings gilt in der Tat, daß nur von der Anerkenntnis solcher auf
Dinge unreduzierbarer Sachverhalte her, die Brentano eine Zeit lang sehr
mißverständlich „Irrealia“ nannte, die Adäquationstheorie aufrechtzuer-
halten ist. Darauf, daß es sich hier um eine andere Seinsform handelt, eben

80
Wenn wir auch mit dessen Ausdehnung dieses Begriffes auf die ganze Sphäre
idealer Wesenheiten und eide, und seiner ontologischen Deutung derselben, der
zufolge etwa fiktive und rein intentionale Gegenstände schlechthin nicht sind,
nicht übereinstimmen. Vgl. Antonio Millán-Puelles, Teoría del objeto puro, zit.;
The Theory of the Pure Object, English translation by Jorge García-Gómez
(Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). Vgl. auch Josef Seifert,
“Preface” to Antonio Millàn-Puelles, The Theory of the Pure Object, zit., pp. 1-12;
ders. “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón
sufficiente”, Ibáñez-Martín, J.A. (coord.), Realidad e irrealidad. Estudios en
homenaje al Profesor Antonio Millán-Puelles (Madrid: RIALP, 2001), S. 119-
152.
81
Z.B. haben sie Unbestimmtheitsstellen, auf Grund deren das Prinzip vom aus-
geschlossenen Dritten nicht vollkommen auf sie anwendbar ist und sie eine eigene
Logik verlangen. Vgl. dazu Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 83

die des Sachverhalts, hat auch Thomas von Aquin in De Ente et Essentia
hingewiesen, wenn er sagt, das Sein, das für die Wahrheit ausschlaggebend
sei (im Unterschied zum Sein, das in die zehn Kategorien zerfalle),
schließe auch das Nichtsein und alle Privationen ein, und „sachverhalts-
ähnliche“ Begriffe wie dispositio rei eingeführt hat.82 Gerade auch in
diesem Punkte der Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit zeigt sich die
Relevanz der Philosophie der Wahrheit des Aquinaten.
Im übrigen hat die Einführung des Sachverhalts als einzigen direkten
Objekts des Urteils nichts mit der Behauptung zu tun, Urteile handelten
nicht indirekt von Sachen, mit denen sie, oder zumindest die meisten von
ihnen, ja in gegenseitig unlösbarer Weise verknüpft sind.

3.4. Kritik von Brentanos viertem, kriteriologischem Argument: Evidenz setzt


in Wirklichkeit Korrespondenz voraus. Über die Möglichkeit eines
Wahrheits-Kriteriums im Rahmen der Adäquationstheorie der Wahrheit

Zur vierten grundlegenden Argumentation Brentanos gegen die Adäqua-


tionslehre aus der angeblichen prinzipiellen Unmöglichkeit, ein entspre-
chendes Kriterium aufzufinden, mit dessen Hilfe man feststellen könnte,
daß unser Urteil der Wirklichkeit entspricht, ließe sich sagen:
Erstens verwechselt Brentano hier die Adäquationslehre der Wahrheit
als eine Theorie über das Wesen der Wahrheit, die sie doch eindeutig ist,
mit einer Theorie eines Wahrheitskriteriums, die sie eindeutig nicht
ist. Dieselbe Verwechslung begeht er hinsichtlich seiner eigenen
Evidenztheorie der Wahrheit. Wenn er und Kraus nämlich mit Aristoteles‘
Zweiter Analytik, mit Descartes und Spinoza, und wohl der ganzen großen
Tradition der Philosophie bis hin zur intellektuellen Anschauung bei
Fichte,83 Evidenz als das letzte und unhinterfragbare Kriterium der

82
Vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und
bei Thomas von Aquin, sowie Barry Smith, “Acta cum Fundamentis in Re”,
Dialectica, 38 (1984), 157-178; ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69.
83
Vgl. den überraschend klassischen und phänomenologischen Text Johann Gottlieb
Fichtes, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797):
I463 Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des
Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das

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84 KAPITEL1

Wahrheit anerkennen, so haben sie zweifellos recht. Denn jeder Versuch,


ein äußeres Kriterium für die als richtig charakterisierte Erkenntnis oder
einen Beweis für die Gültigkeit evidenter Erkenntnis zu finden, dreht sich
in der Tat im Kreise, wenn er nicht letzten Endes auf Evidenz beruht. Denn
jedes solches andere Kriterium (wie Kohärenz, kritischer Konsens etc.)
müßte schon wieder unmittelbare Evidenz voraussetzen, sowohl hinsicht-
lich seiner grundsätzlichen kriteriologischen Funktion als auch hinsichtlich
seiner ersten Grundlagen. Sicherlich gibt es viele Erkenntnisbereiche, in
denen es keine direkte Evidenz unbezweifelbarer Erkenntnis gibt und sich
deshalb, wie in der Sinneserfahrung, Evidenzen erst im Zusammenhang
mit einem Netzwerk anderer Erfahrungen und Evidenzen bewähren und
volle Vertrauenswürdigkeit, wenn auch nie absolute Gewißheit, erreichen
können. Und selbst im Falle mathematischer, logischer und absoluter
philosophischer Evidenzen gibt es nicht nur reiche Anwendungsfelder
deduktiver Schlüsse, sondern ist uns auch niemals alles zugleich gegeben
und bleibt deshalb jede Erkenntnis ergänzungsbedürftig, doch hebt dies
weder die Absolutheit der Gewißheit zahlloser Evidenzen auf noch können
alle solchen Bewährungs- und Bestätigungskriterien ohne das Evidenzkri-
terium, auf das alle in ihrem ersten Anfang und letzten Begründungs-
zusammenhang zurückgehen müssen, als grundlegendstes Kriterium der
Erkenntniswahrheit auskommen.

unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich
etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung
gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen
entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen
lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles
wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass
er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen.
Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen,
dass diese intellectuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewusstseyns vorkomme.
Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle
Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung
weiss ich, dass ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben
mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit
zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie
ist der Tod.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 85

Auch Entsprechung mit der Wirklichkeit läßt sich nicht als ein solches
Kriterium einführen, da es schon wieder die Evidenz der Feststellung
dieser Entsprechung voraussetzen würde.
Doch woher soll ein ähnlicher absurder Regreß aus der Bestimmung des
Wesens der Wahrheit als adaequatio herkommen, wie er aus einem
evidenter Einsicht äußerlichen Kriterium der Wahrheit aus einer
Ähnlichkeit zwischen Urteil und res tatsächlich entspränge? Denn diese
Evidenz, die letztes Kriterium der Wahrheit ist, läßt uns gerade einsehen,
daß der Inhalt unseres Urteils mit dem selbst bestehenden Sachverhalt
zusammentrifft, daß sich die Dinge wirklich so verhalten, wie wir urteilen,
daß sie sich verhalten, und daß deshalb unser Urteil wahr ist. Nichts
rechtfertigt also eine derartige Parallele, wie Brentano sie zwischen dem
Zirkelschluß eines der Evidenz äußeren Kriteriums und der Annahme der
Adäquationstheorie der Wahrheit behauptet!
Zweitens übersieht Brentano, daß Evidenz als Kriterium Adäquation als
Wesen der Wahrheit voraussetzt. Daraus, daß die Entsprechung eines
Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen nicht Kriterium von Wahrheit
sein kann, folgt weder, daß Adäquation nicht das Wesen der Urteilswahr-
heit ausmacht noch daß es für das Zusammentreffen der urteilsmäßigen
Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen kein Kriterium
geben könne. Noch weniger folgt aus der Tatsache, daß Evidenz höchstes
Kriterium der Wahrheit ist, daß Evidenz bzw. der Bezug auf sie das Wesen
der Wahrheit ausmache.
Darauf müssen wir im Rahmen des Aufweises des inneren Wider-
spruchs der Evidenztheorie des Wesens der Wahrheit noch ausführlicher
zurückkommen.

3.5. Der Sinn der ‚Adäquatio‘ läßt sich unschwer bestimmen

Wenn Brentano behauptet, es sei überaus schwer, den Sinn der


‘Adäquatio’, Korrespondenz oder Übereinstimmung zu bestimmen, der der
Adäquationstheorie der Wahrheit zugrundeliegt, so hat er zweifellos recht,
insofern es nicht nur schwer, sondern unmöglich ist, irgendeinen anderen
Typus der Korrespondenz außer jenem unreduzierbaren Urphänomen der
Urteilswahrheit zugrundezulegen, und von ihm ausgehend die Überein-

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86 KAPITEL1

stimmung des Urteils mit der Wirklichkeit oder mit bestehenden Sachver-
halten aufzuklären. Offensichtlich sind z.B. Urteil und Sachverhalt nicht
ähnlich und entsprechen sich nicht in dieser Form des einander
Ähnlichseins: Das Urteil besteht aus Begriffen, der Sachverhalt nicht, das
Urteil vollzieht eine Setzung, wird vom Intellekt gefällt und geformt, der
Sachverhalt nicht, usf.
Ebenso deutlich unterscheidet sich das Verhältnis zwischen Urteil und
Sachverhalt von einem Abbildverhältnis, wie es auch zwischen unähnli-
chen Dingen (etwa einem menschlichen Gesicht und einem Bild)
vorkommt. Das Urteil ist kein Bild eines Sachverhalts, wie Wittgenstein
annimmt.
Hunderte andere Arten von Entsprechungen – wie etwa die von Tönen
verschiedener Oktaven, Farben, Proportionen, intentionalem Akt und
Gegenstand, Wirklichkeit und Möglichkeit, realem Seiendem und korres-
pondierendem rein intentionalem Objekt usf. – kommen gleich wenig als
Vergleichspunkte für jenes unzurückführbare Phänomen der Entsprechung
zwischen wahrem Urteil und bestehendem Sachverhalt in Frage.
Also bedarf es eines Eindringens in die unvergleichbare und eigenartige
Entsprechung, die in nichts anderem besteht als in dem Zusammentreffen
der behauptenden Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der
Sachen.84 Diese Form präziser Entsprechung ist nicht weniger einleuchtend
gegeben als irgendeine der anderen genannten Formen der Entsprechung
und es bleibt rätselhaft, wie Brentano darin, daß sie nicht in Form einer der
anderen Entsprechungen ausgedrückt werden kann, einen Grund dafür
erblicken wollte, daß sie überhaupt unbegreiflich oder unerklärbar sei.
Will man ein solches Argument anerkennen, könnte man auch sagen, daß
man die Entsprechung zweier ähnlicher oder genau gleichartiger Dinge
nicht erkennen könne, weil deren Gleichheit und Ähnlichkeit nicht jener
präzisen Entsprechung zwischen wahrem Urteil und geurteiltem Sachver-
halt gleich sei.

84
Vgl. dazu Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander,
(Mariano Crespo, Hg.), Logik. Vgl. auch Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap.
3.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 87

3.6. Ist die Annahme unendlich vieler Sachverhalte für den Philosophen
alarmierend? Über die Notwendigkeit einer realistischen Grundlegung der
Urteilswahrheit in der ‚Wirklichkeit‘ im weitesten Wortsinn

Auch Brentanos Argument aus der Unmöglichkeit unendlich vieler


„Sachen“ als Fundament der immensen quantitativen Ausdehnung der
Urteilswahrheit läßt sich von einer Philosophie der Sachverhalte her
überwinden. Es scheint zwar zunächst, daß Brentanos Einwand gleicher-
maßen Gewicht besitzt, wenn ich die „Sachen“, die der Wahrheit des
Urteils vorgegeben sind, durch Sachverhalte ersetze. Brentano meint, wenn
allen wahren Urteile Sachen oder (wie wir hinzufügen können)
Sachverhalten entsprächen, so wäre die Welt mit einer unannehmbaren
unendlichen Zahl von „Sachen“ oder Sachverhalten aller Art bevölkert.
Nicht nur Brentano, sondern auch die meisten anderen, auch realistisch
gesinnten, Philosophen wie Barry Smith schrecken vor einer derartigen
Überbevölkerung der Welt durch Sachverhalte zurück und sagen, wir
könnten nicht annehmen, daß all diese unendlich vielen positiven und
negativen Sachverhalte bestünden.85
Im Schreck über solche astronomische Sachverhalts-Überbevölkerung
wird der Philosoph ausrufen: „So zahllose Sachverhalte können nicht als
res bzw. als vorgeformte, von einander abgegrenzte Sachverhalte schon
vor jeder Urteilsbildung tatsächlich bestehen, so daß dann das Urteil mit
solchen präexistierenden Sachverhalten übereinstimmte!“
Auch andere klassische realistische Denker der phänomenologischen
Bewegung fühlten sich durch die erdrückende Last unendlich vieler Sach-
verhalte und wahrer negativer Urteile gleichsam philosophisch eingeschü-
chtert. Wir dürften höchstens annehmen, daß diese Sachverhalte nur
potentiell in den realen Sachen und in der Totalität der Weltwirklichkeit
„steckten“, aber daß sie im Akt des Denkens erst gleichsam entworfen
würden und Bestand hätten. Auf diese Weise würde eine derartige Position
„zwischen“ einem Realismus, nach dem Sachverhalte, mit denen wahre
Urteile übereinstimmen, vor jedem Urteil bestehen, und einem Subjektivis-
mus, nach dem sie rein vom Subjekt konstituiert werden, stehen.

85
WE, S. 96 (An Marty, zit.).

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88 KAPITEL1

So besäßen diese Sachverhalte zwar ein Fundament in der Wirklichkeit,


aber bestünden nicht von sich aus einfach schlechthin und vor dem Urteil.
Ich brachte bereits viele Bedenken gegen die Theorie vor, daß Sachver-
halte nicht schon vor dem Urteil bestehen, sondern erst gleichsam durch
die Heraushebung des Denkens Bestand erhalten, bzw. als solche fixiert
werden.86
Ich gehöre zu jenen Philosophen, die keine außerordentliche Schwierig-
keit in dem Problem der Überbevölkerung der Welt durch unendlich viele
Sachverhalte sehen und denen man mit dem bloßen Hinweis auf diese
Überbevölkerung der Welt keinerlei Schrecken oder das Gefühl der
Absurdität der eigenen Position einjagen kann. Denn ich bin der wohlbe-
gründeten Meinung, daß es ohnehin Unendlichkeiten über Unendlichkeiten
gibt, etwa im Reich der mathematischen Punkte, der möglichen Welten,
der Zahlen oder der logischen Implikationen. So macht es mir nichts aus,
wenn es noch viele andere, bislang nicht bedachte Unendlichkeiten gibt.
Dennoch gebe ich gerne zu, daß bei der Annahme unendlich vieler
Sachverhalte, vor allem negativer Sachverhalte, nicht nur wegen ihrer
unendlichen Zahl als solcher, sondern auch wegen ihrer scheinbar willkür-
lichen Formulierbarkeit und losen Fundierung in der Realität von
bestimmten positiv bestehenden Sachen und Sachverhalten, objektive
Schwierigkeiten liegen.

86
Dieser Gedanke wurde in einem philosophischen Briefwechsel mit Barry Smith
und Kevin Mulligan eingehend von mir erörtert. Vgl. auch Josef Seifert, Sein und
Wesen, Kap. 2 und 3, sowie P. Simon/B. Smith/K. Mulligan, “Truth-Makers”.
Vgl. Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Auch in anderer
Hinsicht, etwa der These, Alexander Pfänder habe die Logik nicht als Wissen-
schaft von Begriffen, Urteilen, und Schlüssen, sondern – wie Reinach – von
Sachverhalten, aufgefaßt, kann ich weder historisch noch systematisch zustimmen.
Pfänder jedenfalls erkennt die gegenüber Sachverhalten eigenständige, wenn-
gleich in ihnen fundierte, Sphäre der Begriffe, Urteile und Schlüsse an, die erst
spezifisch logische Prädikate wie Mehrdeutigkeit (quaternio terminorum), Wahr-
heit, Falschheit, oder Schlüssigkeit, besitzen. Das hindert nicht, daß es auch eine
Logik von Sachverhaltsbeziehungen gibt, die den logischen Beziehungen von
Wahrheit und Falschheit sowie den logischen Gesetzen zugrundeliegen. Die These
einer solchen Begründung der logischen in ontologischen Gesetzen vertritt
Alexander Pfänder überzeugend. Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo,
Hrsg.), Logik.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 89

Auf alle Fälle ließe sich jedoch auch – in Einklang mit dem früheren
Brentano – eine Form der realistischen Adäquationstheorie der Wahrheit
entwickeln, die eine Übereinstimmung des Urteils in seiner Setzung mit so
etwas wie Sachverhalten annimmt, auch wenn diese Theorie nicht
behauptet, daß alle Sachverhalte schlechthin und einfach in der Wirklich-
keit bestehen, sondern gleichsam erst in ihrer Heraushebung aus den
unendlichen Sachverhaltspotentialitäten „entstehen“ – aber nicht so, als
würden sie ohne Wirklichkeitsfundament von uns geschaffen, sondern in
einer mit der Tatsache vereinbaren Weise, daß sie eine objektive
Grundlage in der Wirklichkeit besitzen.
Auch wenn man die schwierige formalontologische Frage offenläßt, ob
die ungezählten künstlich angenommenen negativen Sachverhalte, als
solche, schon vor jedem Denkakt abgegrenzt bestehen, oder ob sie viel-
mehr erst aus den unendlich vielen möglichen und als solche willkürlich
abgrenzbaren Sachverhalten gleichsam jeweils herausgehoben werden,
kann man die Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigen. Denn solange
Dinge aller Art, ihre Eigenschaften und die direkt in ihnen wurzelnden
Sachverhalte bestehen, und bestimmen, welche im Denken hervorgeho-
benen Sachverhalte der Wirklichkeit entsprechen, läßt sich die Überein-
stimmung des Urteils mit dem Ding begründen, wie Ingarden dies vorhat,
auch wenn eine solche Position letztlich ein in abgestufter Weise dem
Urteil vorausgehendes Bestehen aller Sachverhalte zugeben muß.
Ich selber halte ein vom Geist durchaus unabhängiges Bestehen aller
Sachverhalte für gegeben, obwohl ich verschiedene Stufen der natürlichen
und objektiven Verwurzelung dieser Sachverhalte in der Wirklichkeit
sowie in den verschiedenen Seinsmodi anerkenne. Auch auf dem Boden
Ingardens und verwandter Positionen über negative Sachverhalte aber
können die Einwände, die Brentano bewogen haben, die Adäquationstheo-
rie der Wahrheit zu verwerfen, überwunden werden und können wir die
Einführung der Evidenztheorie der Wahrheit als unbegründet erkennen.

4. Innere Widersprüche und Irrtümer in der Evidenztheorie der Wahrheit

Wenn wir uns nun von einer Kritik der Brentano’schen Einwände gegen
die Adäquationstheorie der Wahrheit einer Kritik der Evidenztheorie der

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90 KAPITEL1

Wahrheit selber zuwenden, müssen wir uns zunächst fragen, ob die


Evidenztheorie, die das Wesen der Wahrheit durch deren Bezug auf einen
mit Evidenz Urteilenden bestimmen will, überhaupt eine sinnvolle Theorie
des Wesens der Wahrheit ist und prinzipiell einen Ersatz für die Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit bieten kann, anstatt sie notwendig vorauszuset-
zen.

4.1. Evidenz setzt Wahrheit als Adäquation voraus

An dieser Stelle möchte ich drei unüberwindliche Schwierigkeiten bzw.


Irrtümer in Brentanos Versuch des Ersatzes der ihm nichtssagend und
widerspruchsvoll erscheinenden Urgegebenheit der adaequatio anfüh-
ren. Die erste dieser drei Schwierigkeiten betrifft die Vorausgesetztheit von
Wahrheit als adaequatio für Evidenz überhaupt. Ohne das Wesen der
Wahrheit als Übereinstimmung zu erkennen, verliert der Begriff der
Evidenz seinen Sinn. Worin soll die Evidenz der Wahrheit denn bestehen,
wenn nicht in einem erkennenden transzendierenden Erreichen des
behaupteten Sachverhalts selber, der in seinem von unserem Erkennen und
Urteilen verschiedenen Eigensein von uns erkannt werden muß, um die
Wahrheit unseres Urteils zu erweisen und dieses mit Evidenz zu fällen? In
den Logischen Untersuchungen drückt Husserl dies folgendermaßen aus:
Das vollkommenste Kennzeichen der Richtigkeit ist die Evidenz, es gilt uns
als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst,...87

Wie sollte jedoch Evidenz diese Feststellung der Wahrheit leisten, wenn
sie nicht den Sachverhalt erkennen könnte, auf den das Urteil abzielt,
sondern nur ein subjektiver Charakter, ein inneres psychisches Erlebnis

87
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten
Auflage, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg.v. E. Holenstein,
Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen
zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2:
Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer,
Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Bd. I, § 6, Zeile
7-9, S. 29.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 91

wäre, anstatt ein Erlebnis der Wahrheit bzw. des sie erfassenden
transzendierenden Begreifens zu sein?
Vom „Besitzen der Wahrheit in der Erkenntnis“ ist anderswo bei
Husserl in seiner Kennzeichnung des Wesens der Evidenz die Rede:
Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir
uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen
Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus....88

Und Husserl fügt hinzu, indem er den notwendigen Bezug des


Evidenzerlebnisses und der Evidenz selbst mit der Wahrheit als adaequatio
mit den objektiv bestehenden Sachverhalten zum Ausdruck bringt:
Dazu gehört vielmehr – soll von einem Wissen im engsten und strengsten
Sinne die Rede sein – die Evidenz, die lichtvolle Gewißheit, d a ß i s t, was
wir anerkannt, oder n i c h t i s t, was wir verworfen haben;89

In der Tat, nur weil evidente Erkenntnis über den eigenen Akt hinaus-
geht, aber in und durch ihn etwas erfaßt, was den Bezugspunkt unseres
Urteils und sein Richtmaß ausmacht, wie Thomas trefflich formuliert, ist
evidente Erkenntnis evident! Ohne daß Adäquation das Wesen der
Wahrheit ausmacht, gibt es auch keine Evidenz als Wahrheitskriterium,
können wir kurz und bündig formulieren.

4.2. Wenn der evidente Charakter des Urteils dessen Wahrheit ausmacht,
gelangen wir zu einem circulus vitiosus der Wahrheitsdefinition

Wenn wir von einem Menschen, der mit Evidenz urteilt, annehmen, daß
sein Urteil wahr ist, wie soll ein solcher Mensch Evidenz über die
Wahrheit seines Urteils gewinnen, wenn er nicht auch das Wesen dieser
Wahrheit, über deren Präsenz er in seinem Urteil Evidenz gewinnt,
voraussetzt? Wenn er nicht wüßte, worin die Wahrheit eines Urteils,
dessen Wahrheit er mit Evidenz erkennt, besteht, könnte er unmöglich die
Wahrheit seines Urteils mit Evidenz erkennen.

88
Vgl. Edmund Husserl, ebd., S. 28, Zeile 16-18.
89
Ebd., S. 28, Zeile 21-25.

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92 KAPITEL1

Dabei würde es offenbar nichtssagend sein, wenn jemand sagen wollte,


die Evidenz der Erkenntnis der Wahrheit bestehe in der Evidenz darüber,
daß Evidenz vorliegt. Worin aber besteht diese? Es würde zu einem
offenkundigen circulus vitiosus führen, wenn jemand sagen wollte, die
Evidenz des eigenen Urteils bestehe in der Evidenz darüber, daß das eigene
Urteil mit dem eines mit Evidenz Urteilenden übereinstimme. Dies ergibt
sich mit besonderer Deutlichkeit, wenn wir weiterfragten: und worin
besteht die Evidenz dieses „mit Evidenz Urteilenden“?, und zur Antwort
bekämen: „Daß sein Urteil mit dem eines anderen mit Evidenz Urteilenden
übereinstimmt“, usf. Das wäre gleichsam eine Aufhebung des Evidenz-
begriffs selbst, wenn man die Wahrheit, um die man mit Evidenz weiß,
selbst ausschließlich durch ihren Bezug zur Evidenz bestimmen wollte.
Um daher die Wirklichkeit bzw. das Bestehen eines Sachverhalts und
die Tatsache, daß ein von uns gefälltes Urteil wahr ist, mit Evidenz zu
erkennen, ist vorausgesetzt, daß wir verstehen, daß weder die Wahrheit des
Urteils selbst noch das Bestehen der Evidenz im Urteilenden nur im
Hinblick auf Evidenz selber definiert oder verstanden werden kann oder
allein durch Bezug auf das Urteil eines mit Evidenz Urteilenden in ihrem
Wesen bestimmt werden kann. Die Evidenz, mit der wir feststellen, daß ein
Urteil wahr ist, oder die Übereinstimmung mit einem evident Urteilenden
kann unmöglich das Wesen der erkannten Wahrheit ausmachen. Gerade
aus einer Deutung der Evidenztheorie als einer Theorie über das Wesen der
Wahrheit (statt diese aus der Übereinstimmung des wahren Urteils mit dem
behaupteten Sachverhalts zu erklären) folgt deshalb der von Brentano
befürchtete circulus vitiosus.
Zwar ist es nicht nur wahr, daß Evidenz das letzte Kriterium der
Wahrheit ist, sondern es ist auch ganz wahr, daß in der Tat jedes wahre
Urteil mit dem Urteil eines allwissenden oder Evidenz besitzenden Wesen
übereinstimmt. Aber dies ist eine notwendige Folge des Wesens der
Wahrheit einerseits und der von Brentano zurecht hervorgehobenen
Objektivität der Evidenz andererseits, und nicht eine Folge der von ihm nur
behaupteten Tatsache, daß die Wahrheit des Urteils darin bestehe, mit
Evidenz oder einem mit Evidenz gefällten Urteil übereinzustimmen. Um
überhaupt aussagen zu können, was Wahrheit ist, und um überhaupt
evident feststellen zu können, daß ein Urteil wahr ist, hat die Evidenz-

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 93

theorie daher schon wieder ein von Evidenz verschiedenes Wahrsein des
Urteils als Bedingung ihrer selbst vorausgesetzt.

4.3. Die Evidenztheorie der Wahrheit als Tor zum radikalen Subjektivismus in
der Erkenntnistheorie

Wenn nämlich, und dies führt mich zum dritten Punkt der Widerlegung
Brentanos, die Evidenztheorie nicht schon wieder die Adäquation als das
Wesen der Wahrheit voraussetzt, und wenn sie behaupten will, „Evident
Wahrsein heißt nichts anderes als evident sein oder mit dem Urteil des mit
Evidenz Urteilenden zusammenzufallen“, dann dreht sich die Evidenz-
theorie nicht nur im Kreis, sondern dann gleitet sie – ganz den Intentionen
Brentanos entgegen – als Wesenstheorie der Wahrheit in einen reinen
Subjektivismus ab, indem nämlich die Evidenz dann nur mehr eine
subjektive Erfahrung sein kann, in welcher eine subjektive Sicherheit
irgendwelcher Art postuliert wird oder eine subjektive Denknotwendigkeit
besteht. Ohne Voraussetzung der Adäquationstheorie kann Evidenz nicht
die tatsächliche objektive Evidenz sein, daß mein Urteil wahr ist, d.h. daß
die Sachen sich so verhalten, wie ich dies im Urteil behaupte.
Denn das ist gerade Evidenz: mit unbezweifelbarer Gewißheit und
tatsächlich erkennen, wie sich die Sachen verhalten. Mit Evidenz urteilen
heißt daher „erkennen, daß auf Grund dieses evidenten Selbstverhaltens
der Sachen auch das mit den objektiv bestehenden Sachverhalten überein-
stimmende Urteil evident wahr ist.“

4.4. Zusammenfassende Kritik zur Evidenztheorie als Wesenstheorie der


Wahrheit

Also liegt einerseits in der Evidenztheorie der Wahrheit als ihre logische
Voraussetzung das Wesen der Wahrheit als Adäquatio. Andererseits steckt
in der Evidenztheorie der Wahrheit eine Gefahr des radikalen Subjektivis-
mus, sobald man das Wesen der Wahrheit als adaequatio aufgibt. Denn in
demselben Moment muß Evidenz mit eherner materiallogischer Konse-
quenz zu einem rein subjektiven Gefühl der Sicherheit oder zu irgendetwas

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94 KAPITEL1

anderem, das an die Stelle der objektiven Evidenz über Wahrheit tritt,
degenerieren.
Denn, ausgehend von Husserl‘s Einsicht, der in den Logischen Untersu-
chungen den schönen Satz geprägt hat, „Evidenz ist das unmittelbare
Innewerden der Wahrheit des Urteils“, fügen wir hinzu: „Evidenz ist
sowohl Erfahrung der Wahrheit als auch die Erfahrung des Sachverhalts“,
dem das wahre Urteil entspricht und den es behauptet. Wie soll ich etwa
die evidente Wahrheit des Widerspruchssatzes erkennen, wenn ich das
Seins- und Wesensgesetz, das dieser Satz behauptet, nicht erkenne?
Wenn daher die Wahrheit als Adäquation, die der Gegenstand dieser
Evidenzerfahrung ist, fallengelassen und nur noch diese Evidenzerfahrung
allein als Bezugspunkt für die Definition der Wahrheit festgehalten wird,
dann behält die Evidenz nicht mehr ihren Bezug zur Wahrheit und sinkt
daher zu einem subjektiven Kriterium ab. Evident sein, daß ein Urteil wahr
ist, heißt dann nur noch, daß jemand ein Urteil als evident erlebt. Evidenz
wird also eine Art reines Erlebniskriterium, was an Brentanos, ihrerseits
an Windelband gemahnende, kantianisierende Äußerung gemahnt, Evidenz
und Wahrheit sei nur der Charakter eines Urteils als „Gemäßheit den
Regeln der Vernunft“ oder als „ein Urteil mit dem subjektiven Charakter
der Evidenz“ und nicht die Frucht eines den eigenen Akt transzendierenden
Erfassens des Sachverhalts und der Wahrheit selbst.
Es ist damit ähnlich bewandt wie mit Brentanos Definition des Guten in
seinem Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, wo er einerseits einen Objekti-
vismus der Ethik und eine scharfe Kritik des ethischen Relativismus
einführen will und von dem Guten als von der „als richtig charakterisierten
Liebe“ redet, aber andererseits die sinngemäße Fundierung einer solchen
„richtigen“ Liebe in einem Wert (Guten) auf der Objektseite, dem eine
solche Liebe angemessen wäre, bestreitet, wie Juan-Miguel Palacios
besonders scharf herausgearbeitet hat.90 Obwohl eine als richtig gekenn-

90
Vgl. Franz Brentano, El origen del conocimiento moral, traducción de Manuel
García Morente (Madrid, Tecnos, 2002), and Juan-Miguel Palacios, “Estudio
preliminar de: Franz Brentano, El origen del conocimiento moral,” Traducción de
Manuel García Morente. Madrid, Tecnos, 2002, págs. XI-XXX. Vgl. auch die
Originalschrift, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, zit., sowie die englische
Version: Franz Brentano. The Origin of the Knowledge of Right and Wrong,
English translation by Cecil Hague, formerly Lector at Prague University, with a

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 95

zeichnete Liebe, der kein objektives Gut, dem sie angemessen ist,
entspräche, undenkbar ist, führt Brentano diese Idee ein, ohne zu
bemerken, daß hier ein Ding der Unmöglichkeit vorliegt. Ähnlich ist ein
als richtig oder evident gekennzeichnetes Urteil, das nicht einem objektiv
bestehenden Sachverhalt entspräche, ein Ding der Unmöglichkeit.
(Eigentlich kennzeichnet Evidenz weder das wahre Urteil selbst noch den
Irrtumsakt, sondern den Erkenntnisakt bzw. den Akt des Erkennens eines
Sachverhalts.)
Wenn wir die Evidenztheorie der Wahrheit von einem anderen, nicht
streng Brentano‘schen Gesichtspunkte aus betrachten, so ist selbst bei
Brentano oft nicht klar, ob seine Evidenztheorie schlechthin einen Verzicht
auf die Adäquationstheorie der Wahrheit als solche beinhaltet. Dies legt
zwar Brentano selber sehr stark nahe, aber wir könnten seine Theorie, die
nie ganz klar formuliert wird, auch einfach als seinen Versuch deuten, die
Wahrheit nicht durch ihr eigenes Wesen, weil ihm dies zu schwierig oder
gar unmöglich zu sein scheint, sondern die Wahrheit durch ihren Bezug auf
etwas anderes zu bestimmen, nämlich auf Evidenz. In diesem Fall wäre die
Evidenztheorie der Wahrheit überhaupt keine Beschreibung des Wesens
der Wahrheit, sondern im Popper‘schen Sinn ein Verzicht auf eine „Was
ist?“ Frage bzw. auf deren Beantwortung. Die Evidenztheorie würde dann
nur die anderen Aspekte einer Wahrheitstheorie außer ihrer Wesensbestim-
mung betreffen.
Doch liegt es sehr nahe, daß Brentano selbst sie als einen Ersatz der
Adäquationstheorie der Wahrheit verstanden hat, gegen die sich die
erwähnte zwingende Widerlegung vorbringen läßt.

Biographical Note (Westminster: Archibald Constable & Co., Ltd., 1902), pp. xiv,
125, und G. E. Moore, Review of Franz Brentano’s The Origin of Our Knowledge
of Right and Wrong, International Journal of Ethics, October 1903.

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96 KAPITEL1

5. Die Einsichten in Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit, vor allem


seine unverzichtbare Errungenschaft, die Übereinstimmung mit dem
Urteil eines „mit Evidenz Erkennenden“ als notwendig Bedingung bzw.
Folge der Wahrheit eines Urteils erkannt zu haben

Wenn wir hingegen einen (neben dem einer Theorie über das Wesen der
Wahrheit) zweiten, zuvor erwähnten, Aspekt einer Wahrheitstheorie
betrachten, nämlich die Frage nach den Wahrheitsbedingungen (oder auch
Folgen der Wahrheit, die logisch gesehen auch Wahrheitsbedingungen
sind), dann könnte man durchaus anerkennen, daß was Brentano sagt,
zumindest in gewisser Hinsicht und in bestimmtem Sinne eine Bedingung
der Wahrheit ist: Es kann nämlich kein Urteil wahr sein, welches nicht das
Merkmal Brentanos erfüllte, daß jemand, der volle Evidenz der Erkenntnis
besäße, dieses und jedes andere wahre Urteil auch als wahr anerkennen
würde. Man könnte in der Tat sagen, wenn man das Ideal eines
allwissenden Wesens, das jede Wirklichkeit, ja alles, was in irgendeinem
Sinne ist oder nicht ist, mit völliger Evidenz erkennt, als das von Brentano
gemeinte Subjekt nimmt, das vollkommen evidente Erkenntnis besitzt:
Übereinstimmung mit dem Urteil eines solchen Subjekts ist Bedingung,
und notwendige Folge, der Wahrheit. Es gibt kein einziges wahres Urteil,
von dem nicht gälte, daß ein erkennendes Wesen, das mit vollständiger
Evidenz alles, was in irgendeinem Sinn ist und was nicht ist und das auch
alle negativen Sachverhalte erkennt, jedes wahre Urteil überhaupt als wahr
anerkennen würde. Und es gibt kein falsches Urteil, von dem nicht gälte,
daß ein mit vollständiger Evidenz Erkennender das falsche Urteil
verwerfen würde. Mit anderen Worten: „Wahr urteilen impliziert: mit
einem allwissenden Wesen (Gott) übereinstimmen“.
In diesem Sinne könnte man Brentano sehr wohl darin rechtgeben, daß
die Evidenztheorie der Wahrheit eine notwendige Bedingung von
Wahrheit, oder sagen wir präziser, einen Umstand formuliert, der
notwendig mit der Wahrheit, und einen anderen, der notwendig mit der
Falschheit eines Urteils verknüpft ist und sich einerseits aus dem Wesen
der Wahrheit und Falschheit, andererseits aus dem der evidenten
Erkenntnis ergibt.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 97

6. Verteidigung der Einsicht Brentanos in Evidenz als nicht-zirkuläres


„Kriterium aller Kriterien“ von Wahrheit gegen Einwände

Wenn wir schließlich einen dritten erwähnten allgemeinen Aspekt einer


Wahrheitstheorie nehmen, nämlich den der Bestimmung der Evidenz als
des letzten und unhintergehbaren Kriteriums der Wahrheit, dann könnte
man zwar Einwände gegen Brentanos Urteilstheorie erheben, auf die
Kraus eingeht, und behaupten, daß Evidenz selbst kein Kriterium ist,
sondern eines Kriteriums bedarf. Man könnte sagen, jeder kann ja
daherkommen und sagen, es sei evident, daß etwas so und so sei. Evidenz
könne daher kein objektives Kriterium der Wahrheit sein. Man müsse
dagegen Naturgemäßheit, einen unwiderstehlichen Urteilszwang, oder gar
Erfolg oder Konsens, oder auch diskursive Bewährung etc. als solches
Kriterium einführen.
Gegen solche Einwände würde ich Brentanos Evidenztheorie der
Wahrheit energisch in Schutz nehmen und sagen, daß in der Tat das
höchste, ursprünglichste und alle anderen Kriterien begründende Kriterium
der Wahrheit in der Evidenz selbst liegt, wie Spinoza im von Brentano
geliebten Satz formuliert hat: verum est index sui ipsius et falsi (das Wahre
ist Kriterium seiner selbst und des Falschen). Wie Hildebrand bemerkte,
hat Spinoza niemals ein wahreres und von Verwechslungen freieres Urteil
gefällt als dieses. Auch mit Descartes stimmt Brentano in diesem Punkte
ganz überein, wenn Descartes als Regel formuliert: ‚alles, was ich
gleichermaßen klar und deutlich einsehe (wie daß ich existiere) ist wahr‘.
Wie Brentano, behauptet auch Descartes, daß kein anderes Kriterium
letzten Endes die Wahrheit verbürge als Evidenz, und dies heiße, daß ich
klar und deutlich einsehe, daß sich die Sachen selber so verhalten wie ich
erkenne, daß sie sich verhalten.91
Jedes andere Kriterium der Wahrheit (von denen es viele gibt) führt
nämlich zurück auf Evidenz. Das hat übrigens auch ein Skeptiker unter den

91
Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, in : Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles
Adam & Paul Tannery, VI, 1-78, Méditations Métaphysiques. Objections et
réponses suivies de quatre lettres, ed. J.-M. Beyssade et M. Beyssade (Paris:
Garnier-Flammarion, 1979), II; IV; V. Vgl. auch ders., Regulae ad Directionem
Ingenii.

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98 KAPITEL1

modernen Wissenschaftstheoretikern, Wolfgang Stegmüller, in seinem


Buch Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft zum Ausdruck gebracht, indem er
dort sagt, daß jedes andere Wahrheitskriterium Einsicht und Evidenz als
letzten Bezugspunkt voraussetzt und daher seine Bestreitung zu einem
Widerspruch, hingegen jeder Versuch einer Begründung der Erkenntnis
hinter der Evidenz der Einsicht zu einem erkenntnistheoretischen Zirkel
führe.92
Dann kritisiert er allerdings – und gerade hinsichtlich dieses Punktes ist
Brentanos Theorie weit überlegen – Evidenz und evidente Einsicht als
letztes Wahrheitskriterium, indem er jede – auch die innere – Begründung
von Einsicht durch Evidenz für zirkulär erklärt, wie er andererseits jede
Widerlegung oder Verwerfung der Einsicht (und dies mit recht) als
widersprüchlich erkennt. So führt Stegmüllers Buch zur radikalen Skepsis,
was er auch selbst erkannt hat. Dieser radikale Skeptizismus oder Relati-
vismus in der Idee der Einsicht oder Evidenz kann nur überwunden
werden, wenn wir den das eigene Subjekt und den eigenen Akt transzen-
dierenden, seinsentdeckenden Charakter des Erkennens erfassen.
Ebenso wie Brentano und Stegmüller hat Aristoteles in seiner Zweiten
Analytik die Unmöglichkeit dargelegt, Beweise, Demonstrationen oder
sonstige Kriterien für Wahrheit anzunehmen, ohne daß diese auf letztlich
unmittelbar und von sich her einleuchtende oder evidente Prinzipien und
Sachverhalte zurückgeführt würden.93 Und so spricht er in der Zweiten
Analytik von der Noesis als dem höchsten Kriterium, durch das wir
Wahrheit feststellen. Stegmüllers Meinung, daß die innere Begründetheit
der evidenten Einsicht nicht genüge und noch einer äußeren (aber
unmöglichen) Begründung durch weitere Einsicht bedürfe, verkennt gerade
die von Brentano, Spinoza, Aristoteles und Scheler betonte Letzt- und
Selbstbegründung evidenter Erkenntnis. Man muß deshalb Brentano
energisch darin recht geben, daß er jeden der Evidenz äußerlichen Maßstab
der Erkenntnis der Wahrheit als einer Theorie über ein angebliches (nicht
92
Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft (München: Piper, 1970).
93
Vgl. Aristoteles, Zweite Analytik, übers. V. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand
Schöningh, 1953); Posterior Analytics, translated by H. Tredennick and E. S.
Forster, Oxford Classical Library (London: William Heinemann Ltd./Cambridge,
Mass.: Harvard University Press, vol. I 21996; vol. II 31976), Buch I, 2 ff.; Buch
II, 3; 7-9; und das letzte Kapitel II, 19.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 99

selber evidentes) letztes Kriterium für die Verläßlichkeit der Evidenz der
Wahrheit ablehnt. Wie Aristoteles und andere Autoren sagen, die letzte
Begründung aller anderen Kriterien und Beweise für Wahrheit muß auf
unmittelbare Evidenz zurückgehen. Also ist Evidenz bzw. evident wahre
Erkenntnis die ursprünglichste und letzte Instanz, von der her allein ein
Kriterium dafür, daß etwas wahr ist, gefunden werden kann.
Das schließt nicht aus, daß es im Sinne einer Prüfung echter Evidenz
unserer Erkenntnis Kriterien für wirkliche Evidenz geben kann, die sich
radikal von einer in der Philosophie überaus verbreiteten Scheinselbst-
verständlichkeit und Pseudoevidenz unterscheidet.94 Jede Kritik der
falschen Evidenz jedoch muß, wie Brentano hervorhebt, immer selber auf
in ihrer Verläßlichkeit aufzuklärende evidente Erkenntnisse zurückgehen.
Denn auch wenn man die Evidenz der Erkenntnis als einzig letztes
Kriterium der Wahrheit voll und ganz zugibt, muß und darf man allerdings
dennoch durchaus zugestehen, daß ein bloßes Beharren auf Evidenz und
Einsicht im Dialog nicht genügt noch der Schritt ist, den man vorzeitig
setzen darf, sondern daß es viele Formen der Argumentation und der
Unterscheidungen gibt, durch die anstatt einem trockenen Versichern, das
nach Hegel so gut wie ein anderes ist,95 Antworten auf sich ergebende
Fragen und Schwierigkeiten möglich sind und Voraussetzungen der
eigenen und der gegnerischen Position aufgedeckt werden können. Viele
Arten dialektischer Argumente inklusive von Argumenten ad hominem in
dem Sinne von Nachweisen von Eingeständnissen des Gegners, daß er das
von ihm geleugnete Wahre wieder voraussetzt, müssen entwickelt werden,
durch die die eigenen Evidenzen vom Dialogpartner selbst bekräftigt und
erhärtet und die Erhellung bzw. eine gewisse Bestätigung der Wahrheit

94
Vgl. Alice von Hildebrand-Jourdain, “On the Pseudo-Obvious,” in: Balduin
Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand
zum 80. Geburtstag, S. 25-32.
95
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 87. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15755 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S.
71)]:
Durch jene Versicherung erklärte sie ihr Sein für ihre Kraft; aber das unwahre Wissen
beruft sich ebenso darauf, daß es ist, und versichert, daß ihm die Wissenschaft nichts ist;
ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.

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100 KAPITEL1

durch einen durch kritischen Dialog erreichten Konsens des Gegners


gesucht werden. Deshalb ist die reine Berufung auf Evidenz als solche
ohne irgend etwas dazuzufügen und ohne diese Evidenz auch nach
Möglichkeit dialogisch mitzuteilen, ein Mißbrauch der Berufung auf
Evidenz in der Philosophie und führt auch oft dazu, daß Dinge, die gar
nicht wirklich evident sind, einfach in den Raum gestellt werden, wie wenn
sie apodiktische letzte Wahrheiten wären. Brentano selbst hat eine
unsympathische Neigung in dieser Richtung, gar nicht zu reden von
seinem Schüler Kraus.
Es wird allerdings öfter noch die penetrante Berufung auf Evidenz von
jenen Philosophen geübt, die theoretisch Gegner der Evidenz sind, aber de
facto nicht nur unzählige Evidenzen voraussetzen, sondern ihre
Prätentionen evidenter Erkenntnis auch ungeprüft stehen lassen.
Man muß also einen Evidenzanspruch, der nicht objektiv begründet ist,
sondern einfach erhoben wird, und eine objektive Evidenz unterscheiden,
die das letzte Wahrheitskriterium bildet. Und selbst diese objektive
Evidenz, nicht nur der falsche Evidenzanspruch, darf nicht so gehandhabt
werden, daß man sagt: „Dies und jenes ist ganz evident, und Du bist ein
Idiot und Dummkopf, wenn Du es nicht einsiehst“. Man sollte vielmehr
versuchen, Sachverhalte, die mit dem evidenten Sachverhalt zusammen-
hängen, Voraussetzungen, die vielleicht der andere selber macht, Punkte,
an denen er selber das Geleugnete zugibt und einsieht, geduldig auszu-
spüren und alle möglichen anderen Wege zu beschreiten, durch die man
eine Evidenz erhellen und anderen zugänglich machen kann. Darin, so
würde ich sagen, bedarf auch die erkenntnistheoretische Seite der Theorie
der Evidenz, auch wenn man diese verteidigt, einer Ergänzung durch eine
philosophische Dialektik. Die platonischen Dialoge sind ein klassisches
Beispiel hiefür.
Wenn man schließlich eine Wahrheitstheorie als Theorie über die
Erkenntnis der Wahrheit nimmt und fragt: Ist Evidenz eine gute Theorie
über die Erkenntnis der Wahrheit?, dann muß man sagen, daß Evidenz
nicht selber Erkenntnis ist, sondern vielmehr ein Merkmal reiner
Erkenntnis der selbst gegebenen Dinge und Sachverhalte. Also beschreibt
die Evidenztheorie nicht eigentlich die Form der Erkenntnis, in der wir uns
der Wahrheit eines Urteils oder des Bestehens eines Sachverhalts, der
geurteilt wird, versichern können. Vielmehr sind z.B. die Sinneswahrneh-

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 101

mung oder die geistige Einsicht oder die innere Erfahrung des Bewußtseins
Erkenntnisarten, die alle eine je eigene Evidenz besitzen, die sich auf je
eigene Gegenstandsbereiche bezieht. Diese verschiedenen Erkenntnis-
formen sind mit jeweils anderen besonderen Formen der Evidenz
verknüpft. In dieser Hinsicht ist die Evidenztheorie der Wahrheit nicht eine
Theorie über eine bestimmte Erkenntnisform, mit der wir Wahrheit
erkennen, sondern sie beschreibt ein Merkmal verschiedener Arten von
Erkenntnis, die dieses Merkmal der Evidenz in jeweils eigentümlicher
Weise an sich haben.

7. Evidenz als einziges Kriterium, um echte Evidenz von leichtfertiger


Berufung auf Evidenz zu unterscheiden

Ich möchte hier noch einmal unterstreichen, daß es entscheidend ist, um


die Evidenztheorie als Bedingung, Kriterium und Element der Erkenntnis
von Wahrheit korrekt zu entwickeln, daß man ganz klar unterscheidet
zwischen falschen und unbegründeten Evidenzansprüchen und wirklicher
Evidenz, und daß man vor allem echte Evidenz radikal von einem bloßen
subjektiven Gefühl der Sicherheit unterscheidet, und sie vielmehr nur als
ein Merkmal jener Erkenntnis ansieht, in der die Sache selbst der eindeutig
selbst gegebene, intelligible, einleuchtende oder auch notwendige Gegen-
stand ist, der uns durch seine ontologische Wahrheit bzw. Intelligibilität
sowie durch den Modus unseres transzendierenden und ihn erreichenden
Erkennens Evidenz spendet. Allerdings ist auch etwa die Tatsache, daß ich
eine Sinneswahrnehmung habe, daß ich diese Maiglöckchen hier auf dem
Tisch sehe, ebenso evident wie die Erkenntnis notwendiger Wahrheiten,
wenn auch in anderer Form. Wir müssen also eine Evidenz der Wahrneh-
mung der kontingenten Existenz, wie sie in höchster Form im einmaligen
Existenzkontakt des Cogito vorliegt, von der sehr verschiedenen Evidenz
in sich notwendiger und intelligibler Wesenheiten und Sachverhalte
unterscheiden.
In allen Fällen von Evidenz gilt es jedoch deutlich zu machen, daß es
sich bei Evidenz nicht um ein bloßes subjektives Gewißheitsgefühl
handelt, sondern vielmehr um ein objektives Element von Erkenntnis, das
aus einer Gewißheit und Unbezweifelbarkeit des unmittelbaren oder

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102 KAPITEL1

zwingend logisch vermittelten Kontaktes des Erkennenden mit seinem


Gegenstand selbst herrührt.
Evidenz als Frucht eines Beweises ist eine vermittelte oder mittelbare
Evidenz, wobei die letztere immer eine unmittelbare Evidenz voraussetzt
und letztlich auf sie zurückgeht. Nicht jedes Objekt erlaubt jedoch dem
menschlichen Intellekt, es mit unmittelbarer Evidenz zu erkennen. Evidenz
unmittelbarer Erkenntnis ist also einerseits vom Objekt her, andererseits
vom jeweiligen Zugang des Subjekts zum Sein geprägt. Sie liegt nicht
einfach im Subjekt, sondern entsteht in der Begegnung des Subjekts mit
dem Objekt, und vornehmlich in dem Einsehen der Sache, in dem intima
rei intus legere, wie Thomas von Aquin sich ausdrückt, in dem inneren
Lesen des Geistes in dem, was die Sache selbst ist. Darüber könnte man in
einer Erkenntnistheorie und nicht Wahrheitstheorie noch viel sagen, was in
diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden soll.96

8. Während Evidenz ein Kriterium der Wahrheit und ihrer Erkenntnis ist,
ist „Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz Erkennenden“
keinerlei philosophisches Kriterium für Wahrheit und Erkenntnis

Wir müssen unsere volle Zustimmung mit Brentanos Lehre von der
Evidenz als Wahrheitskriterium allerdings durch die scharfe Kritik
ergänzen, als könne Übereinstimmung unseres Urteils mit jenem eines mit
Evidenz Erkennenden ein philosophisches Wahrheitskriterium sein, sosehr
eine solche Übereinstimmung in anderen juridischen, persönlichen oder
religiösen Bereichen ein Wahrheitskriterium sein kann. Für die Philosophie
aber kann niemals die bloße äußere Übereinstimmung mit einem, von dem
wir glauben oder „wissen“, daß er mit Evidenz erkennt, Kriterium der
Wahrheit sein. Nur die Evidenz der eigenen Erkenntnis kann die Wahrheit
philosophischer Erkenntnis als Kriterium verbürgen, die Übereinstimmung
unseres Urteils mit dem eines anderen, mit Evidenz urteilenden Subjekts,
hingegen bedarf eines Kriteriums.
Wir müssen hier auch auf die tiefe Doppeldeutigkeit der Evidenztheorie
der Wahrheit hinweisen, die sich daraus ergibt, daß man einerseits das

96
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 2.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 103

wahre Urteil mit dem mit Evidenz gefällten Urteil gleichsetzt, andererseits
aber nur die objektive Übereinstimmung mit dem Urteil einer anderen
Person, die mit Evidenz urteilt, als Wesen der Wahrheit ansetzt. Das
letztere ist zwar eine unrichtige Beschreibung des Wesens der Wahrheit,
aber dennoch eine der (als Wesenstheorie der Wahrheit) noch irrigeren
ersten These überlegene Bemerkung, da ja offenbar viele Urteile wahr
sind, die nicht mit Evidenz erkannt und gefällt werden. Daher ist nur eine
Übereinstimmung mit dem Urteil des mit Evidenz Erkennenden, nicht aber
die tatsächliche Evidenz der Erkenntnis eine notwendige Bedingung bzw.
Folge der Wahrheit, während umgekehrt nur die tatsächliche Evidenz ein
letztes Wahrheitskriterium und ein wirkliches Kriterium philosophischer
Erkenntnis und Wahrheit ist, keineswegs die Übereinstimmung mit dem
Urteil eines mit Evidenz Urteilenden.

9. Der Einwand der Transzendentalphilosophie gegen Evidenz als


Kriterium von Wahrheit und eine neue Deutung der philosophischen
Methode der Transzendentalen Deduktion als Aufdeckung unleugbarer
„Wahrheiten“ und als im Einklang mit Brentanos Erkenntnis der
Evidenz als höchstes Wahrheitskriterium stehend – Evidente
Gegebenheiten, die auch bei ihrer Leugnung notwendig vorausgesetzt
werden und die objektive Evidenz der Bedingungen der Möglichkeit von
Erfahrung und Denken

Die großen deutschen Transzendentalphilosophen im Geiste Kants


lehnen jeden Bezug auf unmittelbare Evidenz ab und würden behaupten,
daß Evidenz selber sehr wohl eines Kriteriums und einer transzendentalen
Begründung bedürfe und daher keineswegs als letztes Kriterium der
Wahrheit des Urteils angesehen werden dürfe, wie Franz Brentano sich
dies vorstellt. Kant beabsichtigt, mit Hilfe der von ihm so benannten
Methode der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
und Prinzipien,97 darzutun, daß als notwendige Voraussetzung aller
97
Unter „Deduktion“ versteht Kant die Rechtfertigung eines Erkenntnisanspruchs
bzw. einer Erkenntnis als solcher, gehöre sie nun der empirischen oder der
apriorischen Erkenntnissphäre an. Unter transzendentaler Deduktion hingegen
versteht Kant die Rechtfertigung jener Erkenntnisse, deren Gegenstand

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104 KAPITEL1

Erfahrung und allen Denkens bestimmte Begriffe und bestimmte


Prinzipien vorausgesetzt sind, daß dieselben also die Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrung und Denken sind.98
Wenn Kant auch fälschlich objektive Evidenz und Notwendigkeit der so
vorausgesetzten Bedingungen abstreiten und ihr notwendiges Voraus-
gesetztsein für alle Erfahrung als Ersatz ihrer inneren Wirklichkeit und
Notwendigkeit setzen wollte, ja sogar eine „transzendentale Zufälligkeit“
der apriorischen Formen des menschlichen Verstandes im Verhältnis zu

notwendig-apriori bestehen. Kant versucht, diese Erkenntnisse dadurch zu


rechtfertigen, daß die Erfahrung und das Denken der Dinge ohne apriorische
Anschauungs- und Denkformen nicht möglich seien. Während wir mit Kant darin
übereinstimmen, daß das notwendige Vorausgesetztsein von bestimmten
Momenten und Inhalten ein vorzüglicher Weg ihres Aufweises ist, so weichen wir
radikal von Kants Auffassung darin ab, daß es sich dabei nur um subjektive
Bedingungen des Denkens und Erfahrens handle. Vielmehr, so suchen wir zu
zeigen, lassen sich nur objektive und in vielen Fällen in sich notwendige
Wesenheiten und Wesenssachverhalte auch als notwendige Voraussetzungen allen
Denkens und Erfahrens aufweisen.
98
Die Verwechslung zwischen (1) apriorisch objektiver Wesensnotwendigkeit und
(2) subjektiv transzendentaler Denknotwendigkeit und (3) Notwendigkeit im
Sinne bloß Bedingungen unseres Denkens und Urteilens, die wir überall
voraussetzen, durchzieht Kants ganzes Denken. Vgl. etwa seine Logik:
Alle Regeln, nach denen der Verstand verfährt, sind entweder nothwendig oder zufällig. Die
erstern sind solche, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes möglich wäre; die
letztern solche, ohne welche ein gewisser bestimmter Verstandesgebrauch nicht stattfinden
würde. Die zufälligen Regeln, welche von einem bestimmten Object der Erkenntniß
abhängen, sind so vielfältig als diese Objecte selbst. So giebt es z.B. einen
Verstandesgebrauch in der Mathematik, der Metaphysik, Moral u.s.w. Die Regeln dieses
besondern bestimmten Verstandesgebrauches in den gedachten Wissenschaften sind zufällig,
weil es zufällig ist, ob ich dieses oder jenes Object denke, worauf sich diese besondern
Regeln beziehen.
Wenn wir nun aber alle Erkenntniß, die wir bloß von den Gegenständen entlehnen
müssen, bei Seite setzen und lediglich auf den Verstandesgebrauch überhaupt reflectiren: so
entdecken wir diejenigen Regeln desselben, die in aller Absicht und unangesehen aller
besondern Objecte des Denkens schlechthin nothwendig sind, weil wir ohne sie gar nicht
denken würden. Diese Regeln können daher auch a priori d.i. unabhängig von aller
Erfahrung eingesehen werden, weil sie, ohne Unterschied der Gegenstände, bloß die
Bedingungen des Verstandesgebrauchs überhaupt, er mag rein oder empirisch sein,
enthalten.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 105

anderen Intellekten behauptet,99 so bleibt doch das von ihm aufgeworfene


Problem bzw. die von ihm verwendete Methode etwas überaus
Beachtenswertes.

99
Vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, § 77, V 405:
Es kommt hier also auf das Verhalten unseres Verstandes zur Urtheilskraft an, daß wir
nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese
Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen
anzumerken.
Wenn also unser Verstand und seine synthetisch apriorischen Strukturen im
Verhältnis zu einem anderen Verstand ‚zufällig‘ sind, so ist damit mindestens
gemeint, daß das Gegenteil (also andere Denkformen usf.) möglich sind. Das geht
aus Kants eigenen Erklärungen des Begriffs hervor:
Kant erklärt, was er unter ‚Zufälligkeit‘ versteht, am besten hinsichtlich der
Existenz in seiner vorkritischen Schrift „Vom einzig möglichen Beweisgrund...“
(1763), II/83:
Bis dahin erhellt, daß ein Dasein eines oder mehrerer Dinge selbst aller Möglichkeit zum
Grunde liege, und daß dieses Dasein an sich selbst nothwendig sei. Man kann hieraus auch
leichtlich den Begriff der Zufälligkeit abnehmen. Zufällig ist nach der Worterklärung, dessen
Gegentheil möglich ist. Um aber die Sacherklärung davon zu finden, so muß man auf
folgende Art unterscheiden. Im logischen Verstande ist dasjenige als ein Prädicat an einem
Subjecte zufällig, dessen Gegentheil demselben nicht widerspricht. Z.E. Einem Triangel
überhaupt ist es zufällig, daß er rechtwinklicht sei. Diese Zufälligkeit findet lediglich bei der
Beziehung der Prädicate zu ihren Subjecten statt und leidet, weil das Dasein kein Prädicat
ist, auch gar keine Anwendung auf die Existenz. Dagegen ist im Realverstande zufällig
dasjenige, dessen Nichtsein zu denken ist, das ist, dessen Aufhebung nicht alles Denkliche
aufhebt. Wenn demnach die innere Möglichkeit der Dinge ein gewisses Dasein nicht
voraussetzt, so ist dieses zufällig, weil sein Gegentheil die Möglichkeit nicht aufhebt. Oder:
Dasjenige Dasein, wodurch nicht das Materiale zu allem Denklichen gegeben ist, ohne
welches also noch etwas zu denken, das ist, möglich ist, dessen Gegentheil ist im
Realverstande möglich, und das ist in eben demselben Verstande auch zufällig.
Freilich ist Kants Implikation der ‚transzendentalen Zufälligkeit‘ der subjektiven
apriorischen Formen des Anschauens und Denkens letztlich widersprüchlich, da
Kant hier eine absolute Eigenschaft der subjektiven Denkformen zu erkennen
beansprucht, etwas, was er an anderer Stelle leugnet, etwa in der Kritik der reinen
Vernunft :
Wenn ich zu existirenden Dingen überhaupt etwas Nothwendiges denken muß, kein Ding
aber an sich selbst als nothwendig zu denken befugt bin, so folgt daraus unvermeidlich, daß
Nothwendigkeit und Zufälligkeit nicht die Dinge selbst angehen und treffen müsse, weil
sonst ein Widerspruch vorgehen würde; mithin keiner dieser beiden Grundsätze objectiv sei,
sondern sie allenfalls nur subjective Principien der Vernunft sein können, nämlich einerseits
zu allem, was als existirend gegeben ist, etwas zu suchen, das nothwendig ist, d.i. niemals
anderswo als bei einer a priori vollendeten Erklärung aufzuhören, andererseits aber auch

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106 KAPITEL1

Dabei beginnt Kant auch nicht schlechthin von vorne, so als ob er das
erste Mal in der Geschichte der Philosophie diese Methode verwendet
hätte. Vielmehr finden wir schon in der Antike, etwa in Platons Diskussion
mit dem Relativisten Protagoras im Dialog Theaetetus oder im vierten
Buch G der Metaphysik des Aristoteles, oder auch bei Augustinus und
Bonaventura, sowie bei vielen anderen Autoren den Versuch, etwa die
Existenz von Wahrheit, die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, usf.
dadurch aufzuweisen, daß gezeigt wird, daß jeder Versuch der Leugnung
dieser Prinzipien notwendig zu einem Widerspruch führt, daß diese
Gegebenheiten und Prinzipien also notwendig und schlechthin in jeder
Erfahrung und in jedem Denken oder Urteilen oder in jeder Unterschei-
dung oder Handlung vorausgesetzt werden.
Gewiß, wenn einmal die Begründung aller philosophischen Erkenntnis
in unmittelbaren, evidenten Einsichten und insbesondere in Einsichten in
notwendige Wesenheiten und Wesensgesetze als Grundmethode der Philo-
sophie erwiesen ist, so kann man unmöglich die bloße notwendige Voraus-
gesetztheit von Gegebenheiten für alle Erfahrung und für alles Denken für
einen hinreichenden Beweis ihrer Wahrheit ansehen. Vielmehr, und darin
geben wir indirekt Kant recht, könnte die notwendige Vorausgesetztheit
dieser Gegebenheiten bloß beweisen, daß das Subjekt nicht anders erfahren
oder denken kann als unter den bestimmten Voraussetzungen.
Sollte es daher nicht gelingen, mehr zu zeigen, und zwar, daß der Grund
für die notwendige Vorausgesetztheit dieser Gegebenheiten ein doppelter
ist, nämlich einmal ihre innere Evidenz und Notwendigkeit, dann aber auch
ihre besondere strukturelle Bedeutung für alles Denken und Erfahren, die
nachzuweisen eben das Besondere einer „transzendentalen Untersuchung“
darstellt, dann würde die „transzendentale Methode“ keinerlei Wahrheits-
beweise liefern. Wir könnten also so formulieren: Ohne mit Brentano die
Evidenz der Erkenntnis als höchstes Wahrheitskriterium anzuerkennen,
wäre eine transzendentale Ableitung absolut wertlos als Wahrheitskrite-
rium.
Wie verschieden Evidenz über etwas von dem Nachweis seiner
transzendentalen Vorausgesetztheit für alles Sein oder Erkennen und

diese Vollendung niemals zu hoffen, d.i. nichts Empirisches als unbedingt anzunehmen, und
sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 107

Erfahren ist, ergibt sich auch aus folgender Einsicht: Nicht alle
Sachverhalte, die in sich notwendig und absolut evident sind, werden
notwendig von allem Erfahren, Urteilen oder Denken vorausgesetzt. Zum
Beispiel ist das Wesensgesetz, das Stumpf, Husserl, Reinach und andere
wiederholt als Beispiel eines wesensnotwendigen Sachverhalts benützt
haben, daß nämlich die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach
zwischen rot und gelb liegt, zwar absolut notwendig und mit Evidenz
einsehbar, wird aber keineswegs überall und von jedem Urteil voraus-
gesetzt, nicht einmal von Urteilen über andere Sachverhalte aus der
Farbenlehre.
So ist also die Wesensnotwendigkeit als solche, das notwendige So-
sein-Müssen und Nicht-anders-sein-Können, sowie dessen Evidenz, scharf
von dem notwendigen Vorausgesetztsein durch jedes denkende Subjekt zu
unterscheiden. Auch umgekehrt ist der Nachweis, daß etwas immer und
überall vorausgesetzt wird, höchstens ein Nachweis dafür, daß etwas eine
notwendige subjektive Bedingung allen Denkens ist und nicht schon ein
Beweis für die objektive Notwendigkeit einer Sache. Auf den Unterschied
zwischen einer Denknötigung und Evidenz weist ja Brentano in obigem
Zitat überzeugend hin.
Dennoch mögen zwischen beiden Dingen, nämlich der Wesensnot-
wendigkeit einerseits und der notwendigen Vorausgesetztheit andererseits,
Beziehungen bestehen. Ja, es mag sich in der Tat umgekehrt als Kant
meint, der eine Einsicht in die subjektive Notwendigkeit einer Sache als
Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung für leichter als die Einsicht hält,
daß ein Sachverhalt in sich notwendig ist, verhalten. Es wird nämlich
gewöhnlich gerade umgekehrt das notwendige und absolute Vorausgesetzt-
sein von etwas für alles Erfahren und Denken erst dann evident, wenn die
innere und absolute Notwendigkeit von Wesensgesetzen in einem mit
Evidenz vollzogenen Erkenntnisakt verstanden wird.
Eine Einsicht in universale subjektive Denknotwendigkeiten als solche
ist nämlich unmöglich, worauf Brentano hinweist, wenn er in der zitierten
Stelle sagt: „kein Bewußtsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte
als solches die Wahrheit sichern.“ Die Verabsolutierung der transzendenta-
len Methode durch Kant ist überhaupt keine gültige Methode philoso-
phischer Erkenntnis geschweige denn die einzige. Ein letztlich gültiger
Nachweis der notwendigen und in sich begründeten, einsichtigen Voraus-

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108 KAPITEL1

gesetztheit einer Sache für alles Erfahren und Denken schließt deshalb
immer auch die Einsicht ein, daß die betreffenden Wirklichkeitsbereiche
entweder in sich selber notwendige Wesen und Wesenssachverhalte oder
unumgänglich vorausgesetzte reale Tatsachen, wie die eigene Existenz,
sind. Beide Arten von Gegenstand werden mit Evidenz erkannt und sind
gerade nur deshalb zusätzlich auch notwendige Bedingungen aller
Erfahrung.

9.1. Notwendige Voraussetzungen allen Denkens und Erfahrens als notwendige


Voraussetzungen des Seins selbst und als in sich notwendige
Gegebenheiten

Wie eine lange Tradition in der Geschichte der Philosophie, die von
Parmenides über Platon und Aristoteles, über Avicenna und Thomas von
Aquin bis Leibniz und Max Scheler reicht,100 betont hat, ist der erste
Gegenstand der Erkenntnis, und zwar ein Gegenstand, der prinzipiell und
immer vorausgesetzt wird, das Sein. Und ich möchte gerade an diesem
Beispiel Brentanos Bestehen auf Evidenz als höchstem Wahrheitskriterium
erweitern und begründen und gegen die transzendentalphilosophische
Behauptung verteidigen, es gäbe in Form der transzendentalen Deduktion
ein höheres Wahrheitskriterium als Evidenz. In der erwähnten evidenten
Erkenntnis sind es genau genommen verschiedene Dinge, die sich dem
Intellekt sowohl mit Evidenz enthüllen als sie auch notwendig von ihm in
jedem Gedanken und jeder Erfahrung vorausgesetzt werden. Da ist einmal
jene Evidenz, von der Leibniz und Scheler dachten, sie sei die erste und
ursprünglichste überhaupt, nämlich „daß es überhaupt etwas gibt und nicht
vielmehr nichts“. Jede Frage, jeder Zweifel, jede Wahrnehmung, jede
Erfahrung und jeder Gedanke überhaupt setzen diese Evidenz voraus, daß
es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.101

100
Vgl. dazu insbesondere Max Scheler, „Lehre von den Drei Tatsachen“, in: Max
Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, 2. Aufl,. hrsg. Maria Scheler (Bern:
Francke, 1957), S. 431-502. Vgl. auch Max Scheler, „Idealismus –Realismus“ in:
Max Scheler, Gesammelte Werke Bd. 9, Späte Schriften, S. 187-188.
101
Siehe Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung
des philosophischen Erkennens“, S. 93-94:

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 109

Denn auch im Zweifel sind wir davon überzeugt, daß wir zweifeln und
damit, daß es überhaupt etwas gibt, ganz abgesehen von den vielfältigen
Gegenständen, die wir im Zweifel darüber hinaus noch voraussetzen, wie
Augustinus gezeigt hat.102
Mit dieser von Scheler dargelegten Evidenz, daß es überhaupt etwas
gibt und nicht vielmehr nichts, und der zweiten, daß wir dies wissen und
überall voraussetzen, geraten wir gewiß in Widerspruch mit den radikalen
skeptischen Thesen des Gorgias, der angeblich seine verlorengegangene

Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich diejenige, die schon zur Konstituierung des
Wortes „Zweifel an etwas“ (an dem Sein von etwas, an der Wahrheit eines Satzes usw.) vor-
ausgesetzt ist, ist aber die evidente Einsicht, daß überhaupt Etwas sei oder, noch schärfer
gesagt, daß „nicht Nichts sei“ (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich das Nicht-Etwas
noch das Nicht-Da-sein von Etwas, sondern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen
Seinsnegation im negierten Sein das So-Sein oder Wesen und das Da-Sein noch nicht schei-
det). Der Tatbestand, daß nicht Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und
unmittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen
Verwunderung – wobei diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tatbestandes
freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn ihr unter den die philosophische Haltung
prädisponierenden Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter ... des Tatbestandes
des Seins auslöschende Demutshaltung vorangegangen ist. Also: Gleichgültig, auf welche
Sache ich mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren Seinskategorien schon ge-
nauer bestimmte Sache ... - als da z.B. sind Sosein - Dasein; Bewußtsein - Natursein; reales
Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein – Aktsein, desgleichen
Gegenstandsein – Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes „existentiales“ Sein;
substantielles, attributives, akzidentelles oder Beziehungsein; Möglichsein ... oder
Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-,
Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; aus-
schließlich mentales „fiktives“ Sein (z.B. der nur vorgestellte „goldene Berg“ oder das nur
vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein – ich hinblicke: an jedem
einzelnen beliebig herausgegriffenen Beispiel innerhalb einer oder mehrerer sich je
kreuzender sog. Arten des Seins, wie an jeder dieser herausgegriffenen Arten selbst wieder
wird mir diese Einsicht mit unumstößlicher Evidenz klar – so klar, daß sie an Klarheit alles
überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich gebracht werden kann. Freilich: Wer
gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die
eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts,
vollständig übersehen. Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht minder evidenten, aber der
Evidenz dieser Einsicht doch nachgeordneten Einsichten beginnen ...
Der zitierte Text beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Darum muß auch
jede Erörterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem der ‚Ordnung
der fundamentalsten Evidenzen‘ beginnen.“
102
Augustinus, De Trinitate, X, X, 14. Vgl. auch Augustinus, Contra Academicos, II,
xiii, 29, ebd., III, 23; De Vera Religione, XXXIX, 73, 205-7; De Trinitate, X, X,
14; ebd., XIV, vi, 8; ebd., XV, xii, 21; De Civitate Dei XI, xxvi.

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110 KAPITEL1

Schrift mit dem Satz einleitete: „Es gibt überhaupt nichts.“ Doch setzt eben
auch Gorgias mit diesem Satz selbst, mit dem Schreiben dieses Satzes, mit
der Überzeugung, die diesem Satz notwendig zugrunde liegen muß, wenn
er sinnvoll sein soll, mit der Sprache und Bedeutung, in der dieses Urteil
ausgesprochen wird, etwas voraus. Es ist völlig unsinnig, diesen Satz
niederzuschreiben, ohne eben diese Urevidenz vorauszusetzen, daß es
überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Es läßt sich leicht dartun,
daß diese Evidenz notwendig vorausgesetzt ist, zumindest von jedem, der
irgend etwas denkt, fragt, bezweifelt, redet. Der absolut Stumme oder
vielmehr nur der absolut Nichtdenkende mag diesen Satz nicht
voraussetzen, wird aber durch diese Absage an alles Denken und Erfahren
zum Zustand eines reinen vegetierenden Daseins reduziert.
Doch ist es noch viel wichtiger, daß die Tatsache, daß überhaupt etwas
ist und nicht vielmehr nichts, auch absolut evident ist, daß es in dieser
Tatsache um etwas geht, was sich als wirklich bestehend erschließt? Und
so ist es in der Tat: Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke
bestätigen uns zunächst diese urevidente Tatsache, daß es überhaupt etwas
gibt und nicht vielmehr nichts.
Mit dieser Evidenz, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr
nichts, ist auch die Evidenz verknüpft, daß sich das, was es gibt, in einer
Weise verhält, die nicht schlechthin von unserem Urteil abhängig bzw.
willkürlich setzbar ist. Diese Evidenz könnte auch als die Evidenz einer
gewissen Seinsautonomie bezeichnet werden, die dem ersten Sinn vom
„Ding an sich“ entspricht, den wir andernorts unterschieden haben.103
Darauf hat Platon in seiner Diskussion mit dem Relativisten Protagoras
hingewiesen, im Kontext der Diskussion der These des Protagoras: der
Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind und der
Nichtseienden, daß sie nicht sind.104 Auch andere Philosophen, unter ihnen
vor allem Augustinus, haben in der Diskussion mit der Skepsis und dem
Relativismus auf die Evidenz einer solchen Seinsautonomie hingewiesen.
Diese notwendig vorausgesetzte Autonomie des Seins ist nicht nur
evident, insofern sie einschließt, daß, wie sich die Dinge verhalten, nicht

103
Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenolological Founda-
tion for Classical Realism, Kap. 5-6.
104
Siehe Platon, Theaetetus, 152a.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 111

willkürlich von unserem Urteil festzulegen ist. (Zum Beispiel wäre auch
der Sachverhalt, daß alles sich bloß nach dem Subjekt richtet, eben dieser,
so daß auch nach der Voraussetzung des Protagoras die gegenteilige These,
daß nämlich der Mensch nicht das Maß aller Dinge sei, zugleich falsch
sein würde als er auch, wenn man sein Prinzip annimmt, wahr sein müßte.)
Vielmehr ist mit dieser Evidenz eines autonomen Sachverhalts gleichfalls
evident, daß Dinge an sich in einem zweiten Sinne dieses Terminus
bestehen, wie andernorts unterschieden wurde: nämlich als Dinge und
Sachverhalte, die nicht bloß irgend etwas sind (wie ja auch Gegenstände
von Träumen), worauf sich unser Urteil als auf ein vorgegebenes Etwas
bezieht, sondern daß es auch Dinge an sich in dem zweiten Sinne gibt, daß
sie prinzipiell nicht ausschließlich Konstituta und Noemata unserer Akte
sind.105 Denn von uns gesetzte Sachverhalte allein, wie sie in Träumen,
Märchen usf. vor uns treten, auch wenn selbst solche bewußtseinsab-
hängige Dinge und Sachverhalte die Seinsautonomie im ersten Sinne
besitzen, können nicht die einzige Realität sein. Auch dies ist strikt
evident. Denn es zeigt sich auf das Deutlichste, daß jedes Träumen,
Konstituieren, Sicheinbilden usf. ausschließlich dann möglich sind, wenn
nichteingebildete, nichtgeträumte, nichtkonstituierte Sachverhalte auch
bestehen, zumindest der, daß wir überhaupt etwas konstituieren und
träumen, sowie das Prinzip der Unterscheidung zwischen konstituierten
und nichtkonstituierten Sachverhalten und Dingen. Es kann wesenhaft kein
konstituiertes und radikal bewußtseinsabhängiges Sein geben, ohne daß es
zugleich auch Dinge und Sachverhalte gibt, wie den Akt des Träumens, die
Existenz des Objekts einer Täuschung, den Sachverhalt, daß so und nicht
anders konstituiert oder geträumt wird usf., die nicht selbst wieder
konstituiert sein können. Ansonsten gäbe es eben überhaupt schlechthin
keine Konstitution. Also auch die Existenz derjenigen Dinge an sich, die in
radikaler Unabhängigkeit vom Bewußtsein bestehen und nicht von ihm
konstituiert sein können, ist, trotz aller gegenteiligen Versicherungen Kants
und Husserls, schlechthin evident und wird notwendig von ihnen
vorausgesetzt, wie an anderer Stelle eingehend dargelegt wurde.106 Dabei

105
Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 5-6.
106
Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?. Che cos’è la filosofia?
(bilingual 4th ed.: engl./ital.), Collana: Testi a fronte n. 46 (Milano: Pompiano,

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112 KAPITEL1

zeigt sich mit der gleichen Evidenz zweierlei: erstens, daß es überhaupt
nichtkonstituiertes Sein gibt und geben muß und zweitens, daß jedes
Konstituieren und jede Behauptung von Konstitution solches nichtkonsti-
tuiertes Seiendes und seine Erkenntnis notwendig voraussetzen.
Damit sehen wir, daß die ontologischen Evidenzen, daß es überhaupt
etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß das Etwas, das es gibt, gegenüber
unserem Urteil und der Willkür von Urteilen in jedem Falle eine gewisse
Autonomie besitzen muß, und daß es schlechthin seinsautonome Dinge an
sich geben muß, von entsprechenden gnoseologischen Evidenzen begleitet
sind. Denn diese Dinge können uns ja nicht mit Gewißheit als ontische
Sachverhalte und Gegebenheiten zugänglich werden, wenn nicht zugleich
auch unsere Fähigkeit, sie zu erkennen, mit der gleichen Evidenz mitgege-
ben wäre. Denn es ist schlechthin einsichtig und wird auch notwendig von
allen bisherigen Erkenntnissen, sowie von jedem Denken und Behaupten
überhaupt vorausgesetzt, daß diese Sachverhalte nicht nur bestehen,
sondern uns auch als solche in ihrer Evidenz zugänglich werden können.
Ist diese gnoseologische Voraussetzung (wie auch manche ontologische)
nicht in dem Sinne gegeben, daß jeder Denkende notwendig die ausdrück-
liche Erkenntnis dieser Sachverhalte besäße, wären Skepsis und Relativis-
mus überhaupt nicht möglich. Was also mit diesen notwendigen Vorausset-
zungen gemeint ist, ist nicht, daß jeder sie bewußt erschaut, sondern bloß
dies, daß bei genügend eingehender und tiefdringender Untersuchung
dessen, was jeder überhaupt Behauptende und Denkende voraussetzt und
auch als evident vorfindet, diese Evidenzen sich finden.
Also kann man gegen die Grundvorausgesetztheit solcher Sachverhalte
nicht einwenden, daß viele dieselben leugnen. Diese Tatsache ist wohlbe-
kannt und wird hier in keiner Weise in Frage gestellt. Vielmehr handelt es
sich bei diesen notwendigen Vorausgesetztheiten für alles Erfahren und
Denken um Gegebenheiten und Erkenntnisse, die sich erst bei vorurteils-
loser Untersuchung der Fundamente allen Erfahrens und Denkens als
solche enthüllen. Es bedarf eines philosophischen Dialogs und der philoso-

2001), (with Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi and Saggio
integrativo by Josef Seifert), Kap. 4. Siehe Josef Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II, Kap. 1, 2. Siehe
auch Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap 4-5.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 113

phischen Überlegung, um auf dem Grund allen Erfahrens und Denkens


diese Voraussetzungen vorzufinden. Dies wird ja wohl auch von Kant in
seiner Lehre von der transzendentalen Deduktion nicht anders behauptet.
Mit dem Licht dieser Evidenzen ist auch jene Einsicht verbunden, die
Brentano voraussetzt, wenn er im oben zitierten Text sagt, daß es
unmöglich ist, daß ein Subjekt ein Urteil mit Evidenz fällt und ein anderer
das Gegenteil mit Evidenz erkennt, und die Aristoteles als eine evidente
Einsicht in das gewisseste und sicherste aller Prinzipien überhaupt
angesehen hat, nämlich die Einsicht in das Prinzip vom Widerspruch. Denn
in all den genannten Erkenntnissen, wie daß es überhaupt etwas gibt und
nicht vielmehr nichts, wird uns ja zugleich mit letzter Gewißheit gegeben,
daß dieselbe Sache nicht im selben Sinn zugleich sein und nicht sein, daß
derselbe Sachverhalt nicht im selben Sinne zugleich bestehen und auch
nicht bestehen kann. Dabei bleibt es noch ganz offen, ob dieses „zugleich“
in einem zeitlichen Sinne mitzuverstehen ist (nämlich bei all jenen
Sachverhalten, die zu einem Zeitpunkt bestehen, zu einem anderen nicht
bestehen können) oder als bloßes Kompatibelsein und zeitloses Zusam-
menbestehen aufzufassen ist, wie im Falle von schlechthin universalen und
zeitlosen Wesensgesetzen, die nicht bloß zur selben Zeit, sondern in
zeitloser Weise ihr Zusammenbestehen mit ihrem kontradiktorischen
Gegenteil ausschließen. Wie Augustinus in Contra Academicos aufweist,
setzt auch der radikalste skeptische Zweifel noch dies voraus, daß der
bezweifelte Sachverhalt, ob es nämlich überhaupt Wahrheit gibt, als
unverträglich mit seinem Gegenteil erkannt werden muß, um überhaupt
sinnvollen Zweifel zu ermöglichen. Nur weil ich weiß, daß nur entweder
Wahrheit besteht oder es keine Wahrheit gibt, daß aber nicht beides
zusammen möglich sein kann, kann ich überhaupt sinnvoll zweifeln, sonst
wäre der Zweifel gegenstandslos, da er notwendig zwei kontradiktorische
Sachverhalte betrachtet und schwankt, welchem von ihnen er erkenntnis-
und urteilsmäßige Zustimmung erteilen soll.
Jeder Gedanke überhaupt, jede Frage, jeder Zweifel, und erst recht jedes
Urteil setzt diese elementarste Einsicht voraus, daß das Sein und Bestehen
einer Sache oder eines Sachverhalts mit ihrem Nichtsein oder
Nichtbestehen im selben Sinne unverträglich und absolut inkompatibel ist.
Und die Wahrheit dieser Einsicht ist, der Brentano’schen Philosophie
entsprechend, allein in Evidenz letztbegründet. Nicht nur benötige ich

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114 KAPITEL1

schon Evidenz, um überhaupt das notwendige Vorausgesetztsein zu


erkennen (auch darüber muß ich ja evidente Erkenntnis haben), sondern
erst recht benötige ich sie, um die inhaltliche Wahrheit dieser
Voraussetzungen zu erkennen.

9.2. Die volle Berechtigung der These Brentanos, daß Evidenz allein das letzte
und auch von jeder transzendentalen Theorie vorausgesetzte
Wahrheitskriterium ist und die von Brentano übersehene Notwendigkeit,
dieses Brentano’sche Wahrheitskriterium der Evidenz im Licht der
Wahrheit als Adäquatio und der Transzendenz der Erkenntnis neu zu
deuten

Es ist nicht bloß entscheidend zu erkennen, daß dieses Widerspruchs-


prinzip von uns in jedem Gedanken vorausgesetzt wird, sondern auch, daß
es sich vom Wesen des Seins her als absolut notwendig, als ein
schlechthinniges So-sein-Müssen dem Geiste enthüllt, also einsichtig und
evident ist. Damit wird jedoch auch erkannt, daß zwischen einem solchen
notwendigen So-sein-Müssen von Sachverhalten und einer bloßen
psychologischen oder transzendentalen Denknotwendigkeit ein Abgrund
klafft, was Brentano so beredt hervorhebt, ohne allerdings zu verstehen,
daß dieses letzte Evidenzkriterium der Wahrheit notwendig das Wesen der
Wahrheit des Urteils als Adäquatio und die Transzendenz der Erkenntnis
voraussetzt. Die eine Notwendigkeit erschließt sich als absolute und im
Wesen der Sache selbst begründete dem Geist und leuchtet ihm ein,
während eine bloß psychologische oder transzendentale Denknotwendig-
keit eine radikal blinde Notwendigkeit wäre, die gerade jeder Einsichtig-
keit der bloß notwendig gedachten Sachverhalte notwendig entbehren
müßte. Denn wäre sie von einer solchen Einsichtigkeit getragen, wäre sie
eben nicht mehr bloß eine subjektive Denknotwendigkeit, sondern das
Innewerden der Wahrheit, von dem Husserl spricht und in der sich das
objektive So-sein-Müssen der Sache selbst zeigt, was eben als evident im
präzisen Sinne dieses Terminus anzusprechen ist. Doch gerade hier
kommen wir zu einer wesentlichen Kritik der Theorie der Evidenz bei
Brentano:

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 115

Mit all den genannten Evidenzen berühren wir nämlich nicht nur diese
Sachverhalte selber in einem Einsehen und einer Art erkennender Adäqua-
tion, ohne welche Evidenz unmöglich wäre, sondern erfassen auch eine
Reihe weiterer Sachverhalte, die ebenfalls notwendig von jedem Denken
vorausgesetzt werden und die Natur der menschlichen Erkenntnis über-
haupt betreffen. Denn daß wir in diesen notwendigen Voraussetzungen
objektiv bestehende und notwendige Sachverhalte erfassen, erschließt sich
uns nur dann, wenn wir auch den rezeptiv-vorfindenden, den seinsenthül-
lenden, seinsentdeckenden Charakter des Erkennens als solchen erfassen.
Wie immer sich das Sein verhalten mag, wir verstehen, daß es ausschließ-
lich dann erkannt wird, wenn wir nicht einfach setzen und festlegen, wie es
unserer Willkür entspricht, sondern wenn wir es als das auffassen, was es
ist. Auch jede Deutung des Erkennens als spontan-konstitutiven Prozeß
setzt diese Evidenz voraus und setzt sie mit Notwendigkeit voraus. Denn
nehmen wir einmal an, das Erkennen sei nicht rezeptiv, es sei nicht
seinsentdeckend, sondern schlechthin seinssetzend, so fragt es sich, wie
wir diesen Sachverhalt selbst erkennen. Wenn wir ihn bloß setzen, dann ist
er nicht so oder zumindest vielleicht nicht so, wie wir ihn setzen und damit
erkennen wir ihn überhaupt nicht. Auch für die Erkenntnis der konstituti-
ven, seinssetzenden Struktur menschlichen Erkennens setzen wir gerade
das voraus, was wir leugnen, nämlich daß diese seinssetzende Struktur des
Geistes erkannt wird, d.h. daß die objektiv bestehende Erkenntnisstruktur
als seinssetzend erfaßt wird, d.h. daß wir entdecken, daß das Erkennen
tatsächlich eine solche spontan-tätige Struktur besitzt. Würden wir dies
nicht wenigstens entdecken, so wäre die diesbezügliche Erkenntnis eben
keine Erkenntnis mehr. All dies enthüllt sich mit letzter Evidenz als in sich
selbst so seiend und notwendig, aber auch als notwendig von jedem
Denken und Urteilen und insbesondere von jedem evidenten Erkennen
vorausgesetzt.
Mit diesem rezeptiv-entdeckenden und jedenfalls, wenn wir in
transzendentaler Allgemeinheit (im scholastischen Sinne dieses Terminus)
sprechen, dem seinsenthüllenden Charakter des Erkennens, der eben darin
besteht, daß das Seiende so gefaßt und aufgefaßt wird, wie es tatsächlich
ist, ist auch ein weiteres Wesensmerkmal des Erkennens verknüpft. Die
diesbezüglichen Evidenzen setzen zugleich die Transzendenz und die
transzendente Leistung des Erkennens voraus. In dem Erfassen, daß es

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116 KAPITEL1

überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß von zwei kontradik-
torischen Sachverhalten nicht beide zusammen bestehen können und von
unendlich vielen anderen Sachen und Sachverhalten erkennen wir etwas,
das in seiner strikten Notwendigkeit jenseits und außerhalb unseres
Erkenntnisaktes liegt.
Und doch erkennen wir es ausschließlich, und auch dies ist ein
wesensnotwendiges Gesetz, kraft unserer Erkenntnis, durch den Vollzug
eines bewußten Aktes. Wenn dies beides jedoch zugleich gegeben ist, dann
erweist sich darin dieser staunenswerte Zug des Erkennens, den man als
seine Transzendenz bezeichnen kann, d.h. das Über-sich-selbst-Hinausge-
hen des Erkenntnisaktes zu dem, was ist, ohne welche Transzendenz die
Brentano’sche Lehre, daß Evidenz das höchste Wahrheitskriterium ist,
keine Begründung fände. Wären alle Objekte unseres Bewußtseins bloß in
immanenter Transzendenz, von der Husserl seit 1905 der Meinung war,
daß sie die einzige Transzendenz wäre,107 gegeben, so wäre ein gewisses
Hinausgehen über die immanenten Bewußtseinsvollzüge und Bewußtseins-
zustände zu den Noemata solcher bewußter Akte durchaus möglich, aber
die eigentliche Transzendenz zu einem autonomen Sein, das nicht bloß
Gegenstand unseres Denkens ist, wäre unter dieser Voraussetzung nicht
gegeben. Wenn wir daher eingesehen haben, daß das Widerspruchsprinzip
und unendlich viele andere notwendig vorausgesetzte und in sich
notwendige Wahrheiten im zweiten Sinne dieses Wortes „in sich selber“
bestehen, so haben wir auch eine viel tiefere Transzendenz des Erkennens
eingesehen, nämlich die Fähigkeit des Geistes, nicht bloß zu einem Objekt
hinzugehen, das unseren bewußten Akten als intentionaler Gegenstand
gegenübersteht, sondern über und durch den Prozeß des Bewußtseins
hinauszugehen, oder besser durch und kraft eines bewußten Aktes zu
jenem Sein selbst hinzugehen, das sich in seiner Autonomie gegenüber
unserem Erkenntnisakt erschließt. Gerade diesen Wesenszug bezeichnen
wir als die Transzendenz des Erkennens im tieferen Sinn dieses Wortes,
d.h. dieses über die Grenzen des Bewußtseins zur autonomen Wirklichkeit
der Dinge an sich Hingehenkönnen. Und gerade diese Transzendenz der
Erkenntnis ist Bedingung jener objektiven Evidenz, von der Brentano so

107
Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus
Nijhoff, 1950), Beilagen 2 und 3.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 117

beredt spricht. Auch diesen transzendenten Zug des Erkennens, diese


rezeptive, seinsentdeckende Transzendenz der bewußten Erkenntnisakte
haben wir in all dem als notwendige Voraussetzung vorgefunden, was sich
unserem Erkennen bisher enthüllt hat.
In all diesen Voraussetzungen und zugleich, was noch viel wichtiger ist,
evidenten Wahrheiten, haben wir die entsprechenden Sachverhalte auch
urteilsmäßig gefaßt. Wir haben jenes eigentümliche Gebilde hervorge-
bracht, das Brentano fälschlich mit dem psychischen Akt des Urteilens
identifiziert und das wir mit Alexander Pfänder als Gedanken bezeichnen
können und das vom Denkakt bzw. vom bewußten Denkprozeß selbst
abgelöst und von vielen Subjekten gedacht werden kann, das durch die
Sprache ausgedrückt und mitgeteilt werden kann usf., sosehr es auch
wiederum hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Realität nur volle
Aktualität des Daseins gewinnt, wenn es als Urteilsinhalt vom lebendigen
Geist gedacht und behauptet wird und gleichsam in den Urteilsakt
eingesenkt ist, das aber zugleich alle von Menschen gedachte Urteile
unendlich übersteigt und als Träger der Urteilswahrheit unmöglich vom
Menschengeist abhängen kann.108
In jenen Gedankengebilden nun, die wir als Urteile oder Propositionen
bezeichnen können, wie sie beim Ausdruck jeder Behauptung und jeder
These, etwa der vorhergehenden, impliziert wird, sehen wir weitere
notwendig vorausgesetzte Gegebenheiten. Und zwar sind nicht alle
objektiven Sachverhalte hinsichtlich der Struktur und Zusammensetzung
des Urteils, der Funktion der Kopula usf. schlechthin vorausgesetzt, doch
ist gewiß die behauptende und verbindende Funktion der Kopula und der
Charakter des Urteils als einen Sachverhalt behauptend und hinstellend
notwendig von jedem Denken vorausgesetzt.
Denn schon für den Zweifel und die Frage, wie insbesondere
Augustinus erwiesen hat, sind gewisse Urteile vorausgesetzt, wie etwa das,
daß ich zweifle, daß ich denke usf. In diesen Urteilen nun setzen wir
108
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 4, sowie ders., “Is the Existence of
Truth dependent upon Man?” in: Review of Metaphysics 35, 1982, 461-481;
deutsche Fassung: „Könnte die Wahrheit nur durch den menschlichen Geist
Bestand haben? Über den ontologischen Status der logischen Urteilswahrheit“ in:
Vom Wahren und vom Guten, Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin
Schwarz (Salzburg: St.Peter Verlag, 1983).

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118 KAPITEL1

notwendig voraus, daß diese Urteile wahr sind. Sowohl die wahren als
auch die falschen Urteile erheben ferner notwendig einen Wahrheits-
anspruch, den wir als solchen unbedingt voraussetzen, wenn wir urteilen,
den wir aber zugleich als objektiv im Wesen des Urteils selbst notwendig
verwurzelt erkennen.
Ist dieser Wahrheitsanspruch gerechtfertigt, ist das Urteil wahr bzw.
sein Wahrheitsanspruch, in seiner behauptenden Setzung mit dem
Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen, ist dann und nur dann
erfüllt, wenn es wirklich wahr ist.
Wiederum enthüllen sich diese zwei Momente, das notwendige
Vorausgesetztsein von allem Denken und das dieses letztlich begründende
notwendige So-sein-Müssen, in unzertrennlicher Einheit. Indem wir nun
den Wahrheitsanspruch des Urteils erkennen, erkennen wir, daß dieser
eben in dem setzenden, einen Sachverhalt behauptenden Grundzug des
Urteils wurzelt und darin besteht, daß das Urteil von seinem Wesen her,
wie insbesondere Alexander Pfänder ausführlich entfaltet hat, den
Anspruch erheben muß, objektiv zu sein, d.h. in seiner setzenden
Behauptung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst
zusammenzutreffen und durch diese Übereinstimmung bzw. dieses eigen-
tümliche Zusammentreffen selbst wahr zu sein.
Kein Urteil kann gefällt werden, auch nicht das, daß alles zweifelhaft
ist, ja nicht einmal das, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, ohne schon
wieder Wahrheit notwendig vorauszusetzen und ohne mit diesem von jeder
Willkür unsererseits unabhängigen Wesensgesetz und Wesensmerkmal
jeden Urteils und also auch unseres Urteils konfrontiert zu sein, daß dieses
eben wahr zu sein beansprucht. D.h. jedes Urteil, selbst dasjenige, das
Wahrheit leugnen wollte, setzt voraus, daß der in ihm gesetzte Sachverhalt,
in unserem Falle, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, wirklich besteht
und daß das Urteil in seiner setzenden Hinstellung dieses Sachverhalts mit
dem Selbstverhalten der Dinge zusammentrifft, also mit der Tatsache
übereinstimmt, daß es eben überhaupt keine Wahrheit gibt. Und gerade aus
diesem Grunde der notwendigen Vorausgesetztheit von Wahrheit ist die
Position des radikalen Skeptizismus und erst recht die These der
Wahrheitsleugnung in sich widersprüchlich und damit notwendig falsch:
denn wenn wir erkannt haben, daß von zwei kontradiktorischen Sachver-
halten nicht beide bestehen können, dann haben wir damit auch erkannt,

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 119

daß eine These, die ihren eigenen Widerspruch notwendig einschließt,


notwendig falsch sein muß, da eben das Bestehen und zugleich auch
Nichtbestehen irgendeines Sachverhalts sich als in sich unmöglich
erwiesen hat.
Indem wir jedoch all dies erkennen, erweist sich nicht nur die Annahme,
daß einem und demselben dieselbe Eigenschaft zukomme und auch nicht
zukomme, oder daß derselbe Sachverhalt zugleich bestehe und nicht
bestehe, als in sich unmöglich, sondern so zeigt sich auch das Wider-
spruchsprinzip in seinem logischen Sinne als notwendig wahr. In seinem
logischen Sinne nämlich bezieht es sich auf die Urteile selbst und sagt von
einem Paar von kontradiktorischen Urteilen, von denen das eine genau das
behauptet, was das andere leugnet, daß sie unmöglich zugleich wahr sein
können, daß sie unmöglich zugleich in ihrer Setzung mit dem Sein
zusammentreffen und mit ihm in Übereinstimmung sein können. Dies ist
wesensgesetzlich unmöglich, wenn das ontologische Widerspruchsprinzip
wahr ist und wenn wir das Wesen der Urteilswahrheit richtig erkannt
haben.
Da aber die bisher genannten Sachverhalte sich nicht nur als notwendige
Voraussetzungen jeden Denkens und Urteilens enthüllen, sondern auch als
in sich bestehende und in sich notwendige Sachverhalte, so zeigt sich nicht
nur die Notwendigkeit des Wahrheitsanspruchs und die notwendige
Vorausgesetztheit des Widerspruchsprinzips im logischen Sinne in allem
Denken, sondern auch die notwendige Existenz von Wahrheit, die
Notwendigkeit, daß in jedem Denken und Urteilen implizite oder explizite
Sachverhalte erkannt werden, die wirklich bestehen und daß die Urteile,
die diese Sachverhalte behaupten, tatsächlich wahr sind.
Vieles andere ließe sich in ähnlicher Weise als notwendig vorausgesetzt
und zugleich als notwendig bestehend erweisen und es wird wohl keinem
Menschen möglich sein, die zumindest formal unendliche Zahl solcher
Wahrheiten in der Sprache auszudrücken oder auch nur die material-
inhaltlich verschiedenen notwendigen Sachverhalte alle auszuschöpfen, die
hier zu finden sind. Sowohl im ontologischen als auch im logischen Sinne
könnte man das Prinzip der Identität, des ausgeschlossenen Dritten, des
zureichenden Grundes und vieles andere als gleichermaßen notwendig
vorausgesetzt und in sich notwendig erkennen. Darauf wollen wir im
begrenzten Rahmen dieses Kapitels nicht weiter eingehen oder zeigen, in

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120 KAPITEL1

welchem Sinne die von Kant für bloße transzendentale Voraussetzungen


alles Denkens gehaltenen Prinzipien, wie das Kausalprinzip, als Formulie-
rungen in sich selber bestehender Prinzipien und Sachverhalte wahr und in
ihrer Wahrheit evident sind.109
Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht ganz andersartige notwendige
Voraussetzungen auf anderen Gebieten bestehen, die dennoch für alles
Erfahren und Denken vorausgesetzt, bzw. schon in jedem ersten Erfahren
und Denken gegeben sind. An dieser Stelle ist es unumgänglich, den Sinn
des Begriffs der Voraussetzung noch deutlicher zu klären. Was wir
meinen, ist nicht eine Art von Eingeborenheit, kraft deren wir bestimmte
Dinge vor jeder Erfahrung schon voraussetzen würden, sondern worum es
geht, ist vielmehr die These, daß in jedem Denken und Erfahren diese
Gegebenheiten schon mitgegeben sein müssen. Nur weil sie jedoch selbst
Gegenstand der Erfahrung und des Kennenlernens sind, nur weil sie sich
selbst uns erschließen und nicht schon vom Subjekt her an die Erfahrungs-
gegenstände herangetragen oder in sie hineingetragen werden, handelt es
sich bei diesen Voraussetzungen ja um objektiv bestehende Gegebenheiten
bzw. können sie als solche überhaupt erkannt werden.
Auch auf den Begriff der Transzendentalität müssen wir hier kurz
eingehen, haben wir doch in früheren Werken jede Transzendentalität oder
transzendentale Vorausgesetztheit notwendiger Sachverhalte emphatisch
geleugnet110 und gerade als das Gegenteil ihrer Transzendenz bezeichnet,
da ihre Transzendentalität im kantischen Sinne eben bedeuten würde, daß
sie nicht auf der Objektseite und als in sich selbst notwendig eingesehen
werden, sondern von der Subjektseite her, also vom Subjekt her bloß
notwendig gedacht werden und die Quelle ihrer Notwendigkeit eben nicht
von der Sache, sondern von der Subjektivität her stammt. Wie Hoeres und
andere gezeigt haben, wäre die Annahme einer derartigen Setzung der
Notwendigkeit vom Subjekt her nicht nur völlig unnotwendig, sondern
auch unhaltbar, wenn sich diese Notwendigkeit eben durch sich selbst und

109
Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Wider-
spruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant (Freiburg/München: Karl Alber,
2001).
110
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit.

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 121

durch die Notwendigkeit der Sachen selbst begründet.111 In dieser Frage


haben wir unsere Meinung nicht im geringsten geändert.
Woher kommt dann die positivere Verwendung des Terminus
„transzendentale Voraussetzungen“? Einfach daher, daß wir im gegebenen
Kontext, einem positiven Anliegen Kants Rechnung tragend und doch
zugleich die von ihm vorgeschlagene Methode radikalst revidierend,
fragen, ob es nicht Sachverhalte gibt, die ganz abgesehen von ihrer
Evidenz (die sich ja auch in vielen nicht solcherart vorausgesetzten
Sachverhalten findet) nicht bloß in sich notwendig und einleuchtend sind,
sondern auch schlechthin notwendig von allem Erfahren und Denken
vorausgesetzt werden. Gerade um solche Voraussetzungen geht es uns
hier, wobei wir jedoch zugleich zu zeigen suchen, daß diese Vorausset-
zungen ihre eigentliche Dignität nicht aus ihrem notwendigen transzenden-
talen Vorausgesetztsein für alles Denken und Erfahren, sondern aus ihrer
objektiven und inneren Notwendigkeit beziehen.
Nun fragt es sich auch, ob ausschließlich in sich notwendige Sachver-
halte auch notwendig vorausgesetzt werden oder ob es auch viele rein
existentielle und faktische Voraussetzungen gibt, die mit gleicher Notwen-
digkeit von uns vorausgesetzt werden wie in sich notwendige Sachverhalte.
Während jedoch bei den letzteren der Grund ihres notwendigen Voraus-
gesetztseins in ihrer inneren Notwendigkeit läge, bestünde der Grund des
notwendigen Vorausgesetztseins bei den faktisch-existentiellen Vorausset-
zungen nicht in ihrer inneren Notwendigkeit, sondern in deren unumgäng-
licher objektiver Vorausgesetztheit für die entsprechenden Erkenntnisse
und Inhalte bzw. Erfahrungen. Denn da Erfahrungen und Erkenntnisse ja
nicht in sich notwendige Seiende sind, sondern in uns nur faktisch
existieren, da unser Erkennen und Erfahren nicht ein göttlich-notwendiges
ist, so leuchtet auch ein, daß es für alles Erfahren und Denken Voraus-
setzungen gibt, die nicht der intelligiblen Ordnung des absolut So-sein-
Müssenden angehören, sondern die ebenso wie unser Denken und
Erkennen selbst der Sphäre des Faktisch-Kontingenten zugehören. Unter

111
Vgl. Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie
(Stuttgart: Kohlhammer, 1969); “Critique of the Transcendental Metaphysics of
Knowing, Phenomenology and Neo-Scholastic Transcendental Philosophy,”
Aletheia (1978) I,1, 353-69.

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122 KAPITEL1

solchen notwendigen Vorausgesetztheiten für alle Erfahrung und alles


Denken ist zunächst unsere eigene Existenz, sowie unser Charakter als
Subjekt. Denn ohne zu existieren, können wir auch nicht erfahren und
denken. Wir berühren hier die faktisch-tatsächliche Vorausgesetztheit des
eigenen Seins, Erfahrens, Denkens für jeden eigenen Erkenntnis- oder
Erfahrungsinhalt.
Aber auch hier gibt es einen allgemein-universalen Sachverhalt, in
dessen Licht wir auch diese faktische Evidenz gewinnen. Denn wir sehen
ein, daß dies nicht nur bei unserer Existenz so ist, daß sie für unser Denken
und Erfahren vorausgesetzt ist, sondern daß es sich vielmehr schlechthin
allgemein so verhält, daß jedes denkende und erfahrende Subjekt existieren
muß, um zu denken und zu erfahren. Gleichwohl setzt ein jeder von uns
zugleich auch seine eigene, je individuelle und kontingente Existenz
voraus, sein eigenes Ich. Und in diesem Sinne handelt es sich hier um
faktisch-kontingente Sachen und Sachverhalte, die gleichwohl unvermeid-
lich von jedem Erfahren und Denken vorausgesetzt werden. Wir meinen
hier selbstverständlich nicht jedes Erfahren und Denken überhaupt, oder
den im Cogito miterfaßten universalen Sachverhalt, daß jedes reale
Denken und Zweifeln in jeder möglichen Welt ein denkendes Subjekt
voraussetzt (qui dubitat, est/vivit), sondern das je eigene Denken, das uns
im cogito, sum unzweifelbar als reales und lebendiges gegeben ist und
unsere eigene Existenz voraussetzt.
Doch auch außerhalb den metaphysischen, erkenntnistheoretischen und
logischen Sachverhalten, sowie den existentiellen, von denen eben die
Rede war, gibt es noch weitere notwendige und universale Voraus-
setzungen, die sich auf notwendige und allgemeine Wahrheiten beziehen
und von jedem Denken und Erfahren vorgefunden bzw. für es vorausge-
setzt sind im oben erörterten Sinne. Dazu gehören auch axiologische
Erkenntnisse, wie Augustinus in seiner brillanten Analyse des Zweifels
und seiner notwendigen Wahrheitsvoraussetzungen erweist. Denn nicht nur
jedes Urteil, schon jeder Zweifel setzt gewisse Werterkenntnisse und
axiologische Erkenntnisse voraus, z.B. daß Erkenntnis besser ist als
Zweifel, daß Irrtum umgekehrt ein größeres Übel ist als Zweifel. Ohne
diese Erkenntnis könnte nicht sinnvoll gezweifelt werden, da der Grund
des Zweifels in nichts anderem liegen kann, als Irrtümer und Täuschungen
vermeiden zu wollen und also einzusehen, daß die Ungewißheit des

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 123

Zweifels der falschen Sicherheit der Täuschung und des Irrtums vorzu-
ziehen ist. Wenn ferner die Wahrheit und ihre Erkenntnis kein Gut wären,
das erstrebenswert ist, so wäre auch ohne diese Voraussetzung der Zweifel
absolut sinnlos. Ja, eine nähere Analyse zeigt, daß nicht bloß die Tatsache,
daß Erkenntnis ein Gut ist, sondern auch jene, daß es sowohl für uns, für
die Person, als auch in sich selber im Sinne des Wertes ein Gut ist,
vorausgesetzt ist, vorausgesetzt jedoch gerade, weil es einleuchtenderweise
und evidenterweise notwendig so ist.
Jeder Grund dafür, ein Buch zu schreiben, von einer Erkenntnis zu
überzeugen, sie anderen mitzuteilen, bräche ohne jede axiologische
Voraussetzung zusammen. Denn ohne eine solche Werterkenntnis, die
schon in jedem Denken und Erfahren vorausgesetzt ist, wäre es ja ganz
gleich gut, irgendwelche falschen Dinge zu behaupten wie die Wahrheit zu
sagen, sich im Irrtum zu befinden wie zu erkennen, und also wäre jedes
Streben, jedes Tun, jedes Urteilen, jedes Überzeugenwollen, jedes sich
kraft des Zweifels von Irrtum Freihaltenwollen einer intelligibel-rationalen
Grundlage völlig beraubt. Wenn jemand die Evidenz von Werten bestreiten
wollte und versuchte, uns von deren Nichtexistenz zu überzeugen, so
würde er dennoch gerade in diesem Akt des uns Überzeugenwollens
voraussetzen, daß es Werte gibt. Denn zumindest darin, daß wir unseren
Irrtum von ihrer objektiven Existenz, oder den von unserem Gesprächs-
partner vermeinten Dogmatismus überwinden, muß von ihm als Ziel
unseres Gesprächs und damit als erstrebenswert angesehen werden.
Vielleicht könnte jemand einwenden, daß das Gute, das gewiß in jeder
Handlung vorausgesetzt ist, doch bloß das rein subjektiv Lustvolle sein
mag, da jemand ja rein dadurch motiviert sein könnte, als Ausdruck seiner
subjektiven Herrschsucht uns von einer Tatsache zu überzeugen, daß also
für ihn der Dialog bloß ein Spiel wäre, in dem es darum ginge, die
subjektive Lust intellektueller Superiorität zu erleben. Doch zunächst ließe
sich darauf antworten, daß gewiß auch damit eine irgendwie geachtete
Bedeutsamkeit vorausgesetzt wird und daher Handeln und Denken ohne
irgendeine axiologische Überzeugung unmöglich sind. Ganz abgesehen
davon jedoch erhebt sich die Frage, ob nicht mehr als die subjektive Lust
daran, uns zu überzeugen, bei jedem sinnvollen Gespräch vorausgesetzt
wird, da es ja nicht nur darum geht, daß sowohl der eine als auch der
andere Gesprächspartner diese subjektive Lust erleben, sondern daß in

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124 KAPITEL1

einem ernsthaften Gespräch beide davon überzeugt sein müssen, daß die
Erkenntnis, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten, wirklich wertvoll ist
und daß die Unwissenheit und der Irrtum über die Wahrheit und
Wirklichkeit ein zu meidendes Übel sind. Mit dieser Erkenntnis wird
jedoch ein Wert vorausgesetzt, der nicht bloß in der subjektiven Lust
besteht, sondern der das objektive Urteil zuläßt, und vor allem einen nicht
bloß für mich sondern in sich bestehenden Wert darstellt.

10. Abschließende Bemerkung zur Verteidigung der Brentano’schen Lehre


von der Evidenz als letztem Wahrheitskriterium und zur Verwerfung
seiner Loslösung der Evidenz von der Adäquatio

Es hat sich gezeigt, daß auch die transzendendentale Methode, die als
Kriterium für das Vorliegen von Evidenz und Erkenntnis gelten und sich
über die Evidenz als letztes Wahrheitskriterium und daher über Brentanos
Evidenzlehre erheben will, unhaltbar ist, weil sie ihrerseits zu ihrer
Rechtfertigung unmittelbar evidente Erkenntnis und zwar nicht nur
Evidenz für Vorausgesetztsein oder Bedingung der Möglichkeit Sein,
sondern Evidenz über in sich selber bestehende Sachverhalte voraussetzt
und somit Brentano damit, daß Evidenz das höchste und unhintergehbare
Kriterium für das Vorliegen von Wahrheit darstellt, vollkommen recht
behält, auch wenn wir an wesentlichen Teilen seiner Lehre von der
Evidenz Kritik üben mußten. Unsere Hauptkritik aber bezog sich auf den
Versuch Brentanos, seine Evidenztheorie der Wahrheit als Wesenstheorie
der Urteilswahrheit zu verstehen und von der Wahrheit als Adäquation an
bestehende Sachverhalte loszulösen, was sich als unhaltbarer und
widersprüchlicher Versuch erwiesen hat, der auch der letzten, objektivis-
tisch-realistischen Intention dieses großen Philosophen entgegengesetzt ist.
Die Theorie Franz Brentanos, die wir als zweite neben der Adäquations-
theorie erwähnt haben, ist weder die einzige noch die einflußreichste
Alternative zur Adäquationstheorie als Theorie über Wahrheit, wenn sie
auch vielleicht die tiefsinnigste und am meisten Wahres enthaltende der
unrichtigen Wahrheitstheorien ist. So behandeln wir als nächste mit der
Adäquationslehre der Wahrheit in Konflikt tretende Theorie der Wahrheit
eine viel einflußreichere, aber philosophisch viel ungenügendere Lehre, die

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Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 125

sich gleichwohl sowohl in der idealistischen Philosophie als auch in der


analytischen Philosophie großer Beliebtheit erfreut und die immerhin
philosophisch wesentlich mehr Wahres enthält als die Konsenstheorie, die
Diskurstheorie oder die pragmatischen Wahrheitstheorien, ja die Kohä-
renztheorie erhellt einige sekundäre Wesensmerkmale der Wahrheit, wenn
auch nicht deren eigentliches Wesen.

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KAPITEL 2

DIE KOHÄRENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG

1. Einleitung

Daß Kohärenz ein Wesensmerkmal aller Wahrheit und als solches von
fundamentaler Bedeutung innerhalb einer Theorie der Eigenschaften, der
Bedingungen und Konsequenzen sowie der Kriterien der Wahrheit ist,
wurde von Platon und vielen anderen Philosophen anerkannt. Kohärenz
spielt auch eine entscheidende Rolle in der Logik als Bedingung der
Wahrheit, wie die klassischen Denker übereinstimmend sahen. Diese
Philosophen hätten allerdings niemals eine Identifizierung der Wahrheit
mit Kohärenz akzeptiert, sondern haben eine realistische Wahrheitstheorie
im Sinne einer Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigt und die
Bedeutung der Kohärenz nur innerhalb einer solchen Korrespondenz-
theorie der Wahrheit gesehen. Der Aufweis des Vorhandenseins von
Kohärenz steht bei Platon einerseits im Dienst der Intuition und des
Nachweises der Gültigkeit und Berechtigung von Wahrheitsansprüchen
einer Theorie, ohne allerdings dafür zu genügen, andererseits und vor allem
fungiert der Nachweis des Fehlens von Kohärenz als Kriterium im
negativen Sinne als Beweis der Falschheit einer Aussage oder Theorie, da
von zwei einander widersprechenden Urteilen wenigstens eines falsch sein
muß und ferner eine widersprüchliche Theorie niemals wahr sein kann,
und nur die Wahrheit vollkommen mit sich übereinstimmt. Eine Platon-
Stelle, in der sowohl die Tatsache, daß allein die Wahrheit innerlich
vollkommen mit sich übereinstimmt, während die Menschen sich oft in
ihren Gedanken widersprechen, als auch der Umstand, daß weder
Übereinstimmung mit sich selbst noch mit anderen Menschen (Konsens)
die Wahrheit ausmachen, zum Ausdruck kommt, findet sich in Platons
Gorgias.112 Daher muß eine solche klassische Analyse der Rolle der

112
Platon, Gorgias, 481 d-482 c. Platon spricht auch über die Homologie im Sinne der
Korrespondenztheorie, nämlich als Entsprechung zwischen Wahrheit des Urteils
und Seiendem, etwa im Kratylos, 421 b-c. Vgl. dazu auch etwa Jan Szaif, „Platon

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128 KAPITEL 2

Kohärenz innerhalb einer Theorie der Urteilswahrheit scharf von allen


Theorien unterschieden werden, welche Kohärenz an die Stelle von
Wahrheit setzen, bzw. das Wesen der Wahrheit nur in der Kohärenz der
Urteile erblicken.
Über eine derartige Kohärenztheorie, die das Wesen der Wahrheit als
Kohärenz faßt, hat Nicolas Rescher ein viel beachtetes Buch verfaßt, The
Coherence Theory of Truth.113 Eine solche Kohärenztheorie der Wahrheit
wurde im 19. und 20. Jahrhundert etwa von den Philosophen F.H.
Bradley,114 B. Blanshard,115 B. Bosanquet, T.H. Green,116 also insbesondere
von angelsächsischen Anhängern des Deutschen Idealismus vertreten.
Sie wird aber auch, aus verständlichen Gründen, wenn auch in einer
anderen, positivistischen Version, von einer Reihe von Empiristen und
anderen Autoren bis heute entwickelt.117

über Wahrheit und Kohärenz“, Archiv für Geschichte der Philosophie, (2000);
82(2): 119-148. Der Autor erforscht die Bedeutung des Begriffs Kohärenz
innerhalb der platonischen Wahrheitstheorie und verbindet Platons Kohärenz-
begriffe (homologia u. ä.) mit seiner dialektischen Methode und seiner realis-
tischen Wahrheitstheorie. Platon selber verwendet die Ausdrücke der Homologie
und Symphonie (den letzteren eigentlich – entgegen der Meinung Zaifs –
ausschließlich in dieser Bedeutung) auch in ihrem musikalischen Sinn und im
Sinne der Harmonie der Liebe, so etwa in Symposium, 187 a-c.
113
Nicolas Rescher, The Coherence Theory of Truth (Oxford: Oxford University
Press, 1973). Vgl. ferner L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren
Philosophie, SS. 182 ff, sowie Julian Nida-Rümelin, „Praktische Kohärenz“,
Zeitschrift für philosophische Forschung (1997); 51(2): 175-192.
114
Nicht alle Autoren finden eine solche Kohärenztheorie bei Bradley. Vgl. etwa
Stewart Candlish, “The Truth About F. H, Bradley”, Mind (1989); 98: 331-348.
115
Vgl. Brand Blanshard, The Nature of Thought (New York: Humanities Press,
1964); ders. “A Reply to my Critics”, Idealistic Studies (1974); 4: 107-130. Vgl.
auch etwa Paul Healy, “Kant, Blanshard, and the Coherence Theory of Truth”,
Idealistic Studies (1988), 18: 266-274.
116
Vgl. Matt Carter, “Ball, Bosanquet and the Legacy of T.H. Green”, History of
Political Thought (1999) Winter; 20 (4): 674-694. Vgl. auch Lawrence Bonjour,
“Coherence Theory of Empirical Knowledge”, Philosophical Studies (1976); 30:
281-312.
117
Man denke etwa an James O. Young, „Coherence, Anti-realism, and the Vienna
Circle,” Synthese (1991): 467-482; ders., Global Anti-realism (Ashgate:
Brookfield, 1995); James A. Ryan, “A Defense of the Coherence Theory of

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 129

Berühmt ist die Kontroverse, die im Wiener Kreis ausbrach, als Moritz
Schlick Otto Neurath vorwarf, eine Kohärenztheorie der Wahrheit zu
vertreten.118 Vor allem in der analytischen Philosophie ist diese Kohärenz-
theorie der Wahrheit bis heute weit verbreitet und es gibt nicht wenige, die
sogar Tarski, neben einer neuen Version der Korrespondenztheorie und
einer konsistenten rein semantischen Wahrheitstheorie, auch eine Kohä-
renztheorie zuzuschreiben.119 Donald Davidson verteidigt gleichfalls eine
Kohärenztheorie der Wahrheit. Dieser sieht es auch zu Recht als ihre
Begründung bzw. als ihr notwendiges Korrelat an, daß es keine rationale
Erkenntnisbegründung von Wahrheit im Sinne der adaequatio gibt.120
Gibt es nämlich eine rationale Erkenntnisbegründung von Wahrheit im
Sinne der Adäquation, so macht eben Korrespondenz mit der Wirklichkeit
Wahrheit aus und kann die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht stimmen.
Doch selbst die Anerkennung einer Erkenntnisbegründung im Sinne einer

Truth”, Philosophia (1998); 26 (3-4): 525-528; Ansgar Beckermann,


„Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische
Forschung (1995); 49 (4): 529-552. Der Autor erörtert die korrespondenz-
theoretischen Elemente der Wahrheitstheorie dieser drei Philosophen. Vgl. auch
Donald Davidson, „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis“, in:
Peter Bieri, (Ed.), Analytische Philosophie der Erkenntnis (Frankfurt: Athenaum,
1987), S. 271-290; ders., Plato’s Philosopher in Modern Thinkers and Ancient
Thinkers, R. W. Sharples, (Ed.), (Boulder: Westview Press, 1993). Davidson rückt
immer mehr von jedem Versuch ab, Wahrheit zu definieren oder eine bestimmte
Wahrheitstheorie zu entwickeln. Vgl. etwa Donald Davidson, “The Folly of
Trying to Define Truth”, Journal of Philosophy (1996); 93 (6): 263-278.
118
Vgl. Moritz Schlick, „Über das Fundament der Erkenntnis“, Erkenntnis 4 (1934),
S. 79-99. Vgl. auch Thomas Grundmann, “Can Science Be Likened to a Well-
Written Fairy Tale? A Contemporary Reply to Schlick’s Objections to Neurath’s
Coherence Theory”, Vienna-Circle Institute Yearbook (1996); 4: 127-133. Vgl.
ebenfalls Carl-Gustav Hempel, „Schlick und Neurath: Fundierung versus
Kohärenz in der wissenschaftlichen Erkenntnis“, Grazer Philosophische Studien
(1982); 16/17: 1-18.
119
Vgl. Puntel, a.a.O., SS. 176 ff. Vgl. auch die Diskussion der drei Tarski
hauptsächlich zugeschriebenen Wahrheitstheorien (Korrespondenz-, semantische
und Kohärenztheorie) in Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski
über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (1995); 49 (4): 529-552.
120
Donald Davidson, „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis“, in:
Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, S. 271-290.

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130 KAPITEL 2

Begründung der Kohärenztheorie der Wahrheit würde wiederum sowohl in


der Aussage über das Wesen der Wahrheit als Kohärenz als auch in der
Feststellung tatsächlicher Kohärenz einer Theorie wiederum Erkenntnis
der Wahrheit als Korrespondenz und deren Rechtfertigung voraussetzen.
Nicolas Rescher, der diese Theorie zwar nicht schlechthin annimmt, ist
dabei immerhin, obwohl er sie in vieler Hinsicht verteidigt, einer derer, die
Kritik an ihr üben und sie deshalb nur unter erheblichen Einschränkungen
vertritt, vor allem der wichtigen, daß er die Kohärenztheorie der Wahrheit
primär nur als eine kriteriologische Wahrheitstheorie deutet.121
Vielleicht kann man zuerst einige Gründe beschreiben, aus denen die
Kohärenztheorie der Wahrheit hervorgegangen ist. Diese Gründe sind nur
sehr zum Teil diejenigen Argumente, die Franz Brentano bewogen haben,
die Adäquationstheorie zu verwerfen, ja sie stehen teilweise in radikalem
Gegensatz zu Brentanos Philosophie der Wahrheit. Denn es ist vor allem –
ganz im Gegensatz zu Brentanos Position – ein Skeptizismus in bezug auf
die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit überhaupt und insbesondere
von Evidenz in der Erkenntnis, was zur Kohärenztheorie der Wahrheit
führt.
Wir finden am besten heraus, welche Überlegungen zur Kohärenz-
theorie der Wahrheit Anlaß gegeben haben, wenn wir uns die eingangs
erörterten möglichen Bedeutungen und Aufgaben von Wahrheitstheorien
in Erinnerung rufen. Wie wir gesehen haben, können Wahrheitstheorien
(1) Theorien über das Wesen der Wahrheit, (2) über Wahrheitsbedingun-
gen, (3) über Folgen und Implikationen der Wahrheit, (4) über ‚Wahr-
macher‘ oder gegenständliche Korrelate der Wahrheit, (5) oder über das
Kriterium der Erkenntnis von Wahrheit sein. Erst wenn wir Aufgaben und
Antworten der nun zu behandelnden besonders dunklen und konfusen
Wahrheitstheorie als Antwort auf alle diese Fragen begreifen, können wir
die Kohärenztheorie der Wahrheit angemessen kritisch prüfen.

121
Bemerkenswert sind dazu Puntels Kritiken, nach denen sich Rescher einer Inkon-
sistenz schuldig macht. Rescher, a.a.O., SS. 200 ff. Vgl. dazu gleichfalls die
kritische Studie, die eine ähnliche Inkonsistenz der Wahrheitstheorie Reschers
feststellt: Geo Siegwart, „Korrespondenz und Kohärenz: Fragen an ein Versöh-
nungsprogramm“, Journal for General Philosophy of Science (1993); 24(2): 303-
313.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 131

Der hauptsächliche Ausgangspunkt der Kohärenztheorie, die nicht nur


das Wesensmoment der adaequatio aus der Idee der Wahrheit zu entfernen
sucht, sondern den von Brentano festgehaltenen Bezug der Erkenntnis der
Wahrheit zur Evidenz ausschaltet, besteht darin, daß nicht nur Brentanos
„Evidenztheorie der Wahrheit“, sondern das Phänomen evidenter Erkennt-
nis der Wahrheit überhaupt aus verschiedenen Gründen verworfen wurde.
Dies wiederum hat seinerseits besondere historische Wurzeln, welche die
Verquickung der Verwerfung einer Adäquationstheorie der Wahrheit mit
der Kohärenztheorie der Wahrheit verständlich erscheinen lassen.
Eine sehr wesentliche Wurzel der Kohärenztheorie der Wahrheit liegt in
der Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaft. So ist man sowohl
in der modernen Naturwissenschaft, zum Beispiel in der modernen Physik,
aber auch in der modernen Mathematik, von dem klassischen Gedanken
abgewichen, daß die Fundamente der Mathematik und der Physik sowie
deren grundsätzliche Korrespondenz mit der Wirklichkeit evident sind.
Die klassischen Mathematiker setzen sowohl evidente Axiome und
Prinzipien der Mathematik als auch Wahrheit im Sinne der Korrespondenz
(Adäquation) voraus. Bei Euklid und in der antiken Philosophie der
Mathematik, wie sie aus den Elementen Euklids spricht und in Dokumen-
ten zahlreicher Autoren der Philosophie und Mathematik, wie sie von
Heath in seinem Kommentar über dieses Werk zusammengetragen
wurden,122 finden wir praktisch übereinstimmend den Gedanken, daß die
letzten Fundamente der Wissenschaft der Mathematik, die ersten Prinzi-
pien, Definitionen, Postulate und Axiome, von denen das Gebäude der
mathematischen Erkenntnis seinen Ausgang nimmt, evidente Wahrheiten
sind, daß also mathematische Prinzipien auf Sachverhalten beruhen, die
unmittelbar einleuchtend sind, und aus auf diese aufgebauten Beweisen,
und daß also mathematische Erkenntnisse wirklich so und so beschaffene
Gesetze der Zahlen oder der geometrischen Figuren erfassen und zutref-
fend formulieren.
Aus verschiedenen Gründen wurde diese Überzeugung verworfen, etwa
auf Grund des im 19. Jahrhundert zuerst durch den Jesuitenpater,
Philosophen und Mathematiker Giovanni Girolamo Saccheri (1667-1733)

122
Thomas L. Heath; transl., introd., comm., The Thirteen Books of Euclid’s Elements,
pp. 2-151.

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132 KAPITEL 2

– aus dem gescheiterten Versuch der Ableitung des Palallelenaxioms (5.


Postulates) aus den übrigen Postulaten – erbrachten Nachweises, daß das 5.
Postulat der euklidischen Mathematik, das sogenannte Prallelenaxiom, von
den ersten vier Postulaten logisch unabhängig ist. Saccheri sah dies mit
vollem Recht als Nachweis dafür an, daß Euklid zu Recht das 5. Postulat
als eigenes und unableitbares Prinzip der Geometrie erkannt hatte. In
seinem 1733 erschienenen Buch Euclides ab Omni Naevo Vindicatus
(Euklid, von jedem Makel freigesprochen), das den Beweis enthielt, daß
man widerspruchsfreie nicht-euklidische Geometrien entwickeln kann, sah
er gerade in der Evidenz der Wahrheit des Parallelenpostulats und seiner
logischen Unabhängigkeit von den übrigen den Erweis der Perfektion der
Euklidschen Geometrie. Daher wurde nicht wegen seiner Unabhängigkeit,
sondern erst von ganz anderen philosophischen Voraussetzungen aus das 5.
Postulat Euklids ernsthaft aufgegeben, das in einer seiner äquivalenten
Versionen besagt: In einer Ebene kann zu einer gegebenen Geraden durch
einen gegebenen Punkt, der außerhalb der Linie liegt, immer nur eine und
ausschließlich eine parallele Linie, die diese Gerade niemals schneidet,
gezogen werden. Es kann also nach Euklid auf einer Ebene nur eine
einzige Parallele zu einer gegebenen Linie geben, die durch einen
gegebenen Punkt außerhalb der Linie gezogen wird; und zweifellos hält
Euklid dies für eine evidente Wahrheit und Formulierung eines unabhängig
vom Subjekt bestehenden mathematischen Sachverhalts.
Von diesem Parallelenpostulat wurde von Sachheri gezeigt, daß es
eigenständig und mit den anderen vier Postulaten der euklidischen
Geometrie nicht notwendig verknüpft ist. Daraus folgt freilich, daß man zu
mancherlei mathematischen Zwecken nützliche Geometrien entwerfen
kann, die scheinbar so evidente Sachverhalte, wie daß es nur eine Parallele
zu einer gegebenen Geraden durch einen Punkt, der außerhalb der Geraden
liegt, geben kann, verwerfen. Sachheri bewies dies, glaubte aber (mit
vollstem Recht), daß die gegenteiligen mathematischen Postulate (wie daß
keine oder mehr als eine Parallele durch den gegebenen Punkt außerhalb
der Geraden gezogen werden könnten) zwar logisch konsistent und mit den
ersten vier Axiomen der euklidischen Geometrie kohärent, der Sache nach
aber falsch und absurd sind.
Die nicht-euklidischen Geometrien hingegen erklärten solche absurden
Sätze nicht nur für praktisch nützlich, sondern auch für den euklidischen

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 133

ebenbürtig oder sogar aus pragmatischen oder anderen Gründen für diesen
überlegen. So schien die Evidenz der euklidischen Geometrie und damit
die Evidenz von Wahrheit überhaupt zu fallen. Kline führt in seinem Buch
über Philosophie der Mathematik123 aus, wie ausgehend von solchen
Entwicklungen in den verschiedenen Theorien der modernen Mathematik
der Begriff der Evidenz als Grundlage der Mathematik und der Begriff der
evidenten Wahrheit der Axiome der Mathematik, etwa im Intuitionismus
von de Breuwer und im Formalismus, im Konventionalismus von Poincaré
usw., weitgehend fallengelassen wurden und wie infolgedessen die
Wahrheit selbst als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit radikal in Frage
gestellt wurde.124 Kline führt aus, daß durch diese Entwicklung die
„Heiligkeit der Wahrheit“ verloren gegangen und die Hoffnung auf den
Besitz mathematischer und anderer Wahrheiten zerschmettert und zunichte
gemacht worden sei.125 Solche pauschalen Behauptungen mögen

123
Siehe Morris Kline, Mathematics in Western Culture (London/Oxford/New York:
Oxford University Press, 1974), pp. 410 ff.
124
Morris Kline, ebd., S. 429 f.:
The creation of non-Euclidean geometry cut a devstating swath through the realm of truth.
Like religion in ancient societies mathematics occupied a revered and unchallenged position
in Western thought. In the temple of mathematics reposed all truth, and Euclid was its high
priest. But the cult, its high priest, and all its attendants were stripped of divine sanction by
the work of the unholy three: Bolyai, Lobatchevsky, and Riemann. It is true that in
undertaking their Research those audacious intellects had in mind only the logical problem
of investigating the consequences of a new parallel axiom. It certainly did not occur to them
at the outset that they were challenging Truth itself. And as long as their work was regarded
only as an ingenious bit of mathematical hocus-pocus, no serious questions were raised. The
moment men realized, however, that the non-Euclidean geometries could be valid
descriptions of physical space, an inescapable problem presented itself. How could
mathematics, which had always claimed to present the truth about quantity and space, now
offer several contradictory geometries? No more than one of these could be the truth...
perhaps the truth was different from all these geometries...
In depriving mathematics of its status as a collection of truths, the creation of non-
Euclidean geometries robbed man of his most Respected truths and perhaps even of the hope
of ever attaining certainty about anything...The end of the dominance of Euclidean geometry
was the end of the dominance of all such absolute standards.
125
Vgl. auch Morris Kline, Mathematics in Western Culture, S. 430; ders., Mathema-
tical Thought from Ancient to Modern Times (Oxford: Oxford University Press,
1972, 1990); ders., Mathematics. The Loss of Certainty (Oxford: Oxford
University Press, 1980).

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134 KAPITEL 2

übertrieben sein, haben jedoch rein historisch gesprochen zweifellos einen


wahren Kern.
Auf Grund dieser Vorgänge trat bei vielen Autoren das Ideal der
logischen Kohärenz einer Theorie an die Stelle ihrer Wahrheit. Man
könnte im Anschluß an Morris Kline sagen, daß die Krise des Gedankens
der Evidenz der Axiome in der Mathematik und damit auch in der Physik
und in den Naturwissenschaften eine wichtige Wurzel für die Kohärenz-
theorie der Wahrheit ist. (Darauf, daß Gödels Unvollständigkeitssätze eine
neue Krise auch des Kohärenzgedankens bewirkten, werden wir später
zurückkommen).
Daneben gibt es viele andere Einflüsse auf den Ursprung der Kohärenz-
theorie, etwa die Idee des Deutschen Idealismus, die schon Kants kritische
Philosophie formulierte, daß wir nicht die Dinge an sich selbst, sondern
nur Erscheinungen erkennen können, sodaß das Subjekt gleichsam das
einzige Kriterium der Wahrheit wird und wir aus diesem Grund die
Übereinstimmung eines Urteils mit einer vom Subjekt unabhängigen Wirk-
lichkeit gar nicht erkennen können, was Fichte zur drastischen Aussage
führt:
Die Wahrheit an sich aber ist bloss formal. Uebereinstimmung und
Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, sowie Wider-
spruch in unserem Denken Irrthum und Lüge ist. Alles im Menschen,
mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem höchsten Gesetze: sey stets
einig mit dir selbst!126

Und Kant sagt dasselbe in weniger drastischer Form. Obwohl Kant


äußerlich betrachtet an der Korrespondenztheorie der Wahrheit festzuhal-
126
Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber
Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII344.
Man müßte hier die besondere transzendentalphilosophische Gestalt einer
solchen Kohärenztheorie der Wahrheit bei Kant herausarbeiten. Die These, daß
Kant eigentlich eine Kohärenztheorie der Wahrheit vertritt, verteidigt auch
Dietmar Koveker, „Zwischen ‚objektiver Gültigkeit‘ und ‚subjektiv-notwendigem
Probierstein‘ der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (April-Juni
1995), 49 (2), 274-293. Vgl. auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil, sowie ders., Überwindung
des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit –
trotz Kant.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 135

ten scheint, stimmt Kant nicht an allen Stellen der klassischen Wahrheits-
definition zu, sondern bestimmt Wahrheit in vielen Kontexten im Sinne
einer rein subjektiven Kohärenztheorie der Wahrheit, einer „in sich
Stimmigkeit der Vernunft mit sich selber“, so etwa wenn er sagt:
Denn die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung
der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraction von allen
Objecten insgesammt und von allem Unterschiede derselben.127

Obwohl Kant diesen kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff nur auf


die formale Logik beschränkt und hinsichtlich der Wahrheit materialer
Urteile am Korrespondenzbegriff der Wahrheit festhält, untergräbt die
Einführung eines kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriffs in die formale
Logik auch den Adäquationsbegriff der Wahrheit überhaupt. Denn die
kohärenztheoretische Deutung der Urteilswahrheit trifft genausowenig auf
die Kennzeichnung der Wahrheit formallogischer Gesetze wie auf die in
diesen enthaltene, von allem Inhalt abstrahierende, Wahrheit von Prämis-
sen und Konklusionen in formallogischen Argumenten zu, weshalb Kants
kohärenztheoretische Umdeutung der Wahrheit in der formalen Logik in
bloße Kohärenz den Wahrheitsbegriff überhaupt aushöhlt. Betrachten wir
die zitierte Stelle in ihrem weiteren Kontext, so ergibt sich im Licht der
Analysen der letzten beiden Kapitel, daß auch der Begriff der Kohärenz
von Kant nicht in einem rein logischen Sinn, sondern auch in den
Bedeutungen der Erkenntniswahrheit sowie einer „transzendental-psycho-
logistischen“ Weise gedeutet wird:
IX51 .... In dieser Übereinstimmung einer Erkenntniß mit demjenigen
bestimmten Objekte, worauf sie bezogen wird, muß aber die materiale
Wahrheit bestehen. Denn ...

… die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung


der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen
Objekten insgesammt und von allem Unterschiede derselben. Und die
allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit sind demnach nichts anders
als allgemeine logische Merkmale der Übereinstimmung der Erkenntniß mit
sich selbst oder – welches einerlei ist – mit den allgemeinen Gesetzen des
Verstandes und der Vernunft.

127
Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52.

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136 KAPITEL 2

Diese formalen, allgemeinen Kriterien sind zwar freilich zur objektiven


Wahrheit nicht hinreichend, aber sie sind doch als die conditio sine qua non
derselben anzusehen.

Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Objekt zusammenstimme,
muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach)
zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.

In damit eng verknüpfter Weise meint Kant, es gäbe keinen direkten


positiven Beweis oder eine evidente Erkenntnis der Wahrheit seines Sys-
tems und der kopernikanischen Wende als der Wirklichkeit entsprechend.
Deshalb betrachtet Kant die Widerspruchsfreiheit seines Systems, die
allein die ‚Antinomie der reinen Vernunft‘ durch Auflösung der sonst
unvermeidlichen Antinomien herbeiführen könne, in dem Vorwort zur
Zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als den einzigen
Probierstein für die Wahrheit seiner kritischen Philosophie: also Kohärenz
als einziges Wahrheitskriterium.128

128
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. III, Vorrede zur Ausgabe B:
Aber hierin |
BXX liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten
Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen
gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt
liegen lasse. Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller
Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den
Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die
Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere
Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das
Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man
annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach
diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen
richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das
Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an
ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse: so
zeigt sich, daß, was wir Anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet. |
Vgl. auch den folgenden Text aus Kritik der reinen Vernunft, B 453:
Die transscendentale Vernunft also verstattet keinen anderen Probirstein, als den Versuch der
Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst und mithin zuvor des freien und
ungehinderten Wettstreits derselben unter einander, und diesen wollen wir anjetzt anstellen.*
Vgl. zur Kritik dieser Thesen Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen
Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 137

Der Subjektivismus der Theorie der Erkenntnis, der sich aus Kants
kritischer Philosophie und wiederum in anderer Form auch aus David
Humes Skeptizismus und der analytischen und empiristischen Philosophie
ergibt, sowie der Skeptizismus und Subjektivismus in ihren zahlreichen
anderen idealistischen und empiristischen Ausgestaltungen haben dazu
geführt, daß man den Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung des
Urteils mit der Wirklichkeit fallengelassen und deren Erkenntnis oder ein
Kriterium für solche Übereinstimmung für unmöglich erachtet hat. Daher
hat man nach einem neuen Kriterium, ja nach einer neuen Wahrheits-
definition gesucht und fand manchmal das eine, manchmal die andere in
der bloßen Kohärenz.
Auch Hegels Philosophie könnte man als einen Haupteinfluß anführen,
der zur Kohärenztheorie der Wahrheit beitrug, weil sie eine Philosophie ist,
die die Ganzheit aller Urteile des Weltgeistes und des absoluten Geistes,
aller Erscheinungsformen der Geschichte, aller Systeme, als die Wahrheit
angenommen und übrigens auch Bradleys Kohärenztheorie der Wahrheit
am direktesten beeinflußt hat. Zwar kann man nicht gerade sagen, daß
Hegel ein besonderes Bedürfnis nach Kohärenz hatte, meinte er doch,
wahre Urteile auf der höchsten Ebene der Vernunft können auch einander
widersprechen, was nur auf der untergeordneten Ebene des Verstandes
ausgeschlossen sei. Hegels Idee der Dialektik und der Aufhebung des
Widerspruchsprinzips ist also eigentlich eine Idee, die Anti-Kohärenz zum
Prinzip erhebt, aber immerhin ist die Idee der Wahrheit als des Ganzen
aller Gedanken und aller Systeme und aller menschlichen Erscheinungs-
formen, sowie Hegels Versuch, alle Widersprüche zwischen Philosophien
letzten Endes als Schein zu erklären, da sie sich auf einer tieferen Ebene
alle als Teile der einen und trotz all ihrem Widerspruch kohärenten
Wahrheit erwiesen, sicher mit einer der Gründe, aus denen die Kohärenz-
theorie erwachsen ist. Hegel vertritt sozusagen eine radikale und
dialektische Kohärenztheorie der Wahrheit, welche die Wahrheit nach
Analogie eines lebendigen Organismus als eine Ganzheit versteht, in
welcher auch widersprüchliche Elemente und Systeme als kohärente und
freundlich ergänzende Teile des Ganzen erscheinen.129

129
Vgl. etwa:

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138 KAPITEL 2

Doch gehen wir nicht weiter auf die Geschichte der Kohärenztheorie
ein, sondern konzentrieren uns vielmehr auf das wesentliche Faktum, daß
die Kohärenztheorie der Wahrheit aus einem Zusammenbruch des
Gedankens entsprungen ist, daß die Adäquation zwischen Urteil und
Sachverhalt überhaupt erkannt werden kann und daß diese Adäquation,
selbst wenn sie erkannt werden könnte, mit irgendeinem Kriterium
festgestellt werden müßte, das auf Objektivität Anspruch machen darf.
Das könne aber in nichts anderem liegen als in der Konsistenz und
Kohärenz verschiedener Evidenzen. Deshalb dürfe Wahrheit, oder
zumindest als solche erkannte Wahrheit, nur noch als das Ganze eines
kohärenten Systems von Sätzen verstanden werden.
Insofern ist die Kohärenztheorie unter anderem aus einer Verzweiflung
am Phänomen der Evidenz, das Brentano zum Herzstück seiner Wahrheits-
theorie gemacht hatte, entsprungen. Und weil man überdies keine Erkennt-
nis und kein Kriterium für Wahrheit im Sinn der adaequatio mehr annahm,
suchte man verständlicherweise nach einer anderen Bestimmung der
Wahrheit, die zumindest scheinbar das ganze Problem des Kriteriums und
der Erkenntnis der Übereinstimmung zwischen Urteil und Wirklichkeit
vermeidet: Kohärenz.

So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch
entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu
erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andere zu
sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die
fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den
Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man
könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für
ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von
dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als
unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der
organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig
als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf
diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn
von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und
sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 3-4. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15671-15672 (vgl. Hegel-W Bd.
3, S. 12)].

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 139

Theorien der Wahrheit, die die Adäquationstheorie ersetzen, haben sich


in vielen Formen dargestellt. Es gibt viele Wahrheitstheorien, die aus
dieser Wurzel stammen, wie den Pragmatismus; eine wichtige unter ihnen
ist aber auch die Kohärenztheorie.
Die erste Frage, die sich angesichts der Kohärenztheorie der Wahrheit
stellt, ist diejenige nach der Bedeutung dieses Terminus selbst. Denn die
Kohärenztheorie ist eine überaus unklare Theorie, worauf ebenfalls
Rescher hinweist. Man weiß bei vielen Autoren häufig überhaupt nicht
wirklich, was mit Kohärenz gemeint wird noch worin genau der Bezug
zwischen Kohärenz und Wahrheit bestehen soll. Das gilt selbst dann, wenn
man Kohärenz als bloße Widerspruchsfreiheit begreift.

2. Was heißt Kohärenz?

Unter Kohärenz kann sehr Verschiedenes verstanden werden:

2.1. Widerspruchsfreiheit oder Nichtwidersprüchlichkeit

Zunächst kann man unter Kohärenz einfach Widerspruchsfreiheit oder


Nichtwidersprüchlichkeit verstehen. Wie wir sehen werden, kann man
dieselbe sowohl Urteilen als auch Erkenntnissen als auch Sachverhalten
bzw. der Wirklichkeit selbst zuschreiben. Die Nichtwidersprüchlichkeit
oder Widerspruchsfreiheit, die in dieser ersten Bedeutung des Wortes als
Kohärenz bezeichnet wird, kann wiederum entweder eine formale
Widerspruchsfreiheit oder eine materiale sein.
Unter einer formalen Widerspruchsfreiheit verstehen wir hier, daß die
Wirklichkeit selbst sowie die wahren Urteile dem Widerspruchsprinzip
notwendig gehorchen. Daher können weder des Sein noch wahre Urteile
das Widerspruchsprinzip verletzen. Dabei besteht zwischen dem ontolo-
gischen und dem logischen Widerspruchsprinzip sowie zwischen der
Weise, in der Sachverhalte dem ontologischen und Urteile dem logischen
Widerspruchsprinzip gehorchen, ein wesentlicher Unterschied. Im Sein
selbst und zwischen verschiedenen Sachverhalten kann es nämlich
keinerlei wirklichen Widerspruch geben, zumindest wenn man eine

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140 KAPITEL 2

Deutung des Seins als in sich widersprüchlich ablehnt, wie Hegel und
andere Philosophen, die eine ontologische Dialektik des Widerspruchs
annehmen, dies voraussetzen.130 In der Sphäre der Urteile hingegen besagt
das Widerspruchsprinzip etwas anderes: daß nämlich von zwei kontradik-
torischen Urteilen nicht beide wahr sein können. Daher herrscht das
Widerspruchsprinzip im Reich der Urteile nur, insofern es Widersprüche
innerhalb wahrer Urteile ausschließt, nicht aber insofern es Widersprüche,
die im Reich des Seins nicht existieren können, im Reich der Urteile ganz
ausschlösse. Im Gegenteil, im Reich der Urteile kommen viele Wider-
sprüche vor, sodaß ausschließlich im Reiche wahrer Urteile Widersprüche
ausgeschlossen sind.

2.1.1. Formalontologische Widerspruchsfreiheit

Wenn Aristoteles damit recht hat, daß das Sein und Nichtsein ein und
derselben Sache im selben Sinn und zur gleichen Zeit einander
ausschließen, dann folgt daraus, daß die Wirklichkeit selbst, das Seiende
selbst, frei von Widerspruch sein muß. Die schlechthin absolute Gültigkeit
des Widerspruchsprinzips also, das Aristoteles im Buch G der Metaphysik
hervorhebt und als gewissestes aller Prinzipien bezeichnet, garantiert die
Widerspruchsfreiheit des Seins. Nur wenn man, wie etwa Hegel oder
Marx, die universale Anwendbarkeit und Wahrheit des Widerspruchs-
prinzips für alle Wirklichkeit und alles Sein leugnet oder in Frage stellt,
kann man diese Kohärenz der Wirklichkeit im Sinne der Widerspruchs-
freiheit leugnen.

2.1.2. Formal-logische Widerspruchsfreiheit

Formale Widerspruchsfreiheit kann auch den Urteilen zugesprochen


werden, wenn man nicht mehr das ontologische Widerspruchsprinzip,
sondern das logische im Auge hat, das besagt: Von einem Paar einander
kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile können nicht beide (zugleich
130
Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchs-
freiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 141

und im selben Sinn) wahr sein. Wenn dieses Prinzip über die Wahrheit, das
seinerseits im ontologischen Widerspruchsprinzip begründet ist, wie
Alexander Pfänder in seiner Logik131 herauszuarbeiten sucht, zutrifft, dann
muß formale Widerspruchsfreiheit auch allen wahren Urteilen zugespro-
chen werden. Im Gegensatz zum Sein, das nicht von Widersprüchen
behaftet sein kann, kann es in Urteilen Widersprüche geben. Deshalb gilt
diese formale logische Widerspruchsfreiheit nur von allen wahren, nicht
von allen Urteilen schlechthin.132

2.1.3. Materiale Kohärenz bzw. materiallogische Kohärenz

Man kann unter Kohärenz ferner eine materiale oder materiallogische


Kohärenz verstehen, nämlich meinen, daß verschiedene Fakten oder
verschiedene Urteile nicht bloß dem Widerspruchsprinzip nicht widerspre-
chen, und ihm vielmehr gehorchen müssen, sondern daß sie darüber hinaus
den inhaltlichen (materialen) Gesetzlichkeiten nicht widersprechen können
oder sollen, die der Natur der jeweiligen Sache entstammen. In der Logik
kennen wir materiallogische Schlüsse, wie etwa, daß daraus, daß der
Gegenstand A links von B sich befindet, (von demselben Gesichtspunkt
aus) folgt, daß B rechts von A ist, oder daß wenn AF ein zukünftiges
Ereignis meint und BF weiter in der Zukunft liegt als AF, jedes XP (jedes
vergangene Ereignis) vor AF und BF stattgefunden haben muß, oder daß
wir aus der Existenz von Schuld auf Freiheit schließen können. Keiner
dieser Schlüsse gründet in rein formal-logischen Gesetzen, sondern in der
Natur der jeweiligen Gegebenheit oder notwendigen Wesenheit. Solche
materiallogischen Schlüsse, zu denen auch Analogieschlüsse zählen,
beruhen nicht auf formal-logischen Wahrheitszusammenhängen zwischen
den Prämissen (bzw. deren logischer Form) und der Konklusion, auf Grund
deren die Behauptung von Schuld formal-logisch die der Freiheit
implizieren würde, sondern vielmehr nur auf dem inhaltlichen Verständnis

131
Pfänder, Logik.
132
In diesem Sinne kann man auch den Kohärenzbegriff in O. Neuraths „Soziologie
im Physikalismus“ entwickelte Kohärenztheorie verstehen, wenn auch nur von
Sätzen spricht und die ontologische Fundierung der Logik außer Acht läßt.

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142 KAPITEL 2

der entsprechenden Sachen selbst.133 Oder wenn wir schließen, daß ein
Mädchen, das ein Kind erwartet, sexuelle Beziehungen mit einem Mann
(oder, wie die Griechen glaubten, auch mit einem Gott) gehabt haben,
künstlich befruchtet worden oder daß ihr ein in vitro befruchtetes Ovum
bzw. ein Embryo eingepflanzt worden sein oder (wie die Christen dies von
der Jungfrau Maria glauben), vom Hl. Geist direkt empfangen haben muß,
so beruht ein solcher Schluß nicht auf der formallogischen Beziehung
zwischen dem Urteil, daß das Mädchen ein Kind erwartet, und der
Konklusion, die daraus gezogen wird, sondern vielmehr auf der
inhaltlichen Eigenart der menschlichen Fortpflanzung und den künstlichen
oder wunderbaren Formen derselben. Dennoch werden wir eine Rede, in
welcher solchen material-logisch aus einem Urteil folgenden Urteilen
widersprochen wird, als widersprüchlich erkennen. Kohärenz beinhaltet
also auch die Vermeidung von inhaltlich bedingten Widersprüchen und
eine Widerspruchsfreiheit im Sein und im Urteil.
Solange Kohärenz nur bedeutet, daß zwei Urteile, wie zufällig sie auch
verbunden sein mögen, keine solche auf der Natur der Sachen beruhenden
Gesetze verletzen bzw. zu ihnen in Widerspruch stehen dürfen, ist auch
materiallogische Widerspruchsfreiheit eine Eigenschaft, die wir allen
wahren Urteilen, sowie in anderem Sinne allen Sachverhalten, zuschreiben
können, auch wenn wir selbstverständlich dort, wo keine strengen Wesens-
notwendigkeiten vorliegen, mit der Behauptung ausnahmslos gültiger
empirischer Gesetze und damit mit der Forderung der materialen Kohärenz
aller Sachverhalte und aller wahren Urteile mit der allgemeinen Natur der
Dinge vorsichtig sein müssen. Im übrigen bezieht sich der Terminus dieser
Kohärenz nicht notwendig auf allgemeine Naturen der Dinge, sondern er
kann sich auch auf rein faktische und individuelle Umstände beziehen.

133
Es gibt sowohl unmittelbare material bedingte Schlüsse - vgl. Alexander Pfänder,
(Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, IV. Abschn., A, Kap. 7, S. 282-286 – als auch
mittelbare material bedingte Schlüsse wie etwa auf Vergleichsrelationen, auf
räumlichen oder zeitlichen Relationen, auf Zusammengehörigkeitsrelationen, auf
Abhängigkeits- und Kausalrelationen, auf intentionalen Relationen u.a. aufgebaute
Schlüsse, die niemals aus rein formal-logischen Faktoren und Gesetzen, sondern
ausschließlich auf Grund der besonderen materialen Beschaffenheit von
Gegenständen schlüssig sind. Vgl. zu den mittelbaren material bedingten
Schlüssen Alexander Pfänder, Logik, zit., ebd., Abschn. 4 B, Kap. 9, S. 351-354.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 143

Damit kommen wir schon zu einem weiteren und tieferen Sinn von
Kohärenz, der viel mehr bedeutet als bloße Widerspruchsfreiheit.

2.2. Kohärenz als intelligible und sinnvolle Beziehung zwischen Sachen


(Sachverhalten), Erkenntnissen oder Urteilen

Unter Kohärenz kann man jedoch auch wesentlich mehr verstehen als
Widerspruchsfreiheit und auch mehr als materiale Kohärenz im Sinne des
„in Einklang mit bekannten Tatsachen und Naturen Stehen“. Man kann
unter diesem Begriff eine intelligible und verstehbare, eine sinnvolle
Beziehung meinen, in der verschiedene Sachen, Sachverhalte, oder auch
Urteile zueinander stehen. In diesem Sinne entspricht Kohärenz dem, was
wir früher im Rahmen der ontologischen Wahrheit als sinnvolle
Soseinseinheiten bezeichnet und bereits diskutiert haben. Insoferne etwa
der menschliche Körper eine sinnvolle Einheit von Organen, Funktionen,
usf. darstellt, ist er ein kohärentes Ganzes, im Gegensatz zu den Stücken
und Fetzen eines menschlichen Leibes, der von einer Bombe zerrissen
wurde und dessen Glieder und Teile verstreut im Raum liegen.
Wo immer eine solche sinnvolle Einheit der Dinge auch in Urteilen
formuliert wird, besteht auch innerhalb derselben eine sinnhafte, von den
Sachen selbst her verstehbare Einheit. In diesem Sinn könnte man von der
Kohärenz eines Romans, einer psychologischen Beschreibung oder einer
Interpretation eines Verbrechens durch einen Detektiv sprechen und dann
meinen, daß die verschiedenen Urteile und Sätze, die ein solches Ganzes
bilden, untereinander in sinnvoller und verstehbarer Weise verknüpft
sind. Eine inkohärente Darstellung wäre eine solche, in der jedes innere
verstehbare Band zwischen den einzelnen Urteilen fehlen würde.
Auch von Erkenntnissen oder Erfahrungen könnte man sagen, daß sie
nicht nur nicht widersprüchlich sein, sondern auch in sinnvoller
gegenseitiger Beziehung zueinander stehen können.
Dieser Begriff von Kohärenz liegt auch dem sogenannten Kohärenz-
prinzip, dem Grundsatz, daß alles mit einander zusammenhänge, zugrunde.
Die Schichtentheorie etwa behauptet ontologische Kohärenzgesetze in
diesem Sinn. Auch die Kohärenzfaktoren und Kohärenzmotive, die die
Psychologie annimmt, d.h. Teile der Bewußtseinsinhalte oder Bewußt-

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144 KAPITEL 2

seinsgegenstände, die mit anderen auf Grund von Gestaltprinzipien und


anderen Formprinzipien zusammenhängen, setzen diesen Kohärenzbegriff
voraus, der keine notwendige, aber doch eine sinnvoll durch ein Form-
oder Gestaltprinzip begründete Verknüpfung voraussetzt.

2.3. Kohärenz als notwendige Verknüpfung von Urteilen, Wahrheiten,


Erkenntnissen, oder Sachverhalten

Schließlich kann man unter Kohärenz noch mehr verstehen, was uns
wieder auf die Diskussion der ontologischen Wahrheit zurückführt,
nämlich eine schlechthin notwendige Verknüpfung verschiedener Merk-
male und Eigenschaften einer Sache oder Wesenheit. Selbstverständlich
findet auch eine solche notwendige Wesensbeziehung ihren Widerhall auf
der Ebene der Urteile, deren Wahrheit in einer notwendigen gegenseitigen
Beziehung stehen kann.
In wieder anderer Weise bestehen notwendige Beziehungen in
verschiedener Art auch auf der Ebene der Erkenntnis.
Wenn man anerkennt, daß es so etwas wie notwendige Wesenssach-
verhalte und notwendige Wesenheiten gibt, so muß man auch diese tiefere
Stufe der Kohärenz, ja diese prinzipiell neue Bedeutung von Kohärenz
anerkennen.
Wenn man sogar meint, daß alle Dinge, inklusive aller historischen
Fakten, letzten Endes in notwendiger Beziehung zueinander stehen, wie
dies etwa dem Hegelschen System oder gewissen deterministischen und
immanentistischen Gesamtsystemen in der Philosophie entspricht, so
behauptet man Kohärenz in diesem stärksten Sinn des Ausdrucks für alle
Dinge überhaupt. Man kann sagen, daß eine solche Auffassung der
Kohärenz der Wirklichkeit Freiheit, Kontingenz (wirkliche Zufälligkeit des
Daseins) und viele andere Daten der Erfahrung leugnen oder radikal
umdeuten muß. Überzeugt davon, daß es wirklich nicht-notwendige
Tatsachen und Freiheit gibt, verwerfen wir eine solche Fassung der
Kohärenz im Sinne einer absolut notwendigen Verknüpfung der gesamten
Wirklichkeit energisch, halten es jedoch zugleich aus den früher erörterten
Gründen für wahr und für notwendig zuzugestehen, daß innerhalb gewisser
Bereiche der Wirklichkeit, und in solcher Weise, daß alle Seienden daran

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 145

teilnehmen, schlechthin notwendige Wesensbeziehungen und also


Kohärenz in diesem dritten Sinne (C) bestehen.

3. Kohärenz wovon? Über das Subjekt „der Kohärenz“

3.1. Urteile/Sätze

Auf die Frage, was das Subjekt der Kohärenz ist, kann man zunächst
Urteilen oder Sätzen Kohärenz zuschreiben. Dabei ergeben sich noch
einmal verschiedene Möglichkeiten:

3.1.1. Ein einziges Urteil

Man kann einem einzigen Urteil Kohärenz im Sinne der inneren


Widerspruchsfreiheit (oder auch der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit)
zuschreiben. Zweifellos ist es möglich, ein sich selbst aus materialen oder
formallogischen Gründen widersprechendes Urteil zu formulieren. Wenn
man etwa sagt, „Ich existiere nicht“, so widerspricht sich dieses Urteil
jedenfalls materiallogisch. Denn der Inhalt dieses Urteils, die Nichtexis-
tenz, widerspricht dem Subjektsein, das das betreffende Urteil formuliert
oder denkt, so wie die cogitatio, die diesem Urteil zugrundeliegt, gemäß
den Einsichten Augustins und Descartes‘, der Nichtexistenz wider-
spricht. Man könnte diesen Widerspruch auch als formallogischen interpre-
tieren, wenn man in dem Urteil formallogisch ein Existenzurteil impliziert
sieht, das dann inhaltlich im betreffenden Urteil geleugnet wird.
Es gibt auch andere Formen der Kohärenz eines einzigen Urteils, die
nicht seine innere Widerspruchsfreiheit betrifft, sondern vielmehr sein
Entsprechen einer rein logischen Grammatik, wie Husserl sie in den
Logischen Untersuchungen untersucht hat. So wäre die Aneinanderreihung
von Begriffen „Ich“, „existieren“, „nicht“ inkohärent in dem Sinne, daß sie
überhaupt kein Urteil formulieren, wenn man das möglicherweise hier
intendierte Urteil auch vielleicht aus den aneinandergereihten Begriffen
erraten wird. In anderen Fällen, wie „Ich“, „Rot“, „gehen“, eignen sich die
aneinandergereihten Begriffe nicht einmal prinzipiell, um – in die

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146 KAPITEL 2

urteilsmäßige Einheit gebracht – zu einem Urteil führen zu können. Es


handelt sich also um in noch radikalerem Sinn inkohärente Begriffe bzw.
ein inkohärentes und nichtzustandekommendes „Urteil“. Es gibt übrigens
auch andere Formen der Verletzung oder Berücksichtigung der Gesetze
reiner rein logischen Grammatik, indem nicht bloß sinnlos aneinander
gereihte Gedankenarten diese Gesetze verletzen, sondern auch wider den
Sinn der rein logischen Grammatik verbundene Begriffsarten kombiniert
werden wie „Helfen bittet auf einem doch“.

3.1.2. Kohärenz als Relation zwischen verschiedenen Urteilen (einigen Urteilen)

Unter Kohärenz versteht man gewöhnlich jedoch nicht die innere Kohä-
renz als eine Eigenschaft eines einzigen Urteils, sondern vielmehr eine
bestimmte Art von Relation zwischen verschiedenen Urteilen. Zunächst
kann man einer Reihe von Urteilen Kohärenz dann zusprechen, wenn das
eine das andere weder leugnet noch ihm per implicationem wider-
spricht. Auch hier können es wieder entweder formallogische Gründe oder
materiallogische Zusammenhänge sein, die eine Reihe einiger Urteile
widersprüchlich oder nicht widersprüchlich machen. Wenn man eine Reihe
von Urteilen nimmt, die entweder direkt oder durch das, was aus ihnen
folgt, anderen Urteilen derselben Reihe direkt widersprechen, so finden wir
einen formallogischen Widerspruch und eine formallogische Inkohärenz
zwischen solchen Urteilen. Wenn hingegen eine Reihe von Urteilen nur
deshalb einen inneren Widerspruch enthält, weil die Natur der Sachen, von
denen sie handeln, einen solchen bedingen, können wir von einem
materiallogischen Widerspruch reden. Wenn etwa Daniel in seinem Urteil
über die Ankläger der Susanna den Widerspruch aufdeckt, der zwischen
ihren Äußerungen, unter welchem Baum der angebliche Ehebruch
stattfand, bestehen, so handelt es sich um materiallogische Widersprü-
che. Denn nur, wenn wir die Natur der Bäume und des Aktes des Ehe-
bruchs sowie die Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeiten der
Menschen kennen und berücksichtigen, zeigt sich die Widersprüchlichkeit,
daß derselbe Ehebruch unter zwei verschiedenen Bäumen statt-
fand. Abstrakt gesprochen könnte ein und dieselbe Handlung unter
verschiedenen Bäumen stattgefunden haben. Man muß hier also etwas über

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 147

die Natur menschlichen Handelns und die Eigenart von Bäumen verstehen,
um den von Daniel aufgedeckten Widerspruch zu erkennen.

3.1.3. Kohärenz sämtlicher Urteile/Sätze

Als Träger von Kohärenz innerhalb von Urteilen kommen auch


sämtliche Urteile in Frage. Man könnte die Kohärenz aller Urteile
behaupten. Doch ergibt sich schnell, sobald man die Wahrheit des Wider-
spruchsprinzips einsieht, daß eine solche Kohärenz unmöglich bestehen
kann, da es einander widersprechende Urteile gibt, ja daß sämtliche wahren
Urteile zumindest denjenigen falschen Urteilen widersprechen, die ihre
Wahrheit oder die in ihnen behaupteten Sachverhalte leugnen.

3.1.4. Kohärenz als Eigenschaft aller wahren Urteile/Sätze

Schließlich kann man Kohärenz nur allen wahren Urteilen zusprechen


und damit zunächst die innere Widerspruchslosigkeit meinen, die ihnen
zukommt. In diesem Sinne ist es zweifellos ein objektives Merkmal aller
wahren Urteile, daß sie untereinander in keinem Widerspruch stehen
können. Wäre ein solcher Widerspruch zwischen wahren Urteilen möglich,
so wäre die Einheit der Wahrheit dahin und müßte das logische Wider-
spruchsprinzip geleugnet werden, d.h. vorausgesetzt werden, daß von
einem Paar einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile auch beide
wahr sein können.
Versteht man unter Kohärenz hingegen eine sinnvolle oder notwendige
Beziehung, so würde die Behauptung, daß alle wahren Urteile auch
kohärent seien besagen, daß zwischen allen wahren Urteilen notwendige
Zusammenhänge bestehen. Damit wären wir wieder bei einer Art
deterministischer oder hegelianischer Philosophie angelangt, die keinen
eigentlichen Platz für kontingente Existenz und Freiheit ließe und deren
evidenter Gegebenheit widerspricht.

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148 KAPITEL 2

3.1.5. Kohärenz im Bereich der Erkenntnis und der Erfahrung

Kohärenz kann auch der Erkenntnis zugesprochen werden. Man könnte


sagen, daß sämtliche Erkenntnisse solcher Art seien, daß sie einander nicht
widersprächen, indem man etwa mit Platons Dialog Gorgias annimmt, daß
Erkenntnis nur von Wahrheit möglich ist.134 Wo deshalb Widerspruch in
Bereich des Erkennens vorliegt, besteht nicht wirklich reine Erkenntnis,
sondern zumindest teilweise Irrtum. In diesem Sinne ist Kohärenz ein
Wesensmerkmal der Erkenntnis, zumindest der Erkenntnis im engeren
Sinn.135
Man kann selbstverständlich auch von der Kohärenz der Erfahrung oder
einer Vielzahl von Erfahrungen sprechen, worunter man eine Mischung
aus Erlebnissen, Erkenntnissen und Meinungen versteht, wird darunter
jedoch, zumindest wenn man Erfahrung nicht ausschließlich als Erkenntnis
betrachtet, kaum eine universale Kohärenz aller Erfahrungen überhaupt
annehmen. Kohärenz ist dann vielmehr eine Eigenschaft, die etwa unsere
intersubjektiv geteilte und mitteilbare Wirklichkeitserfahrung von den je
individuellen Traumerfahrung abhebt, und der ersten innere Einheit und
Nichtwidersprüchlichkeit zuspricht, während die zweite sehr oft wider-
sprüchlich ist und gerade schon aus diesem Grunde als Traumerfahrung
von der Realitätserfahrung unterschieden wird.

3.1.6. Kohärenz der Erkenntnis/Erfahrung einer einzigen Person

Kohärenz kann man in den verschiedenen Erkenntnissen oder Erfahrun-


gen einer einzelnen Person ansetzen. In diesem Sinne ist zweifellos die
Einheit und formale oder materiale Kohärenz unserer verschiedenen
Wirklichkeitserfahrungen und Sinneswahrnehmungen ein wichtiges Krite-
rium und eine wichtige Grundlage unserer Wirklichkeitserfahrung. Wo wir
inkohärente Erfahrungen haben, werden wir uns darum bemühen zu
erkennen, welche der inkohärenten Erfahrungen auf Illusion, Täuschung

134
Auf epistemologische Wahrheit als Wesensmerkmal der Erkenntnis im engeren
Sinn sind wir in Kap. 2 von Wahrheit und Person eingegangen.
135
Siehe dazu J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, a.a.O., Teil I, Kap. 3.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 149

oder Irrtum beruhen. Auch hier kann die Kohärenz selbstverständlich eine
formallogische oder eine material-inhaltliche sein.

3.1.7. Kohärenz in der Erkenntnis und Erfahrung verschiedener Personen

Selbstverständlich kann man auch von Kohärenz, sei es im Sinne der


Widerspruchsfreiheit, sei es im Sinne einer sinnvollen inneren Verknüp-
fung, als Relation der Erfahrung verschiedener Subjekte sprechen. In
diesem Falle könnte man etwa die gemeinsame Erfahrung der Außenwelt
verschiedener Subjekte als kohärent bezeichnen und damit Kohärenz der
intersubjektiven Erfahrung bzw. der Erfahrung verschiedener Subjekte
zusprechen. Es kann umgekehrt sein, daß in bestimmten Bereichen, sei es
in der Philosophie, sei es im Leben, sei es auf der Ebene der Sinnes-
erfahrung, die Erfahrungen verschiedener Personen miteinander inkohärent
sind. Je nach den Umständen wird man die Wurzel solcher Inkohärenz in
verschiedenen Ursachen suchen, sei es in psychischer Erkrankung
einzelner Personen, sei es in Hypnose, Täuschung Einzelner, sei es in der
Schwierigkeit, der gemeinsamen Erfahrung auf der Ebene theoretischen
Denkens und nachträglicher Mitteilungen über sie treu zu bleiben, (auf
diese Weise kann man viele philosophische Meinungsverschiedenheiten
erklären), sei es aus anderen Gründen.

3.1.8. Kohärenz der Erfahrung aller Subjekte

Man könnte auch von Gemeinsamkeiten und einer Kohärenz der


Erfahrung aller Menschen sprechen, also diejenigen Momente menschli-
cher Erfahrung meinen, die allen Menschen als solchen gemeinsam sind.

3.1.9. Kohärenz als Eigenschaft objektiver Sachen und Sachverhalte

Selbstverständlich kann man Kohärenz nicht bloß auf der Ebene der
Urteile oder der Erkenntnis und Erfahrung erkennen, sondern auch im
Bereich der objektiven Sachen und Sachverhalte. Haben wir doch bereits
anerkannt, daß das Widerspruchsprinzip alles Seiende und die gesamte
Wirklichkeit beherrscht. Wenn dem jedoch so ist, muß auch alles Seiende
zumindest in dem formalen Sinne widerspruchsfrei sein, daß zwei

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150 KAPITEL 2

verschiedene Sachverhalte oder Dinge niemals einander widersprechen


können. Die Einheit des Seins als Kohärenz der Wirklichkeit im Sinne der
Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit wäre damit ein fundamentales
Merkmal des Seins. Man könnte hier von Kohärenz als einer Form der
ontologischen Wahrheit sprechen.136 Selbstredend gilt diese Art der
Widerspruchsfreiheit nicht von allem, was in irgendeinem Sinne ist, zum
Beispiel nicht von den rein intentionalen Gegenständen irriger Meinungen,
die einander zwar auch nicht als bestimmte Seiende und Gegenstände
bewußter Akte widersprechen können, aber selbstverständlich in ihrem
Inhalt und den in ihnen vermeinten Sachverhalten Widersprüche einschlie-
ßen.
Dabei kann man unter Kohärenz wiederum sinnvolle Verknüpfungen
zwischen Sachverhalten oder sogar notwendige Zusammenhänge verste-
hen. In diesen letzteren beiden Bedeutungen wird man Kohärenz manchen,
nicht jedoch allen Sachverhalten zusprechen können.

4. Kohärenz womit? Zum Terminus der Kohärenz

Man kann jedoch auch fragen, um Kohärenz näher zu bestimmen,


womit denn Kohärenz eigentlich angesetzt werde.

4.1. Kohärenz mit sich selbst (innere Kohärenz)

Aus dem früher über die widerspruchsfreien und kohärenten einzelnen


Urteile Gesagten geht bereits hervor, daß Kohärenz eine innere Eigenschaft
eines Urteils oder Dinges sein kann. Dann verstehen wir unter Kohärenz
die Widerspruchsfreiheit eines einzelnen Urteils oder auch die Wider-
spruchsfreiheit eines einzelnen Seienden. Diese Kohärenz mit sich selbst
oder innere Konsistenz und Kohärenz wird jedoch selten mit dem
Terminus Kohärenz bezeichnet.

136
Diese Art von Kohärenz verteidige ich in Josef Seifert, Überwindung des Skandals
der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 151

4.2. Kohärenz mit einigen wahren Urteilen, Erkenntnissen oder Sachverhalten

Meistens wird man Kohärenz als Relation zumindest einiger verschiede-


ner Urteile, Dinge oder Sachverhalte verstehen. In diesem Sinne kann man
einen Bericht oder ein Gesamtgefüge von Urteilen dann als kohärent
bezeichnen, wenn es weder formallogisch noch materiallogisch Widersprü-
che zwischen den einzelnen Urteilen, Erkenntnissen oder Sachverhalten
gibt, die man annimmt. Wirklichkeit, Sein unabhängig von dem bloßen
Angenommensein durch ein Subjekt, muß notwendig in diesem Sinne
kohärent sein, Urteile hingegen können sowohl kohärent als auch nicht
kohärent sein, und wenn auch reine Erkenntnisse im engeren Sinn
schlechthin und von ihrem Wesen her kohärent sind, so kann doch
innerhalb der Erkenntnissphäre, insoferne sie mit Urteilen und falschen
Annahmen gemischt sein mag, Inkohärenz in diesem Sinne bestehen.

4.3. Kohärenz aller Urteile, aller Dinge, aller Erkenntnisse

Kohärenz kann schließlich als eine Relation zwischen allen Gegebenhei-


ten einer bestimmten Art verstanden werden. In diesem Sinne könnte man
mit recht sagen, daß alle Seienden und alle Sachverhalte miteinander
kohärent sein müssen, da es in der Wirklichkeit und im Sein keinen
Widerspruch geben kann, wie Platon in dem zu Anfang dieses Kapitels
zitiertem Text aus dem Gorgias zum Ausdruck bringt. Dies gilt auch alle
realen Seienden, für alle echten idealen Gegenstände und idealen
Wesenheiten. Für rein intentionale Gegenstände gilt ihre Kohärenz und
Widerspruchsfreiheit freilich nur insofern auch sie bestimmte Seiende sind
und etwa auch Hamlet nicht zugleich und im selben Sinn der Prinz von
Dänemark sein und nicht sein kann, nicht für ihren Inhalt, der durchaus
widerspruchsvoll sein kann, da der Geist widersprüchliche Gedanken und
damit auch Gegenstände wie viereckige Kreise denken kann, deren
Elemente Widersprüche einschließen.
Die Gesamtkohärenz der Wirklichkeit, als die Widerspruchsfreiheit der
gesamten Wirklichkeit, ergibt sich streng aus dem Widerspruchs-
prinzip. Aus der Eigenart der Sachgesetze ergibt sich ferner, daß auch
Inkohärenz im Sinne des Widerspruchs zur Natur der Dinge oder gar zu

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152 KAPITEL 2

notwendigen Sachverhalten nicht in der Wirklichkeit möglich ist,


zumindest wenn diese sinnvollen oder notwendigen Sachgesetze solcherart
sind, daß sie die Wirklichkeit schlechthin beherrschen. Wo es sich um
Sollensgesetze handelt, kann selbstverständlich die Wirklichkeit auch von
notwendigen Zusammenhängen abweichen.
Kohärenz aller Urteile hingegen besteht in keiner Weise. Gibt es ja unter
den Urteilen zahllose mögliche und wirkliche Paare einander kontradikto-
risch entgegengesetzter Urteile, von denen das Widerspruchsprinzip gerade
besagt, daß sie nicht wahr sein können, eben weil sie inkohärent sind.

4.4. Kohärenz mit der bereits erkannten Wahrheit, Wirklichkeit oder mit der
bereits gewonnenen Erkenntnis

Kohärenz als Erkenntniskriterium ist, wie wir sehen werden, oft mit
diesem Sinn von Kohärenz befaßt. Wir können von der Widerspruchs-
freiheit, oder sogar von der sinnvollen und notwendigen Einheit
bestimmter Sachverhalte, Wahrheiten, oder Erkenntnisse mit bereits als
wahr erkannten Urteilen oder als wirklich erkannten Sachverhalten
sprechen. Wenn Kohärenz notwendige Verknüpfung bedeutet, so ergibt
sich aus Kohärenz notwendig die Wahrheit dessen, was mit bereits
erkannten Sachverhalten oder Wahrheiten notwendig verknüpft ist. Darauf
beruht u.a. die Logik der formal-logischen Schlüsse. Kohärenz, insoferne
sie eine bloß sinnvolle, aber nicht notwendige Verknüpfung neuer
Sachverhalte, Erkenntnisse oder Urteile mit bereits erkannten Wahrheiten
bedeutet, ist kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit, wie wir sehen
werden, spielt jedoch innerhalb der Kriteriologie der Wahrheit dennoch
eine wichtige Rolle, auf die wir zurückkommen werden. In diesem Sinne
ist jedoch Kohärenz zweifellos kein schlechthin notwendiges Kriterium der
Wahrheit.
Wenn Kohärenz bloße Widerspruchsfreiheit bedeutet, so ist, wie Fichte
glänzend nachweist, auch wenn wir seinen allgemeinen philosophischen
Ansatz in keiner Weise teilen und meinen, dieser widerspreche seinen
diesbezüglichen Ausführungen, Kohärenz keineswegs genug, um Wahrheit
zu garantieren. Denn etwas kann mit allen von uns erkannten Wahrheiten
übereinstimmen, ohne deshalb auch schon wahr zu sein, wie etwa eine

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 153

differenzierte Theorie von Luftgeistern, die mit keinem bekannten Faktum


in Widerspruch steht, dennoch aber völlig falsch und willkürlich sein mag.

4.5. Kohärenz als Eigenschaft bzw. Relation aller wahren Urteile, aller Fakten,
oder aller Erkenntnisse

Wie bereits vorher erwähnt, muß Kohärenz im Sinne der Widerspruchs-


freiheit, wenn auch nicht im Sinne sinnvoller oder notwendiger
Verknüpfung, als wesensnotwendige Eigenschaft sämtlicher wahrer Urteile
anerkannt werden. In diesem Sinne wäre Kohärenz Merkmal der
Wahrheit. Ebenso besteht eine Kohärenz aller wirklich bestehenden Sach-
verhalte und Wirklichkeiten, aber auch echter Wesenheiten und idealer
Seiender, ja sogar tatsächlicher rein intentionaler Gegenstände insofern sie
„schwache“ Seiende sind, weil das ontologische Widerspruchsprinzip
unbedingt gilt. Und wenn wir die Erkenntnis im engeren Sinn meinen, und
erkennen, daß diese Erkenntnis ihrem Wesen nach nur von dem möglich
ist, was wirklich ist und daß wir im strengen Sinne niemals das Bestehen
kontradiktorischer Sachverhalte erkennen können, so gilt das Prinzip der
vollständigen inneren Kohärenz auch von aller Erkenntnis. Natürlich gilt es
nur in einem negativen Sinne vom Inhalt rein intentionaler Gegenstände,
weil Menschen ständig widersprüchliche Gedanken denken und Sachver-
halte, wenigstens implizite, annehmen.

5. Kohärenz und Wahrheit

Kohärenz kann in zumindest sieben verschiedenen Weisen in Bezug zur


Wahrheit gesetzt werden. Sie kann 1) mit dem Wesen der Wahrheit
identifiziert werden. Sie kann 2) als zum Wesen der Wahrheit gehörendes
Merkmal betrachtet werden. Sie kann 3) als Wahrheitsbedingung oder 4)
als Grund der Wahrheit, oder auch 5) als Kriterium für Wahrheit anerkannt
werden. Sie kann 6) schließlich als Konsequenz oder Folge von Wahrheit
betrachtet oder mit der 7) Erkenntnis der Wahrheit in Bezug gebracht
werden. Wir wollen uns diesen sieben möglichen Interpretationen der
Kohärenz im Hinblick auf Wahrheit im Folgenden zuwenden.

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154 KAPITEL 2

5.1. Kohärenz darf nicht mit dem eigentlichen Wesen der Wahrheit identifiziert
werden

Daß die Wahrheit eines Urteils nicht darin besteht, daß dieses Urteil,
isoliert von allen anderen betrachtet, kohärent ist und sich nicht selbst
widerspricht oder daß es nach den Gesetzen einer rein logischen
Grammatik gebaut ist, liegt auf der Hand und dies brauchen wir daher
nicht näher zu erörtern, weil offensichtlich der größte Teil falscher Urteile
weder sich selbst noch einer rein logischen Grammatik widersprechen.
Man denke an die Behauptung: „Die Außentemperatur aller Länder und
Kontinente auf dieser Erde ist 5 Millionen Grad Celsius.“ Darüber, daß
dieses sich offenbar nicht selbst widersprechende Urteil falsch ist,
brauchen wir kein Wort zu verlieren.
Wenn man Kohärenz als Wesen der Wahrheit selbst betrachtet, so wäre
eine erste minimal plausible Form der Kohärenztheorie die, welche ein
System oder ein Ganzes von Sätzen oder von Urteilen dann für wahr
erklärt, wenn diese verschiedenen Sätze oder Urteile keinen logischen
Widerspruch untereinander einschließen, sei es, daß ein solcher logischer
Widerspruch ein rein formallogischer, sei es, daß er materiallogisch
begründet wäre. In diesem Sinne könnte man behaupten, daß ein Ganzes
von Urteilen dann wahr sei, wenn die in ihm enthaltenen Urteile in sich
selbst und miteinander stimmig sind und keinen Widerspruch enthal-
ten. Man könnte diesen Begriff der Kohärenz als Wesensbestimmung der
Wahrheit auch dahingehend ausweiten, daß kein Urteil oder Satz in einem
kohärenten System, und keine Folge eines solches Satzes, mit anderen
Urteilen desselben Gesamtgefüges und mit deren logischen Konsequenzen
im Widerspruch stehen darf. Sei es in diesem Sinn kohärent, sei es auch
wahr.
Nun kann man sich natürlich erstens nach dem näher zu bestimmenden
Subjekt dieser Kohärenz fragen. Was wird hier mit einem System oder
Ganzen von Urteilen (Sätzen) gemeint? Meint man das einzelne Urteil, so
ist zweifellos weder seine logische Widerspruchsfreiheit, noch seine
Gemäßheit den Regeln einer rein logischen Grammatik mit seiner Wahr-
heit zu identifizieren. Denn alle sinnvollen falschen Sätze entsprechen ganz
offensichtlich ebenso diesem Kriterium.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 155

Meint man hingegen jedes Ganze, das aus mehreren (einigen) Urteilen
besteht, und behauptet man dann, daß dasselbe schon deshalb wahr sei,
weil die einzelnen Urteile einander nicht widersprächen, dann könnte man
mit Fichtes Wissenschaftslehre sagen, daß zweifellos Wahrheit nicht in
einer solchen Kohärenz bestehen kann, denn wir könnten, wie Fichte (im
Widerspruch zur oben zitierten radikal kohärenztheoretischen Aussage)
ausführt, ein System von kohärenten Sätzen über Luftgeister entwickeln,
die niemand erkannt hat und für deren Existenz es keinerlei Anhaltspunkt
gibt, weshalb alle diese kohärenten Urteile wahrscheinlich falsch
wären.137 Gleichwohl könnte man ein solches System als ein in sich
stimmiges, kohärentes und nicht widersprüchliches System von zahllosen
Sätzen über diese Luftgeister entwickeln. Ein solches System wäre völlig
widerspruchsfrei und nicht nur in sich, sondern auch mit allen uns
bekannten wahren Urteilen kohärent. Nehmen wir an, daß ein solches
System keinem einzigen als wahr bekannten Urteil widersprechen würde,
so wäre es doch aus diesem Grunde allein in keiner Weise wahr. Im
gegebenen Falle wäre ein solches System von Luftgeistern ein reines
Produkt der Phantasie und jeder müßte zugeben, daß es mit höchster
Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht der Wahrheit der Dinge entspricht,
weil es auf keinerlei Evidenz beruhen würde und völlig willkürlich
wäre. Die Wahrheit eines solches Systems könnte also nur einem äußersten
Zufall zu verdanken sein und deshalb in keiner Weise angenommen
werden.
Nun könnte der Kohärenztheoretiker sagen, er meine mit einem
kohärenten System von Sätzen nicht nur ein bestimmtes partikuläres
Ganzes von Urteilen, er meine vielmehr eine kohärente Einheit aller
Urteile überhaupt.
Aber auch, einen solchen Kohärenzbegriff als Grundlage der Wesens-
definition der Wahrheit einzuführen, geht nicht an. Denn unter allen Sätzen
überhaupt gibt es zweifellos viele, die anderen offensichtlich wider-
sprechen. Deshalb ist es absolut unmöglich zu behaupten, alle Urteile die
je gefällt wurden, seien wahr, weil sie kohärent seien. Denn sie sind ganz
gewiß nicht alle kohärent, sondern widersprechen einander zu einem

137
Siehe Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten
Philosophie, S. 31 ff.

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156 KAPITEL 2

großen Teil. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für das
tägliche Leben, für Lügen, für Gerichtsprozesse und sonstige Urteile.
Daher kann ganz gewiß Kohärenz als Übereinstimmung aller Sätze
überhaupt nicht behauptet werden und erst recht nicht das Wesen der
Wahrheit ausmachen. Allerdings gibt es Philosophen, die Kohärenz als
solche nicht als logische Widerspruchsfreiheit definieren, sondern einer-
seits in einem stärkeren, andererseits in einem schwächeren Sinn als
notwendige Verknüpfung aller Urteile, inklusive widersprüchlicher
Urteile. So etwa nimmt, wie schon bemerkt, Hegel eine Art dialektische
Kohärenz selbst im Widerspruch an und meint, daß alle Gedanken,
einschließlich aller widersprüchlichen Gedanken, notwendig miteinander
innerhalb der Entfaltung des Weltgeistes bestehen, also notwendig
miteinander verknüpft und zugleich widersprüchlich sind.138 Doch ist dies

138
Vielleicht der bekannteste Satz dieses Inhalts stammt aus der “Vorrede” zu
Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3/11:
So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu
anderen Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges
Interesse hereingezogen und das, worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt,
verdunkelt. So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt
sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches
System zu erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das
andere zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als
die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den
Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man
könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für
ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von
dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als
unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der
organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig
als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.
Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf
diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn
von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und
sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
Und ebd. 3/23-3/24:
Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich
vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es
erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches,
Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das
Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung
diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 157

zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine. Sowenig, wenn ich sage:
alle Tiere, dies Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fällt es auf, daß die Worte des
Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, 3/24 was darin enthalten ist; –
und nur solche Worte drücken in der Tat die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was
mehr ist als ein solches Wort, der Übergang auch nur zu einem Satze, enthält ein
Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung. Diese aber ist das,
was perhorresziert wird, als ob dadurch, daß mehr aus ihr gemacht wird denn nur dies, daß
sie nichts Absolutes und im Absoluten gar nicht sei, die absolute Erkenntnis aufgegeben
wäre.
Dies Perhorreszieren stammt aber in der Tat aus der Unbekanntschaft mit der Natur der
Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst. Denn die Vermittlung ist nichts anderes als
die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das
Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion
herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln
ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare
selbst. — Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren
ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird. Sie ist es, die das
Wahre zum Resultate macht, aber diesen Gegensatz gegen sein Werden ebenso aufhebt,
denn dies Werden ist ebenso einfach und daher von der Form des Wahren, im Resultate sich
als einfach zu zeigen, nicht verschieden; es ist vielmehr eben dies Zurückgegangensein in die
Einfachheit.
Noch drastischer formuliert Hegel diesen Gedanken in seiner Ohlert-Rezension
„Der Idealrealismus. Erster Teil. Auch unter dem besonderen Titel:
Der Idealrealismus als Metaphysik in die Stelle des Idealismus und Realismus
gesetzt. Von Dr. Alb. Leop. Jul. Ohlert“ 11/471-11/472:
Der Herr Verfasser wäre glücklich zu 11/472 preisen, wenn ihm in der Welt, in der Natur
und in dem Tun und Treiben wie im Denken der Menschen noch keine Widersprüche, wenn
ihm noch keine sich selbst widersprechenden Existenzen vorgekommen wären; er sagt mit
Recht, der Widerspruch hebe sich auf, aber daraus folgt nicht, daß „er nicht existiert“; jedes
Verbrechen, wie jeder Irrtum, überhaupt aber jedes endliche Sein und Denken ist ein
Widerspruch; so sehr, daß noch weiter sogar gesagt werden muß, daß es nichts gibt, in dem
nicht ein Widerspruch existiert, der sich aber freilich ebensosehr aufhebt. Allein in dem
selbst, was darüber vorgebracht ist, ist wohl der größte Widerspruch nicht zu verkennen, die
Beschaffenheit des Geistes (Beschaffenheit ist ein Ausdruck, der für den Geist, vollends wo
von der Natur desselben die Rede sein soll, wohl ungeeignet ist), nichts Widersprechendes
denken zu können, soll selbst die Ursache sein, – von was? – davon, daß man Widersprüche
erblickt, nicht mit den leiblichen Augen, die Natur soll keine darbieten, sondern mit den
Augen des Geistes, d. i. daß er solche überhaupt in seinem Bewußtsein hat und sogar denkt;
sie soll Ursache sein, daß man sie zu lösen sucht; wenn sie nicht existierten, wo es sei, in der
äußeren oder inneren Erfahrung des Denkens, würde man nicht in Versuchung kommen
können, sie lösen zu wollen. Wenn auch der Herr Verfasser dieselben auf das Verhältnis von
Geist und Natur, von innerer und äußerer Erfahrung (willkürlich) beschränkt und solche
Widersprüche nachher anführt, so ist er eben damit im Falle, von Widersprüchen zu wissen,
sie zu denken, ihre Quelle anzugeben. – Der Herr Verfasser hat sich gegen das, was er in der
Erfahrung, noch mehr aber im Denken unzähligemal muß vorgefunden haben, durch ein

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158 KAPITEL 2

ein abzulehnender und außerdem überaus obskurer Gedanke, mit dem wir
uns in diesem Kontext nicht näher beschäftigen wollen.
Nach den bisherigen Ergebnissen darf man also gewiß nicht behaupten,
ein kleiner Bereich von Urteilen oder Sätzen, die nicht in Widerspruch
zueinander stehen, die also kohärent sind, wie das System von Sätzen über
Luftgeister, seien damit eo ipso wahr. Man kann zweifellos nicht
behaupten, daß die Kohärenz einiger Urteile miteinander oder auch mit den
als wahr bekannten Urteilen bereits ihre Wahrheit ausmache. Ebensowenig
darf man auch die Wahrheit von Urteilen mit der Kohärenz aller Urteile
identifizieren, denn eine solche Identifizierung würde voraussetzen, daß
alle Urteile überhaupt untereinander kohärent seien. Eine solche universale
Kohärenz aller Urteile und Sätze, die ihre Wahrheit ausmachen soll,
besteht aber offensichtlich nicht.
Gehen wir nun zur inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz zurück und
betrachten eine neue Bedeutung dieses Terminus: Unter Kohärenz können
wir auch, anstatt einer einfachen Übereinstimmung von Sätzen unterei-
nander oder einer Übereinstimmung aller Sätze (die wegen der Wider-
sprüchlichkeit vieler überhaupt nicht möglich ist) oder einer Übereinstim-
mung einiger wahrer Urteile mit einander, die Übereinstimmung aller
wahren Sätze139 untereinander verstehen.
Von dieser umfassenden Nichtwidersprüchlichkeit muß man zwar
zugeben, daß sie Merkmal der Wahrheit ist, doch stellt auch die so
verstandene Kohärenz keine korrekte Theorie des Wesens der Wahrheit
dar. Auch Kohärenz als umfassende Widerspruchsfreiheit der Wahrheit in
sich und als Übereinstimmung mit sämtlichen wahren Urteilen beantwortet
überhaupt nicht die Frage, was die Wahrheit ist und worin die Wahrheit

gewöhnliches Schulgeschwätze bereden lassen, die allerunwahrste Annahme, daß es keine


Widersprüche in der Natur und im Bewußtsein gebe, blindlings zu machen.
Oder auch in der Schulze-Rezension „Verhältnis des Skeptizismus zur
Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung
des neuesten mit dem alten. Kritik der theoretischen Philosophie von Gottlob
Ernst Schulze, Hofr. und Prof. in Helmstädt.“ Hamburg bei C. E. Bohn, 1801, 1.
Band 728 S., Vorr. XXXII S.; 2. Band 722 S., Vorr. VI S. Ebd., 2/228-2/229.
139
Hier wie im folgenden wird Satz nicht im vorher unterschiedenen linguistischen
Sinn, sondern als Synonym mit den in Sätzen ausgedrückten Urteilen verstanden,
also als Proposition, nicht als sprachlicher Satz.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 159

besteht. Denn indem man die so verstandene Kohärenz der Wahrheit und
ihren Begriff definieren will, setzt man schon wieder Wahrheit im Sinn der
adaequatio voraus, da es nicht nur um umfassende Widerspruchsfreiheit in
sich, sondern um Freiheit des Widerspruchs zu allen wahren Urteilen geht;
um diese aber aus dem Gesamtreich aller Urteile auszusondern, bedarf
man bereits des Verstehens, daß Urteilswahrheit nicht in bloßer Kohärenz
besteht. Und auch aus diesem Grunde kann man sagen, daß Kohärenz im
Sinn der logischen Nichtwidersprüchlichkeit aller wahren Sätze in sich und
mit allen anderen wahren Sätzen nicht das Wesen der Wahrheit, sondern
nur ein Merkmal, eine Folge und, in rein logischer Hinsicht betrachtet, eine
Bedingung von Wahrheit angibt.
Umfassende Widerspruchsfreiheit aller Wahrheit in sich und mit aller
anderen Wahrheit ist nicht bloß ein negatives Kriterium für Wahrheit in
dem Sinne, daß nichts wahr sein kann, das diese Bedingung nicht
erfüllt. Vielmehr ist umfassende innere Widerspruchslosigkeit der
Wahrheit in sich und ihre Freiheit von Widerspruch zur gesamten Welt
wahrer Urteile ein ausschließliches Merkmal der Wahrheit. In diesem
umfassenden Sinne kann kein System von Lügen oder Irrtümern Wider-
spruchsfreiheit und Kohärenz besitzen.
Um aber überhaupt zu bestimmen, welche Kohärenz Bedingung,
ausschließliches Merkmal und teilweises Kriterium der Wahrheit ist, setzt
man schon wieder in vielfacher Weise Wahrheit im Sinn der adaequatio
voraus. Nicht nur beansprucht diese Aussage selbst für sich Wahrheit im
Sinne der Adäquatio. Nicht nur setzt sie die Angemessenheit an die
Wirklichkeit (Adäquation) jener wahren Urteile voraus, mit denen alle
Wahrheit übereinstimmen muß. Vielmehr leuchtet die umfassende und not-
wendige Übereinstimmung aller wahren Urteile untereinander ausschließ-
lich dann ein, wenn man auf Grund der einsichtigen Nichtwidersprüch-
lichkeit des Seins und auf Grund des Wesens der Wahrheit als Überein-
stimmung mit tatsächlich bestehenden Sachverhalten ebenfalls einsieht,
daß Wahrheit widerspruchsfrei sein muß und nur sie allein mit allen
wahren Urteilen im Einklang stehen kann. Außerdem leuchtet das, was
Widersprüchlichkeit und Widerspruchsfreiheit bedeutet, überhaupt erst von
der behauptenden Struktur des Urteils und damit von ihrem Anspruch auf
adaequatio her ein.

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160 KAPITEL 2

Im übrigen könnte man gegen jede Form der Kohärenztheorie als


Wesenstheorie von Wahrheit einwenden, daß die Frage, worin die
Wahrheit eines Urteils besteht, selber evidenter Erkenntnis fähig ist, und
daß wir – abgesehen vom inneren Widerspruch jeder alternativen
Wahrheitstheorie und ihrer Voraussetzung der Wahrheit als Übereinstim-
mung – einsehen können, daß ein Urteil, indem es einen Sachverhalt
behauptet und indem es deshalb beansprucht, in seiner Setzung und
Behauptung mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts zusammenzutref-
fen, nur wahr ist, weil und insoferne es tatsächlich in seiner urteilsmäßigen
Setzung mit dem Selbstverhalten der Dinge zusammentrifft. Es wird von
der „Sache Wahrheit“ selbst unmittelbar einsichtig, daß die Wahrheit des
Urteils eben in nichts anderem liegen kann als in dieser Korres-
pondenz. (Die Adäquationstheorie heißt auch oft Korrespondenztheorie der
Wahrheit.) Dabei liegt Wahrheit nicht in irgendeiner Korrespondenz oder
Adäquation, sondern nur in jener besonderen, ausführlich erörterten Form
der Adäquation, die die Wahrheit des Urteils ausmacht.
Insofern könnte man sich hier auch mit Brentano auf Evidenz als ein
letztes unaufgebbares Wahrheitskriterium berufen, d.h. man könnte
sagen: Die Struktur des Urteils ist höchst intelligibel und einleuchtend und
auf sie gründet sich die evidente Erkenntnis, daß Urteilswahrheit nicht
Kohärenz, sondern eine besondere Form der Korrespondenz ist. Es leuchtet
ebenso ein, was die Behauptungsfunktion des Urteils ist und worin die
Bezogenheit des Urteils auf einen Sachverhalt, den es behauptet, besteht
und daß daher keine andere Eigenschaft des Urteils das Urteil wahr zu
machen vermag als diese: daß es mit dem von ihm behaupteten
Sachverhalt übereinstimmt.
Die Unaufgebbarkeit der klassischen Adäquationstheorie leuchtet
doppelt ein, wenn man Kohärenz als Wahrheit ohne den Begriff der
Wahrheit als Adäquation definieren will. Sobald man dies versucht, sieht
man, wie Fichte sagt, daß ganz absurde phantastische Systeme, die aber
kohärent sind und auch mit allen bekannten wahren Urteilen
übereinstimmen, auf Grund ihrer Kohärenz auch wahr sein müßten, was
vom evidenten Wesen der Wahrheit her nicht der Fall ist.
So braucht man sich also zur Widerlegung jedweder Kohärenztheorie
als Wesenstheorie der Wahrheit nicht bloß darauf zu berufen, daß die
Kohärenztheorie der Wahrheit, um überhaupt Kohärenz zudefinieren,

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 161

schon wieder Übereinstimmung voraussetzt. (Dies stellt übrigens auch


Nicolas Rescher in seinem Buch fest.)140 Vielmehr erwies es sich auch als
unmittelbar evident bzw. als von der Struktur des Urteils selbst her
einleuchtend, daß eben Wahrheit in der analysierten Art von Adäquation,
nicht aber in Kohärenz als solcher besteht.
Nun sind allerdings durch die bisherigen Analysen noch nicht sämtliche
Möglichkeiten einer Kohärenztheorie erschöpft. Denn Kohärenz wurde
nicht nur als partielle oder umfassende logische Nichtwidersprüchlichkeit
von Urteilen definiert, sondern man könnte auch grundsätzlich verschie-
dene Bedeutungen von Kohärenz annehmen, z.B. die gegenseitige
Bestätigung verschiedener Erfahrungen, etwa in einem Peirce’schen Sinn,
oder auch im Sinn der Phänomenologen. „Kohärenz“ hätte dann Bezug auf
das Netz von Erfahrungen und Sinneserfahrungen. Deren „Kohärenz“ in
diesem neuen Sinne bestünde dann darin, daß die verschiedenen Erleb-
nisse, Sinneswahrnehmungen und Erkenntniserlebnisse einander bestäti-
gen, d.h. daß sie nichts von einander Abweichendes feststellen. So würde
man also nicht die bloße logische Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen
oder Sätzen als Kohärenz bestimmen, sondern vielmehr über die
inhaltliche Nichtwidersprüchlichkeit hinaus die gegenseitige Ergänzung
und Bestätigung der verschiedenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und
Erkenntnisakte als Kohärenz bezeichnen.
Wenn dieses Phänomen der gegenseitigen Bestätigungen vieler
Erfahrungen, also nicht ein rein logisches Nichtwidersprüchlichsein von
wahren Sätzen, sondern die innere Einheit des Erkenntnisprozesses und der
Erfahrung sowie deren Objektes selbst als etwas, was uns keine
Widersprüche zeigt, und – darüber hinaus – die sachlich-materiale
sinnvolle Verknüpfung der Natur der Dinge, die die Erfahrung uns
erschließt, als Kohärenz definiert wird, dann muß man diese Theorie
anders behandeln. Aber dieser Kohärenzbegriff führt eigentlich über unser
Thema hinaus, weil die Kohärenztheorie in diesem Sinne eigentlich nicht
mehr eine Theorie der rein logischen Wahrheit ist, wie sie uns hier
beschäftigt, sondern vielmehr dann Kohärenz im Sinn einer inneren
gnoseologischen Harmonie der Erkenntnisakte und einer eines entspre-
chenden ontologischen sinnhaften und notwendigen Zusammenhalts der

140
Siehe N. Rescher, The Coherence Theory of Truth.

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162 KAPITEL 2

Dinge gedacht wird. Und das ist ein Gegenstand für Ausführungen über
Erkenntnistheorie und Ontologie, aber nicht über die logische Definition
oder das Wesen der logischen Wahrheit. Außerdem nähert sich die so
verstandene Kohärenz der Evidenztheorie der Wahrheit, von der wir
ausführlich gehandelt haben, der pragmatistischen oder auch der Konsens-
theorie, von denen wir noch handeln werden. Auf jeden Fall kann die
Wahrheit des Urteils ebensowenig auf die Kohärenz der Erfahrung oder
des Erkenntnisprozesses reduziert werden wie auf Evidenz oder Überein-
stimmung mit derselben, worauf wir bereits hingewiesen haben. In
manchen Versionen fällt diese Interpretation der Kohärenztheorie auch mit
verschiedenen erörterten Bedeutungen ontologischer Wahrheit zusammen.
Es gibt jedoch, wie wir gesehen haben, noch andere Weisen, Kohärenz zu
bestimmen und für das Wesen der Wahrheit zu halten. Man könnte der
inneren Kohärenz eines Urteils die Kohärenz mit anderen Urteilen
gegenüberstellen.
Dabei könnte zunächst Kohärenz als Stimmigkeit eines Urteils mit
manchen anderen Urteilen interpretiert werden. Man könnte dann die
Kohärenz mit manchen anderen Urteilen näher bestimmen, z.B. als
Kohärenz mit den Urteilen der Fachleute oder mit den Urteilen der
Weisen. Wird Kohärenz in dieser Weise verstanden, ergibt sich ein
Übergang von der Kohärenztheorie zur Konsenstheorie der Wahrheit, von
der wir noch ausführlich handeln müssen. Und schließlich könnte man
unter Kohärenz auch nur das Zusammenstimmen mit wahren Urteilen oder
mit schon als wahr erkannten Urteilen verstehen.
Wir sehen leicht, daß Kohärenz in keiner dieser Bedeutungen das
Wesen der Urteilswahrheit ausmachen kann. Denn das Wesen der
Wahrheit ist weder die notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander
noch die Verknüpfung der Wahrheit von Urteilen miteinander. Denn es
gibt ja evidenterweise viele Urteile, die wahr sind und die dennoch nicht
notwendig mit anderen verknüpft sind. Außerdem können wir einsehen,
daß die bloße notwendige Verknüpfung von Wahrheiten als solchen, z.B.
die logische Verknüpfung verschiedener Urteile, die notwendig aus
einander folgen, nichts für die Wahrheit beweist. Jeder Logiker weiß, daß
ein Urteil gültig aus anderen Urteilen erschlossen werden kann, aber daß,
wenn die Prämissen falsch sind, die Tatsache, daß die Konklusion aus den
Prämissen folgt, die Wahrheit dieses Urteils weder beweist noch

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 163

verbürgt. Deshalb scheidet auch von diesem Gesichtspunkt aus die


Kohärenztheorie als korrekte Wesensanalyse der Wahrheit aus und erst
recht kann eine bloße sinnvolle Verknüpfung oder Nichtwidersprüchli-
chkeit von Urteilen nicht das Wesen der Wahrheit ausmachen.
Nichtwidersprüchlichkeit mit allen Urteilen ist unmöglich, Nichtwider-
sprüchlichkeit mit manchen Urteilen als solche beweist nicht einmal die
Wahrheit, kann also erst recht nicht ihr Wesen ausmachen, usf. Also muß
man alle erwähnten Formen von Kohärenz als Wesensbeschreibung der
Wahrheit ausschließen.
Vielleicht sollte man im Kontext einer Diskussion der Kohärenztheorie,
aber auch der Evidenztheorie, auf einen anderen Grund aufmerksam
machen, der dazu bewogen hat, die Adäquationstheorie der Wahrheit
abzulehnen. Es geht dabei um einen besonderen neuen Grund für die
Meinung, daß adaequatio nicht das Wesen der Wahrheit ausmachen
kann. Es handelt sich hier nicht um die Unmöglichkeit der Erkenntnis der
Adäquatio, und auch nicht um andere Probleme, auf die Brentano seine
Verwerfung der Adäquationstheorie stützt, insbesondere, daß die Res
scheinbar verfliegt, wenn man bestimmte Arten wahrer Urteile näher
betrachtet. Vielmehr geht es um zwei Gedanken, auf die man auch in
Brentanos Wahrheitsaufsätzen stößt und die u.a. Karen Gloy berücksichtigt
hat. 1. Erkenntnis, so sagt man, könne nicht als eine kausale Wirkung oder
ein Abbild der Wirklichkeit betrachtet werden, ohne daß sich eine solche
Wahrheitskonzeption in verschiedene Widersprüche verwickeln und in
einen Skeptizismus geraten würde. 2. Andererseits betrachtet man die Idee,
daß Wahrheit eine Kohärenz oder Korrespondenz zwischen Urteil und
Wirklichkeit sei, als eine zu materialistische Abbildtheorie, da ja Urteile
kein Bild oder Abbild der Wirklichkeit sind.
Wenn wir mit dem letzten Grund der Abweisung der Adäquations-
theorie beginnen, dann läßt sich darauf erwidern, daß in ihm das
eigentliche Wesen der adaequatio verfehlt wird. Alexander Pfänders
Logik141 macht dies hinreichend klar, indem er zeigt, daß die Idee, daß das
Urteil eine Art Kopie, eine Art Bild des Sachverhalts ist, völlig verfehlt
ist. Das Urteil unterscheidet sich ja radikal vom in ihm behaupteten
Sachverhalt. Es ist nicht ein Abbild, es ist vielmehr ein eigentümliches

141
Siehe A. Pfänder, Logik, a.a.O., Kap. 1.

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164 KAPITEL 2

logisches Gebilde, das etwas behauptet, ja dessen innerstes Wesen von


dieser behauptenden Funktion bestimmt ist. Es ist auch nicht dem
Sachverhalt ähnlich, es ist ja kein Bild im buchstäblichen Sinn. Wenn man
deshalb versteht, daß unter adaequatio gar kein Bild der Wirklichkeit
gemeint ist, sondern ein ganz anderes Verhältnis, nämlich das logische
Verhältnis des Zusammentreffens der behauptenden Setzung des Urteils
mit dem Selbstverhalten der Sache, dann fällt dieser Einwand weg.
Man kann in diesem Einwand aber auch einen ganz anderen Aspekt im
Auge haben, nämlich den der Erkenntnis von Sachverhalten. In der Tat,
wenn man die Erkenntnis als Abbild oder als kausale Wirkung von
sinnlichen Ursachen betrachten wollte, dann müßte man Gloy durchaus
zugestehen, daß eine solche Abbildtheorie der Erkenntnis die Erkenntnis
auflösen würde. Denn Erkenntnis schließt eine Transzendenz, einen
Zugang zu den Sachen selbst ein und kann nicht nur ein Abbild in unserem
Geist sein. Denn wäre sie nur dies, dann könnten wir niemals feststellen,
daß ein solches „Erkenntnisbild“ in unserem Geist mit einer Wirklichkeit
außerhalb desselben, die wir als solche nie sehen und verstehen können,
übereinstimmt. Daher muß jede Erkenntnistheorie, die überhaupt Erkennt-
nis als solche begründet, in der Lage sein, eine Transzendenz, ein Hinaus-
gehen des Subjekts über irgendwelche Bilder oder immanente Bewußt-
seinsinhalte zu den Sachen selbst, zu den intelligiblen Formen und
Strukturen der Wirklichkeit selbst oder zur Existenz der Wirklichkeit
selbst, zu begründen. Denn sonst bewegt sie sich in einem Subjektivis-
mus. So könnte man auf K. Gloys Einwand antworten, daß eine
angemessene Erkenntnistheorie, die die primitive Epistemologie einer
Abbild- oder einer bloßen Kausalrelation zwischen Objekt und Geist
überwindet und den Zugang der Erkenntnis (in unmittelbarer Evidenz oder
auch in Schlüssen und Schlußfolgerungen) zur Wirklichkeit begründet,
nicht den besagten Einwänden untersteht. Eine nähere Ausführung der
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis behandelten wir im Kapitel
über Erkenntniswahrheit des ersten Bandes. Sie gehört in eine erkenntnis-
theoretische Abhandlung, aber man sieht daraus, wie die Logik und die
Erkenntnistheorie eng zusammenhängen.
Wir haben bisher in erster Linie Kohärenz als Nichtwidersprüchlichkeit
von Urteilen im Auge gehabt und darüber gesprochen. Man könnte aber
bei einer Verteidigung der Kohärenz als Wesen der Wahrheit den primären

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 165

Akzent auf zwei andere Bedeutungen von Kohärenz legen, von denen die
erste bei Hegel und Bradley eine zentrale Stellung einnimmt, aber auch
unabhängig von Hegels und Bradleys Kohärenztheorie eine wichtige Rolle
spielt. Kohärenz könnte, wie oben erklärt, eine notwendige Verknüpfung
von Urteilen und von deren Wahrheit meinen. Hegel und Bradley nehmen
eine solche notwendige Verknüpfung der gesamten Wirklichkeit und
Wahrheit an. Man könnte jedoch auch sagen, Kohärenz bestehe nicht
ausschließlich in notwendigen Zusammenhängen, sondern auch dort, wo
bloß eine sinnvolle Verknüpfung von verschiedenen Urteilen vorliege. In
diesem Sinn spielt Kohärenz in einem kriminalistischen Fall als Kriterium
eine wichtige Rolle, wenn alle Evidenzen und Zeugenaussagen sinnvoll
miteinander verknüpft sind.
Je nachdem, was man unter Kohärenz eigentlich versteht, ist natürlich
die Frage, ob die Kohärenztheorie der Wahrheit eine gute Theorie
irgendeiner der sieben Aspekte der Wahrheit darstellt, ganz verschieden zu
beantworten, wie wir gleich sehen werden.
Daß Kohärenz nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht, können wir
auch aufgrund einer unmittelbareren Einsicht in die evidente Struktur der
Wahrheit erkennen. Wir können einfach verstehen, daß die notwendige
Verknüpfung von Urteilen untereinander nicht das ist, was wir mit
Wahrheit meinen. Dies geht schon daraus hervor, daß wir weiter fragen
können: „Sind Urteile, die notwendig miteinander verknüpft sind,
wahr?“. Und dies zu fragen hätte gar keinen Sinn, wenn Wahrheit
überhaupt nichts anderes meinen würde, als eine solche notwendige
Verknüpfung. Aber indem wir die Frage nach der Verbürgtheit der
Wahrheit kohärenter Urteile stellen, fragen wir eben, ob kohärente Urteile
auch in ihrer behauptenden Setzung von Sachverhalten mit dem
Selbstverhalten dieser Sachverhalte oder der Sachen selbst zusammen-
treffen. Deshalb zeigt schon die Frage, ob Kohärenz Wahrheit verbürgt,
oder ob kohärente Urteile auch wahr sein müssen, daß es zwei ganz
verschiedene Probleme oder zwei ganz verschiedene Dinge sind, Kohärenz
und die Wahrheit.

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166 KAPITEL 2

5.2. Kohärenz macht nicht das Wesen der Wahrheit aus, stellt aber ein
wichtiges Wesensmerkmal derselben dar

Beim Scheitern der Kohärenztheorien als Theorie vom Wesen der


Wahrheit könnte man dem Problem der Bestimmung des Inhalts von
„Kohärenz“, die man mit dem Wesen der Wahrheit definiert, eine weitere
Lösung geben und sagen, Kohärenz sei eben nur die Nichtwidersprüch-
lichkeit aller wahren Sätze, die zweifellos vorliegt. Aber dann hat man
jedoch schon wieder in der Definition der Wahrheit als Kohärenz Wahrheit
im Sinn der adaequatio vorausgesetzt. Denn man kann bei Beschränkung
der Kohärenz auf diejenige wahrer Urteile deren Wahrheit nicht wieder als
Kohärenz fassen, ohne in eine zirkuläre Definition zu fallen. Beschränkt
man Kohärenz auf wahre Urteile, ist es natürlich ganz richtig, daß
Kohärenz ein Merkmal der Wahrheit ist. So formuliert die Kohärenztheorie
eine notwendige Bedingung der Wahrheit überhaupt: nämlich daß jede
Wahrheit (jedes wahre Urteil) mit allen anderen Wahrheiten in Einklang
stehen muß, daß nicht etwas wahr sein kann, was anderen als wahr
erwiesenen Urteilen widerspricht. Und in diesem Sinne ist Kohärenz zwar
sicher keine richtige Wesensdefinition der Wahrheit und auch kein
hinreichendes Kriterium für Wahrheit, aber sehr wohl eine positive
Wahrheitsbedingung bzw. ein zum Wesen der Wahrheit gehörendes
Merkmal.
Aus diesem Grunde ist auch Inkohärenz ein negatives Kriterium für das
Nichtbestehen von Wahrheit, indem man nämlich ein Urteil, das anderen
als wahr erwiesenen Urteilen widerspricht, von dem Bereich möglicher
wahrer Urteile ausschalten kann. Gerade weil sie tatsächlich ein Wesens-
merkmal von Wahrheit ist, verwenden wir Kohärenz oft als Kriterium für
Wahrheit bzw. Inkohärenz mit als wahr erkannten Urteilen als Kriterium
für Unwahrheit. Wir sagen, jemand habe eine These aufgestellt, aus der
sich diese und jene logische Konsequenz ergibt. Diese oder jene logische
Konsequenz widerspreche aber einem Sachverhalt, den der Dialogspartner
oder wir selbst als wahr erkannt hätten. Also sei seine These nicht wahr,
weil sie nicht mit anderen als wahr erwiesenen Urteilen kohärent sei. In
diesem Sinne eines positiven Kohärenzkriteriums der Wahrheit und vor
allem eines negativen Kriteriums der Inkohärenz und Widersprüchlichkeit

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 167

als Beweis der Falschheit verwendet auch Platon ein Kohärenzkriterium


der Wahrheit in seinen Dialogen.
Nach den bisherigen Überlegungen ist also Kohärenz weder das Wesen
von Wahrheit noch ein ausreichendes positives Kriterium für Wahrheit,
d.h. es geht nicht an zu behaupten, daß ein Urteil einfach deshalb, weil es
nicht mit anderen, auch mit bekanntermaßen wahren, Urteilen in Wider-
spruch stehe, auch schon wahr sei. Es wird im erwähnten Argument
Fichtes gezeigt, daß man ein mit allen als wahr erkannten Sätzen durchaus
in Einklang stehendes System der Luftgeister entwickeln könnte, das aber
deshalb noch keineswegs wahr wäre. Also ist Kohärenz mit wahren
Urteilen nicht ein ausreichendes positives Kriterium für Wahrheit, wohl
aber ein Wesensmerkmal derselben und deren Bedingung sowie ein
negatives Wahrheitskriterium.
Wenn man Kohärenz, wie berechtigterweise Evidenz, als Erkenntnis-
quelle der Wahrheit sehen wollte, so wäre Kohärenz nicht nur niemals
selber die Erkenntnis, durch die man Wahrheit als solche erkennt, was auf
der Hand liegt, sondern so dürfte man auch nicht einfach auf Grund der
Feststellung der Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils zu uns bekannten
wahren Urteilen auf dessen Wahrheit schließen, was wir schon bei unserer
Ablehnung der Kohärenz als Kriterium für Wahrheit ausführten. Für uns
ist hier entscheidend: Kohärenz ist offensichtlich nicht selber eine Erkennt-
nis; Kohärenz muß im Gegenteil in einer Erkenntnis festgestellt
werden. Also antwortet Kohärenz nicht auf die Frage einer Wahrheitstheo-
rie, die nach der Erkenntnisform, durch die Wahrheit erkannt wird, fragt.

5.3. Kohärenz als Wahrheitsbedingung

Wenn wir die Kohärenztheorie in all ihren Formen als Theorie über das
Wesen der Wahrheit zwar ablehnen, aber zumindest im Sinne der
Widerspruchsfreiheit als Wesensmerkmal der Wahrheit annehmen, müssen
wir nunmehr noch auf die Frage nach Kohärenz als Wahrheitsbedingung
übergehen. Wiederum hängt die Beantwortung dieser Frage entscheidend
von der inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz ab. Wenn man zunächst
die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen als Kohärenz im Auge hat, so ist
die innere Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils tatsächlich eine

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168 KAPITEL 2

Bedingung für Wahrheit, wenn sie auch nicht das Wesen der Wahrheit
ausmacht. Ein Urteil kann nur dann wahr sein, wenn es sich nicht selbst
widerspricht. Denn wenn es sich selbst widerspricht, verletzt es mit dem
Widerspruchsprinzip die Bedingung jeder Wahrheit.
Wenn das Urteil hingegen als kohärent bezeichnet wird, weil es mit
allen anderen Urteilen nichtwidersprüchlich wäre, so ist solche Kohärenz
unmöglich, weil es eben widersprechende und also wahre und falsche
Urteile gibt. In bezug auf denselben Gegenstand widersprechen sich
kontradiktorische Urteilspaare, die also wahre und falsche Urteile
einschließen. So ist eine Nichtwidersprüchlichkeit aller Urteile unmöglich.
Die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen mit manchen anderen
Urteilen ist eine Bedingung für Wahrheit. Es ist eine Bedingung dafür, daß
ein Urteil wahr ist, daß es anderen wahren Urteilen nicht widerspricht. Das
kann man erkennen, wenn man die Nichtwidersprüchlichkeit der Wahrheit
versteht, d.h. wenn man versteht, daß innerhalb der Wirklichkeit selbst und
deshalb auch innerhalb der Wahrheit, Widersprüche nicht vorkommen.
Hegel und Marx würden dies im Sinne ihrer Auffassung, daß es eine
dialektische widersprüchliche (antinomische) Struktur der Wirklichkeit
gibt, nicht anerkennen können. Aber wenn wir einsehen, daß das Wider-
spruchsprinzip alle Seienden beherrscht, wenn wir also mit Aristoteles zur
begründeten Erkenntnis gelangen, daß es das gewisseste und grundle-
gendste Prinzip ist, daß ein Sachverhalt unmöglich zugleich bestehen und
zugleich nicht bestehen kann, dann folgt daraus auch, daß alle wahren
Urteile, welche Sachverhalte so behaupten, wie sie sind, mit allen anderen
wahren Urteilen in einem nicht-widersprüchlichen Verhältnis stehen. Also
ist es gleichfalls unmöglich, daß aus einem wahren Urteil logisch korrekt
abgeleitete Folgen entspringen, die mit anderen wahren Urteilen in
Widerspruch stehen, weshalb die Kohärenz eines Urteils mit als wahr
erkannten Urteilen Bedingung seiner Wahrheit ist.
Es ist zwar möglich, daß im Falle der Aporien und scheinbaren
Antinomien ein wahres Urteil in scheinbarem Widerspruch zu anderen
wahren Urteilen steht, aber in einem wirklichen Widerspruch kann ein
wahres Urteil zu anderen nicht stehen, wenn das Widerspruchsprinzip als
ein ontologisches und deshalb auch als ein logisches Prinzip jene absolut
grundlegende Bedeutung hat, die Aristoteles ihm zurecht zuerkennt.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 169

Zu einem anderen Sinn von Kohärenz können wir sagen, daß eine
notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander nicht als Bedingung
der Wahrheit anerkannt werden darf, außer wenn man mit Hegel behaupten
wollte, daß alle historischen und kontingenten Urteile letzten Endes mit
schlechthinniger Notwendigkeit aus dem absoluten Geist fließen und daß
wir daher die Notwendigkeit aller Urteile annehmen müssen oder gar
erkennen können.142
Auch Leibniz hat in gewisser Hinsicht die notwendige Kohärenz aller
Urteile behauptet, weil er behauptet, daß die reale Welt die bestmögliche
Welt ist und daß daher alles, was in der Welt ist, notwendig so geschaffen
oder zugelassen werden mußte, wie es ist. Denn jede andere Welt wäre
weniger gut als die Welt, in der wir leben. Insofern könnte man sagen, daß
Leibniz’ metaphysische Theorie der bestmöglichen Welt zumindest dahin
tendiert, daß alle Sachverhalte notwendig so sein müssen, wie sie sind –
trotz seiner Unterscheidung kontingent-faktischer von notwendigen
Vernunftwahrheiten. Gegen diese Version der Systemphilosophie hat
Reinhard Lauth heftig protestiert, wo er meint, unter Berufung auf Fichte
ein doppelt offenes System der Freiheit begründen zu können, das sowohl
auf absolute (göttliche) als auch auf endliche Freiheit hin als auf letzte, auf
keine Notwendigkeit reduzierbare Momente offen sei. Daß sich eine solche

142
Vgl. etwa Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3,
„Einleitung”, 3/349-350:
Daß diese Bedeutung des Gegenständlichen also nicht bloße Einbildung sei, muß sie an sich
sein, d.h. einmal dem Bewußtsein aus dem Begriffe entspringen und in ihrer Notwendigkeit
hervorgehen. So ist uns durch das Erkennen des unmittelbaren Bewußtseins oder des
Bewußtseins des seienden 3/550 Gegenstandes, durch seine notwendige Bewegung der sich
selbst wissende Geist entsprungen. Dieser Begriff, der als unmittelbarer auch die Gestalt der
Unmittelbarkeit für sein Bewußtsein hatte, hat sich zweitens die Gestalt des
Selbstbewußtseins an sich, d.h. nach eben der Notwendigkeit des Begriffes gegeben, als das
Sein oder die Unmittelbarkeit, die der inhaltlose Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins ist,
sich seiner entäußert und Ich für das Bewußtsein wird. – Von dem denkenden Ansich oder
dem Erkennen der Notwendigkeit ist aber das unmittelbare Ansich oder die seiende
Notwendigkeit selbst unterschieden, – ein Unterschied, der zugleich aber nicht außer dem
Begriffe liegt, denn die einfache Einheit des Begriffes ist das unmittelbare Sein selbst; er ist
ebenso das sich selbst Entäußernde oder das Werden der angeschauten Notwendigkeit, als er
in ihr bei sich ist und sie weiß und begreift. – Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich
die Gestalt des Selbstbewußtseins gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist
zu diesem Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein
und als Wahrheit ein.

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170 KAPITEL 2

offene Philosophie auf Fichte stützen dürfe, kann ich nicht anerkennen, so
lobenswert die Idee eines solchermaßen „offenen Systems“ auch ist.
Wenn wir jedenfalls anerkennen, was, so meine ich, mit letzter Evidenz
erkennbar ist, daß eben nicht alle Sachverhalte schlechthin notwendig sind,
daß es kontingente Sachverhalte gibt, daß es also nicht-notwendige Dinge
und wirkliche Freiheit gibt, (was in gewissem Sinne selbst Leibniz zugibt,
der zwar denkt, daß diese Welt notwendig die best-mögliche ist, aber
meint, daß zur bestmöglichen Welt gehört, daß in dieser Welt freie
Subjekte sind und daß dieselben in ihrer Freiheit nicht eingeschränkt
sind),143 so erkennen wir auch, daß endliche freie Personen Übel oder
Böses wie Gutes tun können.
Wenn man also die Freiheit in ihrer innerlich evidenten und aus einer
Reihe von zwingenden Gründen erkannten Existenz erkennt, dann liegt
schon in dieser Freiheit und in der aus ihr fließenden Möglichkeit, neben
Gutem auch das Schlechte zu tun, eine Kontingenz in dem Sinne, daß es
nicht notwendig ist, daß eine bestimmte Handlung so und nicht anders
vollzogen wird, sondern daß dies eben Wirkung freier Entschlüsse und
Taten ist.
Sowohl wenn man also die echte Kontingenz und Nichtnotwendigkeit
der Existenz der Welt und vieler Wesen in ihr anerkennt, als auch wenn
man Freiheit anerkennt, muß man zugeben, daß eine notwendige
Verknüpfung aller wahren Urteile weder besteht noch eine Bedingung für
Wahrheit sein kann. Denn da es eben wirklich zufällige oder nicht-
notwendige Sachverhalte gibt, kann auch die Wahrheit über diese nicht-
notwendigen Sachverhalte nicht notwendig mit allen anderen Wahrheiten
verknüpft sein; sie kann z.B. als Wahrheit über frei und nicht-notwendig
gewählte Taten nicht eine notwendige Wahrheiten oder mit allen anderen
kontingenten Wahrheiten notwendig verknüpft sein.
Deshalb muß man eine Theorie der universalen Notwendigkeit der
Wirklichkeit verwerfen. Wenn man also anerkennt, daß es auch kon-
tingente, nicht-notwendige Sachverhalte gibt, kann man die notwendige

143
Vgl. G. W. Leibniz, Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de
l’homme et l’origine du Mal, in: G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften,
hrsg. v. C. J. Gerhardt (Hildesheim: G. Olms, 1965), in 7 Bänden, Bd. VI, S. 21-
471.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 171

Kohärenz und Verknüpfung aller Urteile miteinander in keiner Weise als


Eigenschaft oder als Bedingung der Wahrheit ansehen.
Hingegen muß man die innere Kohärenz eines Urteils, daß es nämlich
sich nicht selbst widerspricht und auch den Regeln einer rein logischen
Grammatik der Urteilsbildung und Urteilskomposition gemäß ist, als
notwendige Wahrheitsbedingung ansehen. Ein Urteil darf niemals sich
selbst oder den allgemeinen Merkmalen des Urteils widersprechen. Denn
wenn ein Urteil sich selbst widerspricht, setzt es einen Sachverhalt
behauptend hin und leugnet denselben zugleich und ist damit notwendig
falsch. Denn das evidente Widerspruchsprinzip zeigt, daß ein Urteil und
sein eigenes kontradiktorisches Gegenteil niemals zugleich wahr sein
können. Daher muß man sagen, die innere Nichtwidersprüchlichkeit eines
Urteils ist eine Bedingung für die Wahrheit des Urteils.
Wenn man hingegen Kohärenz als einseitige notwendige Verknüpfung
eines Urteils mit manchen anderen Urteilen auffaßt, dann ist dies nur dann
eine Wahrheitsbedingung, wenn man die „Kohärenz mit manchen
Urteilen“ als die Kohärenz mit jenen Urteilen auffaßt, die von einem
gegebenen Urteile notwendig vorausgesetzt sind. Dies gilt aber nicht für
alle anderen Wahrheiten, weder die kontingenten noch die notwendigen.
Denn weder kann jemals eine kontingente Wahrheit notwendig aus
notwendigen Wahrheiten folgen, sondern sie nur notwendig voraussetzen
(weil nichts so kontingent sein kann, daß es nicht etwas Notwendiges und
notwendig Wahres voraussetzt), noch müssen alle notwendig wahren
Urteile untereinander notwendig verknüpft sein. Denn nicht alle hängen
untereinander zusammen. So steht z.B. der notwendige Sachverhalt, daß
die Farbe Violett zwischen rot und blau liegt, in keiner notwendigen
Beziehung zum notwendigen Sachverhalt, daß nichts gewollt werden kann,
ohne vorher gedacht oder erkannt worden zu sein. Insofern kann man es
nicht als Bedingung der Wahrheit bezeichnen, daß jedes notwendig wahre
Urteil auch in notwendiger Verknüpfung mit allen anderen notwendig
wahren Urteilen stehe.
Wenn man hingegen die notwendige Verknüpfung eines notwendig
wahren Urteils mit anderen notwendigen Urteilen, die mit dem
betreffenden Urteil in notwendiger Verknüpfung stehen, als Kohärenz
bezeichnet, dann ist allerdings Kohärenz die Bedingung für die Wahrheit
mancher Urteile, nämlich für die Wahrheit jener Urteile, die mit anderen

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172 KAPITEL 2

notwendigen Urteilen notwendig verknüpft sind. In diesem Sinne muß man


Kohärenz im Sinne der notwendigen Urteilsverknüpfung als Bedingung
der Wahrheit mancher notwendiger Urteile anerkennen.
Dies gilt in einseitiger Richtung auch für kontingente Sachverhalte und
Wahrheiten, daß sie – obgleich sie nicht aus notwendigen Wahrheiten
folgen können – notwendig sowohl notwendige als auch kontingente
Sachverhalte und Wahrheiten voraussetzen, daß also diese einseitige
notwendige Beziehung und Kohärenz mit anderen Wahrheiten Bedingung
ihrer Wahrheit ist.
Wenn man die notwendige Verknüpfung mit bereits als wahr erkannten
Urteilen als Kohärenz bezeichnet, dann kann man allerdings nicht
behaupten, daß jedes Urteil notwendig mit allen bereits als wahr erkannten
Urteilen verknüpft sein müsse, wenn es wahr sein soll. Denn wenn es einen
kontingenten Sachverhalt betrifft, wie z.B. daß ich diesen Bleistift jetzt
hier in die Luft werfe, dann ist die Wahrheit dieses Urteils, daß ich das
jetzt getan habe, zwar mit einigen anderen notwendigen und kontingenten
Wahrheiten, die von ihr vorausgesetzt sind, einseitig notwendig verknüpft,
aber mit vielen anderen schon als wahr erkannten notwendigen und
kontingenten Urteilen nicht. Denn nicht nur ist es ja überhaupt nicht
notwendig, daß ich einen Bleistift halte oder geworfen habe und hätte ich
dies genauso gut unterlassen können, sondern auch die bestehende
einseitige (umgekehrte) notwendige Verbindung kontingenter Sachverhalte
und Wahrheiten zu anderen vorausgesetzten Sachverhalten und Wahrhei-
ten besteht hier nur zu manchen Wahrheiten. Kohärenz im Sinne einer
gegenseitig oder einseitig notwendigen Beziehung kann daher nicht allge-
mein als notwendige Voraussetzung der Wahrheit betrachtet werden.
Daher ist Kohärenz im Sinne „notwendiger Verknüpfung mit bereits als
wahr erkannten Urteilen“ nicht eine allgemeine Bedingung für Wahr-
heit. Wohl aber ist es eine Bedingung für Wahrheit, wie wir gesehen
haben, daß jene Urteile, die mit anderen wirklich notwendig zusammen-
hängen, wenn sie wahr sein sollen, auf Grund ihrer notwendigen
Verknüpfung mit den sie bedingenden oder sie implizierenden, aus ihnen
folgenden oder sonst mit ihnen notwendig verknüpften Wahrheiten auch
diese Wahrheiten einschließen.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 173

5.4. Kohärenz als Grund der Wahrheit

Behalten wir im Auge, daß jeder Schluß einen mehrfachen Anspruch


erhebt: (1) den Wahrheitsanspruch für Prämissen und Konklusion; (2) den
Anspruch auf Folgerichtigkeit (Gültigkeit) des Schlusses; (3) den
Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der
Prämissen und der Konklusion (daß die Prämissen die Wahrheit der
Konklusion garantieren); und (4) den Anspruch auf einen Begründungs-
zusammenhang, der über den Wahrheitszusammenhang und die Folgerich-
tigkeit hinausgeht.144 Die Erfüllung von Anspruch (3) setzt jene von (1)
und (2) voraus; doch kann der Anspruch auf Begründungszusammenhang
(4) erfüllt oder unerfüllt bleiben, auch wenn alle anderen Ansprüche erfüllt
sind.
In unserem Kontext interessiert uns in erster Linie der Begründungs-
zusammenhang, der einschließt, daß die Erkenntnis der Wahrheit der
Konklusion nicht in der Erkenntnis der Wahrheit der Prämissen bereits
vorausgesetzt ist. Wenn also in einem Beweis nicht ein bloßer Wahrheits-
zusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion, sondern auch ein
Begründungszusammenhang vorliegt, könnte man dieses Verhältnis
zwischen Prämissen und Konklusion als Kohärenz bezeichnen und geneigt
sein, es mit der Wahrheit des Urteils zu identifizieren.
Dies ist jedoch unter anderem deshalb unhaltbar, weil ein Begründungs-
zusammenhang bestehen kann, auch wenn die Prämissen falsch sind und
daher auch in ihrer Wahrheit begründete Schlußsatz falsch sein kann.
Meint man hingegen eine andere Art von Grund, nämlich den
zureichenden Grund der Wahrheit eines Urteils, der allein im Bestehen des
behaupteten Sachverhalts liegt, und will man dessen Kohärenz mit dem
Urteil die Wahrheit desselben nennen, so ist dagegen erstens zu sagen, daß
der Grund nicht mit dem identisch ist, wofür er ein Grund ist. Der objektiv
bestehende Sachverhalt ist zwar der Grund der Urteilswahrheit, aber nicht
diese Wahrheit selbst, die dem objektiven Gedankeninhalt des Urteils in
Relation zum Sachverhalt zukommt. Zweitens ist in diesem Fall eine
Kohärenztheorie der Wahrheit mit einer Korrespondenztheorie identisch
und bedeutet Kohärenz (als angemessenes Verhältnis zwischen Urteil und

144
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, IV, „Die Lehre von den Schlüssen“.

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174 KAPITEL 2

Sachverhalt) dasselbe wie adaequatio, weshalb wir hier nicht näher auf
diese Theorie einzugehen brauchen.

5.5. Kohärenz als Folge der Wahrheit

Wenn wir jetzt zu einer Diskussion der Folgen der Wahrheit übergehen,
lassen sich wiederum verschiedene Fragen stellen. Eine notwendige
Verknüpfung von Urteilen mit allen anderen Urteilen kann ebensowenig
eine Folge der Wahrheit sein, wie sie keine Bedingung derselben ist, weil
es, wie wir schon gesehen haben, überhaupt nicht wirklich so ist, daß alle
Urteile notwendig miteinander verknüpft sind. Dies gilt nicht einmal für
alle wahren Urteile.
Wenn man Kohärenz als notwendige Verknüpfung mit manchen
anderen Urteilen versteht, dann ist es wohl auch nicht berechtigt zu sagen,
daß dieselbe eine Folge ihrer Wahrheit ist. Dabei ist noch einmal zwischen
logischem Grund, Erkenntnisgrund und ontologischem Grund zu unter-
scheiden, die sich oft umgekehrt zu einander verhalten. Das ist eine Frage,
die wir hier nicht weiter zu klären brauchen.
Was ferner die Frage anlangt, ob eine notwendige Verknüpfung eines
wahren Urteils mit einem gegebenen wahren Urteil, wo sie tatsächlich
vorliegt, Folge oder Grund der Wahrheit ist, so würde ich antworten, ohne
hier eine gründliche und präzise Analyse bieten zu können, daß die
notwendige Verknüpfung eines wahren Urteils mit manchen anderen
Wahrheiten in gewissen Fällen eine Folge der Wahrheit ist, in anderen
Fällen wieder der Grund und in wieder anderen Fällen Bedingung von
Wahrheit, wobei zu differenzieren ist, ob wir in einem rein logischen,
ontologischen oder epistemologischen Sinne von einem Grund-Folge-
Verhältnis reden. Ich kann mich hier damit begnügen festzustellen, daß ein
interessantes weiteres philosophisches Forschungsfeld in der Frage liegt,
wann und in welchem Sinne die diskutierten notwendigen Verknüpfungen
Folgen, Gründe oder Bedingungen der Wahrheit sind.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 175

5.6. Kohärenz als Wahrheitskriterium

Wenn man Kohärenz im Sinne der Nichtwidersprüchlichkeit eines


Urteils mit manchen anderen wahren Urteilen als Kriterium der Wahrheit
ansehen will, dann ist dieselbe sicher als solche nicht ein zureichendes
Wahrheitskriterium. Eine bloße Nichtwidersprüchlichkeit eines kontingen-
ten Urteils mit anderen kann nicht als ein Kriterium für Wahrheit
angesehen werden. Die bloße Tatsache, daß die Äußerung: „Ich habe heute
früh beim Weggehen meinen Hund erschlagen“, nicht anderen bekannten
Sachverhalten widerspricht, kann nicht als hinreichendes Kriterium dafür
gewertet werden, daß sie wahr ist.
Wenn die Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit schon als wahr
erkannten das Kriterium ist, ließe sich noch einmal unterscheiden:
1) Ein mit allen schon als wahr erkannten Urteilen kompatibles
Urteil: Dies ist natürlich ein dehnbarer Begriff, denn es kommt darauf an,
wie viele wahre Urteile ich erkannt habe. Jedenfalls ist Kohärenz mit allen
von mir als wahr erkannten Urteilen kein genügendes Kriterium für
Wahrheit, denn nur daraus, daß ich kein anderes wahres Urteil oder keinen
Sachverhalt kenne, der mit einem bestimmten Urteil unverträglich oder im
Widerspruch zu ihm steht, folgt keineswegs des letzteren Wahrheit. Daher
kann diese Art von Kohärenz unmöglich ein genügendes Kriterium für
Wahrheit, sondern höchstens, unter bestimmten Umständen, für die
vorläufige hypothetische Annahme von Wahrheit sein. Wenn ich heute
sage, ich hätte meinen Hund erschlagen, können andere Menschen die
Wahrheit dieser Aussage nicht einfach aufgrund der Tatsache erkennen,
daß die Behauptung nicht im Widerspruch mit anderen ihnen als wahr
bekannten Urteilen steht. Kohärenz in diesem Sinn ist also kein
genügendes Kriterium für Wahrheit.
2) Wenn man hingegen die Nichtwidersprüchlichkeit mit allen wahren
Urteilen als Kohärenz bezeichnet, dann ist dieselbe rein objektiv ein
hinreichendes Kriterium für Wahrheit, weil unter allen wahren Urteilen
auch jenes enthalten ist, daß das kontradiktorische Gegenteil meines
wahren Urteils falsch ist, in unserem Beispiel: daß es nicht der Fall bzw.
nicht wahr ist, daß ich meinen Hund nicht erschlagen hätte.
Wenn deshalb ein Urteil mit allen anderen Urteilen, die überhaupt
denkbar und die wahr sind, übereinstimmt, dann muß es auch wahr

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176 KAPITEL 2

sein. Denn wenn ein Urteil falsch ist, muß es zumindest im Widerspruch
mit jener Wahrheit stehen, die das kontradiktorische Gegenteil von ihm
selbst aussagt, aber außerdem noch mit zahllosen anderen Urteilen, die mit
diesem verknüpft sind oder es voraussetzen.
So ist die Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit allen wahren
Urteilen ein hinreichendes, aber kein praktikables Kriterium für seine
Wahrheit, da kein Mensch alle wahren Urteile kennt.
Wenn man hingegen bloß die Nichtwidersprüchlichkeit mit schon vom
Menschen als wahr erkannten Urteilen nimmt, dann ist dieselbe kein
hinreichendes Kriterium für Wahrheit.
Nichtwidersprüchlichkeit kann dabei zunächst eine formallogische
Nichtwidersprüchlichkeit meinen, d.h. daß ein Urteil nicht mit anderen als
wahr bekannten Urteilen in einem direkten Widerspruch steht und deren
kontradiktorisches Gegenteil behauptet. Wenn ich wahrheitsgemäß sage:
„Am 26. Juni 1987 schien die Sonne in Liechtenstein“ und jemand anderer
sagt: „Nein, an diesem Tag schien sie nicht“, ist offenbar eine der beiden
Behauptungen falsch. Denn hier ist der Widerspruch der beiden Urteile ein
formallogischer. Das eine Urteil besagt genau das kontradiktorische
Gegenteil des anderen.
Im Gegensatz dazu gibt es andere Widersprüche, die man als
materiallogische Widersprüche bezeichnen mag. Wenn etwas anderen
wahren Urteilen nicht formal, aber deshalb widerspricht, weil es im
Gegensatz zum inhaltlichen Wesen einer Sache steht, wenn ich z.B. sage:
„Dieser Mensch ist schwer schuldig, hatte aber überhaupt keine Freiheit,
sondern hat aus purem Zwang heraus gehandelt und ist dadurch schwer
schuldig geworden, daß er aus diesem Zwang heraus jemanden ermordet
hat“, so liegt darin ein Widerspruch, und zwar nicht ein formallo-
gischer. Denn die eine Teilbehauptung besagt, der Mensch habe aus Zwang
gehandelt, die andere, er sei schuldig. Rein aus der Form dieser beiden
Urteile kann man also keinen Widerspruch zwischen ihnen
entdecken. Aber es besteht dennoch ein Widerspruch zwischen ihnen, der
deutlich wird, wenn man die Materie, über die hier geurteilt wird, ins Auge
faßt und erkennt, daß die Wesen der beiden hier bestehenden
Wirklichkeiten, nämlich das von Schuld und das von Zwang, in einem
Gegensatz zueinander stehen. Wenn jemand eine Zwangshandlung
begangen hat, kann er dafür nicht schuldig sein. Also liegt hier ein

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 177

Widerspruch, aber ein materiallogischer Widerspruch, d.h. ein


Widerspruch, der aus der inhaltlichen Natur dessen, worüber das Urteil
gefällt wird, aus der wesensnotwendigen Abhängigkeit der persönlichen
moralischen Schuld von Freiheit, hervorgeht.
In diesem Sinn könnte man auch von material bedingten psycholo-
gischen Widersprüchen reden und sagen, daß wenn man von einem
leidenschaftlichen Liebhaber von Katzen sagen wollte, er habe seine
Katzen alle erst gequält und dann ersäuft, dann stünde dies im Widerspruch
zu allem, was wir über die Tierliebe des Betreffenden wissen. Also müsse
es deshalb falsch sein, weil es im Widerspruch zu andern als wahr
erkannten Urteilen stehe, zwar nicht einfach auf Grund formaler Logik,
wohl aber auf Grund es Inhalts der entsprechenden Aussagen. Und je
nachdem, wie zuverlässig unsere Erkenntnis dieser Inhalte ist und wie
notwendig andere mit dem Wesen der erkannten Sache verbundene
Eigenschaften in Widerspruch zu ihnen stehen, können wir auch solche
materiale inhaltliche Widersprüche als Kriterium für Unwahrheit ansehen.
Das Kriterium sollten wir natürlich auch noch einmal differen-
zieren. Denn dasselbe kann man negativ und positiv auffassen und beides
ist natürlich ganz verschieden. Wenn man etwa ein Kriterium für Wahrheit
darin sieht, daß ein Urteil weder formallogisch, noch materiallogisch in
einem Widerspruch zu schon Erkanntem steht, dann ist dies natürlich kein
ausreichendes Wahrheitskriterium. Wenn man z.B. sagt: „Heute, bevor Dr.
Dolittle, ein Tierliebhaber, aus seinem Haus gegangen ist, hat er alle seine
Katzen gestreichelt und mit Milch gefüttert“, dann liegt darin zwar kein
Widerspruch mit anderen als wahr erkannten Sachverhalten, weder
formallogisch noch materiallogisch. Im Gegenteil, es besteht sogar eine
sinnvolle Entsprechung. Aber dies genügt offensichtlich nicht als Krite-
rium, weil die Wahrheit all der weitgehenden Behauptungen darüber, was
Dr. Dolittle heute früh mit seinen Katzen angestellt hat, gar nicht aus den
bekannten Wahrheiten hervorgeht.
Die Tatsache, daß eine Aussage weder materiallogisch noch formallo-
gisch einen Widerspruch zu anderen wahren Aussagen, die ich kenne,
enthält, oder sogar sinnvoll mit ihnen verbunden ist, ist nicht genug um
Wahrheit zu beweisen. Daher ist Kohärenz in diesem Sinne kein
zwingendes oder hinreichendes positives Wahrheitskriterium.

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178 KAPITEL 2

Als negatives Wahrheitskriterium hingegen besitzt die entsprechende


materiallogische Inkohärenz durchaus grundlegende Bedeutung. Wenn
man etwa erkennt, daß etwas zu bekannten Wahrheiten im Widerspruch
steht, entweder formallogisch oder inhaltlich, kann man sagen, daß ein
solcher Widerspruch mit schon als wahr erkannten Urteilen gültiges
Kriterium für die Falschheit des bereits erkannten Urteilen widerspre-
chenden Urteils ist.
Hier gibt es natürlich viele Grade der Gewißheit und Wahrscheinlich-
keit, je nachdem wie strikte erwiesen der materiallogische oder formallo-
gische Widerspruch ist. Wenn daher jemand sagt, Dr. Dolittle habe vor
seiner letzten Afrikareise alle seine Katzen ertränkt, dann liegt darin ein
starker materiallogischer Widerspruch, der uns erlauben würde zu sagen:
„Nach allem, was wir von der Tierliebe des Dr. Dolittle wissen, ist das
unmöglich.“
Allerdings, wenn z.B. alle Katzen Dr. Dolittles AIDS oder sonst
irgendeine schwere Krankheit gehabt hätten, dann wäre es natürlich nicht
undenkbar, daß sogar Dr. Dolittle sie ertränkt hätte. Es wäre unwahrschein-
lich, aber nicht undenkbar.
Die psychologische Kohärenz mit dem Charakter eines Menschen ist
natürlich viel weniger zwingend und die Widersprüchlichkeit in diesem
Sinn ist sosehr ein Teil des Lebens, daß Menschen häufig Handlungen
begehen, die im Widerspruch zu ihrem uns bekannten allgemeinen
Charakter stehen. Dadurch, daß hier der Widerspruch nicht streng
notwendig ein Widerspruch zu dem ist, was wir kennen, sondern ein bloßer
Sinnwiderspruch, der unter Umständen in der Wirklichkeit bestehen kann,
ist dieses Kriterium nicht zuverlässig. Denn es kann ja sein, daß jemand,
der einen anderen sehr gut kennt, ihm nie eine bestimmte Handlung
zutrauen würde, daß dieser dieselbe aber doch begangen hat. Und so ist ein
auf bloßer sinnvoller Verbindung wahrer Urteile beruhender Widerspruch
kein zwingendes, aber gleichwohl ein gutes prima-facie-Kriterium, eines
„bis auf weitere Prüfung“.
Wenn hingegen ein vom Wesen einer Sache her notwendiger
Widerspruch eines Urteils mit schon als wahr erkannten Urteilen besteht,
sei es ein notwendig materiallogischer oder formallogischer Widerspruch,
dann ist dieser als negatives Kriterium für Falschheit vollständig
hinreichend.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 179

Zu Kohärenz als Kriterium der Wahrheit können wir sagen, daß eine
notwendige Verknüpfung von wahren Urteilen mit allen andern Urteilen,
wie sie gar nicht besteht, so auch nicht ein Kriterium der Wahrheit sein
kann. Denn ein wahres Urteil ist nicht mit allen anderen Urteilen
notwendig verknüpft. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil alle andern
Urteile auch die falschen Urteile einschließen. Wenn man die notwendige
Verknüpfung von Urteilen mit manchen anderen Urteilen nimmt, dann
kann dieselbe allerdings ein Kriterium für Wahrheit sein, insoferne ein
Urteil tatsächlich notwendig mit vielen schon als wahr erkannten Urteilen
verknüpft ist. Dann ist die Wahrheit durch die notwendig mit ihr
verknüpften Wahrheiten garantiert und dann können wir es tatsächlich als
Kriterium der Wahrheit ansehen, daß wir zeigen, daß die Wahrheit eines
bestimmten Urteils notwendig mit schon als wahr erkannten Urteilen
verknüpft ist.
Dies geschieht auch im Prozeß jeder logischen Deduktion, etwa in
jedem Syllogismus, in dem man zeigt, daß aus bestimmten Prämissen
notwendig die Wahrheit einer bestimmten Konklusion folgt. Wenn man
dies gezeigt hat, daß also ein notwendiger Wahrheitszusammenhang
zwischen der Wahrheit der Konklusion mit der Wahrheit der Prämissen
besteht und wenn man zusätzlich die Wahrheit dieser Prämissen erkannt
hat, dann ist das ein Kriterium für die Wahrheit der Konklusion.
Mit anderen Worten, wir erkennen die Wahrheit eines Urteils, wenn wir
zeigen, daß dieses Urteil notwendig mit anderen, schon als wahr erkannten,
Urteilen verknüpft ist. Deshalb liegt in dieser Form der Kohärenz ein
Kriterium für Wahrheit. Ja die notwendige Verknüpfung der Wahrheit von
Urteilen mit anderen schon als wahr erkannten Urteilen, die in formaler
Hinsicht ihren Grund in der formalen Syllogistik und im Fundament der
Schlußtheorie und Beweistheorie hat, liegt der ganzen Sphäre angewandter
Logik zugrunde.
Wie Pfänder in seiner Logik herausarbeitet, ist ja ein Beweis nicht
einfach der Nachweis, daß eine Konklusion notwendig aus bestimmten
Prämissen folgt. Mit einem derartigen Nachweis kann man nur die Folge-
richtigkeit einer Deduktion oder eines Syllogismus beweisen. Vielmehr ist
für einen Beweis vorausgesetzt, daß nicht nur die Gültigkeit eines
Schlusses und der notwendige Zusammenhang der Wahrheit der Konklu-
sion mit jener der Prämissen aufgewiesen wird, sondern daß auch die

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180 KAPITEL 2

Wahrheit der Prämissen feststeht. Der Beweis setzt also sowohl die
Folgerichtigkeit des Schlusses als auch die Wahrheit der Prämissen
voraus. So beweist die Folgerichtigkeit des Schlusses die einseitige
notwendige Verknüpfung der Wahrheit der Konklusion mit jener der
Prämissen: Wenn die Prämissen stimmen, stimmt auch die Konklusion. Die
Wahrheit der Konklusion ist garantiert, wenn die Wahrheit der Prämissen
feststeht und bewiesen, wenn überdies ein Begründungszusammenhang
vorliegt.
In diesem Sinne handelt die Logik und Syllogistik weitgehend von
Kohärenz im Sinne der notwendigen Wahrheitsverknüpfung eines
bestimmten Urteils mit anderen schon als wahr erkannten oder angesetzten
Urteilen.
Die Frage, ob Kohärenz als kohärente Verknüpfung mancher Urteile ein
Wahrheitskriterium ist, hängt von dem weiteren Problem einer sinnvollen
Verknüpfung verschiedener Urteile ab. Bei einer solchen hat man viel
weniger im Auge als eine notwendige Verknüpfung. Wenn man z.B. sagt,
daß die verschiedenen Urteile über die Welt, die aus unserer Sinnes-
erfahrung hervorgehen, sinnvoll miteinander verknüpft sind, dann sagt
man, daß diese Urteile einander ergänzen, daß sie nicht nur nicht-wider-
sprüchlich sind, sondern daß sie sich sinnvoll zu einem Ganzen fügen.
Angesichts der Prüfung der Kohärenz der Berichte über eine Tat, wie
sie im Alten Testament bei dem Verhör der Susanna im Bade
belauschenden und des Ehebruchs bezichtigenden beiden Alten durch
Daniel durchgeführt wird, so fragt es sich erstens, ob die Urteile der Alten
sich widersprechen. In diesem Fall haben die Berichte sich direkt
widersprochen, wenn auch aus materiallogischen und nicht aus rein
formallogischen Gründen. Aber es besteht auch die Frage, ob Geschichten,
die zwei oder mehr Zeugen erzählen, nicht nur in dem Sinne kohärent sind,
daß sie einander nicht widersprechen, sondern auch im Sinne, daß ein
ganzes, verständliches und sinnvolles Bild aus diesen verschiedenen
Berichten entsteht. Kohärenz von Berichten heißt dann, daß sie in Einklang
mit der Psychologie eines Menschen, mit der Tatsächlichkeit der Welt und
mit der Wirklichkeit stehen und daß sich aus diesen verschiedenen Urteilen
eine sinnvolle Ganzheit ergibt.
Wenn man Kohärenz in diesem Sinn, also nicht als notwendige
Verknüpfung, aber auch nicht als bloße Widerspruchsfreiheit, sondern als

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 181

sinnvolle Verknüpfung verschiedener Urteile, so daß dieselben sich zu


einem sinnvollen Ganzen fügen, versteht, dann kann natürlich im einzelnen
noch sehr viel unter Kohärenz in diesem Sinn verstanden werden. Denn es
gibt ganz verschiedene Grade und Arten solcher sinnvoller Verknüp-
fungen.
Denken wir an sinnvolle Verknüpfung eines Urteils mit einer Reihe von
anderen Urteilen, oder noch spezifischer mit den Urteilen der Weisen oder
den Urteilen der Fachleute oder jenen Urteilen, die aufgrund der
verschiedenen Sinne erfolgen oder den Urteilen, die verschiedene Zeugen
eines Ereignisses fällen, dann könnte man auf die Frage der Kohärenz als
Wahrheitskriterium antworten: sinnvolle Verknüpfung ist nicht eine
schlechthinnige Bedingung und deshalb erst recht nicht ein zwingendes
Kriterium der Wahrheit, denn es gibt ja Fakten, die in einer sinnstörenden
Diskrepanz mit sonstigen Erfahrungen stehen, etwa ganz wunderbare oder
aber bizarre oder absurde Ereignisse, die mit den übrigen uns bekannten
Tatsachen scheinbar in gar keinem Einklang stehen, aber doch wirklich
vorgefallen sind. Insofern ist also Kohärenz in diesem Sinne nicht eine
notwendige Bedingung der Wahrheit und daher auch weder eine
notwendige Folge noch ein notwendiger Grund der Wahrheit.
Aber als Kriterium der Wahrscheinlichkeit von Wahrheit ist sicher eine
derartige sinnvolle Zusammenfügung von Urteilen zu einem Ganzen ein
wichtiges Kriterium, das z.B. Detektive oder Historiker oder verschiedene
Naturwissenschaftler, und auch Richter vor Gericht, häufig benützen.
In einem Rechtsprozeß ist allerdings nicht eine solche sinnvolle
Übereinstimmung der Urteile eines einzigen Menschen, sondern erst jene
verschiedener Menschen ein wichtiges Kriterium bzw. eine Evidenz durch
Zeugenaussagen.
Dabei geht es allerdings nicht nur um Urteile selbst, sondern auch um
die Fakten, die man beobachtet und die ihrerseits im Einklang mit den
Zeugenaussagen stehen müssen. So geht es oft um Kohärenz zwischen
beobachteten Sachverhalten und den Urteilen von Zeugen. Wenn dieselben
alle zusammen ein einheitliches sinnvolles Bild ergeben, dann liegt in
demselben u.U. ein Indizien- und zugleich Zeugenbeweis, der im Falle,
daß eine solche Kohärenz ohne ihre Fundierung in der Wahrheit nicht
erklärbar ist, zu einer Verurteilung oder zum Freispruch eines Menschen
führen kann.

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182 KAPITEL 2

Kohärenz in diesem Sinn kann daher in jenem Sinne und Maße als
Kriterium der Wahrheit gelten, als kein anderes oder weniger fehlbares
Kriterium vorhanden ist.

5.7. Kohärenz als Erkenntnis von Wahrheit

Als Theorie der Erkenntnis von Wahrheit scheidet die Theorie der
Kohärenz, im Gegensatz zu jener der Evidenz, aus, denn Kohärenz als
solche ist ja keine Erkenntnisform wie evidente Einsicht. Doch schließt
dies nicht aus, daß auf Grund der Kohärenz verschiedener Erfahrungen und
Erkenntnisse die Evidenz der einzelnen Erkenntnisse gestärkt oder sogar
erst hervorgerufen wird.

6. Kohärenz als wichtiges Wahrheitskriterium des Detektivs, Ermittlers


und Richters, sowie in der Hermeneutik von Texten

Bei Detektiven, in der Literaturwissenschaft, in der Historie, in der man


verschiedene Berichte, Texte oder Quellen zusammenfügt, ist Kohärenz
eines der hauptsächlichsten Kriterien. Wenn eine Theorie mit allen
verschiedenen Berichten oder Quellen und wenn diese mit allem anderen,
was wir erfahren, übereinstimmen, nehmen wir an, eine historische oder
detektivische Theorie sei wahr.
So gibt es viele Fälle, wo Kohärenz (nicht so sehr im Sinn reiner
logischer Widerspruchslosigkeit, sondern im Sinne sinnvoller Ganzheiten
von Theorien) ein Hauptkriterium ist. Genauso bei Interpretationen von
Kunstwerken. Wenn man etwa Shakespeares Romeo und Julia so
interpretiert, daß die ersten beiden von 6 Zeilen mit den letzten nicht mehr
übereinstimmen, und wenn dann jemand denselben Text mit Hilfe des
Dominospiels der italienischen mittelalterlichen Kultur so erklärt, daß alle
sechs Zeilen sich auf einmal zusammenfügen und innerhalb dieser Theorie
kohärent erscheinen, dann ist das ein Grund zu sagen, eine solche
geschlossene Theorie eines Teiles des literarischen Kunstwerks, in der die
6 Zeilen miteinander und mit dem ganzen Stück in Verbindung gebracht
werden, sei ein Kriterium ihrer Wahrheit und ihrer Richtigkeit.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 183

Von diesem richtigen Punkt einer Theorie der Hermeneutik aus liegt der
Fehlschluß nahe, daß deshalb, weil sie ein Kriterium für Wahrheit ist,
Kohärenz auch dasselbe sei wie Wahrheit.
Wenn man Kohärenz nicht bloß als Widerspruchslosigkeit annimmt,
sondern wenn man eine innere Einheit oder gar das von Hegel verabsolu-
tierte notwendige Verbundensein verschiedener Elemente in einem
notwendigen Wesen als Kohärenz bezeichnet, dann kann diese Form von
Kohärenz ein hinreichendes Kriterium dafür sein, daß wir etwas für wahr
halten oder daß wir etwas als wahr erkennen. Sogar wenn wir nur ein
Puzzlespiel zusammenfügen und wirklich jeder Teil sich zusammenfügen
läßt und wenn außerdem das Ganze nicht irgendein komisches abstruses
Gebäude ist, sondern ich aus tausend Puzzlestücken etwa genau die Kuppel
des Doms von Florenz zusammenbekomme, dann ist das zumindest für die
Zwecke des Puzzlespielers ein hinreichendes Kriterium dafür, daß er die
rechte Lösung gefunden hat, daß seine Lösung die richtige ist.
Natürlich könnte es prinzipiell sein, daß doch der eine Stein anders
verwendet wird als er gedacht war oder es könnte auch sein, daß man mit
denselben Puzzlestücken zwei verschiedene Formen machen könnte.
In solchen Fällen von Kohärenz ist dennoch das sinnvolle Zusammen-
passen der Teile ein zureichendes Kriterium dafür, daß man etwas für wahr
ansieht, aber es kann natürlich auch sein – vor allem, wenn es nicht so ein
einfaches primitives Ding wie ein Puzzle, sondern etwa ein philoso-
phischer Text ist –, daß eine Theorie, die ein philosophisches Werk wie ein
ganz geschlossenes System, wo alles zusammenstimmt, interpretiert,
weniger berechtigt ist als eine, die Widersprüche in einem Philosophen
zuläßt, aber dafür all den verschiedenen Erkenntnissen tiefer gerecht wird,
die er vielleicht nicht miteinander verbunden und mit manchen Irrtümern
vermischt hat. In diesem Sinn würde ich hinsichtlich der Kohärenztheorie
als hermeneutischer Theorie sagen, daß durchaus eine nicht-kohärente
Interpretation eines Textes richtiger sein kann als eine kohärente.
Und deshalb kann man nicht einmal hier, wo Kohärenz am ehesten ein
gültiges Wahrheitskriterium ist, allgemein sagen, daß Kohärenz ein
hinreichendes Kriterium ist, um die Erkenntnis der Richtigkeit oder
Wahrheit einer Interpretation zu erkennen.

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184 KAPITEL 2

7. Neuerliche Bemerkungen zu den Motiven der Kohärenztheorie

Wenn man die Motive der Kohärenztheorie der Wahrheit prüft oder sich
danach fragt, warum überhaupt die Kohärenztheorie im strengen Sinn als
Theorie über das Wesen der Wahrheit entstanden ist, dann lassen sich
verschiedene Gründe nennen:
Einmal gibt es die bereits erwähnten Schwierigkeiten, die in der
Adäquationstheorie der Wahrheit als solcher und vor allem in der
Erkenntnis der Übereinstimmung von Urteilen mit der Wirklichkeit (in der
Verifizierung) liegen.
Mit dem Skeptizismus von Hume und Kant, nach dem wir die Dinge an
sich, so wie sie in sich selber sind, überhaupt nicht erkennen können, ist
natürlich erst recht eine Erkenntnis, die die Adäquation oder Entsprechung
von Urteilen mit der Wirklichkeit beweist, nicht mehr möglich, zumindest
im letzten Sinne. Es gibt zwar bei Kant noch die Idee der Wahrheit, wie
Palacios nachweist,145 ja Kant setzt in vieler Hinsicht noch die klassische
Adäquationstheorie der Wahrheit voraus, da er Urteile, die mit Erschei-
nungsgegenständen übereinstimmen, als wahr betrachtete.
Das ist sicher richtig, aber in einer anderen Hinsicht folgt daraus, daß
Kant leugnet, daß wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie in sich
ist, daß diese Position zumindest leicht zu derjenigen führt, daß wir letzten
Endes nur noch eine Kohärenz unserer Erfahrung, das sinnvolle
Zusammenspielen unserer Erfahrung, feststellen können, an der Stelle von
Wahrheit.
Denn erstens setzt selbst die Anwendung der Adäquationstheorie auf
unsere Urteile über Erscheinungen – entgegen Kants Leugnung der
Erkennbarkeit des Dings an sich – an sich bestehende Sachverhalte über
Erscheinungen voraus, mit denen unsere Urteile über sie übereinstimmen
müssen, um wahr zu sein. So ist mit Wahrheit als der wirklichen
Adäquation von Urteilen mit dem Selbstverhalten der Erscheinungen ein
Ding an sich, ein absoluter Punkt gegeben, sowie man Wahrheit im Sinn
der Übereinstimmung auffaßt, da für jede Wahrheit über Erscheinungen

145
Siehe J.M. Palacios, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, S. 19 ff.,
155 ff.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 185

das an sich Bestehen von Sachverhalten über Erscheinungen vorausgesetzt


ist.
Dieselbe Voraussetzung von an sich bestehenden Sachverhalten und der
Übereinstimmung unserer Urteile mit diesen ist natürlich auch bei der
Kohärenztheorie gegeben, weil man in dieser sagen muß: „Ja es ist
wirklich wahr, daß etwas kohärent ist“. Und dann hat man wieder etwas,
nämlich Wahrheit als Übereinstimmung, als ein An sich, vorausgesetzt.
Gleichwohl bleiben Skepsis und Zweifel an der Erkenntnis eines Seins
und einer Wirklichkeit, an der man die Übereinstimmung von Urteilen
messen kann, ein Grund für die Aufgabe der Lehre von der Wahrheit als
Adäquation.
Wenn man die Wahrheit im Sinn der Übereinstimmung annimmt und
also sagt, daß ein Urteil wahr ist, wenn es mit den Erscheinungen, so wie
sie uns wirklich erscheinen, übereinstimmt, dann hat man mit diesem
Wahrheitsbegriff zwar wieder etwas, was an sich besteht, gesetzt. Denn
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Welt, wie sie uns erscheint, ist
wirklich wahr, weil sie an sich selbst mit der Welt, wie sie uns erscheint,
übereinstimmt.
Doch wäre ein solches „Ding an sich“, das ausschließlich in
Sachverhalten über Erscheinungen bestünde, eine jämmerliche Angele-
genheit, wenn man es an der Aspiration der Philosophie, Wahrheit über
Freiheit, Person, Seele, Gott und Unsterblichkeit zu erkennen, mißt. Wenn
man von der Wahrheit von Urteilen über Dinge an sich redet, welche in der
Philosophie eine fundamentale Rolle spielt, so muß man, insoweit man
nicht (mit Kant) den „transzendentalen Schein“ von Urteilen über Dinge an
sich akzeptiert, die objektiv falsch und doch unvermeidlich sind, nach
einem andern Wahrheitsbegriff suchen, den man dann in der Kohärenz zu
finden hoffen mag.
Dieser Grund für das Entstehen der Kohärenztheorie der Wahrheit ist
verwandt mit der erwähnten Entwicklung der modernen Naturwissenschaft
und Mathematik. Denn in dem Moment, in dem man zweifelte, daß es
Axiome und Grundprinzipien gibt, die schlechthin vorgegeben und
erkennbar sind, daß es also etwa evident ist, daß zwei gerade Linien in
einer Ebene sich niemals schneiden oder daß zu einer gegebenen Linie nur
eine einzige gerade Linie möglich ist, die durch einen gegebenen Punkt
außerhalb der Linie geht und die gegebene gerade Linie nie schneidet, lag

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186 KAPITEL 2

eine neue Wahrheitstheorie in der Mathematik nahe. Wenn man zweifelt,


wie seit dem Aufkommen der nicht-euklidischen Geometrien, daß dieser
Satz evident sei, wenn man dennoch zugleich die Kohärenz dieses Satzes
mit den anderen Postulaten der euklidischen Geometrie erfaßt, so
verschiebt sich leicht die einzig richtige Theorie über die Urteilswahrheit,
nach der die Wahrheit in einer Übereinstimmung des Urteils mit dem
behaupteten Sachverhalt liegt, in Richtung einer Kohärenztheorie der
Wahrheit.
Man sagt darum: „Wahre Axiome gibt es nicht. Daher ist ein System der
Mathematik oder Physik nicht dadurch bestimmt, daß seine Sätze oder
Urteile mit einer vorgegebenen Wirklichkeit oder mit vorgegebenen
mathematischen Wesenheiten übereinstimmen, sondern nur dadurch, daß
es ein kohärentes System ist. Man kann ganz verschiedene und einander
vom Standpunkt der Adäquationstheorie aus widersprechende kohärente
Systeme entwickeln. Und deshalb ist ihre Wahrheit nichts anderes als ihre
Kohärenz.“
Gewiß, auch hier setzt man an vielen Stellen Wahrheit im Sinne der
Übereinstimmung voraus, aber dies hindert nicht, daß dieses Motiv sicher
eine Rolle in der Entstehung der Kohärenztheorie gespielt hat.
In gewisser Hinsicht liegt auch der Theorie von Thomas Kuhn über die
Revolution der Wissenschaften eine Kohärenztheorie der Wahrheit
zugrunde, weil er annimmt, daß die verschiedenen Erscheinungen und
Erfahrungen im Kontext eines Paradigmas, irgendeines wissenschaftlichen
Modellbildes zusammenpassen sollen. Und solange man sie alle wie
Bruchstücke eines Puzzle zusammenfügen könne, sei es genau dies, was
der Begriff Wahrheit meine.
Aber eine solche „Wahrheit“ ist weder zeitlos noch steht sie in
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern die jeweiligen Modellbil-
der werden durch die wissenschaftlichen Revolutionen wieder durch
jeweils ganz andere Modellbilder ersetzt. Daraus folgt, daß man in dieses
neue und allen früheren widersprechende Modellbild vielleicht sogar alle
Stücke und Erfahrungen und Teiltheorien zu einem neuen kohärenten
Ganzen wird einfügen können.
So ist die Entwicklung der Wissenschaft gleichsam nur ein stets
wachsendes kohärentes System von Teilbehauptungen mit bestimmten,
sich wandelnden Modellvorstellungen oder Paradigmen, die ihrerseits mit

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 187

beobachtbaren empirischen Fakten in Einklang stehen. Wenn diese Kohä-


renz durch neue Beobachtungen zusammenbricht, muß man eben wieder
ein neues Paradigma entwerfen.
So sind auch Kuhns Ideen bezüglich der Revolutionen der Wissenschaf-
ten und die von ihm verteidigte Kohärenztheorie der Wahrheit durch den
Zusammenbruch der Idee einer Evidenz bezüglich der Übereinstimmung
von wissenschaftlichen Urteilen mit der Wirklichkeit entstanden.
Fassen wir zusammen: Die Skepsis hinsichtlich der Erkenntnis von
Wahrheit im Sinn der Übereinstimmung und insbesondere einer Erkenntnis
des Seins, wie es in sich selber ist, ist wohl der Hauptgrund dafür, daß
alternative Wahrheitstheorien wie die Kohärenztheorie entwickelt wurden.
Dafür, daß ein solcher Skeptizismus in der jüngeren Philosophie zur
Herrschaft kam, war zunächst David Hume verantwortlich, der Kant, wie
dieser selbst formuliert, aus seinem „dogmatischen Schlummer“ weckte.
Kant versuchte, diesen Skeptizismus zu überwinden. Letztendlich sind aber
auch all die nach Kant in der reinen Vernunft begründeten Urteile, die sich
auf die durch subjektive Anschauungsformen und Denkformen geprägte
Erscheinungswelt beziehen, nicht Urteile über objektiv bestehende
Sachverhalte, etwa darüber daß A wirklich die Ursache von B ist, sodaß
die Wahrheit von Kausalurteilen als eine eigentliche Übereinstimmung
unserer Urteile mit jener Wirklichkeit, die unabhängig vom menschlichen
Geist besteht, zusammenbricht.
So betrachtet, muß man in Kants kritischer Philosophie ein Hauptmotiv
für die Entstehung der Kohärenztheorie der Wahrheit, ja deren Herrschaft,
wenigstens in versteckter Form, erblicken. Ähnliches gilt für die „habits of
experience“, die nach David Hume auf Grund von Gesetzen der
Assoziation zu unseren Allgemeinurteilen führen, die sich eigentlich nur
auf wegen Kohärenz der gewohnheitsmäßigen Erscheinungen erzeugte
Illusionen beziehen. Zumindest ein weiterer historischer Grund für die
Entwicklung der Kohärenztheorie liegt im Skeptizismus, wie er im
österreichischen Positivismus infolge des vorhergehenden Empirismus in
England erschienen ist.
Denn in all diesen Philosophien kann letztlich kein Kriterium für eine
Erkenntnis zu finden sein, mit deren Hilfe die Übereinstimmung von
Urteilen mit einer Wirklichkeit, die unabhängig vom Geist bestünde,
möglich würde. Daher wird es verständlich, daß man versucht, die

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188 KAPITEL 2

Wahrheit selbst umzuinterpretieren, um das für solche Philosophien


unlösbare Problem zu vermeiden, daß wir, um die Wahrheit von Urteilen
zu erkennen, eine Wirklichkeit, die uns vorgegeben ist, feststellen und
dann sehen müßten, ob unsere Urteile mit dieser vorgegebenen Wirklich-
keit übereinstimmen.
Wenn es eine solche Erkenntnis, ja ein an sich Sein der Dinge gar nicht
gibt, dann ist es verständlich, daß eine Kohärenztheorie oder eine
Konsenstheorie oder irgendeine andere alternative Theorie des Wesens der
Wahrheit entsteht.
Zwar ist es selbstverständlich auch unter den genannten Vorausset-
zungen möglich zu sagen: Wahre Urteile sind diejenigen, die mit den
Erscheinungen, so wie sie uns gegeben sind, übereinstimmen. Insofern ist
es nicht direkt eine Konsequenz des Idealismus, daß man das Wesen der
Wahrheit umdeutet. Ja noch mehr: Selbst ein Kantianer muß, wie jeder
andere Denker auch, unweigerlich die Wahrheit im Sinne der Übereinstim-
mung als das einsehen, was wir mit wahr meinen und dasselbe an vielen
Stellen seines Systems voraussetzen.
Ein anderes Motiv für das Entstehen der Kohärenztheorie der Wahrheit
liegt wohl in der Verwechslung der Kohärenz als Kriterium und als Wesen
der Wahrheit. Eine derartige Verwechslung liegt auch Brentanos ganz
anders gearteter Evidenztheorie der Wahrheit zugrunde, wie wir gesehen
haben. Zwar sieht Brentano mit Recht in wirklich evidenter Erkenntnis, die
uns einsichtig wird, das höchste Kriterium dafür, daß etwas wahr ist. Dann
jedoch geht er weiter und sagt, darin liege das Wesen der Wahrheit, daß
jemand, der mit Evidenz urteilt, so urteilen würde. Dies sei alles, was
Wahrheit bedeute. Daran haben wir schon Kritik geübt. Diese Tendenz, die
Erkenntnis, mit der wir Wahrheit erkennen, oder das Kriterium, mit Hilfe
dessen wir Wahrheit feststellen, mit dem Wesen der Wahrheit selbst zu
identifizieren, ist sehr groß.
Es gibt noch eine ganze Menge weiterer Gründe für die Kohärenz-
theorie, etwa in Hegels Metaphysik, nach der „die Wahrheit das Ganze“
ist. In dieser These würde ich ein anderes Hauptmotiv der Kohärenztheorie
sehen, wie sie vor allem bei Bradley aufscheint, aber ebenso in der
Verzweiflung des jungen Hegel über die Widersprüche in der Geschichte
der Philosophie, über die Nichtkohärenz der Philosophie als ganzer, die
wohl mitentscheidend zu seiner späteren Philosophie geführt hat. Es war

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 189

und ist ja ein Urärgernis für jeden, der die Philosophiegeschichte


betrachtet, und überhaupt für jeden Menschen, wenn er sieht, welche
Meinungsgegensätze über alle Dinge herrschen. Denn wenn er betrachtet,
daß der eine sagt, man dürfe Menschen beliebig töten, der andere sagt,
nein, dies dürfe man unter keinen Umständen, so scheint nur bornierte
Willkür einen solchen Streit einfach für eine Seite entscheiden zu
können. Der eine sagt, es gibt Gott, der andere sagt, es gibt keinen. Der
eine sagt, es gibt Freiheit, der nächste leugnet sie. Einer behauptet, es gebe
Erkenntnis, der andere, es gäbe sie nicht. Der eine sagt, Geister seien
wirklich, der andere reduziert alles auf Materie.
Darin liegt ein Skandalon (auf Grund dessen jeder sich oft fragt, ob
seine eigenen Anschauungen denn wahr sein können, ja ob es überhaupt
Wahrheit gibt. Wenn man mit der Welt solcher Widersprüche konfrontiert
ist und nicht nur irgendwelche Nichtswisser oder Toren, sondern sehr
ernsthafte Wissenschaftler und Philosophen solche einander ausschlie-
ßende Positionen einnehmen, dann muß man sich fast fragen: „Kann man
solchen Streit überhaupt entscheiden?“.
Hegel geht zunächst davon aus, dies sei nicht möglich. Das ist die
Hegelsche Skepsis, die Kierkegaard als Geheimnis der Hegelschen
Philosophie bezeichnet hat.146 Hegel meint, es gäbe keinen Weg, auf dem
man diesen Streit dadurch entscheiden kann, daß man sagt, diese und jene
Auffassungen seien nicht richtig, schlecht begründet, usw. und die anderen
seien wahr.
Darin aber, daß er bezweifelt, daß man in solchen widerspruchsvollen
Meinungen der Philosophen die wahre Seite ausfindig machen könnte,
liegt ein Hauptmotiv Hegels dafür, nach einer Theorie zu suchen, in der
alle Gegensätze Teile eines übergreifenden Ganzen sind, sodaß er sagt, sie
seien letzten Endes gar nicht wirklich widersprüchlich, sondern alle nur
Phasen in einer dialektischen geschichtlichen Entwicklung, in der die Idee
der Freiheit und der absolute Geist, die absolute Idee, sich historisch
entfalten bis zum Höhepunkt des preußischen Staates und – im Reich des

146
Siehe Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken (Ges. Werke 16. Abteilung) Teil I und II.
(Düsseldorf/Köln, Diederichs, 1957/1958), Bd. I, I. Teil, VII, 22, Anm., S. 29-30.
Zweiter Teil, 1. Abschnitt, Kap. 1, 2, 4, bes. S. 98 ff., vgl. auch ebd., S. 318 (244).

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190 KAPITEL 2

„absoluten Geistes“ – der Hegelschen Philosophie, worin alles gip-


fle. Demnach wäre jede Phase, jeder Widerspruch in der Philosophie, ein
notwendiges Element, ein Schritt gewesen hin zu diesem vollkommensten,
perfekten Ganzen der Hegelschen Philosophie.
Das ist gewiß eine kühne, wenngleich natürlich genauso oder noch
absolutistischere Theorie als alle Versuche, die Streitigkeiten zwischen
Philosophen zu entscheiden, weil Hegel damit nicht nur sich selber
wiederum im Gegensatz stellt zu allen, die nicht Hegelianer sind (und es
gibt sehr gute Gründe dafür, nicht zu meinen, daß Hegels Philosophie, wie
er meint, „das Selbstgespräch Gottes mit sich selbst“ oder der preußische
Staat das vollkommenste Wunderwerk von Ordnung und Kultur und Sinn
in der Geschichte seien), sondern er erhebt den Anspruch, als einzige und
erste Theorie das Geheimnis der dialektisch sich entfaltenden Vernunft
durchschaut und alle anderen Auffassungen als untergeordnete Momente
seiner eigenen integriert zu haben.
Dennoch ist es verständlich, daß Hegel nach einer Theorie sucht, in der
man, statt zu entscheiden, woran er verzweifelt war, daß eine Position wahr
und eine andere falsch sei, annimmt, daß alle Positionen Teile eines
übergreifenden Ganzen der eigenen Position seien.
Unter dieser Voraussetzung kann man Wahrheit nicht mehr als
Übereinstimmung dieser Theorie mit der Wirklichkeit denken, sondern
muß sie sozusagen als Ganzes aller Teile eines großen welthistorischen
Puzzlespiels auffassen, in welchem das Leben des Ganzen aus allen diesen
Elementen gefügt ist. So gleiche Wahrheit einer Pflanze, die alle Phasen
und Ausdrucksformen des Lebens in sich birgt.
Ähnlich stehen die Dinge bei Dilthey, wo allerdings der neue Gedanke
auftaucht, daß die Geschichte ein Lebensprozeß sei und alle Kulturen, alle
Meinungen, weil sie eben Ausdruck dieses Lebens seien, gleiches Recht
hätten.
Alle diese Ideen, die aus einer Verzweiflung an einer Erkenntnis einer
objektiven Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Urteilen mit
vorgegebenen Sachverhalten, welche die Falschheit der kontradiktorisch
entgegengesetzten Urteile entspringen, können mehr oder minder
verständlicher Weise zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit führen, in der
dann irgendeine Form eines umfassenden Sinnzusammenhangs gefunden
wird.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 191

Bei Hegel besteht Kohärenz allerdings nicht in Widerspruchslosigkeit,


sondern im Gegenteil im Widerspruch bzw. in der Ganzheit aller
Meinungen in ihrer Widersprüchlichkeit, die in der Synthese jeweils
„aufgehoben“ sind.
Im Lichte unserer kritischen Analyse müssen wir diese and ähnliche
Ideen gänzlich von uns weisen. Kohärenz als Nichtwidersprüchlichkeit ist
sicher eine notwendige Bedingung und ein Wesensmerkmal der Wahr-
heit. Wenn man sie als Widerspruchslosigkeit eines bestimmten Systems
von Sätzen mit all denen, die wir schon als wahr erkennen, betrachtet, dann
ist Kohärenz sicher nicht eine hinreichende, wenn auch eine notwendige
Bedingung für Wahrheit.

8. Abschließende Bemerkungen über Wahrheit als adaequatio als


Grundlage des einzigen vollkommenen kohärenten Systems – und über
die Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit jedes Versuchs, Wahrheit
selber als Kohärenz zu deuten

Die analysierten Motive der Kohärenztheorie beweisen in keiner Weise,


daß Wahrheit wirklich Kohärenz ist. Ganz im Gegenteil, diese Theorie
widerspricht sich sogar selber. Denn wenn man sagt, Wahrheit bestehe
nicht in der Übereinstimmung unserer Urteile mit der Wirklichkeit,
sondern nur in ihrer inneren Kohärenz, behauptet man, daß das wirklich so
ist: „Darin besteht die Natur der Wahrheit“. Und diese Behauptung ist
nicht wieder nur deshalb wahr, weil sie kohärent mit anderen Urteilen ist,
sondern hier wenigstens erhebe ich offenbar den Anspruch, daß dieses
Urteil über Wahrheit als Kohärenz wahr ist, weil es mit dem wirklichen
Wesen der Wahrheit übereinstimmt. Wenn ich sage, „Wahrheit ist nicht
Übereinstimmung, Wahrheit ist Kohärenz“, setze ich Wahrheit im Sinne
der adaequatio voraus. Außerdem muß ich nicht nur dafür Wahrheit
voraussetzen, daß ich sage, Wahrheit besteht wirklich darin, kohärent zu
sein, sondern ich muß auch Wahrheit als adaequatio voraussetzen, um
festzustellen, daß etwas überhaupt kohärent ist. Mit anderen Worten, wenn
ich frage, „Ist ein System wirklich kohärent?“, dann muß ich bei
bejahender Antwort stets voraussetzen, daß wirklich der eine Satz mit dem
anderen übereinstimmt. Und diese Feststellung der Kohärenz kann nicht

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192 KAPITEL 2

wieder nur kohärent und deshalb wahr sein, sondern hier muß der
Kohärenztheoretiker den Anspruch erheben zu erkennen, daß wirklich das
eine Urteil mit dem anderen in einem nichtwidersprüchlichen Verhältnis
steht. Und für diese These wenigstens beansprucht er wieder Wahrheit als
Adäquatio. Darum setzt jede Kohärenztheorie der Wahrheit und jede
andere, von der Adäquationstheorie abweichende Theorie der Urteilswahr-
heit überhaupt, sofern sie eine Theorie über das Wesen der Wahrheit ist,
wieder die Urgegebenheit von Wahrheit als adaequatio voraus, was wir in
diesem Teil für die Brentanosche Evidenztheorie der Wahrheit und für die
Kohärenztheorie der Wahrheit gezeigt zu haben hoffen.
Dies schließt keineswegs aus, daß letztendlich vollkommene Kohärenz
ausschließlich in der Wahrheit im Sinne der adaequatio besteht. Es ließe
sich zeigen, daß auch bei philosophischen (und teilweise sogar bei
dichterischen) Texten und in der Geschichte der Philosophie insgesamt
Kohärenz nur zwischen allen jeweiligen wahren Erkenntnissen und
Urteilen liegt, wie sie bei jedem Philosophen zu finden sind. Nur diese gibt
das wirklich kohärente Bild, nicht das Ganze all der Meinungen und
Äußerungen oder irriger Systeme von Philosophen, sondern nur das Ganze
dessen, was sie wirklich gesehen haben, was sie wirklich eingesehen
haben, was wirklich wahr ist.
In diesem Sinn kann man gerade durch die Auffassung des Wesens der
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erst jene wirkliche
innere Einheit und Kohärenz finden, die das Skandalon der Widersprüche,
wenn nicht beseitigt, so doch erklärt. Es sind nämlich nicht ausschließlich
diese Widersprüche zu betrachten, sondern all die vielen Einzeleinsichten,
die meist sogar von großen Irrtümern vorausgesetzt sind. Wenn man diese
Erkenntnisse, diese überall verstreuten wahren Urteile oder Spermata tou
logou (Bruchstücke des einen Logos), von ihren falschen Verallgemeine-
rungen oder von falschen Thesen, die sich an sie angeschlossen haben,
befreien könnte, dann würde man ein wirklich kohärentes Ganzes der
Philosophie bekommen, weil dasselbe nur in der Wahrheit möglich ist.
Die letzte Kohärenz aller wahren Urteile ist nur in der Wahrheit
gegeben. Denn jedes falsche System und jeder einzelne Irrtum, wenn man
sie mit wahren Urteilen konfrontiert, erweisen sich letzten Endes als nicht-
kohärent – durch innere Widersprüchlichkeit oder durch Widerspruch mit
anderen Wahrheiten.

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Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung 193

Mit anderen Worten: Die Wahrheit als Übereinstimmung der Urteile mit
der Wirklichkeit ist die einzige Erklärung eines wirklich kohärenten und
vollständigen Systems bzw. einer summa veritatis, denn in jedem anderen,
auch noch so kohärenten Teilsystem oder in jeder Theorie, auch wenn ihre
Teile völlig miteinander und auch mit anderen allgemeinen Wahrheiten
zusammenstimmen sollten, ist, wenn sie falsch sind, doch irgendwo ein
Widerspruch zu irgendwelchen Wahrheiten verborgen. Es ist unmöglich,
daß es ein vollständig kohärentes System, das auch mit allen anderen
wahren Sätzen kohärent ist, geben könnte, das falsch wäre. In diesem
Sinne kann nur die Wahrheit in ihrer Ganzheit volle Kohärenz besitzen.147

147
Aber da wir natürlich nicht alle wahren Urteile kennen, genügt für uns die
Kohärenz einer auch noch so entwickelten Theorie mit anderen bekannten
Inhalten nicht, um zu beweisen, daß sie wahr ist.

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KAPITEL 3

KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT

Eine der weiteren möglichen Folgen des Zweifels an der Erkennbarkeit


von Wahrheit im Sinne der Korrespondenz zwischen Urteil und Sachver-
halt ist zweifellos die Konsenstheorie der Wahrheit. Das Wort, das aus
dem Lateinischen stammt, kommt vom Verb consentire/consentiri
(buchstäblich: „zusammen fühlen“ oder „gemeinsam fühlen“, oder auch
„gemeinsam meinen“) und bedeutet Übereinstimmung, meist verschiede-
ner Personen. Konsens besteht, wenn Personen mit einander übereinstim-
men und derselben Meinung sind; er kann sich in verschiedener Weise
ausdrücken, etwa in sprachlich ausgedrückten Urteilen oder auch, wenn
man Gelegenheit hatte und ganz frei war, die Zustimmung zu verweigern,
dies aber nicht tat, in dem berühmten Schweigen, dessen überzeugende
Interpretation das römische Rechtsprinzip gibt: qui tacet, consentiri
videtur.
Die Konsenstheorie der Wahrheit setzt an die Stelle der Wahrheit als
einer Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt die Wahrheit als
Gegenstand des Konsenses. In ihrer radikalsten Form, als Wesenstheorie
der Wahrheit, meint sie entweder, daß Wahrheit nichts als ein konsens-
bestimmtes Konstrukt sei oder daß sie nur darin bestehe, daß ein Urteil
Gegenstand eines Konsenses sei. In ihren milderen Abarten beschränkt
sich die Konsenstheorie auf eine Theorie über Wahrheitskriterien und
meint etwa, daß Konsens ein hinreichendes Wahrheitskriterium darstelle
oder auch nur, daß er eine notwendige Folge der Wahrheit sei, ohne dabei
notwendigerweise zu behaupten, daß der Konsens nicht aus anderen
Gründen zustandekommen könne, und deshalb ohne notwendigerweise zu
behaupten, daß sein Bestehen ein hinreichendes Wahrheitskriterium sei.148

148
Vgl. Mitchel Berbrier, “From Logos to Pathos in Social Psychology and Academic
Argumentation: Reconciling Postmodernism and Positivism in a Sociology of
Persuasion”, Argumentation, (1997); 11(1): 35-50. In der Zusammenfassung des
Papers durch den Autor im Philosopher’s Index heißt es: “Postmodern
perspectives hold knowledge and truth to be intersubjective, consensus-driven
social constructions... Abandoning these artificial distinctions in both

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198 KAPITEL 3

Bei Charles S. Peirce verbindet sich ein Verständnis des Wesens der
Wahrheit als Konsens mit einem Moment des Pragmatizismus, sodaß man
seine Wahrheitstheorie als Verbindung zwischen Konsenstheorie und einer
ausgeprägten pragmatistischen Handlungstheorie der Wahrheit ansehen
kann. Das letztere Moment kommt im folgenden Satz sehr deutlich zum
Vorschein:
...Wahrheit besteht weder in mehr noch in weniger als in jenem Charakter
eines Satzes (Urteils), welcher nichts anderes ist als daß der Glaube an den
Satz uns, bei hinreichender Erfahrung und Reflexion, zu einem solchen
Verhalten (Handeln) führen würde, wie es zu einer Erfüllung der Wünsche,
die wir zum gegebenen Zeitpunkt haben, dienlich wäre. Zu behaupten, daß
Wahrheit mehr als dies meint, heißt, daß sie überhaupt keinen Sinn hat.149

Die heute verbreitetste und philosophisch seriöseste Form der Konsens-


theorie der Wahrheit ist wohl diejenige der Diskursphilosophie und
Diskursethik, die insbesondere auf Habermas, den wohl subtilsten, wenn
auch vielleicht obskursten Verteidiger einer Konsenstheorie, in Form einer
Diskurstheorie, der Wahrheit zurückgeht und auf die wir ausführlicher
eingehen werden.
Auch bei Kant kann man, neben Aussagen, welche die Adäquations-
theorie der Wahrheit und solchen, die die Kohärenztheorie der Wahrheit
verteidigen, Elemente einer „transzendentalen Konsenstheorie der Wahr-
heit“ finden, indem Denknotwendigkeiten und gemeinsame subjektive
Strukturen angenommen werden, die zu allen Menschen gemeinsamen und
von ihnen notwendig für wahr gehaltenen Postulaten und Prinzipien
führen, welche bei Kant in wesentlichen Aussagen an die Stelle der
Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Urteilen mit der Wirklich-

epistemology and method would enable this social psychology, reconstituted as a


‘sociology of persuasion’, to contribute greatly to illuminating the processes of
truth and knowledge construction in social interaction.” Vgl. auch die
Verteidigung des Konsenstheorie der Wahrheit bei Arthur Fine, “Truthmongering:
Less is True,” Canadian Journal of Philosophy (1989); 19 (4): 611-616.
149
Ch. S. Peirce, Collected Papers, Bd. V, S. 375, Anm. 2. Vgl. auch Torjus
Midtgarden, “Peirce’s Speculative Grammar from 1895-1896: Its Exegetical
Background and Significance”, Transactions of the Charles S. Peirce Society,
2001 Winter; 37(1): 81-96.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 199

keit treten.150 Bevor wir auf die Konsenstheorie der Wahrheit und ihre
vielfältigen Varianten als solche eingehen, d.h. auf die Theorie, daß
Wahrheit ihrem Wesen nach im Konsens bestehe oder daß Konsens ihre
Bedingung, ihre Folge oder ihr geeignetes Kriterium sei, wollen wir
zunächst einmal fragen, was Konsens heißt und seinem Wesen nach ist.

1. Was ist und was heisst ‚Konsens‘?

Unter Konsens verstehen wir eine Übereinstimmung im Urteil oder in


der Überzeugung (unter Umständen auch eine andere Art von ‚Überein-
stimmung‘ von anderen Akten bzw. deren Resultaten, wie politischer
Entscheidungen für einen Amtsträger oder eine Partei, die uns aber hier im
Rahmen einer Untersuchung über das Wesen der Wahrheit nicht angehen,
da es in ihnen nicht direkt, sondern höchstens ganz indirekt, um Urteile
und Wahrheitsansprüche geht).
Konsens ist dabei nicht eine Eigenschaft einzelner Akte, sondern
entweder eine objektive Relation zwischen ihnen, die keineswegs selber
Aktcharakter besitzt, sondern sich nur aus gewissen Gleichheiten oder
Ähnlichkeiten verschiedener Akte ergibt, oder sie ist ein ausdrückliches
und bewußtes Teilen derselben Überzeugungen und hat somit den Charak-
ter eines bewußten Aktes der Zustimmung oder Übereinstimmung mit
anderen Personen oder, besser gesagt, eines gegenseitig ineinandergrei-
fenden und auf einander bezogenen Aktgeflechts, das zu einem gemein-
schaftlichen und in personaler Form geteilten Urteilen mehrerer Personen
führt, wobei selbstverständlich jeder einzelnen Person ihre je eigene
Erkenntnis, ihre je eigenen Überzeugungen und Urteilsakte zugehören, die
niemand anderer „für sie vollziehen” und die kein Zeitgeist, Volksgeist
oder Weltgeist ihr abnehmen kann, worauf Soeren Kierkegaard in
unübertrefflich deutlicher Weise hingewiesen hat.151 Wohl aber können
verschiedene Personen ihre Urteilsakte in Gemeinschaft mit anderen

150
Vgl. Dietmar Koveker, „Zwischen ‚objektiver Gültigkeit‘ und ‚subjektiv-
notwendigem Probierstein‘ der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische
Forschung, (1995); 49 (2): 274-293.
151
Vgl. Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken, zit.

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200 KAPITEL 3

vollziehen oder auch die von ihnen für wahr gehaltenen Urteile öffentlich
in einem bewußten Konsens zum Ausdruck bringen oder bekennen.
Dabei ist es, insbesondere im Kontext einer Diskussion der Konsens-
theorie der Wahrheit, wichtig festzuhalten, daß die bewußten Akte, die
einem Konsens, insbesondere im zweiten Sinne, zugrundeliegen, nicht
notwendig Akte des Urteilens, in denen ein Urteil, das einen Wahrheits-
anspruch erhebt, gefällt wird, sein müssen. Es kann sich jemand vielmehr
auf ein Konsenspapier, Gesetz oder einen Text einigen, den der Einzelne,
wenigstens teilweise, gerade nicht für wahr hält, aber vielleicht als minus
malum gegenüber anderen und schlimmeren Texten oder Gesetzen
betrachtet, weil er der Meinung ist, daß die volle Wahrheit keine Chance
auf Konsens hat und weil Konsens der Mehrheit für viele Bereiche des
Lebens in einer demokratischen Gesellschaft Bedingung ist. Konsens hat
hier also nicht die Bedeutung eines gemeinsam angenommenen Urteils,
sondern eher des Annehmens oder Akzeptierens (acceptance) von, oder
der Zustimmung zu, etwas (agreement). Während man den Ausdruck
„Konsens“ in dem Falle, in dem er eine Übereinstimmung im Urteil
bedeutet, als Zustimmung oder Übereinstimmung fassen und als consent
ins Englische übersetzen kann, könnte man Konsens im Falle einer bloßen
Akzeptanz von etwas oder Einigung auf etwas als agreement übersetzen,
was ein Einverständnis oder „sich einverstanden Erklären“ bedeutet.152
Kehren wir aber zu den beiden genannten Grundbedeutungen von
Konsens sowie deren Eigenschaften zurück: Da steht auf der einen Seite
das bloße objektive Resultat bzw. die objektive Relation des Konsenses, in
dem verschiedene Urteile, Urteilsakte oder auch ihr sprachlicher Ausdruck
zu einander stehen können, und auf der anderen eine Art „kommunikatives
Handeln“ in dem Sinne eines bewußten Übereinstimmens mit anderen.
Diese beiden Formen von Konsens sind wesensverschieden von einander.
Wenden wir uns zunächst der ersten Bedeutung von Konsens zu und
sehen wir dabei von jenem Konsens ab, der eigentlich nur als Akzeptanz
oder agreement bezeichnet werden sollte. Wir fassen also jenen Konsens

152
Engelhardt legt mit recht Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen Konsens
und Akzeptanz. T. H. Engelhardt, Jr., The Foundation of Bioethics, 2nd ed. (New
York and Oxford: Oxford University Press, 1996), pp. 13 ff.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 201

im strengen Sinne ins Auge, der nur dort vorliegt, wo Personen in ihren je
eigenen, verschiedenen Akten dieselben Urteile für wahr halten.
Die Konsens genannte rein objektive Übereinstimmung zwischen Akten
oder ihren Resultaten und Inhalten (den logischen Urteilsgebilden) zielt auf
eine volle oder partielle Ähnlichkeit oder Gleichheit, nicht aber auf eine
Ähnlichkeit oder Gleichheit zwischen Akten als solchen ab, da ja auch
Urteilsakte, in denen ganz entgegengesetzte Inhalte angenommen werden,
als Akte einander ähnlich sind. Vielmehr bezieht sich Konsens nur auf eine
besondere Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit von Akten, die aufs engste
mit deren Inhalten bzw. mit den logischen Urteilsgebilden verbunden sind,
die in verschiedenen Akten für wahr gehalten werden. Konsens bezieht
sich auf die Relation der Akte des Urteilens und der Überzeugung zu deren
Inhalten bzw. zu jenen logischen Entitäten, die ihnen entsprechen und ohne
welche diese Akte unmöglich wären. Konsens verschiedener Personen
bedeutet also nur jene Verwandtschaft und Verbindung von Akten, die
allein der Tatsache entspringt, daß Menschen dieselben Urteile für wahr
halten und überzeugt sind, daß dieselben Sachverhalte, die im Urteil
behauptet werden, tatsächlich bestehen.
Der erste Begriff von Konsens also enthält – im Gegensatz zur
Kohärenz – schon ein Moment, das über eine rein logische Eigenschaft der
Urteilsgebilde hinausweist und einen Bezug zu einem Urteilsakt, bzw. zu
den diesem zugrundeliegenden Überzeugungen eines personalen Subjekts
voraussetzt.
Konsens in seiner zweiten Grundbedeutung hingegen meint in der Tat
ein noch wesenhafteres Moment personaler bewußter Akte, die auf
einander und auf die Inhalte des jeweils anderen Urteils bezogen sind:
nämlich einen Akt oder ein Aktgeflecht des einseitigen oder gegenseitigen
Zustimmens bzw. des „mit einander Übereinstimmens“, setzt also einen
bewußt erfahrenen Bezug zu anderen, bekannten oder unbekannten,
wirklich oder vermeintlich erkannten, oder auch nur vermuteten, Akten
voraus.
Was aber heißt Konsens oder ‚Übereinstimmung‘ genau? Wir müssen
innerhalb dieses unklaren Begriffs153 wenigstens die folgenden ganz

153
Die Unklarheiten der Konsenstheorien und dialogischen Diskurstheorien der
Wahrheit reichen noch weiter als sie hier dargestellt werden. Manche dieser

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202 KAPITEL 3

verschiedenen Fälle unterscheiden, wobei wir, entsprechend unserem


Thema, der Konsenstheorie der Wahrheit, von jenen Fällen und Bedeu-
tungen von Konsens absehen, in denen dieser Ausdruck nur die Annahme
eines Kompromisses oder praktischer Ziele bedeutet.

1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als bloße
Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden und von Personen
gefällten Urteils; als objektive Übereinstimmung der Überzeugungen, und
als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischer Konsens‘

Wir können unter Konsens eine rein objektive Gleichheit des Urteils
oder der Überzeugungen verstehen, ohne daß irgendeine einseitige oder
gegenseitige Kenntnis oder Erkenntnis einer objektiv bestehenden Gleich-
heit von Urteilen und Überzeugungen vorzuliegen braucht. Aus diesem
Grunde und nicht weil die unmittelbaren Bezugspunkte des Konsenses
selber, die Termini, zwischen denen Konsens besteht, nicht Akte eines
oder mehrerer bzw., im Falle eines breiten politischen Konsenses oder
eines Konsenses der Mehrheit, vieler oder gar aller Menschen wäre,
sondern weil in den hier gemeinten Fällen von Konsens keinerlei
gegenseitige Kenntnis des Urteils anderer Personen den Konsens prägt und
auch nicht in bestimmter Weise in ihn einfließt, sprechen wir hier von
einem rein objektiven Konsens.
Konsens in dieser Bedeutung ist also nicht die ausdrückliche, einseitig,
beiderseitig oder gegenseitig bekannte Übereinstimmung der Urteile ver-
schiedener Personen und der diesen Urteilen zugrundeliegenden Überzeu-
gungen, eine Bedeutung von Übereinstimmung, auf die wir zurückkommen
werden, sondern die rein objektive Einhelligkeit oder Gleichheit im Urteil
oder der Überzeugung.

Theorien verwechseln mitunter sogar den bloßen Wahrheitsanspruch eines Urteils


mit der Wahrheit, etwa Habermas, wenn er schreibt:
„Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, wenn wir sie
behaupten.“ (J. Habermas, „Wahrheitsheorien“, S. 211-265.)

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 203

Es kommt zumindest dreierlei in Frage, was unter einem solchen rein


objektiven Konsens verstanden werden kann und was selber wieder
verschiedene Subkategorien umfaßt:154
1) Konsens als objektive Gleichheit des (geglaubten, für wahr gehalte-
nen) Urteils: Man kann erstens unter Konsens die objektiv gleichen oder
zumindest einander implizite bestätigenden Überzeugungsinhalte (Urteile
im Sinne behauptender logischer Bedeutungseinheiten) verstehen, insofern
sie Gegenstand der Überzeugungen oder Urteilsakte von Personen sind.
Bezüglich der im letzten Nebensatz dieser Definition ausgedrückten
Einschränkung erinnern wir an dieser Stelle an einen schon angesproche-
nen diffizilen Aspekt der Konsenstheorie der Wahrheit bzw. der vorgängi-
gen Frage, worin Konsens besteht: nämlich an die Schwierigkeit, klar und
präzise zu erfassen, was dieser objektive Konsens eigentlich ist, da er
niemals „rein objektiv,“ d.h. niemals ohne jeden Bezug zu Akten
denkender Subjekte ist.
Im Gegensatz zur Kohärenz, die Urteilen (Urteilsinhalten) rein objektiv
zukommt und nichts mit den persönlichen Überzeugungen jener Menschen
zu tun hat, die diese Urteile für wahr halten, kann man nämlich als Träger
des Konsenses niemals rein objektiv gleiche Urteile ansehen, sondern nur
Urteile, von denen zumindest vorausgesetzt wird, daß sie von einigen oder
allen Menschen gefällt werden. Konsens setzt also immer über die rein
objektiven logischen Gebilde der Urteile hinaus ein Moment der Überzeu-
gung oder des Glaubens derjenigen Personen voraus, die das Urteil fällen
und für wahr halten. Konsens hat also, selbst in seinen rein objektiven
Aspekten, einen Bezug zu Subjekten, der bei der Wahrheit von Urteilen als
solchen und bei ihrer Kohärenz ganz wegfällt.
Daß die Idee des Konsenses selber, auch in dessen objektiven Formen,
immer einen Bezug zur Urteilsakten und Überzeugungen von Menschen
voraussetzt, kann man auf der Ebene politischen Konsenses leicht
erkennen. Wenn z.B. auch sämtliche Bürger eines Staates bei einer Wahl
oder in Beantwortung eines Fragebogens dasselbe Urteil fällen, dazu aber
unter schrecklichen Drohungen eines totalitären Staates gezwungen
werden, so herrscht kein Konsens zwischen ihnen und den Regierenden,
auch wenn weiterhin vollkommene Gleichheit des Inhalts oder Kohärenz

154
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“; zit.

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204 KAPITEL 3

zwischen den von diesen Personen ausgedrückten Urteilen besteht. Es


kommt also auch in dieser ersten Form rein objektiven Konsenses zur
objektiven Gleichheit der Urteilsinhalte hinzu, daß sie von den entspre-
chenden Individuen behauptet bzw. für wahr gehalten werden müssen,
damit von Konsens die Rede sein kann. Die von einer Person tatsächlich in
Urteilsakten und Behauptungsakten gedachten und behaupteten Urteile
(Urteilsinhalte) unterscheiden sich eindeutig von rein objektiven Urteilen,
wenn diese als rein logische Gebilde betrachtet werden oder ganz ohne
Überzeugung gefällt werden oder hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falsch-
heit geprüft werden, welche, im Gegensatz zum Konsens, völlig unabhän-
gig von der Frage sind, ob wirkliche Personen diese Urteile fällen, und
damit überhaupt nichts zu tun haben. Ein Urteil ist objektiv falsch, auch
wenn es niemand auf der Welt für wahr hält, und umgekehrt bleibt es
wahr, auch wenn niemand auf der Welt es fällt.
Schon daraus ergibt sich übrigens die Unhaltbarkeit eines konsens-
theoretischen Begriffs der Wahrheit, da die Wahrheit des Urteils Eigen-
schaft des rein logischen Urteilsgebildes und der Begriff der Urteilswahr-
heit ein Begriff ist, der eine Eigenschaft rein logischer Urteilsgebilde
bezeichnet, während Konsens wesenhaft mit Urteilsakten und Überzeu-
gungen verbunden ist und Urteile gerade in ihrer Verbundenheit mit diesen
betrachtet; deshalb kann, was Wahrheit ist, in keiner Weise von Akten der
Zustimmung abhängen.
Doch betrachtet dieser erste objektive Begriff von Konsens den Bezug
von Konsens auf Übereinstimmung nur als stillschweigende Vorausset-
zung und bezieht sich direkt nicht auf die von Personen rein innerlich
gehabten Überzeugungen und nicht einmal auf das für wahr Halten von
Urteilen oder auf die von Personen behaupteten Sachverhalte als Gegen-
stände innerer Überzeugungen, die man als solche schwer testen kann,
sondern stützt sich vielmehr einfach auf das Verstehen des objektiven
Urteils, das in einem Behauptungsakt gefällt oder in einer Überzeugung für
wahr gehalten wird, aber eine eigenständige logische Entität darstellt.
Man kann also statt den (kaum meßbaren) inneren Überzeugungen und
den ihnen als immanente Inhalte entsprechenden Urteilen sowie deren
Gegenständen – den Sachverhalten – die aus Begriffen bestehenden
objektiven Urteilsgebilde, die jemand für wahr hält, zum Anhalts- und
Ausgangspunkt wählen, und dort von Konsens sprechen, wo Menschen in

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 205

ihren Akten die Wahrheit dieser Urteile behaupten. (Um diesen Konsens
zu realisieren und jedenfalls, um ihn feststellen zu können, müssen diese
Urteile freilich sprachlich ausgedrückt sein, aber der hier gemeinte
objektive Konsens der ersten Art baut nicht auf diesen sprachlichen
Formulierungen und Sätzen, sondern auf den in diesen ausgedrückten
objektiven Gedanken auf.) Konsens wäre dann der Einklang zwischen
objektiven Urteilen, und zwar nicht im Sinne der Bolzanoschen „Sätze an
sich“, sondern der Urteile, wie sie in Behauptungsakten behauptet werden
und deren Inhalt darstellen.
Das Urteil im Sinne des objektiven Urteilsinhalts läßt sich in concreto
viel leichter erfassen als die zugrundeliegenden Akte, da es gleichsam
unabhängig von den – unserem Blick ja immer letztlich verborgenen –
geheimen inneren Überzeugungen eines Menschen besteht, auch wenn es
diesen normalerweise entspringt und man, um von Konsens zu reden,
wenigstens eine allgemeine innere Annahme der Wahrheitsansprüche
dieser objektiven Urteile durch Personen annimmt.
2) Konsens auf der Ebene der objektiven Übereinstimmung zwischen
Überzeugungsakten und inneren Urteilsakten bzw. deren Inhalten.
Zweitens kann man sich mit dem Ausdruck eines objektiven ‚Konsenses‘
auf die personalen Akte der Überzeugung, des Annehmens oder Glaubens,
der urteilsmäßigen Zustimmung oder Verwerfung selber beziehen; diese
Akte des „beliefs“ (des Glaubens oder des Meinens) müssen zwar
notwendig einen Inhalt haben, den man das ‚Urteil‘ in dem in Kapitel 3
von Wahrheit und Person erörterten Sinne nennen kann, unterscheiden sich
jedoch, als individuelle, personale Akte von dem rein logischen
behauptenden Urteilsgebilde. Dieses ist ja deutlich sowohl von Urteils-
bzw. Behauptungsakten, auch wenn es in diesen behauptet werden kann
und dann gleichsam deren ‚Inhalt‘ bildet, als auch von sprachlichen Sätzen,
in denen es ausgedrückt werden kann, verschieden.
Der Terminus ‚Überzeugung‘ kann zwar – ebenso wie ‚Urteil‘ – nicht
nur einen Akt, sondern auch dessen Inhalt (ein objektives Urteil als Inhalt
der Überzeugung) meinen, und zwar dann, wenn man die Überzeugung in
ihrem objektiven Sinne als Inhalt der Überzeugung nimmt, d.h. als das
Urteil, welches Gegenstand des Überzeugungsaktes ist, oder sogar als den
vom Urteil gemeinten und behaupteten Sachverhalt.

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206 KAPITEL 3

Die Ebene, auf der hier Konsens oder Dissens bestehen, ist nicht mehr
das reine objektive Urteil, und nicht einmal mehr jenes objektive Urteil,
von dem in allgemeinen Zügen angenommen wird, daß es jemand
tatsächlich fällt oder von dem er sogar selber sagt, daß es seiner
Überzeugung entspricht. Vielmehr ist hier der Bezugspunkt und Träger des
Konsenses die Gesamtheit der wirklich innerlich für wahr gehaltenen
Urteile selbst, insofern sie den wirklichen Überzeugungen von Menschen
entsprechen.
Mit diesem weniger leicht feststellbaren, aber in personalen Akten
begründeten Konsens kommen wir dessen Wesen viel näher als in dem
Falle, wo Ausgangspunkt des Konsensbegriffs nur die objektiven Urteile
sind, die von Personen gefällt werden. Ja nur im Falle des Vorliegens
solcher innerer Akte der Überzeugung finden wir objektiven Konsens, denn
solange die von Menschen gefällten Urteile nicht ihrer inneren Überzeu-
gung entsprechen, handelt es sich nur um scheinbaren Konsens und um
eine der Person selber äußere Ebene objektiver logischer Urteilsgebilde,
die leichter zugänglich sind als innere Akte, aber die eigentlich nur deshalb
als objektiver Konsens angesehen werden können, weil sie als Anzeichen
der inneren Überzeugungen der Menschen interpretiert werden. Erst wenn
der Konsens sich auf diese inneren Akte selber stützt, ist er deshalb echter
Konsens, welcher eben niemals eine rein logische Gegebenheit ist, sondern
wesenhaft auf diesem Moment der inneren Überzeugung (des belief)
beruht.
Eine klare Abgrenzung dieses eigentlichen Konsenses vom ersten Typ
objektiven Konsenses läßt sich dadurch erreichen, daß es etwa zur
sokratischen Auffassung des Konsenses gehört, auf Konflikte zwischen
den beiden Ebenen des Konsenses hinzuweisen. Es gibt nämlich neben
dem Konsens, der sich auf der bewußten Ebene geteilter Überzeugungen
entfaltet, noch eine ganz andere Dimension des von Sokrates gemeinten
Konsenses, nämlich die Übereinstimmung eines Menschen mit jenen
Urteilen, die sich auch dann rein objektiv als logische Konsequenzen aus
den von ihm gefällten Urteilen ergeben, wenn sie seinen persönlichen
Überzeugungen nicht entsprechen, sondern zu diesen im Widerstreit
stehen.
Auf der Ebene der objektiven, von jemandem gefällten, Urteile, bzw.
der logisch aus diesen folgenden Urteilsinhalte, besteht etwa schon

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 207

Konsens mit dem von Sokrates Gesagten, auch wenn die bewußten inneren
Überzeugungen der Gesprächspartner des Sokrates in heftigem Dissens zu
Sokrates’ Aussagen stehen, oder umgekehrt. Sokrates versucht also, den
Widerspruch aufzudecken, der zwischen diesen beiden Ebenen von
Konsens oder Dissens bestehen kann. In einem derartigen sokratischen
Dialog wie dem Gorgias etwa, im Zwiegespräch mit Kallikles, sagt
Sokrates, in frei wiedergegebenem Gedankengang: „Was Du (bewußt)
behauptest und wovon Du überzeugt bist, das Urteil, mit dem ich
keineswegs übereinstimmen kann, daß das Gute mit der Lust identisch und
nichts anderes als sie ist, widerspricht den logischen Konsequenzen des
eben von Dir Zugegebenen: daß es nämlich schlechte oder neutrale Lust
gibt; mit dieser Aussage aber hast Du die zuvor von Dir behauptete
Identität des Guten mit der Lust geleugnet und mit dieser Verwerfung
Deiner früheren These stimme ich ganz überein.“
Mit anderen Worten: Es besteht Dissens zwischen Sokrates und Gorgias
auf der Ebene ihrer bewußten Überzeugungen, nicht aber auf der Ebene der
von Gorgias bloß implizierten, rein objektiven Urteile, die dieser per
implicationem gefällt hat und die dieselben sind, die Sokrates ganz bewußt
für wahr hält.
Die Verschiedenheit dieser beiden Ebenen, auf denen objektiver
Konsens oder Dissens bestehen, kann sich auch in der umgekehrten
Richtung zeigen und in den Worten zum Ausdruck kommen: „Mit Deinen
wirklichen Überzeugungen stimme ich überein, nicht ab er mit dem, was
Du hier eben behauptet oder impliziert hast; denn wenn Du damit recht
hättest, so wäre nicht mehr S P, was doch Deiner wirklichen Überzeugung
entspricht.“
Wir können die Unterscheidung zwischen dem in einem Satz ausge-
drückten Urteil und der Überzeugung als Termini, zwischen denen
Konsens bestehen kann, noch klarer sehen, wenn wir an lügenhafte oder
verleumderische Behauptungen denken, durch deren Möglichkeit oder
Wirklichkeit deutlich wird, wie weit das von jemandem gefällte Urteil von
seinen Erkenntnissen und inneren Überzeugungen abweichen kann.
Wir nehmen hier den Urteils- und Behauptungsakt in einem anderen
Sinn als Reinach, der das Bestehen lügenhafter Behauptungen nicht
anerkennt, sondern meint, daß ausschließlich jener Akt, dem die innere
Überzeugung vom geurteilten Sachverhalt zugrundeliegt, ein Urteils- oder

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208 KAPITEL 3

Behauptungsakt sein kann, und daß daher eine Lüge nur eine Scheinbe-
hauptung ist.
Es geht hier um zwei evidenterweise verschiedene Akte und deshalb
primär um eine terminologische Frage, ob man beide Behauptungen
nennen will oder nicht. Allerdings hat diese Frage auch eine inhaltliche
Seite, die über die terminologische Frage hinausgeht: Findet sich auch in
der Lüge eine Behauptung, worunter man sowohl den Behauptungsakt als
auch den objektiven Behauptungsinhalt, das ausgesprochene Urteil, das
einen Sachverhalt behauptet, verstehen kann? Ist es nicht evident, daß eine
Lüge nur dann wirklich eine Lüge ist, wenn sie auch tatsächlich eine
Behauptung war, und zwar eine Behauptung des Bestehens von Sachver-
halten, von denen der Lügner weiß oder zumindest glaubt, daß sie objektiv
nicht bestehen?155
Wenn der Lügner nur den äußeren Habitus einer Behauptung annähme
in der Weise, in welcher wir dies in den von Roman Ingarden als Quasi-
Urteil bezeichneten Gedanken finden,156 könnte er nicht lügen. Das Quasi-
Urteil ist jenes bloß scheinbare Urteil, durch das etwa ein Romanschrift-
steller die Welt des Romans aufbaut, indem er diese scheinbar wirklich
beschreibt, so als bestünde sie unabhängig von dem Roman und als würde
er Urteile über sie fällen, während in Wirklichkeit diese ‚Urteile‘ Quasi-
Urteile sind und nur den Habitus eines Urteils aufweisen. Ein solches
Quasi-Urteil, gerade weil es keine wirkliche Behauptung ist und deshalb
keinen Wahrheitsanspruch erhebt, kann unmöglich eine Lüge sein. Lüge
kann nur sein, was einen Wahrheitsanspruch macht; und dies gilt nur vom
Urteil. Also muß in der Lüge eine Behauptung, und da diese nichts anderes
ist als ein sprachlich zum Ausdruck gebrachtes Urteil, auch ein Urteil
zugrunde liegen.

155
Es gibt freilich noch schwierige Fälle der Lüge, wenn jemand das Falsche nur
behaupten will, aber, ohne es zu wissen, Wahrheit redet. Dies ist ein Fall der
Lüge, in dem kein wirkliches, sondern nur ein vermeintliches Wissen der
Falschheit des eigenen Urteil vorliegt.
156
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; sowie Josef Seifert, “Ingarden’s
Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical
Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of
Art”, in: Adam WĊgrzecki (Hrsg.) Roman Ingarden a filozofia noszego czasu
(Kraków: Polskie Towarzystwo Filozoficzne, 1995).

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 209

Allerdings fehlt in der lügenhaften Behauptung ein anderer rein innerer


Urteilsakt, der gleichsam die Seele des echten Behauptens und seines
Sinnes ist und dessen Fehlen in der Lüge in gewisser Weise Reinach recht
gibt, daß es sich bei dieser nur um eine Scheinbehauptung handelt, nämlich
um eine Behauptung, der zwar auch ein Urteilsakt entspricht, der aber rein
nach außen gerichtet ist und dem kein innerer Urteilsakt, welcher der
eigentlichere Urteilsakt ist, zugrundeliegt.157 In diesem Sinne ist in der Tat
die Lüge nur eine Scheinbehauptung und nur scheinbar ein Urteil, weil die
in ihr liegende Behauptung das dieser zugrundeliegende reale Urteil nur
vortäuscht.
Auch wenn wir in diesem Sinne Reinach recht geben, müssen wir auf
alle Fälle zwei ganz verschiedene Arten von Scheinbehauptung
unterscheiden: die lügnerische und die des Quasi-Urteils.
In dem Reich der Urteile und Überzeugungen müssen wir noch weitere
Unterscheidungen treffen, auf deren Hintergrund wir besser verstehen
werden, was unter Konsens zu verstehen ist. Es ist zunächst der hier und
jetzt, in einem bestimmten Zeitpunkt, vollzogene Urteils- oder Behaup-
tungsakt von der Überzeugung, die sich ihrem Wesen nach nicht in dem
winzigen Zeitraum erschöpft, in welchem sie bewußt vollzogen wird,
sondern in dauernder, überaktueller Form in der Person besteht, verschie-
den. Während der Behauptungsakt oder auch der ausdrücklich vollzogene,
rein innere Urteilsakt sich in der Zeitspanne erschöpft, in der er vollzogen
wird, bleiben Überzeugungen bestehen und können jahrelang oder
lebenslang in der Person fortleben. Es hätte keinen Sinn zu sagen, was von
einem Behauptungsakt durchaus gilt: „Um 16.15 Uhr war ich vom
Sachverhalt X überzeugt; danach trank ich Kaffee und um 17 Uhr war ich
wieder davon überzeugt, etc.“
In ihrer eigentlichsten Gestalt beeinflussen solche reale, überaktuelle
Akte, wenn sie selber oder ihr Gegenstand ein entsprechendes Gewicht und
entsprechende Tiefe besitzen, auch das aktuelle Bewußtsein und prägen es.
Aristoteles bezeichnet eine derartige Seinsform menschlicher Akte als
hexis (Gewohnheit oder Haltung) und die Scholastiker als habitus, in
mißverständlicher Weise, weil dort zwischen dem habitus im Sinne einer
durch Übung erworbenen Gewohnheit oder auch einer Handlungs-

157
Vgl. Adolf Reinach, ebd., und Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.

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210 KAPITEL 3

disposition, und habitus im Sinne echter überaktueller Akte und Haltungen


nicht scharf unterschieden wird. Diese überaktuellen Stellungnahmen,
Tugenden und Grundhaltungen sind aber ganz von Gewohnheiten ver-
schieden und auch viel mehr als Handlungsdispositionen, was besonders
klar im Falle überaktueller kognitiver Akte wie Kennen und Wissen, sowie
im Falle theoretischer Stellungnahmen wie Überzeugungen sichtbar ist, die
ja evidenterweise weder Gewohnheiten noch Handlungsdispositionen sind.
Doch auch die überaktuellen Willenshaltungen und Stellungnahmen sind in
sich selber geistige Akte und überaktuelle intentionale Antworten und
wesenhaft mehr als Handlungsdispositionen. Sie können auf individuelle
Gegenstände oder (wie die Liebe) auf ‚Objektpersonen‘ gerichtet sein, oder
aber auf allgemeine Güterbereiche antworten (wie Tugenden und
Grundhaltungen).158
Überzeugungen im Sinne der überaktuellen ‚beliefs‘ gehören diesem
überaktuellen, und zwar dem kognitiven Bereich menschlicher Akte an; sie
können zwar in Behauptungsakten und Urteilsakten zum Ausdruck
kommen, bzw. zu diesen führen, müssen dies aber nicht. Sie können auch
unabhängig von jedem Behaupten in einem Menschen bestehen. Auch die
Inhalte der Überzeugung können in Urteilen zum Ausdruck gebracht
werden, müssen dies aber nicht.
Man könnte mit Reinach zwischen vernehmungsbedürftigem sozialem
Akt (wie dem Versprechen, der Mitteilung oder dem Befehl), die nur sind,
was sie sind, wenn sie von einer anderen Person vernommen werden, und

158
Die ausführlichste und tiefgründigste Untersuchung des Unterschieds zwischen
aktuellem und überaktuellem Bewußtsein ist diejenige von Dietrich von
Hildebrand in seinen Werken Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine
Untersuchung über ethische Strukturprobleme (1918), 3., durchgesehene Auflage
(Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982), sowie Das Wesen der Liebe; Dietrich
von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971), 2e Aufl.,
(Hg.) Paola Premoli De Marchi (Milan: Pompiani, 2003). Vgl. auch Josef Seifert,
„Grundhaltung, Tugend und Handlung als ein Grundproblem der Ethik.
Würdigung der Entdeckung der sittlichen Grundhaltung durch Dietrich von
Hildebrand und kritische Untersuchung der Lehre von der ‚Fundamentaloption‘
innerhalb der ‚rein teleologischen‘ Begründung der Ethik,“ in: Clemens Breuer
(Hg.), Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer
Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70.
Geburtstag, 311-360.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 211

dem einsamen, rein inneren Akt unterscheiden, der seinen vollen Sinn in
sich behält, ganz gleich ob er vernommen wird oder nicht.159 Jemand
könnte in diesem Lichte das Behaupten als einen Urteilsakt betrachten,
dessen Inhalt (das objektive Urteil) auch sprachlich ausgedrückt wird, oder
als einen Akt, in welchem ein einsamer innerer Urteilsakt nur nach außen
verlautet oder schriftlich zum Ausdruck gebracht wird. Doch sind solche
Beschreibungen ungenau und irrig. Denn wir müssen nicht nur zwischen
Behauptungsakt und Behauptung im Sinne eines logischen Urteils
unterscheiden; und nicht nur drückt die Behauptung dieses logische Urteil
und nicht eigentlich einen Urteilsakt aus, der nur, in Husserl’scher
Terminologie, kundgegeben wird. Vielmehr besteht zwischen dem sozialen
und vernehmungsbedürftigen Akt der Mitteilung und auch der Aussage
(einer gewissen Dimension des ausdrücklichen Behauptens und Hinstellens
eines Sachverhalts) und einem rein inneren und keineswegs vernehmungs-
bedürftigen Urteilsakt keine notwendige Beziehung, wie wir im Falle der
Lüge gesehen haben und wie wir auch am Beispiel des rein inneren
Urteilsaktes, der sich nicht in einer Aussage und Behauptung äußert, sehen
können.
Im Unterschied zum zeitlich punktuellen Urteilen, das sowohl
sprachlich ausgedrückt als auch ein rein innerer Urteilsakt sein kann, bzw.
zum Behaupten, das ein über einen inneren Urteilsakt als solchen
hinausgehender Akt des in den interpersonalen Raum Hinstellens und der
Feststellung ist, können Überzeugungen überaktuell bestehen. Ja sie
bestehen eigentlich niemals nur punktuell wie der Behauptungsakt, und
brauchen auch nicht sprachlich und nicht einmal rein gedanklich
ausgedrückt und ‚ausformuliert‘ zu werden.160

159
Zum Wesen sozialer Akte vgl. Adolf Reinach, „Die apriorischen Grundlagen des
bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische
Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-
1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg. v. Karl Schuhmann Barry
Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141-278, sowie John F.
Crosby, „Reinach’s Discovery of the Social Acts,“ Aletheia (1983), 3, 143-194.
160
Deshalb würde es dem Akt des Behauptens widersprechen, wenn jemand mitteilen
würde, er habe etwas behauptet und auf die Frage, wo und vor wem er denn diese
Behauptung aufgestellt habe, antworten wollte: „Ich habe das nur ganz still in

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212 KAPITEL 3

Überzeugungen im Sinne der inneren Akte dürfen allerdings nicht mit


dem Urteil selbst identifiziert werden, um dessen Wahrheit es uns ja geht.
Insofern sich Konsens gerade auf diese Ebene der Überzeugungen und,
noch präziser gesprochen, auf deren Beziehungen zu einander und zu ihren
objektiven Urteilskorrelaten bezieht, bewegt sich die Konsenstheorie der
Wahrheit in gewisser Weise von der Ebene der Wahrheit des logischen
Urteils selber fort und auf die Akte der Überzeugungen und Behauptungen
zu; denn erst auf dieser Ebene besteht eigentlich Übereinstimmung.
Dabei ist ferner dasjenige, was eigentlicher Gegenstand des Konsenses
ist und hinsichtlich dessen der Konsens besteht, nicht etwa die Überzeu-
gungsakte oder Urteilsakte als solche (zwischen denen Einigkeit oder
inhaltliche Gleichheit bestehen kann), sondern das in dieser Überzeugung
für wahr gehaltene Urteil, also eine logische Entität, die aus Begriffen
besteht und kein individueller Akt ist, aber dennoch zugleich dessen Inhalt
ausmacht. Das Urteil ist es, worüber Konsens besteht; eigentlicher
Gegenstand des Konsenses aber ist der in diesem Urteil behauptete
Sachverhalt selber: wir stimmen darin überein, daß p, bzw. daß S in der Tat
P ist.
Bedenken wir all dies, sehen wir ein: Wirklicher Konsens besteht
niemals einfach ‚auf dem Papier‘, und nicht einmal nur dann, wenn
wirklich gleiche inhaltliche Urteile von Subjekten ausgedrückt werden,
sondern erst dann, wenn diese Urteile auch von allen Subjekten, zwischen
denen Konsens besteht, für wahr gehalten bzw. entweder geglaubt werden
oder Gegenstand ihrer aus Erkenntnis geborenen Überzeugungen sind.
Dabei kann ein solcher Konsens partiell oder vollständig sein, was im
strikten Sinne von der Wahrheit eines Urteils nicht gelten kann und schon
deren Verschiedenheit von Konsens bestätigt.
Darüber hinaus gilt: wenn diese Urteile nur aus Angst, aus psycholo-
gischem oder politischem Druck gefällt werden oder rein politischen
Zwecken entspringen, die mit dem Inhalt der gefällten oder auch schriftlich
ausgedrückten Urteile nichts zu tun haben, oder wenn sie gar Lügen und
Verleumdungen sind, ist ihr gleicher Inhalt keineswegs Zeichen wirklichen
Konsenses, was in verschiedenem Grade zutrifft, je nachdem ob diese

meinem Kämmerlein so vor mich hin behauptet.“ Hingegen wäre es ganz normal
zu sagen: „Ich habe diese meine innere Überzeugung niemals geäußert.“

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 213

Urteile Folgen irrationaler psychischer Faktoren sind. Auch wenn Urteile


einer demagogischen Meinungsmache entspringen, die dem Einzelnen
nicht bewußt wird (und die nicht hindert, daß ein Opfer solcher Demagogie
wirklich und aus ehrlicher Überzeugung urteilt, wohl aber, daß diese
Überzeugungen rational fundiert wären), oder wenn sie Lügen sind,
fundieren sie keinen echten Konsens noch bringen sie ihn zum Ausdruck,
sondern erwecken einen reinen Schein des Konsenses:
Konsens bezieht sich also auf Urteile und auf Sachverhalte als Gegen-
stand von Überzeugungen oder Urteilsakten, und ist daher letztlich schwer
oder gar nicht meßbar, vor allem dann nicht, wenn man an vortheoretische,
unausgesprochene oder verschüttete Überzeugungen denkt, in Bezug auf
die etwa jener moralische und praktische Konsens des vernünftigen
Menschenverstandes herrscht, den Kant so hochhielt und von dem er zu
Recht bemerkte, daß er im Falle theoretischer Erkenntnisse keineswegs in
derselben verbreiteten Form existiert wie im ethischen Bereich, auch wenn
sogar dieser moralische und praktische Konsens immer schon, und speziell
heute, sehr problematisch geworden ist und höchstens in einer tieferen und
unbewußteren Schicht menschlichen Bewußtseins und menschlicher
Intersubjektivität herrscht oder angenommen werden kann.
Wenden wir uns einem weiteren Wesensmerkmal des Konsenses über-
haupt zu. Nur zwischen rationalen und personalen Wesen kann Konsens
herrschen. Die Subjekte, zwischen denen Konsens im echten Sinn besteht,
sind dann alle Personen, die von denselben Sachverhalten überzeugt sind
und dieselben Urteile für wahr oder für falsch halten. Das Bestehen oder
Nichtbestehen des Konsenses in diesem Sinne ist völlig unabhängig von
seiner – einseitigen oder gegenseitigen – Feststellung oder Feststellbarkeit.
Er könnte zwischen Menschen und Marsbewohnern bestehen.
(3) Konsens als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischer Konsens’:
Schließlich kann man als Bezugspunkt des Konsenses auch den bloßen
sprachlichen Satz oder das Zeichen wählen, wie allein ihn eine Meinungs-
umfragen-Statistik zu erfassen versucht, doch letztlich nur eine Zählung
abgegebener Stimmen oder Wahlergebnisse objektiv feststellen kann,
wenn auch nur innerhalb bestimmter Grenzen (da es etwa immer einen
Prozentsatz wahlberechtigter Stimmen gibt, die nicht wählen).
Dieses Niveau objektiven Konsenses bietet den Vorteil strikter
Erfaßbarkeit, bei der man von allem Meinen und Denken der Subjekte

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214 KAPITEL 3

absehen kann. Der Nachteil ist jedoch, daß das bloße Ankreuzen einer
Zeile auf einem Meinungsumfragenformular oder einem Wahlzettel, oder
das Aussprechen oder Niederschreiben von Sätzen weder eindeutig
Überzeugungen noch Urteile signalisiert und daher auch selber kein
Konsens ist, sondern einen solchen höchstens andeutet, und auch dies nur
dann, wenn diese Stimmen ganz freiwillig und bewußt denkend abgegeben
wurden. In einem rein objektiven Feststellen von Sätzen verliert man jede
Kontrolle und Erkenntnis davon, ob überhaupt ein Subjekt diese Sätze
selbst angekreuzt, gelesen, oder verstanden hat und aus welchen vielleicht
ganz irrelevanten Gründen es sie, vielleicht völlig ohne Zustimmung und
Überzeugung, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat. Damit verliert
man den eigentlichen, wesenhaft personalen, Bezugspunkt des Konsenses,
der eben auf der Ebene von Personen und nicht auf Papier oder in
gesprochenen Sätzen, sondern erst dann besteht, wenn Personen dieselben
Urteile für wahr halten und dieselben Sachverhalte durch die von ihnen für
wahr gehaltenen Urteile behaupten.
Zwar legt man, vor allem im Kontext demokratischen Konsens-
verständnisses, des häufigen Gebrauchs von Statistiken usf., dem Konsens-
verständnis meist nur den dritten, rein objektiven Sinn des Terminus
‚Konsens‘ zugrunde, aber in Wirklichkeit besteht Konsens objektiv nur auf
der Ebene wirklich gleicher Überzeugungen (des zweiten Phänomens
objektiven Konsenses) und gelten die dritte und erste Form nur dort als
Ausdruck eines echten Konsenses, wo sie Zeichen und Ausdruck der
zweiten sind.
Statistiken, Abstimmungen und Wahlen stellen Formen des Versuches
dar, einen rein objektiv bestehenden oder nicht bestehenden Konsens zu
ermitteln, wobei man voraussetzt, daß die Sätze oder sonstigen sprach-
lichen Ausdrucksmittel der Überzeugungen von Menschen die inneren
Überzeugungen der betreffenden Subjekte angemessen zum Ausdruck
bringen.
Eine objektive Feststellung des Konsenses in diesem dritten Sinne
beschränkt sich meist auf die ganz äußere Feststellung von Sätzen oder
Zeichen, die die Zustimmung zu bestimmten Urteilen zum Ausdruck
bringen sollen. Wie bereits gesagt, sehen wir hier von jenen Abstim-
mungen und Wahlergebnissen ab, wo diese gar kein Urteil einschließen,
sondern etwa einen Kandidaten bevorzugen oder eine bestimmte Verord-

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 215

nung oder ein Gesetz nur für das geringere Übel halten; hier spielt der
Konsens, oder besser: die Zustimmung, eine ganz andere Rolle, die mit
unserem Thema des Wesens der Wahrheit wenig oder nichts zu tun hat.
Abgesehen davon aber, daß es bei Wahlen und in anderen Fällen des
sprachlich ausgedrückten Konsenses oft nicht direkt um Urteile oder
Überzeugungen, sondern um andersartige Präferenzen geht, kann man auch
dort, wo Volksabstimmungen oder andere Ausdrucksformen des äußerlich
meßbaren Konsenses an sich Urteile zum Ausdruck bringen, nie in die
Seele eines Menschen hineinblicken und feststellen, ob er wirklich jenen
Aussagen zustimmt, denen er zuzustimmen scheint. Dies gilt nicht nur
dort, wo Druck ausgeübt wird oder Sanktionen drohen, wenn jemand
ehrlich seine Meinung zum Ausdruck bringt, sondern zeigt, weit darüber
hinaus und in noch allgemeinerer Weise, den begrenzten und trügerischen
Charakter und Wert statistischer Meinungsumfragen und Wahlergebnisse,
wenn man ein objektives Urteil über den demokratischen Konsens einer
Mehrheit fällen will, da die betreffenden Ergebnisse oft durch demago-
gische, rein psychologische oder andere irrationale Faktoren, wie Beste-
chungen oder rein persönliche Vorteile, die jemand aus einem bestimmten
Abstimmungsergebnis zieht, gesteuert und bestimmt werden.
Konsens im Sinne dieser rein äußerlich schriftlich oder mündlich
fixierten objektiven Übereinstimmung ist jedoch wohl derjenige Sinn von
Konsens, der den meisten Konsenstheorien der Wahrheit zugrundeliegt, die
sich im Äußerlichen demokratischer und politischer Meinungsermittlung
bewegen. Dabei geht man von der nicht unproblematischen Meinung aus,
daß trotz der vielen Formen der demokratischen Stimmenmanipulation, der
blinden Zustimmung Vieler zu vorgegebenen oder über Werbung sugge-
rierten Texten usf. auf diese statistische Weise „objektiver Konsens“
ermittelt werden könne, der auch dem eigentlichen Niveau entspricht, auf
dem allein wirklicher Konsens bestehen kann.
Da jedoch in der überwiegenden Zahl der Fälle eine äußere Konsensbil-
dung und Konsensermittlung auf der dritten oben genannten Ebene der
sprachlichen Sätze, der Unterschriften oder ausgefüllten Fragebögen ohne
jede vorhergehende Reflexion und oft sogar ohne jedes Verständnis der
‚Wählenden‘ oder ‚Zustimmenden‘ für den Inhalt solchen ‚Konsenses‘ zu
Stande kommt, ist ein solcher Konsens fragwürdig und oft nahezu wertlos.
Trotzdem besteht in der Demokratie – im Prozeß demokratischer

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216 KAPITEL 3

Meinungsbefragung, in Wahlen, usf. – ausschließlich die Möglichkeit,


Konsens auf dieser dritten Ebene bzw. in diesem dritten Sinne zu ermitteln.
Verantwortliche Politiker statt Demagogen und Meinungsmachern werden
freilich darum bemüht sein, daß der rein verbale und statistische erfaßbare
Konsens einem wirklichen Konsens entspricht. Vor allem ist es eine
Aufgabe, möglichst durch entsprechende Information sicherzustellen, daß
es sich nicht nur um einen oberflächlichen und willkürlichen, weil auf
purer Ignoranz beruhenden, sondern um einen wohl informierten und
rationalen Konsens handelt. Platon nennt einen solchen rein verbalen und
oft nur auf Demagogie oder Schein beruhenden Konsens Homologie
(wörtlich: das Gleiche reden) und erkennt an, daß diese auch auf Schein
oder irrationaler Meinung beruhen kann, wovor Sokrates Kriton
ausdrücklich warnt.161 Sokrates betrachtet also die Erkenntnis, und insbe-
sondere die gemeinsam sorgfältig geprüfte und erarbeitete Erkenntnis, als
Quelle echten Konsenses. So verwendet Platon in anderen Zusammen-
hängen denselben Ausdruck Homologie (den man auch im buchstäblichen
Sinne „als das gleiche Wort – den gleichen Sinn – reden“ übersetzen kann,
in dem tieferen, zweiten, Sinne des Teilens derselben Überzeugung, und
zwar eines solchen Teilens der Überzeugung auf Grund von Erkenntnis
oder auch in dem (dritten) Sinne ausdrücklicher und gegenseitig bewußter,
durch Dialog vermittelter Übereinstimmung.162
Doch ändert all dies nichts an der Tatsache, daß der tiefere und
eigentliche Konsens (auf der zweiten Ebene objektiven Konsenses) demo-
kratisch nur in sehr unverläßlicher Weise ermittelt werden kann und daß in
einer Demokratie die Ermittlung des Konsenses einer Mehrheit auf die
äußere Ebene der Sätze, Wahlstimmen, ausgefüllten Formulare etc.
beschränkt bleibt.
Wenn nun gar noch Konsens vieler oder der Mehrheit im Sinne einer
rein statistischen und oft auf irrationalen Elementen und purer Demagogie
aufgebauten Übereinstimmung nicht nur als Wahrheitskriterium gilt,
sondern gar als Wesen der Wahrheit angesehen wird, handelt es sich um
tiefgreifende Verzerrungen. Doch führt uns dies bereits über die Frage

161
Vgl. Platon, Kriton 49 c-d.
162
So etwa im Euthydemos 292 b, wo es über die Übereinstimmung darüber geht, daß
das Gute zugleich das Schöne sei.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 217

nach der Natur des Konsenses hinaus zum Problem seines Verhältnisses
zur Wahrheit. Bevor wir uns dieser in unserem Zusammenhang entschei-
denden Frage zuwenden, müssen wir noch eine ganz andere Bedeutung
von Konsens von den bisher behandelten abgrenzen.

1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche Übereinstimmung, die ein
einseitiges oder gegenseitiges Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt

Ganz von dem rein objektiven Konsens verschieden ist ein ‚subjektiv
erlebter‘ Konsens, d.h. eine solche Übereinstimmung, die ein Wissen, eine
Erkenntnis oder einen Glauben einschließt, auf Grund deren jemand sich
bewußt wird, sein eigenes Urteil mit jenem anderer Personen zu teilen.
Dieser sich von den diversen erörterten Formen rein objektiven
Konsenses unterscheidende zweite prinzipielle Fall von Konsens liegt dann
vor, wenn einige Personen miteinander übereinstimmen und zumindest
eine dieser Personen um diese Übereinstimmung weiß. Die mit einander
Übereinstimmenden haben hier also nicht nur objektiv dieselbe Überzeu-
gung, was sich in vielen Fällen auch darin äußert, daß sie dieselben Urteile
fällen. Im dem gegenwärtig erörterten Sinne von Konsens nennen wir
jedoch den rein objektiven Einklang zwischen ihren Urteilen, die Tatsache,
daß sie dieselben Urteile für wahr und falsch halten und dieselben
Sachverhalte urteilen, oder auch rein statistischen oder politischen äußeren
Konsens, der sicher seine große Bedeutung in einer Demokratie besitzt,
noch nicht Konsens. Die rein objektive Übereinstimmung zwischen der
subjektiven Überzeugung verschiedener Subjekte ist also nicht Konsens in
dem hier gemeinten Sinne.
Erst wenn man von dieser „Übereinstimmung im Urteil“ auch weiß,
kann man in diesem zweiten grundlegenden Sinn von Konsens reden. In
manchen Fällen ist eine derartige Übereinstimmung nur einem bekannt,
z.B. wenn ein Autor ein Buch geschrieben hat und ein anderer sein Buch
liest und mit ihm übereinstimmt, oder wenn ein Zeuge eines Gesprächs
zweier anderer seine Übereinstimmung mit dem einen noch nicht zum
Ausdruck gebracht hat.
Während Konsens im vollen Wortsinn gegenseitiges Wissen um die
gemeinsame Überzeugung einschließt, kann also das dem Konsens

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218 KAPITEL 3

zugrundeliegende Wissen um die Zustimmung eines anderen auch einseitig


sein.
So mag ein wissenschaftlicher Autor befriedigt wissen, er stehe in
Übereinstimmung mit hundertzwanzig Autoren, die er in Anmerkung 828
seiner letzten Veröffentlichung zitiert hat. In diesem Fall wissen die
anderen, vielleicht gar nicht mehr lebenden, Autoren nichts von einem
Konsens, aber unser wissenschaftlicher Autor weiß, daß er mit ihnen
übereinstimmt. In diesem Fall besteht nicht nur der rein objektive
Tatbestand des Konsenses als Einklang, als Einhelligkeit im Urteil,
sondern es liegt auch ein einseitiges Wissen um diese Gemeinsamkeit im
Urteil vor. Diese Form von Konsens ist einem Robinson Crusoe, solange er
– vor seiner Begegnung mit Freitag – in völliger Einsamkeit auf einer Insel
lebt, unmöglich, während er natürlich Gliedern einer Gruppe von Personen,
zwischen denen objektiver Konsens herrscht, wohl bekannt sein kann.
So dürfen wir von Konsens im Sinne einer ausdrücklichen Übereinstim-
mung von zwei oder mehreren Personen sprechen, die zumindest einseitig
von der Überzeugung des anderen wissen und daher nicht bloß objektiv
derselben Überzeugung sind, sondern auch von dieser Selbigkeit der
Überzeugung des Anderen Kenntnis haben, was erst das Erlebnis der
Übereinstimmung, des Konsenses in diesem neuen Sinne, ermöglicht.
Dabei kann selbstverständlich der Konsens sowohl vermeintlich als
auch wirklich sein; er kann ferner (auf der dritten oben unterschiedenen
Ebene von ‚Konsens‘) bloß verbal sein, nicht jedoch die inhaltlichen
Überzeugungen selbst betreffen, die sich ja meist nicht hinreichend in
einem Satz oder einigen Sätzen, über die man übereinstimmt, ausdrücken
lassen.
So sehen wir, daß Konsens im vollen Sinne einseitigen oder gegensei-
tigen Wissens um vorliegende Übereinstimmung mehrere Momente
umfaßt:
1) die Selbigkeit des Inhalts einer Überzeugung oder eines Urteils ver-
schiedener Personen,
2) Irgendeine sprachliche Formulierung (Behauptung) oder sonstige
Kundgabe, die dann den unmittelbar faßbaren äußeren Ausdruck der
Gedanken, über die Übereinstimmung bzw. Konsens besteht, bildet.
3) das einseitige oder gegenseitige Wissen um die Selbigkeit des Urteils,
das nur auf dem Boden der Wahrnehmung des Innenlebens anderer

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 219

Personen erreicht werden kann mit allen einer solchen Erkenntnis


anhaftenden Schwierigkeiten.163
Die Überzeugung, das eigene Urteil mit anderen Menschen zu teilen,
kann, insbesondere wenn einem sämtliche der vielen Formen, das innere
Leben fremder Personen zu erkennen (auf Grund von Mitteilungen,
Ausdrucksphänomenen, Handlungen, oder indirekten Erkenntnissen durch
Dritte, etc.) offenstehen, in einer Art empathischer Evidenz oder einem
sicheren Glauben erfaßt werden; es kann aber eine solche einseitige oder
gegenseitige Übereinstimmung auch mehr oder weniger blind angenom-
men werden und daher möglicherweise auf Illusion beruhen bzw. eine bloß
scheinbare Übereinstimmung sein.
Eine Erkenntnis bzw. eine auf Vertrauen oder Glauben beruhende
Sicherheit der Gleichheit des Urteils oder der Überzeugung kann
wenigstens drei grundsätzliche allgemeine Formen besitzen:
(1) Sie kann einseitig sein: etwa ich weiß, daß eine andere Person mein
Urteil teilt, die andere Person weiß es nicht.
(2) Sie kann beidseitig bestehen: ich und auch die andere Person weiß
um die Gleichheit unseres Urteils, aber keiner von uns weiß, daß der
andere ebenfalls darum weiß.
(3) Sie kann drittens voll gegenseitig sein und das gegenseitige Wissen
um den Konsens einschließen, indem ich nicht nur von der Gleichheit des
Urteils der anderen Person weiß, sondern auch weiß, daß der andere
darum weiß und umgekehrt, wie dies für engere Gemeinschaften wie
Familien oder Freundschaften, aber auch – in begrenzterem Maß – für
lockerere und keineswegs enge Gemeinschaften wie Clubs oder
Interessengemeinschaften typisch ist.164
Wenn mehrere Subjekte in einem eigentlicheren und präziseren Sinne
Konsens erreichen, fällen sie nicht nur dieselben Urteile, was auch in
völliger Isolation voneinander geschehen kann, sondern wissen auch von

163
Vgl. Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung (Halle a.d.S.: Buchdruckerei des
Waisenhauses, 1917), Reprint (München: Kaffke, 1980), sowie Max Scheler,
Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke Bd. VII (Bern und
München: Francke Verlag, 1973), 6. Aufl.
164
Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchun-
gen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl.,
Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975).

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220 KAPITEL 3

dem gleichen Urteil und der gleichen Überzeugung des Anderen, entweder
indem sie mit einander sprechen, sich gegenseitig verständigen und
ausdrücklich übereinstimmen, oder indem sie, um ihre Meinung gefragt,
dieselbe gemeinsam zum Ausdruck bringen, wie z.B. in Appenzell in der
Schweiz die Landsmänner durch das Erheben des Schwerts ihre Meinung
zum Ausdruck bringen oder bis vor kurzem brachten.
Zusätzlich bestehen ungezählte weitere Unterschiede, etwa hinsichtlich
der Fragen: ob es sich um eigentliches Erkennen oder Wissen von der
Übereinstimmung, oder nur um ein Vermuten, oder aber um wohl
fundierten Glauben handelt; auf welche Ebene und welche der drei Formen
der rein objektiven Übereinstimmung sich dieses Wissen bezieht (nur auf
das verbal oder durch eine Stimme ausgedrückte Urteil, auf das objektive
Urteil, das jemand gefällt hat, oder auch auf die innere Überzeugung, bzw.
den Urteilsakt selber), etc.

1.3. Konsens als eigener Akt ausdrücklicher gegenseitiger Übereinstimmung,


die über das gegenseitige Wissen der Gleichheit des Urteils wesenhaft
hinausgeht

In noch vollerem Sinne liegt Konsens erst dann vor, wenn beide (alle)
Subjekte des Konsenses um die Zustimmung und Selbigkeit der Überzeu-
gung des Anderen nicht bloß wissen, sondern wenn es zur Erfahrung des
Konsenses und der Übereinstimmung, durch gegenseitige Erkenntnis der
anderen Person und ihrer Überzeugungen, durch Bewußtsein vom Wissen,
den Überzeugungen oder dem Glauben des Anderen, und durch eine
intersubjektive, gemeinsame Erfahrung der Übereinstimmung kommt.
Erst im Falle des gegenseitigen Wissens um solche Übereinstimmung,
im Unterschied zum bloß einseitigen Wissen, liegt Konsens im Vollsinn
und vielleicht in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes vor. Und es
ist dieses neue Phänomen, das der Rede von Konsensbildung, vom Dialog
als Mittel zur Konsensbildung usf., und damit auch der Habermas’schen
Theorie zugrundeliegt.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 221

1.4. Konsens als bloße implizite Übereinstimmung: Die sokratische Auffassung


von Konsens

Viertens können wir eine bloß implizite Übereinstimmung als Konsens


bezeichnen. In diesem Sinne ist es vielleicht weniger üblich, von Konsens
zu sprechen, aber diese Bedeutung von Konsens kommt eine Reihe von
Malen in den platonischen Dialogen vor, wo Sokrates sagt, sein Gegner
stimme schon mit ihm überein, obwohl er dies ganz ausdrücklich und
heftig leugnet. Erst nachdem er diesen impliziten Konsens festgestellt hat,
versucht Sokrates, diesen Konsens aufzuzeigen und in einen ausdrückli-
chen Konsens zu verwandeln, etwa im Dialog Gorgias, wo er drei
verschiedenen Gegnern, dem Gorgias, dem Polos und dem Kallikles nach-
weist, daß eigentlich Gorgias, Polos, und Kallikles schon immer gegen sich
selbst und mit Sokrates übereinstimmten, z.B. darin, daß Lust nicht
identisch mit dem Guten ist, etwa indem sie zugegeben hatten, daß es
Formen der Lust gibt, die nicht gut sind.
Diesen Konsens stellt Sokrates fest – schon lange bevor der andere
zustimmt (oder geärgert und beschämt verstummt, wie Kallikles zum
Schluß des Dialogs Gorgias).165
165
Vgl. Platon, Gorgias, 482 a-c:
Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden, bald solche; die Philosophie
aber immer S482b die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt wunderst; du
warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also widerlege jener das, was ich
eben behauptete, daß also Unrechttun und nicht dafür Bestraftwerden nicht das ärgste aller
Übel sei; oder wenn du dies unwiderlegt läßt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägyptier, so
wird Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das ganze Leben
hindurch. Und ich wenigstens, du //II239// Bester, bin der Meinung, daß lieber auch meine
Lyra verstimmt sein und mißtönen möge, oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, S482c
und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als
daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte.
Ebd.:
S457e ... Weshalb nun sage ich dies? Weil mir dünkt, du sagest jetzt etwas nicht
Folgerechtes und nicht zusammenstimmend mit dem, was du vorher sagtest von der
Redekunst. Ich fürchte mich aber, dich zu widerlegen, damit du nicht denkest, ich sage es
nicht im Eifer auf die Sache, daß sie uns offenbar werde, sondern auf dich.
S458a Bist du nun eben ein solcher als ich, so möchte ich dich gern durchfragen; wo nicht,
so würde ich es lassen. Und von welchen bin ich einer? Von denen, die sich gern überweisen
lassen, wenn sie etwas Unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein anderer
etwas Unrichtiges sagt; nicht unlieber jedoch jenes als dieses. Denn für ein größeres Gut

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222 KAPITEL 3

So könnte man davon sprechen, daß kraft der Voraussetzungen und


Implikationen von Urteilen und Überzeugungen eines Anderen implizit
schon Konsens oder Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen
herrschen kann, selbst wenn keinerlei ausdrücklicher Konsens vorliegt, ja
wenn dieser sogar ausdrücklich zurückgewiesen wird.

1.5. Konsens als Frucht und Teil ‚kommunikativen Handelns‘

In seiner zweiten grundsätzlichen Form, einer ausdrücklichen und


bewußten Übereinstimmung zwischen verschiedenen Personen, die
einseitig oder gegenseitig von der Gemeinsamkeit ihres Urteils wissen, ist
vorausgesetzt, daß sie von einander und speziell von ihren Urteilen
Kenntnis haben. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen, etwa
dadurch daß einer aus Handlungen oder objektiven und schriftlich fixierten
Urteilen und anderen Gedanken erkennt, wie jemand anderer urteilt. Es
kann aber auch durch direkte Kommunikation geschehen, also durch
vernehmungsbedürftige soziale Akte wie Mitteilungen, Antworten auf
gestellte Fragen, etc., und gerade dieser Begriff eines erst durch
Kommunikation vermittelten Konsenses ist es, auf den sich insbesondere
Jürgen Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit stützt, wie wir sehen
werden.
Kommunikation in einem engeren Sinne tritt dort auf, wo Menschen
sich nicht gleich bei der ersten Äußerung ihrer jeweiligen Ansichten einig
sind, sondern sich erst nach einem voraufgehenden Dissens über ein
Problem verständigen. In diesem Falle sprechen wir erst dort von
Kommunikation, wo diese dazu dient, eine Verständigung, die nicht von
vornherein bestand, herzustellen. Kommunikatives Handeln in dieser
Bedeutung des Ausdrucks zielt auf eine gemeinsame Urteilsbildung oder
auf eine Entscheidung zwischen alternativen Handlungs- oder Deutungs-
möglichkeiten ab.

halte ich jenes um soviel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden,
als einen andern davon zu befreien. Denn nichts, denke ich, ist ein so großes Übel für den
Menschen, als S458b irrige Meinungen über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns.
Behauptest nun auch du, ein solcher zu sein, so wollen wir weiter reden; dünkt dir aber, daß
wir es lassen müssen, so wollen wir es immerhin lassen und die Unterredung aufheben.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 223

1.6. Konsens als „Konsensfähigkeit“: Vier grundsätzlich verschiedene


Bedeutungen von Konsensfähigkeit

Als sechste Grundbedeutung von Konsens, die wir ebenfalls bei


Habermas finden. könnte man den Konsens seinem Wesen nach nicht auf
das beschränken, was de facto Gegenstand eines Konsenses ist, sondern als
Konsensfähigkeit verstehen, also nicht als tatsächliche Übereinstimmung
interpretieren, zumindest nicht notwendigerweise, sondern als Fähigkeit,
zu einem Konsens zu gelangen bzw. als Eigenschaft eines Urteils, zum
Gegenstand des Konsenses werden zu können. Dabei kann man auch unter
Konsensfähigkeit radikal verschiedene Dinge verstehen:
(1) Erstens kann die prinzipielle Konsensfähigkeit gemeint sein: d.h.
daß es im Prinzip möglich ist, über einen Sachverhalt, bzw. über die
Überzeugung und das Urteil, deren Gegenstand ein bestimmter Sachverhalt
ist, zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Auch sie könnte noch in
doppeltem Sinne verstanden werden, deren erster einen rein idealen
Charakter trägt:
(A) Erstens ist nämlich an und für sich wirklich jede wahre Aussage
konsensfähig, wenn man an die prinzipielle Möglichkeit denkt, daß ein
ideal erkennendes Subjekt Erkenntnis über jede Sache und jeden
Sachverhalt erlangen kann und dabei von dem evidenten Grundprinzip
ausgeht, daß jedes Seiende erkennbar ist (omne ens est verum).166 Man
könnte von einer prinzipiellen kognitiven Einlösbarkeit aller berechtigten
(auf objektiver Wahrheit beruhenden) Wahrheitsansprüche sprechen.
Wenn zumindest ein die Wahrheit erkennendes Subjekt vorausgesetzt
wird, sind übrigens falsche Urteile selbst in diesem prinzipiellen Sinne
nicht universalen Konsenses fähig. Diese Konsensfähigkeit setzt sowohl
eine Adäquationstheorie der Wahrheit als auch ein Verständnis der
Möglichkeit des Erkennens voraus.
(B) In einem zweiten Sinne kann prinzipielle Konsensfähigkeit ein
allwissendes Wesen oder einen ideal und vollkommen Erkennenden
ausschließen und sich nur auf prinzipielle zwischen-menschliche Konsens-
fähigkeit beschränken. Hinsichtlich des Reiches zwischenmenschlicher
Konsensfähigkeit darf man keine schlechthinnige kognitive Kommuni-

166
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.

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224 KAPITEL 3

kabilität behaupten, weil dem Menschen häufig Erkenntnis fehlt und


deshalb in vielen Fällen innerweltlicher und religiöser Erfahrung nur eine
Mitteilbarkeit, Kommunikation und Konsensbildung möglich sind, die
nicht auf reiner Erkenntnis, sondern auf dem Glauben an das Zeugnis und
Wort Anderer beruhen und nur durch die Vermittlung von zwischen-
menschlichen oder religiösen Akten des gegenseitigen Vertrauens oder
Glaubens möglich sind.
Da die totale Privatheit einer Erfahrung in dem Sinne, daß diese
ausschließlich einer einzigen bestimmten menschlichen Person zugänglich
wäre, das Teilen einer Erkenntnis und vielleicht sogar eine entsprechende
Mitteilung über ein solches Erlebnis und eine auf dem Vertrauen auf diese
Mitteilung beruhende Überzeugung Anderer unmöglich machen könnte,
wäre auch hinsichtlich solcher Inhalte zwischenmenschlicher Konsens
ausgeschlossen.
(2) Neben dieser absolut idealen Konsensfähigkeit, deren Universalität
sich nur auf vollkommen und rein erkennende und nicht auf im Unwissen
oder Irrtum befindliche Subjekte bezöge (1 A), und der wesenhaft
begrenzteren idealen zwischenmenschlichen Konsensfähigkeit (1 B) stünde
der Begriff einer universalen realen zwischenmenschlichen diskursiven
Vermittelbarkeit von Geltungsansprüchen bzw. Wahrheitsansprüchen, bei
entsprechender Argumentation. Mit dem Begriff der realen Einlösbarkeit
stehen wir vor einem ganz anderen Problem, das wir nicht in derselben
Weise behandeln können wie die These der idealen Konsensfähigkeit.
Eine solche reale Konsensfähigkeit unter Wahrheit erkennenden Subjekten
kann einerseits (im Gegensatz zur rein idealen) auch bei falschen Thesen
eintreten, wenn z.B. faktisch sophistische Methoden alle Menschen von
inhaltlich Falschem überzeugen. Andererseits hängt Wahrheit der Korres-
pondenztheorie voraus) nicht von der Erreichbarkeit universalen realen
Konsenses ab. Wenn z.B. unüberwindliche subjektive Hindernisse hin-
sichtlich einer Erkenntnis (seien dies intellektuelle, methodologische,
moralische, rein psychologische, oder auch erkenntnistheoretische Hinder-
nisse auf Grund der Privatheit von Erkenntnissen) in zumindest einer der
für Konsens in Frage kommenden Personen bestünden, dann wäre die reale
universale diskursive Vermittelbarkeit aller Wahrheitsansprüche unmö-
glich.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 225

(3) Drittens kann man unter „diskursiver Einlösbarkeit von Geltungs-


ansprüchen“ (Habermas) oder Konsensfähigkeit die tatsächliche und
empirisch von begrenzten Gruppen jener Menschen, zwischen denen
Konsens herrscht (die prinzipiell auch die ganze empirische Menschheit
umfassen könnte), nachprüfbare bzw. diskursiv vermittelte Konsensfähig-
keit oder auch „begründete Akzeptabilität“, die in „Diskursrationalität“
wurzelt, verstehen.167 Diese empirische, aber nicht-universale und auch
nicht rein faktische Konsensfähigkeit – die wir den ersten beiden als einer
absoluten oder zwischenmenschlichen „Konsensfähigkeit an und für sich“,
gegenüberstellen möchten – läßt sich erst dann feststellen, wenn der
Konsens tatsächlich erreicht ist. Auch wenn zu Beginn einer Diskussion
die verschiedenen Teilnehmer derselben nicht übereinstimmen, so wird es
oft im Lauf eines Gesprächs möglich, durch Argumente, durch Unterschei-
dungen und Erklärungen, durch Dialoge, durch Beweise, oder durch
welche Methoden auch immer, zu einem Konsens zu gelangen.168
Die empirische Erreichbarkeit und die Begründetheit des Konsenses, die
wir theoretisch streng von einander trennen, werden von Vertretern dieser
Theorie, z. B. Habermas, vermischt:
Diskursive Einlösbarkeit von Geltungs- oder Wahrheitsansprüchen
meint Konsens, nicht aber im Sinne jeder zufällig zustandegekommenen
Übereinstimmung, sondern in dem Sinne, daß „jeder andere, der in ein
Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche
Prädikat zusprechen würde.“169

167
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze
(Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 104 ff.; 155 ff.; 178. Habermas hebt (ebd.,
S. 87) hervor, daß Michael Dummet, Karl-Otto Apel und Hilary Putnam das
Wahrsein nicht mit einem „Für-wahr-gehalten-Werden“ identifizieren, während
seine eigene Position in dieser Hinsicht in mancher Hinsicht mit der von ihm
(ebd., S. 87 ff.; 98-99) diskutierten Position Gadamers verwandt ist, die einen
„Diskursbegriff der Wahrheit“ enthalte. Hermeneutische und analytische
Philosophie seien „zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende“.
(Vgl. Habermas, ebd., S. 65 ff.; 44 ff.)
168
Vgl. eine Verteidigung der Konsenstheorie der Wahrheit im Habermas’schen
Sinne: Herbert Scheit, Wahrheit – Diskurs – Demokratie. Studien zur ‚Konsensus-
theorie der Wahrheit‘ (Freiburg: Karl Alber Verlag, 1987/1991).
169
J. Habermas, „Wahrheitstheorien“, a.a.O., S. 219. L. Bruno Puntel, a.a.O., S. 152.

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226 KAPITEL 3

4) Denn sie unterscheidet sich von einem vierten Phänomen, einer rein
verbalen Konsensfähigkeit. Gewiß besteht auch die zweite Art von
empirischer Konsensfähigkeit in mehr als im bloßen Behaupten mehrerer
Menschen, daß sie übereinstimmen. Finden wir doch oft, daß jemand uns
beistimmt, wir merken aber bald, daß er den Sinn unserer Aussagen nicht
verstanden hat und wir aus seinen Äußerungen schließen müssen, daß er
nicht wirklich mit uns übereinstimmt, sondern im Gegenteil ganz anderer
Ansicht ist. Das kommt besonders häufig in der Philosophie vor.
Manchmal besteht umgekehrt eine solche verbale Konsensfähigkeit
gerade nicht, obwohl ein wirklicher Konsens vorliegt – nämlich überall
dort, wo es Streit um Formulierungen und Worte gibt, obwohl der Sache
nach Übereinstimmung herrscht. Im Gegensatz dazu kann ein verbaler
Konsens bestehen, obwohl die Überzeugungen der Einzelnen, die ihren
gemeinsamen Urteilen bzw. Aussagen zugrundeliegen, ganz verschieden
von einander sind. So wird das Glaubensbekenntnis eines von der
objektiven Tatsächlichkeit der Auferstehung überzeugten Christen und das
eines Schülers Bultmanns, der den Inhalt des Credo für rein mythisch und
vom Subjekt abhängig hält, verbal übereinstimmen, nicht aber inhaltlich.

1.7. Konsens als intersubjektive „Verifizierbarkeit“, Falsifizierbarkeit oder


„Nachprüfbarkeit“

Sechstens kann man unter Konsens die intersubjektive oder interperso-


nale Verifizierbarkeit verstehen, d.h. nicht nur die tatsächliche Überein-
stimmung, sondern, so könnten wir interpretieren, die begründete Überein-
stimmung, oder vielleicht noch genauer, die auf Erkenntnis beruhende
Übereinstimmung. Unter diesem Begriff der intersubjektiven Verifizierbar-
keit oder intersubjektiven Verifikation – das ist ein Kriterium, das vor
allem in den neo-positivistischen Kreisen des Wienerkreises, also bei
Carnap, Reichenbach u.a., aufgekommen ist – versteht man im Grunde
mehr als Konsens, nämlich nur einen solchen Konsens, der es erlaubt, daß
man seine Erkenntnisgrundlagen intersubjektiv verifiziert, daß also
verschiedene Subjekte aufgrund von Experimenten, Versuchen, Beobach-
tungen oder auf irgendeine andere Weise ihre inhaltlich gleiche Überzeu-
gung begründen oder zu eigentlicher Erkenntnis gelangen können. Je

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 227

nachdem ob die hier erwartete Verifikation intellektuelle Evidenz, Beweis


oder Verifikation durch Sinneswahrnehmung ist, haben wir es mit einer
Verbindung zwischen Konsenstheorie und Evidenztheorie, wie Brentano
sie vertritt, mit einer pragmatischen, oder mit einer pragmatizistischen
Theorie wie jener von Peirce, oder auch mit einer Version des Positivismus
und Empirismus zu tun. Wenn schließlich intersubjektive Verifikation nur
noch im Sinne diskursiver Vermittelbarkeit durch Argumentation (diskur-
siv einlösbarer Geltungsansprüche) verstanden wird, wie bei Habermas,
geht es eigentlich nur noch um Konsensfähigkeit, d.h. um Intersubjektivität
als solche.

1.8. Konsens als bloßer Wegfall von Widerspruch

Schließlich könnte man Konsens siebtens verstehen als bloßen Wegfall


des Widerspruchs zwischen den Meinungen mehrerer. (Wer nicht gegen
uns ist, ist für uns). Konsens würde dann nur heißen, „im Einklang mit
anderen Auffassungen stehen“ in dem Sinne von „anderen Auffassungen
nicht widersprechen“.
In dieser Bedeutung bestünde also Konsens nicht mehr darin, dieselbe
Überzeugung zu teilen oder gar ein beiderseitiges Wissen als Grundlage
der gleichen Überzeugung zu haben, und Konsens bestünde auch nicht in
einer objektiven oder impliziten Gleichheit der Überzeugung, sondern nur
negativ im Nichtwiderspruch.

2. Konsens hinsichtlich seiner Subjekte

Jetzt können wir den Konsens weiter bestimmen, indem wir ihn nicht
nach seinem Wesen, sondern nach seinen Subjekten differenzieren.
Auch in dieser Hinsicht kann man unter Konsens Verschiedenes
verstehen:

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228 KAPITEL 3

2.1. Verschiedenheiten der Subjekte hinsichtlich ihrer Zahl

Zunächst kann man die Subjekte des Konsenses einfach hinsichtlich der
Zahl differenzieren.
In dieser Weise läßt sich der Konsens sehr verschieden fassen:

2.1.1. Konsens als Übereinstimmung Aller

Wollte man den Konsens als die Übereinstimmung aller interpretieren,


so könnte man dieses „Alle“ wieder verschieden deuten, einmal im Sinne
der Übereinstimmung aller Völker und Nationen, etwa in der Weise des im
Mittelalter, aber auch im 19. Jahrhundert häufig verwendeten „Gottesbe-
weises ex consensu (omnium) gentium“, also eigentlich im Sinne des
Konsenses einer Mehrheit der Menschen innerhalb aller Völker.170 Man
könnte den Konsens aller auch buchstäblich als Konsens aller Individuen
verstehen und meinen, es gäbe gewisse Inhalte, über die buchstäblich alle
Menschen übereinstimmen. Gerade diese Idee eines absolut universalen
Konsenses ist auch in der Idee der Transzendentalphilosophie von
Anschauungsformen und vor allem von Kategorien, Denkformen und
Urteilen, welche Bedingungen der Möglichkeit allen Erfahrens und allen
Denkens, und deshalb allen Menschen gemeinsam sind, verborgen, und
gerade diese Art eines absolut universalen Konsenses tritt in der
Transzendentalphilosophie wenigstens in einem gewissen Ausmaß an die
Stelle der Wahrheit im Sinne der adaequatio.

2.1.2. Konsens als Übereinstimmung Vieler (einer Mehrheit).

Zweitens kann man den Konsens seinen Subjekten nach als Überein-
stimmung vieler oder einer Mehrheit innerhalb bestimmter Gruppen,
historischer Epochen, Sippen, Rassen, Völker oder auch als Konsens einer
großen Zahl oder Mehrheit von Individuen überhaupt bestimmen.

170
Vgl. auch Hartmut Rosenau, „Der ‚consensus gentium’ – fundamentaltheologische
Erwägungen zu einem vernachlässigten Gottesbeweis“, Theologie und Philoso-
phie (1994); 69 (4): 481-492.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 229

2.1.3. Konsens als Übereinstimmung zweier.

Schließlich könnte man noch bescheidener sein und nur die Zustim-
mung von mehr als einer Person als genügende Basis für Konsens ansehen.

2.1.4. Konsens als Übereinstimmung eines einzigen Menschen mit sich selber

Ja man könnte mit der leisen sokratischen Ironie sogar vom Konsens ein
und derselben Person als genügender Basis einer Wahrheitstheorie
sprechen, wenn man an deren verschiedene explizite oder implizite
Aussagen denkt. Der Konsensbegriff nähert sich dann dem Kohärenz-
begriff.

2.2. Konsens vom Standpunkt der „Qualität“ der Subjekte aus: Konsens der
Weisen, etc.

Vom Standpunkt der Subjekte aus braucht man Konsens jedoch nicht
nur hinsichtlich der Zahl der Individuen oder Gruppen zu betrachten,
zwischen denen der Konsens besteht, sondern mag vielmehr primär die
Qualität jener im Auge haben, mit denen oder zwischen denen Konsens
besteht.
Mit Qualität kann man dabei noch ganz Verschiedenes im Auge haben:

2.2.1. Qualität der theoretischen Begründetheit

„Qualität“ kann zunächst die Qualität der theoretischen Begründetheit


der betreffenden Überzeugungen meinen.
Selbst die allgemeinen begabungsmäßigen Voraussetzungen der
Subjekte des Konsenses, oder die Qualität von deren wissenschaftlichen
oder sonstigen akademischen Voraussetzungen, die an sich ein hohes
Gewicht besitzen mögen und in anderen Fällen genügen könnten, um ihre
Meinung wahrscheinlich zu machen, genügen für die Erfüllung der
Bedeutungsintention dieses ersten Sinnes von „Qualität“ noch nicht, wozu
vielmehr die Qualität der Begründetheit des Wissens selbst verstanden
wird, die auch im Falle höchst qualifizierter Wissenschaftler, die aus

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230 KAPITEL 3

Angst, Menschenfurcht oder sonstigen affektiven und unsachlichen


Gründen urteilen, keineswegs vorliegen muß.

2.2.2. Die Qualität der Persönlichkeiten, die Subjekte des Konsenses sind

Mit „Qualität“ kann man auch weniger auf die Begründetheit von
Überzeugungen abzielen, sondern vielmehr die Qualität der Persönlichkei-
ten und der in ihnen bestehenden allgemeinen Bedingungen der Wahrheits-
erkenntnis im Auge haben. Dabei kann sich diese Qualität der Subjekte,
zwischen denen Konsens besteht, noch einmal auf ganz verschiedene
Faktoren beziehen: auf die wissenschaftliche Qualifikation, auf den mora-
lischen Charakter, oder auf den Fleiß und die Gründlichkeit der Arbeiten
oder Leistungen der betreffenden Personen, auf das Maß beruflicher
Erfahrung, etc.
1. Qualität des Konsenses der Wissenden: In diesem Sinne könnte man
etwa den Konsens der Wissenden, der Wissenschaftler, der Fachleute, der
Schachgroßmeister, oder der Gelehrten höher bewerten als den Konsens
der Menge und deren Konsens als Kriterium für Wahrheit auf dem
jeweiligen Gebiet ihrer Qualifikation ansehen, nicht hingegen den Konsens
der Narren, derer, die nichts von irgendeinem der erwähnten Bereiche
wissen.
Für jemanden, der diesen Qualitätsstandard eines Konsenses fordert,
wird daher die demokratische Übereinstimmung einer Menge oder sogar
einer absoluten Mehrheit von Toren über ein schwieriges wissenschaft-
liches oder mathematische Problem, oder einer Masse von des Schach-
spiels Unkundigen über die Eröffnungstheorie dieses königlichen Spiels,
nichts oder wenig zählen, während die Übereinstimmung jener, die um die
betreffenden Sachverhalte wissen und sie genau erforscht haben, ein
bedeutendes Kriterium und Anzeichen der Wahrheit jener Urteile bedeuten
kann, über die sie übereinstimmen.
2. Moralische Qualität: Ganz anderer Art ist jene Qualität der Subjekte
eines Konsenses, die nicht von dem Maß ihres Wissens bestimmt ist,
sondern von Tugenden, die sich direkt auf intellektuelle Werte beziehen,
wie Wahrheitsliebe und Weisheit, oder auf die allgemeinen Tugenden und
guten Grundhaltungen eines Menschen. Dieser Qualitätsmaßstab der
Subjekte eines Konsenses gründet auf der Erkenntnis, daß auf vielen

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 231

Gebieten, etwa auf dem Gebiet der ethischen Erkenntnis, weniger das Maß
der Studien oder des neutralen Wissens ausschlaggebend ist, sondern
vielmehr der Besitz jener freien Haltungen, durch die der Geist erst in die
Lage versetzt wird, die Wahrheit zu erkennen und die betreffenden
Gegenstände und Werte adäquat zu erkennen. In diesem Sinne ist für
ethische Erkenntnis, aber allgemeiner gesprochen, für philosophische
Erkenntnis der Wirklichkeit das Maß dessen, was jemand weiß oder
studiert hat, viel weniger wichtig als seine Wahrheitsliebe und Weisheit,
aber auch seine sittliche Grundhaltung, die im positiven Falle sein geistiges
Auge für die Erkenntnis der moralischen Werte öffnet, im Falle einer
schlechten Haltung ethische Wertblindheit hervorruft.171 Aus diesem
Grunde gilt der Konsens der Weisen oder der Guten, der Heiligen, etc. im
Falle ethischer Urteile viel, der Konsens der Bösewichte oder Lügner
nichts, wenn die Frage ist, wer den Wert der Wahrhaftigkeit oder der
Gerechtigkeit oder konkrete Forderungen, die aus diesen Werten fließt, am
besten beurteilen könne.
3. Erfahrung, Fleiß und Gründlichkeit oder Qualität der Leistungen der
Subjekte, zwischen denen Übereinstimmung herrscht – der Konsens
erfolgreicher Politiker, Senatsmitglieder, Parlamentarier, Sportler oder
Großmeister: Ganz anderer Art ist jene Qualität des Konsenses, die einem
Urteil durch seine Subjekte und deren Erfahrung und Bewährung in
theoretischen oder praktischen Tätigkeiten erwächst; in diesem Sinne von
Qualität ragt der Konsens von Menschen, die auf Grund solcher Erfolge
und Erfahrungen ein gediegenes Urteil haben oder die sich ihrem
Forschungs- oder Tätigkeitsbereich mit viel Fleiß und Ausdauer zugewandt
haben, über den Konsens von unerfahrenen, faulen und schlampigen
Personen weit hinaus. So wird etwa das Urteil eines erfahrenen Meisters in

171
Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine
Untersuchung über ethische Strukturprobleme. Habilitationsschrift. (München:
Bruckmann, 1918), vollständig abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und
phänomenologische Forschung, Band 5. Halle: Niemeyer. 1922. S. 462-602.
Sonderdruck der Habilitationsschrift, ebd. 1921. Reprint Vols. 3-6 (1916-1923)
1989. Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals; 2. Auflage (unveränderter repro-
graphischer Nachdruck, zusammen mit der Dissertation Die Idee der sittlichen
Handlung), hrsg. v. der Dietrich-von-Hildebrand-Gesellschaft (Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 126-266.

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232 KAPITEL 3

einem Handwerk oder das eines viele Jahre in gediegener Forschung


zugebracht habenden Wissenschaftlers wesentlich mehr Gewicht haben als
das eines theoretisch noch so kenntnisreichen Menschen, der aber weder
die nötige Erfahrung noch die gediegenen Leistungen und den nötigen
Fleiß mitbringt, durch dessen Früchte erst man das entsprechende Gebiet
der Forschung oder Praxis gründlich kennenlernt.
Je mehr dabei die jeweilige Qualität derer, zwischen denen Konsens
besteht, mit den Inhalten verbunden ist, um die es bei einem Urteil geht,
desto mehr verdient eine solche Qualität der Subjekte des Konsenses bei
der Bestimmung seines Gewichtes zu zählen; je weniger, desto weniger.
Wenn etwa alle Weltraumfahrer, Fußballer oder Modelle über einen
ethischen Inhalt oder eine sonstige philosophische Frage übereinstimmen,
so sollte diese Qualität der Träger des Konsenses null Bedeutung für die
Beurteilung seines Gewichtes haben, sind sich hingegen alle, die etwas von
Fußball verstehen, über eine Frage, den Fußball betreffend, oder alle
Logiker über eine logische, alle Großmeister über die besten Eröffnungs-
züge, oder alle Heilige über eine moralische Frage einig, so gilt ein solcher
Konsens viel.
Diese „Qualität“ des Konsensus zählt gerade auch dann, wenn man
keine Gelegenheit hat, die erste Art von Qualität, jene der Begründetheit
des Wissens, festzustellen – vielleicht weil einem auf dem betreffenden
Sachgebiet jede Qualifikation mangelt.

2.2.3. Qualität von Autoritäten, nicht Personen

Häufig zielt aber „Qualität“ nicht auf den moralischen Charakter und die
persönlichen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis ab, sondern vielmehr
auf ein Amt oder eine Person, die – im Gegensatz zu praktischen
Autoritäten, d.h. Personen, denen wir Gehorsam schulden – den Charakter
einer „theoretischen Autorität“ auf einem bestimmten Gebiet hat, wie etwa,
in jeweils ganz verschiedener Weise und Hinsicht, eminente Kenner oder
Gelehrte eines Fachgebiets auf diesem, oder erfahrene Feldherrn in
Entscheidungen über militärische Strategie auf ihren jeweiligen Gebieten
nicht nur praktische Autorität besitzen, indem sie gültige Befehle erteilen
können, sondern auch theoretische Autoritäten darstellen, die gleichsam für
die Wahrheit des von ihnen Behaupteten bürgen. In einem ganz neuen Sinn

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 233

redet man von theoretischer Autorität dort, wo man eine besondere


göttliche Führung oder Erleuchtung eines Propheten, Apostels oder gar des
Gottmenschen, annimmt. (Wenn der Christ an diesen glaubt, so ist Christus
oder die vom Heiligen Geist inspirierte Schrift selbstredend die höchste
theoretische Autorität. Katholiken erkennen auch die Vertreter des
Lehramts als Inhaber einer göttlichen und rein religiös begründeten
theoretischen Autorität an, die ihre Quelle nicht in der Intelligenz oder dem
überlegenen Wissen ihrer Träger, sondern in einem göttlichen Auftrag,
Charisma und einer göttlichen Leitung hat.) Philosophisch gesehen ist nur
die prinzipielle ‚Form‘ dieser Art von theoretischer Autorität zugänglich,
nicht ihre tatsächliche Realität.
In diesem Fall wird man die Qualität des Konsenses nicht nach der
Qualität der individuellen Persönlichkeiten bemessen, sondern hinsichtlich
der Arten und des Ranges theoretischer Autoritäten differenzieren, insofern
diese mit größerer oder geringerer Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit die
Wahrheit kennen.
So wird etwa der Historiker den Konsens mit verschiedenen Quellen je
nach deren Qualität und Vertrauenswürdigkeit bewerten. In noch viel
ausschlaggebender Weise wird natürlich für den gläubigen Christen oder
für den gläubigen Mohammedaner der Konsens mit einer Heiligen Schrift,
die sie – in wohlbegründeter oder unbegründeter Weise – als unfehlbar
annehmen, ein letztes Wahrheitskriterium sein. Für den gläubigen
Katholiken wird nicht nur der Konsens mit der Schrift, sondern auch und
in besonderer Weise – da er sich menschlicher Irrtumsanfälligkeit in der
Interpretation der Schrift bewußt ist – der Konsens mit einer als unfehlbar
anerkannten Lehrautorität Gewicht besitzen. Der Katholik meint also mit
„Konsens“ nicht nur den Konsens mit den Weisen und Gelehrten, die sich
im übrigen oft widersprechen, sondern den Konsens mit einer Autorität,
die nach seinem Glauben mit Sicherheit die Wahrheit kennt und weder sich
selber noch der Vernunft je widerspricht. Wenn diese Autorität sich
tatsächlich auf das unfehlbare göttliche Wissen selbst stützt, wie der
katholische oder orthodoxe Christ glaubt, und der Heilige Geist die Kirche
vor Irrtum bewahrt, ist Konsens mit dieser unfehlbaren theoretischen
Autorität tatsächlich ein unfehlbares Wahrheitskriterium.
Die Rolle der Qualität der Subjekte eines Konsenses tritt jedoch auch
ganz außerhalb des religiösen Kontextes auf. So mag der Anwalt oder

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234 KAPITEL 3

Richter sagen: Fünf verschiedene, aber dem Gericht unbekannte Zeugen


behaupten, den Täter eines Verbrechen bezichtigen zu können. Dann aber
kommt ein sechster und dem Gericht als wahrhaftig wohl bekannter Zeuge
und sagt: „Ich kenne den Menschen, der das Verbrechen gesehen hat.“ In
diesem Fall verbürgt dieser eine Zeuge die Wahrheit seiner Aussage.
Wenn also ein einziger zuverlässiger Zeuge – von dem mit Sicherheit
angenommen werden kann, daß er im Besitz der wahren Erkenntnis und
nicht auf Mutmaßungen angewiesen ist – aussagt, und wenn das Gericht
überzeugt ist, daß er wahrhaftig ist, so wird – bei Fehlen anderer
Evidenzen – Übereinstimmung mit diesem einen Zeugen als ein
hinreichendes und besseres Kriterium der Wahrheit betrachtet werden als
die Übereinstimmung mit Hunderten anderen Zeugen.
Auch in diesem Fall ist es nicht ausschließlich die Qualität von
Personen an sich, sondern zusätzlich die Tatsache oder Vermutung, daß
derjenige, der eine bestimmte Aussage macht, in sicherem Besitz wahrer
Erkenntnis über den Gegenstand seiner Aussage ist, was den Konsens mit
ihm wertvoll macht.

2.2.4. Qualität des Konsenses nach dem Grad seiner dialogischen Vermittlung

Schließlich könnte man noch in einer vierten Hinsicht den Konsens


seiner Qualität nach differenzieren: Man könnte Konsens mit jenen
meinen, mit welchen hinreichende Verständigung oder Dialog stattge-
funden hat. Dies führt zu einer neuen Art der Qualität des Konsenses.
Die bloße Tatsache des Konsenses, ohne daß man genau versteht, was
der Gesprächspartner eigentlich meint, wie er zu seinen Überzeugungen
gekommen ist, welche Einflüsse oder Zufälligkeiten seine Meinung
prägen, mag als relativ wertlos angesehen werden. Was zähle, sei
ausschließlich die Übereinstimmung mit jenen Menschen, mit denen in
ausreichendem Maß Dialog stattgefunden hat. So finden wir bei Sokrates
häufig Äußerungen, in denen dieser sagt, die Übereinstimmung mit all den
anderen, die um ihn herum stehen, kümmere ihn nicht. Ihn kümmere
vielmehr nur die Übereinstimmung mit seinem Gesprächspartner oder
sogar nur jene mit sich selber. So sagt Sokrates etwa in dem tiefsten
platonischen Text über Konsens und seine sekundäre Bedeutung und die
hohe Bedeutung seines tieferen Sinnes:

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 235

SOKRATES: //II238// O Kallikles, wenn nicht dem Menschen, einigen so,


andern so, dasselbige begegnete, sondern einem etwas ganz Eigentümliches
vor allen andern, so wäre es nicht leicht,

S481d einem andern seinen Zustand zu bezeichnen. Ich sage dies aber,
weil ich bemerke, daß wir beide, ich und du, uns jetzt in gleichem Zustande
befinden. Wir lieben nämlich beide, jeder zwei, ich den Alkibiades, des
Kleinias Sohn, und die Philosophie, du das athenische Volk und den Sohn
des Pyrilampes. Ich bemerke nun allemal an dir, so gewaltig du auch sonst
bist, daß was immer dein Liebling behaupte, und wie er behaupte, daß sich
etwas verhalte, du ihm niemals widersprechen kannst, sondern

S481e umwendest bald so, bald so. Denn in der Gemeine, wenn du etwas
gesagt hast, und das Volk der Athener meint nicht, daß es sich so verhalte,
so wendest du wieder um und sprichst wie jenes will; und mit dem Sohn
des Pyrilampes, dem schönen Jünglinge, geht es dir ebenso, nämlich des
Lieblings Beschlüssen und Reden vermagst du nicht zuwider zu sein. So
daß, wenn sich jemand darüber, was du jedesmal sagst um dieser geliebten
Beiden willen, wundern wollte, wie ungereimt es doch ist, du ihm
vielleicht, wenn du die Wahrheit sagen wolltest, erwidern würdest, daß,
wenn nicht jemand machen könnte,

S482a daß dein Liebling aufhöre, dergleichen zu sagen, du auch nicht


aufhören würdest, dasselbe zu sagen. Denke dir also, daß du nun auch
dergleichen von mir hören müßtest, und wundere dich nicht, daß ich dir
dies sage, sondern mache, daß die Philosophie, mein Liebling, aufhöre, es
zu sagen. Denn eben sie, lieber Freund, behauptet immer, was du jetzt von
mir hörst, und sie macht mir weit weniger zu schaffen, als jener andere
Liebling. Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden,
bald solche; die Philosophie aber immer

S482b die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt
wunderst; du warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also
widerlege jener das, was ich eben behauptete, daß also Unrechttun und
nicht dafür Bestraftwerden nicht das ärgste aller Übel sei; oder wenn du
dies unwiderlegt läßt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägypter, so wird
Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das
ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du //II239// Bester, bin der
Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge,
oder ein Chor, den ich anzuführen hätte,

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236 KAPITEL 3

S482c und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir
widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht
zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte. 172

Im selben Dialog drückt er den gleichen Gedanken auch im Gespräch


mit Polos aus:
SOKRATES: Recht also hatte ich, daß weder ich noch du, noch sonst ein
Mensch lieber würde Unrecht tun wollen als Unrecht leiden; denn es ist
übler.

POLOS: So zeigt es sich.

SOKRATES: Siehst du nun wohl, Polos, daß, wenn man den einen Beweis
neben den andern stellt, wie er ihm gar nicht ähnlich ist. Denn dir stimmen
alle andern bei, außer mir; mir aber ist es genug, daß du nur einzig und

S476a allein mir beistimmst und Zeugnis gibst, und deine Stimme allein
abfordernd lasse ich die andern alle gehn.

Und warum denkt Sokrates gering von einem zufälligen oder schwan-
kenden Konsens vieler? Weil die bloße Übereinstimmung oder Nichtüber-
einstimmung mit jemandem, mit dem Sokrates sich nicht unterhalten, mit
dem er nicht diskutiert und mit dem er nicht argumentiert hat, vielleicht
ganz unbegründet und ein bloßer Spiegel irrationaler Strömungen ist und
ihm deshalb weder positiv noch negativ von Belang zu sein scheint. Erst
nach einem entsprechenden Gespräch, nach entsprechender Dialektik, nach
einem Dialog, nach Abwägen aller Gründe – erst dann sei der Konsens mit
anderen über eine Frage von Bedeutung – wenigstens in der Philosophie.
So könnte man den Konsens hinsichtlich seiner Qualität vom Grad seiner
Wohlfundiertheit und zugleich dialogischen Vermittlung her bestimmen.

2.2.5. Der Konsens mit der Philosophie und der Wahrheit

Und noch viel wichtiger ist der Konsens mit sich selber, den man auch
als Kohärenz bezeichnen kann, am höchsten jedoch der Konsens mit der
Wahrheit. Sokrates setzt in verschiedenen Stellen der platonischen Dialoge
die Übereinstimmung mit jenen Menschen, die häufig ihre Meinung

172
Platon, Gorgias 481 c – 482 c.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 237

wechseln, in einen Kontrast zu jener Übereinstimmung, die zwischen


Sokrates und der Philosophie bestehe. So etwa im Gorgias oder im
Gastmahl. Hier ist mit Konsens die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
und mit der Wahrheit selbst gemeint.
Sokrates vergleicht die Wahrheit und Philosophie hier mit einer Person,
mit der man dieselben Überzeugungen teilt. Er hebt hervor, daß – während
die menschlichen Geliebten, wie Alkibiades, sich nach den wechselnden
Meinungen des athenischen Volks richten und dementsprechend auch ihre
Meinungen ändern – die Philosophie niemals ihre Meinung ändere,
sondern stets „dasselbe sage“. Während die Freunde und das Volk einander
oft widersprächen, bleibe die Philosophie immer frei von jedem
Widerspruch. Ob Sokrates hier nur um des Dialogs willen die Wahrheit
personifiziert oder annimmt, daß im ontischen Kern des Phänomens der
Wahrheit, wie es uns begegnet, sich ein personales göttliches Wesen
enthüllt, bleibe hier dahingestellt. Jedenfalls spricht Sokrates hier von jener
Art der Übereinstimmung, die den Konsens direkt mit dem Begriff der
Adäquation in ein Verhältnis bringt.
Auf der Basis dieser vorläufigen Klärung dessen, was mit Konsens
gemeint werden kann, können wir nun über das Verhältnis zwischen
Konsens und Wahrheit sprechen.

3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der
Wahrheit und Einwände gegen dieselbe

Konsenstheorien der Wahrheit sind überaus verbreitet und, da sie von


vielen als eine feste oder sogar einzige Grundlage der Demokratie angese-
hen werden, umgeben sie sich, trotz ihrer philosophischen Unklarheit und
Irrigkeit, mit dem Nimbus, Fundament jeder Demokratie zu sein. Die
verbreitetsten Formen dieser Anschauung sind nicht Theorien im eigentli-
chen Sinne, sondern wenig durchdachte vorwissenschaftliche und vorphi-
losophische Ideen, die deshalb auch keinen bestimmten Autor haben. Es

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238 KAPITEL 3

gibt aber auch eminente Philosophen, die eine Konsenstheorie der Wahr-
heit vertreten, wie Jürgen Habermas.173
Dabei kann, ähnlich wie in den bereits erörterten Wahrheitstheorien, das
Verhältnis zwischen Wahrheit und Konsens jeweils sehr unterschiedlich
bestimmt werden. Abgesehen von der Möglichkeit, sich einfach „Konsens
anstatt Wahrheit“ als „bescheideneres persönliches oder auch politisches
Ziel“ vorzunehmen, kann man das Wesen der Wahrheit als Konsens
auffassen (‚Wahrheit als Konsens‘, wie Herbert Scheit sich ausdrückt) oder
aber auch im Konsens ein Kriterium der Wahrheit, eine Folge der
Wahrheit, eine Bedingung der Wahrheit, oder auch einen Weg zur
Wahrheit erblicken.174
In ihrer radikalsten Form identifiziert die Konsenstheorie Wahrheit
entweder mit dem Konsens selber oder mit dessen, als Konstrukt
verstandenem, Objekt, also mit Inhalten, Urteilen oder auch Theorien und
Wahrheitstheorien verschiedenster Art, deren einzige Quelle der Gültigkeit
der Konsens wäre. Träfe dies zu, so wäre jede Fiktion oder Annahme,
solange sie Gegenstand des Konsenses wäre, wahr und würde sie allein
diesem Konsens selber ihre Wahrheit verdanken.
Betrachten wir diese letztere beiden Weisen, die Konsenstheorie als eine
Bestimmung des Wesens der Wahrheit zu begreifen: In ihrer ersten Form
hält die Konsenstheorie allein die Konsenstheorie der Wahrheit für wahr.
In dieser Interpretation besagt die Konsenstheorie also, Wahrheit heiße
nichts anderes als daß etwas Gegenstand des Konsenses sei. Wahrheit
bestehe eben einfach in dem Inhalt oder Gegenstand der intersubjektiven

173
Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie vertritt wohl primär eine Kohärenztheorie der
Wahrheit, indem beim Eintreten inkohärenter Folgen wissenschaftlicher Erklä-
rungen, welche einer Kombination von theoretischen Modellen oder Paradigmen
und empirischen Beobachtungen entspringen, neue Paradigmen entwickelt
werden, in deren Rahmen die beobachteten Sachverhalte widerspruchsfrei erklärt
werden können. Doch kann man ihn wegen der Art, in welcher neue Paradigmen
angenommen werden müssen, auch zu den Vertretern einer Konsenstheorie der
Wahrheit rechnen.
174
Zu einer anderen Art der Unterscheidung (zwischen a. Wahrheit statt Konsens, b.
Wahrheit als Weg zur Wahrheit und c. Wahrheit als Konsens) vgl. Herbert Scheit,
Wahrheit – Diskurs – Demokratie: Studien zur ‚Konsensustheorie der Wahrheit‘,
S. 24-39.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 239

Übereinstimmung und habe ihre Quelle in dem intersubjektiven Konsens,


der in den verschiedenen erwähnten Bedeutungen gedeutet werden kann.
In der zweiten Bedeutung hingegen schöpft zwar auch jede Aussage
ihre Wahrheit aus dem Konsens und allein aus der Tatsache, daß sie
Gegenstand oder Inhalt dieses Konsenses ist, aber dies kann auch die
Adäquationstheorie der Wahrheit oder die Kohärenztheorie der Wahrheit
sein. Da Wahrheit hier nicht damit identifiziert wird, daß etwas Gegen-
stand des Konsenses ist, sondern jedweder möglicher Inhalt, sobald er nur
Gegenstand des Konsenses ist, auch wahr ist, so kann es dieser Art der
Konsenstheorie der Wahrheit, die einfach eine bestimmte Form histo-
rischen, sozialen oder anthropologischen Relativismus ist, entsprechen, daß
zu einer bestimmten Zeit gerade nicht die Konsenstheorie der Wahrheit
wahr ist, weil nicht sie, sondern eine ihr kontradiktorisch entgegengesetzte
Anschauung über Wahrheit Konsens findet.
Eine Untersuchung all der verschiedenen Versionen der Konsenstheorie,
die das Wesen der Wahrheit mit dem Gegenstand des Konsenses identifi-
zieren, wäre überaus zeitraubend und ist auch unnötig, da in einer solchen
Untersuchung zahlreiche Wiederholungen unvermeidbar wären. Es genügt
vielmehr, wenn wir – anstatt hier noch einmal auf all die verschiedenen
Bedeutungen und Dimensionen von Konsens einzugehen und sie auf die
verschiedenen konsensualistischen Wesenstheorien der Wahrheit anzuwen-
den – die Gültigkeit dieser Wahrheitsdefinition durch Konsens an einigen
wenigen Fällen prüfen, die vom theoretischen Standpunkt aus die
einleuchtendsten sind.
Nehmen wir zunächst den Konsens aller Menschen. Nehmen wir an,
alle Menschen überhaupt teilen eine bestimmte Überzeugung, etwa
diejenige, daß sie selbst sterblich sind, daß die Erde sich um die Sonne
dreht, 2x2 4 ist, oder daß Farben Ausdehnung voraussetzen. Diesbezüglich
besteht auch tatsächlich weitgehend ein wirklicher und expliziter Konsens
aller, es sei denn bei Wahnsinnigen wie dem Hyde-Park Redner, der
einmal in meiner Jugend behauptete, wer ihm folge, werde und könne
buchstäblich niemals sterben.
Man könnte im Falle der Aussage der Sterblichkeit des Menschen
bestreiten, daß diese Gegenstand eines universalen Konsenses sei, lehren
doch viele Philosophen und Religionen die Unsterblichkeit der mensch-
lichen Seele oder Person. „Sterblich“ wurde aber eben von uns nicht als

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240 KAPITEL 3

Leugnung der Unsterblichkeit oder eines ewigen Lebens verstanden,


sondern in dem Sinne, daß jeder Mensch einmal physisch stirbt und daß
zumindest jeder Mensch prinzipiell sterben kann, selbst wenn er in der
Gefriertruhe kryokonserviert wird oder durch neue Gentherapie seine
Jugend zurückerhalten oder nach einem Unfall ein neues Hirn transplan-
tiert bekommen könnte, durch welche Prozedur manche Leute ewiges
Leben für erreichbar halten, doch ohne die Möglichkeit des Todes jedes
Menschen zu bestreiten.
Können wir also sagen, der Konsens darüber, daß alle Menschen
sterblich sind, sei dasselbe wie die Wahrheit des Urteils, daß alle
Menschen sterblich sind? In einer Beantwortung dieser Frage sehen wir
leicht, daß eine derartige Identifikation der Wahrheit mit Konsens eine
unhaltbare These ist:

3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit dem
Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der Verschiedenheit beider

Wollte ich behaupten, „der Satz: ‚alle Menschen sind sterblich ist wahr‘
heißt nichts anderes als daß Übereinstimmung darüber herrscht, daß sie
sterblich sind“, so sehen wir zunächst ein – und das wäre mein erstes
Argument gegen die Theorie – daß die Wahrheit des Urteils evidenterweise
nicht dasselbe ist wie die Übereinstimmung aller und daß demzufolge die
beiden Ausdrücke „wahr“ und „Gegenstand der Übereinstimmung Sein“
nicht dasselbe sind. Denn die Wahrheit des Urteils, daß alle Menschen
sterblich sind, besteht ganz offensichtlich nicht darin, daß die Menschen
darin übereinstimmen, sondern daß sie tatsächlich sterben können. Ihre
Wahrheit hängt also offenbar nur davon ab, daß es wirklich so ist, daß alle
Menschen sterblich sind. Das Urteil „alle Menschen sind sterblich“ setzt
einen Sachverhalt, nämlich daß es so ist, daß alle Menschen sterblich sind;
es behauptet diesen Sachverhalt. Und allein deshalb erhebt es den
Anspruch auf Wahrheit, d.h. den Anspruch darauf, mit diesem Sachverhalt
übereinzustimmen. Wenn es also wirklich mit diesem Sachverhalt überein-
stimmt, wenn es wirklich so ist, daß alle Menschen sterblich sind, dann ist
das Urteil wahr, auch wenn niemand übereinstimmt, wie Sokrates in der
oben zitierten Textstelle aus dem Gorgias sagt.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 241

Umgekehrt: Als alle Menschen überzeugt waren, daß die Erde das
Zentrum der Welt oder als eine Mehrheit der Menschen dachten, Sklaverei
sei legitim, war dies offenbar nicht wegen einer solchen allgemeinen
Überzeugung wahr. Das Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung des
setzenden, behauptenden Hinstellens eines Sachverhalts mit diesem Sach-
verhalt bzw. mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst, ist so evident und
so deutlich das, worin das Wesen der Wahrheit besteht, daß wir schlicht
einsehen können, daß Konsens als solcher nicht identisch mit der Wahrheit
ist.
Wir sehen dies gerade dann leicht ein, wenn wir an den Fall denken, der
am stärksten der Konsenstheorie recht zu geben scheint, in dem nämlich
nicht nur einige, sondern alle Menschen über einen Sachverhalt überein-
stimmen, der tatsächlich besteht, wie die Sterblichkeit des Menschen. Daß
in dieser ihrer Übereinstimmung unmöglich das Wesen der Wahrheit des
Urteils „alle Menschen sind sterblich“ liegen kann, sondern ausschließlich
in dem Übereinstimmen mit dem Sachverhalt ihrer tatsächlichen Sterblich-
keit, sehen wir am besten ein, wenn wir den entgegengesetzten Fall be-
trachten.
Nehmen wir nämlich umgekehrt an, alle Menschen würden darin
übereinkommen, daß sie unsterblich sind, aber sie wären nicht unsterblich,
jeder müßte sterben, oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten überein,
daß es berechtigt sei, Juden, Neger oder Zigeuner ihrer Rasse wegen zu
töten. Dann leuchtet ein, daß diese Urteile falsch wären, und zwar nicht
deshalb, weil ihnen der Konsens ermangeln würde, sondern deshalb, weil
es nicht stimmt, daß niemand tatsächlich stirbt bzw. daß kein Mensch
tatsächlich sterblich ist oder daß Menschen anderer Rassen wie Kaninchen
getötet werden dürften. Der Unterschied zwischen dem Wahrsein eines
Urteils und seinem Gegenstand des Konsenses Sein ist ein letzter und
evidenter.
Indem wir den Fall erwägen, daß der Sachverhalt, der in dem Urteil,
über das Konsens besteht, behauptet wird, nicht besteht, sehen wir sofort
deutlich ein, daß der Konsens zwar unverändert weiter bestehen bleiben
könnte, daß aber das betreffende Urteil offensichtlich falsch wäre, weil der
Sachverhalt, der in ihm behauptet wird, eben nicht bestünde.
Oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten darin überein, daß Gott
als Schöpfer und Ursprung von allen Dingen existiert, so sehen wir klar

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242 KAPITEL 3

und deutlich ein, daß die Wahrheit des Urteils „Gott existiert“ nicht darin
besteht, daß alle Menschen darin übereinstimmen. Wir sehen klar und
deutlich ein, daß, wenn Gott nicht tatsächlich existierte, das Urteil „Gott
existiert“, falsch wäre unbeschadet der Tatsache, daß alle übereinstimmend
Gottes Existenz behaupten würden.
Ja es wäre sogar die Meinung, Gott existiert, wegen des universalen
Konsenses ein noch schlimmerer Irrtum als der Irrtum eines Einzelnen. Es
wäre ja ein Irrtum, dem alle Menschen erliegen würden.
Dieser Einwand gegen die Konsenstheorie der Wahrheit aus dem evi-
denten Wesen der Wahrheit als Korrespondenz (adaequatio) steckt auch in
Edmund Husserls Widerlegung des Relativismus:
Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine,
ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen.
Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannig-
faltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen
Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt
sind.175

Husserl beginnt seine Kritik des Relativismus mit der Einsicht in das
Wesen der Wahrheit, aus der die Widersinnigkeit der Rede von Wahrheit
für jemanden folgt:
Husserl weist die Absurdität der These nach, ein Wesen einer anderen
Spezies sei an die obersten logischen Grundsätze nicht gebunden.176
„Wahrheit für eine Spezies“ ist prinzipiell ebenso widersinnig wie der
„individuelle Relativismus“, der eine Wahrheit für ein Individuum
derjenigen für ein anderes entgegensetzen will:
Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und, fast möchte ich
sagen, frecher Skeptizismus, daß er, wenn überhaupt je, so gewiß nicht in
neueren Zeiten ernstlich vertreten worden ist....Den Subjektivisten... kann
man nicht überzeugen, wenn ihm ... die Disposition mangelt einzusehen,
daß Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn von Wahrheit
gründen, und daß ihnen gemäß die Rede von einer subjektiven Wahrheit,

175
Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena, Kap. 7, § 36, S. 125, Zeile 9-15.
176
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, § 36, S. 124-125.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 243

die für den einen diese, für den andern die entgegengesetzte sei, eben als
widersinnige gelten müsse.177

Relativismus in jeder Form, auch der „spezifische Relativismus“, der


die Wahrheit auf den Menschen als solchen relativieren möchte, kommt
darauf hinaus, zeigt Husserl, den Sinn des Wortes ‚Wahrheit‘ zu ändern, ja
deren Wesen umzudeuten und dem absoluten Wesen der Wahrheit zu
widersprechen:
Somit kommt der Relativismus darauf hinaus, daß er den Sinn des Wortes
Wahrheit total ändert, aber doch den Anspruch erhebt, von Wahrheit in dem
Sinne zu sprechen, der durch die logischen Grundsätze festgelegt ist, und
den wir alle, wo von Wahrheit die Rede ist, ausschließlich meinen.178

Ganz genau dieselbe Umdeutung des Wesens der Wahrheit finden wir
in der Konsenstheorie der Wahrheit. So leuchtet es im Licht all dieser
Überlegungen zunächst aus dem Wesen der Wahrheit und aus dem Wesen
des Urteils selbst und seines Verhältnisses zum Sachverhalt ein, den das
Urteil behauptet, daß Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem Selbst-
verhalten der Sachen besteht, nicht im Konsens aller Menschen.

3.2. Argument aus der „logischen Zirkularität“ und Sinnlosigkeit der


Bestimmung des Wesens der Wahrheit durch Konsens, weil damit jeglicher
179
Sinn des Wortes ‚Konsens‘ zerstört wird

Zweitens können wir nicht bloß von der inneren Evidenz, daß Wahrheit
nicht in Konsens, sondern in Übereinstimmung liegt, ausgehend argumen-
tieren, sondern zeigen, daß diese Definition „Wahrheit besteht im
Konsens“ logisch widersprüchlich bzw. zirkulär ist, was dann hervortritt,

177
Vgl. Edmund Husserl, ebd., Bd. I, § 35, S. 123, 2-13. Vgl. auch ebd., § 36, S. 124:
„und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den [aus den
vorhergehenden Sätzen geht hervor, daß gemeint ist „für das einzelne Subjekt“]
oder jenen.“
178
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, I, § 36, S. 126. Vgl. ebd., § 36,
S. 125, 9-15. Vgl. dazu auch Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.
179
Vgl. dazu auch Puntel, a.a.O., S. 170 f., sowie D. Mans, Intersubjektivitätstheorien
der Wahrheit, S. 13.

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244 KAPITEL 3

wenn man fragt: „Was heißt denn Konsens?“ In Antwort auf diese Frage
muß man sagen, Konsens heißt, daß man dieselben Urteile fällt oder
dieselben Überzeugungen hat. Dabei stellt sich die weitere Frage: „Diesel-
ben Überzeugungen zu haben, was heißt das?“ In Antwort auf diese Frage
wird man als Konsenstheoretiker der Wahrheit weiter erklären, indem man
sagt, das heiße, daß man überzeugt sei, daß die Urteile, die man gemein-
sam vertritt, wahr sind, daß also mehr als ein Mensch ein bestimmtes Urteil
für wahr hält. Fragt man nun weiter: „Und was heißt denn hier
Wahrheit?“, muß der Konsenstheoretiker sagen: „Das heißt, daß man
gemeinsam vom Urteil überzeugt ist“. “Und was heißt, gemeinsam
überzeugt sein vom Urteil?“ Darauf wird selbst der härteste Verteidiger der
Konsenstheorie als Theorie über das Wesen der Wahrheit gezwungen sein
zu antworten: „Überzeugt sein, daß das Urteil wahr ist“.
Spätestens hier ergibt sich ein völliger Zirkel in der Definition. Ja es
würde überhaupt nicht mehr verständlich werden, was denn Konsens
heißt. Denn um Konsens zu verstehen, um das Wesen von Übereinstim-
mung zu verstehen, muß man verstehen, daß verschiedene Subjekte ein
Urteil gemeinsam für wahr halten. Aber wenn das „für wahr Halten“ nicht
mehr hieße als „übereinstimmen“, dann würden sie nur übereinstimmen,
daß sie übereinstimmen. Das Wesen des Konsenses bricht also zusammen,
wenn man Wahrheit als Konsens definiert. Denn um überhaupt Konsens
als solchen zu verstehen, muß man nicht nur verstehen, daß ein Mensch
mit anderen übereinstimmt, sondern man muß verstehen, daß er mit ihnen
übereinstimmt in der Überzeugung, daß ein bestimmtes Urteil wahr
ist. Und dessen Wahrheit kann der Idee der Wahrheit nach nicht nur in der
Übereinstimmung bestehen, wenn überhaupt der Ausdruck Konsens noch
irgendetwas Sinnvolles bedeuten soll. Man kann sagen: um Konsens haben
zu können, muß Wahrheit etwas anderes bedeuten als Konsens.
Man kann diesen Einwand auch so formulieren: Wahrheit als Überein-
stimmung ist die Bedingung dafür, überhaupt zu verstehen, was Konsens
heißt. Denn Konsens heißt gerade, daß verschiedene Personen davon
überzeugt sind, daß ein gegebenes Urteil wahr ist. Es würde also die Seele
bzw. das Wesen und die Verstehbarkeit von Konsens überhaupt aufheben,
wenn man Wahrheit nur noch als Konsens definieren würde.
Wir finden hier etwas Ähnliches wie in der Kritik der Evidenztheorie
der Wahrheit, wo wir erkannten, daß Evidenz und das Erleben von Evidenz

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 245

schon einen Wahrheitsbegriff voraussetzen, der nicht selbst wiederum nur


Evidenz ist oder durch Bezug auf sie bestimmt werden kann. Und gerade
diese von Evidenz verschiedene Wahrheit wird in der evidenten Erkenntnis
sichtbar. Evidenz als Evidenz ist deshalb gar nicht verstehbar ohne Wahr-
heit als Übereinstimmung oder also nicht bloß als „in Evidenz bestehend“
zu erkennen. Ähnlich und noch schärfer können wir auch gegen die
Konsenstheorie argumentieren.

3.3. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der


Konsenstheorie der Wahrheit als solcher

Der folgende Einwand, daß sich die Konsenstheorie der Wahrheit als
Theorie jederzeit selber aufheben kann, geht schon aus oben gegebener
zweiter Interpretation dieser Theorie hervor, derzufolge auch jede andere
Theorie, die also der Konsenstheorie er Wahrheit widerspricht, wahr sein
könnte, wenn sie Gegenstand des Konsenses wird. Damit hebt sich die
Konsenstheorie der Wahrheit selbst auf, sobald Konsens darüber besteht,
daß sie falsch ist. Der hier liegende Widerspruch ist demjenigen gleich,
den Husserl als logischen Widerspruch jeder Form des individuellen oder
allgemeinen Relativismus eigen ist, wenn er schreibt:
-.. und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den oder
jenen. Widersinnig ist die offengehaltene Möglichkeit, daß derselbe
Urteilsinhalt (wir sagen in gefährlicher Äquivokation: dasselbe Urteil) je
nach dem Urteilenden beides, wahr und falsch, sei.180

Husserl erkennt auf das deutlichste in Logische Untersuchungen, daß


die Wahrheit von Urteilen ihre Quelle unmöglich in der Konstitution der
Spezies Mensch oder irgendeiner anderen Spezies haben kann. Wenn
Wahrheit ihre Wurzel in der Konstitution des Menschen hätte, so bestünde
sie ohne diese Konstitution gar nicht. Diese Behauptung ist widersinnig.
Denn (und hier ist Husserl ganz augustinisch!): der Satz, „Es gibt keine
Wahrheit“ ist gleichwertig mit dem Satz, „Es besteht die Wahrheit, daß

180
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, ebd., § 36, S. 124-125.

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246 KAPITEL 3

keine Wahrheit besteht.“ Die Widersinnigkeit der Thesis verlangt die


Widersinnigkeit der Hypothesis.181
Es könnte sich nach der Konstitution einer Spezies die für sie gültige
Wahrheit ergeben, daß es diese Konstitution gar nicht gibt.182 So ergeben
sich aus dem Relativismus „Widersinnigkeiten über Widersinnigkeiten“.183
Ähnlich wie Husserl in den Logischen Untersuchungen argumentiert,
daß jeder allgemeine Relativismus, nach dem die Wahrheit nur durch eine
Denknotwendigkeit und Konstitution durch das menschliche Subjekt
konstituiert werde, sich logisch selbst aufhebt, weil dann sich dann aus der
Konstitution ergeben könnte, daß dieselbe gar nicht bestehe, können wir
auch gegen die Konsenstheorie des Wesens der Wahrheit argumentieren,
sobald diese alles für wahr hält, was Gegenstand des Konsenses ist, daß es
aus dieser Theorie folge, daß die Konsenstheorie der Wahrheit selber
falsch wird, sobald sie nicht mehr Gegenstand des Konsenses ist, daß sie
sich also folgerichtig selbst aufheben kann, also logisch widersprüchlich
ist, was ihren Charakter einer rationalen Theorie vernichtet.

3.4. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der


Konsenstheorie der Wahrheit durch die widersprüchlichen Inhalte des
Konsenses und aus der empirischen Evidenz, daß Konsens (Für wahr
Halten) nicht gleich Wahrheit ist

Viertens könnte man argumentieren, daß die Konsenstheorie deshalb


nicht als Wesenstheorie der Wahrheit in Frage kommt, weil ja in vielen
Fällen Konsens besteht oder bestanden hat, in denen offensichtlich der
Gegenstand dieses Konsenses später widerlegt, wieder umgestoßen und
durch einen Konsens gegenteiligen Inhalts abgelöst wurde.
So wurde der Konsens aller Menschen, daß sich die Sonne um die Erde
dreht, erschüttert und hat dem gegenteiligen Konsens Platz gemacht. Wenn
deshalb der Konsens als solcher die Wahrheit wäre, dann würden sich
daraus die Widersprüche ergeben, daß wenn einmal der Konsens aller
Menschen über einen Gegenstand bestanden hat, dann wieder der gegentei-

181
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap. 7, § 36, S. 127.
182
Ebd., S. 127.
183
Ebd., S. 127-128.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 247

lige Konsens aller Menschen besteht, alle Inhalte gemäß der Konsens-
theorie sowohl wahr als auch falsch sein können bzw. daß zu jedem
wahren Urteil zugleich der kontradiktorische Gegensatz wahr sein kann,
was logisch absurd ist. Auf diese Weise können wir einsehen, daß offen-
sichtlich der Konsens als solcher nicht identisch sein kann mit der Wahr-
heit, es sei denn man behaupte, die Wahrheit selbst wäre widersprüchlich,
womit man jedoch die Fundamente jeglicher Erkenntnis und jeden
sinnvollen Diskurses vernichten würde.
Auch die Tatsache, daß oft Gegenstände eines Konsenses durch
empirische Beobachtungen widerlegt wurden, z.B. die Idee, daß Mond
oder Planeten aus einer himmlischen Materie bestehen, wie Aristoteles
gemeint hat, bestätigt diese Kritik. Denn hier wurde der Gegenstand des
Konsenses durch Experimente, Beobachtungen nach dem ersten Mondflug
usw. widerlegt. Dasselbe gilt für offensichtlich falsche Ideen über den
Blutkreislauf, etc. obwohl darüber durch das ganze Mittelalter und die
Antike hindurch weitgehender oder vollständiger Konsens bestanden hatte.
Konsens erstreckt sich also, wie wir diesen Einwand zusammenfassen,
auf viele Urteile, die später empirisch widerlegt werden. Auch darin zeigt
sich deutlich, daß Konsens über falsche Urteile bestehen und daher mit
Wahrheit nicht einfach identisch sein kann.
So können wir die ersten fünf Argumente, aus denen wir die Theorie,
daß die Wahrheit im Konsens besteht, ablehnen, zusammenfassen: Erstens
aus dem Grund der inneren Einsichtigkeit des Wesens von Wahrheit eines
Urteils und der Verschiedenheit derselben vom Konsens; zweitens aus dem
Hinweis darauf, daß, um überhaupt zu verstehen, was Konsens ist, man die
Verschiedenheit der Wahrheit des Urteils vom Konsens verstehen muß, da
man sich sonst im Kreis dreht und überhaupt nicht erklären kann, was
Konsens heißt; drittens ergibt sich aus der Behauptung, daß das Wesen der
Wahrheit in Konsens bestehe, die Ungereimtheit, daß die Konsenstheorie
der Wahrheit selber durch ihre Anwendung auf sich selber falsch werden
kann, wenn diese ihre Falschheit Gegenstand eines Konsenses wird;
viertens können nach der Konsenstheorie Widersprüche in der Wahrheit
auftreten, indem alle Menschen zu einer Zeit von einer Sache überzeugt,
und später vom Gegenteil überzeugt sein können, sodaß von jedem Inhalt
überhaupt zugleich sein Gegenteil wahr sein könnte; es ergibt sich fünftens
die offensichtliche Unrichtigkeit dieser These daraus, daß viele Urteile,

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248 KAPITEL 3

über die ein breiter oder sogar universaler Konsens geherrscht hatte, später
empirisch oder mit apriorischen Methoden widerlegt wurden. Daraus
schon zeigt sich, daß Konsens als solcher nicht Wahrheit ist, ja daß, wie
wir später sehen werden, Konsens als solcher Wahrheit nicht verbürgt.

3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile aus Konsens
ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des Konsenses im Verhältnis zur
Totalität aller wahren Urteile

Ein sechstes Argument ist noch schlichter: Wenn überhaupt Konsens-


theorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der Wahrheit verstanden
wird, könnte sie höchstens über allgemeine oder sinnlich verifizierbare
Wahrheiten, die jedermann zugänglich sind, als adäquate Theorie aufgefaßt
werden. Sobald es sich hingegen um wahre Urteile handelt, die sich auf
individuelle und persönliche Gegenstände beziehen, die völlig privater
Natur sind in dem Sinne, daß sie nur mir bekannt sind, wie das Urteil, daß
ich leichtes und von niemandem bemerktes Kopfweh oder daß ich einen
Wunsch habe, jemand anderen zu töten, kann die Wahrheit dieser Urteile
sicher nicht in einem Konsens bestehen. Denn niemand anderer weiß von
den betreffenden Sachverhalten, und doch sind die sie behauptenden
Urteile wahr. Dasselbe gilt auch von der Unendlichkeit wahrer Urteile in
der Mathematik, Schachtheorie, jeglicher Form unendlicher Reihen, die
kein menschlicher Geist je in ihrer ganzen Ausdehnung zu denken vermag
und deren Wahrheit daher unmöglich darin bestehen kann, Gegenstand
eines Konsenses zu sein, der sich nur auf eine relativ eng begrenzte Sphäre
im Gesamtreich von Urteilen beziehen kann. Der Konsenstheoretiker muß
also entweder seine Wahrheitstheorie aufgeben oder behaupten, eine
Mehrheit aller Urteile könnten deshalb, weil sie weder Gegentand des
Konsenses noch des Dissenses seien, weder wahr noch falsch sein, was
absurd ist.
Dieser Punkt ist nicht nur eine Erläuterung dessen, was die Konsens-
theorie eigentlich betrifft, nämlich nur allgemein zugängliche Urteile,
sondern ist auch die Grundlage eines weiteren Argumentes gegen die
Identifizierung von Konsens und Wahrheit.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 249

Wenn man Konsens nämlich weiter hinsichtlich der Zahl derer, die
miteinander übereinstimmen, bestimmt, könnte man sagen: Nicht nur der
Konsens aller, der Konsens vieler, oder sogar der Konsens weniger oder
zweier sei Konsens. Dieser wäre vielmehr mit sich selber allein
möglich. In dieser Wendung der Theorie würde natürlich Konsens nicht
mehr im selben Sinn verstanden werden, weil im Begriff des Konsenses
der Gedanke an verschiedene Personen, die über dasselbe Urteil überein-
stimmen, unvermeidlich gedacht ist.
Aber lassen wir es zu und sagen immerhin: „Ich stimme mit mir selbst
überein“. Sokrates spricht sogar in durchaus berechtigtem Sinn von diesem
Konsens mit sich selber, wenn er sagt, daß die Partner seiner Dialoge und
auch das Volk der Athener häufig miteinander und mit sich selbst in
Widerspruch stünden, daß hingegen nur die (wahre) Philosophie selbst
immer dasselbe sage und immer mit sich selbst in Einklang stehe.
Konsens in diesem Sinne ist aber ähnlich mit Kohärenz und ihre Gleichset-
zung mit Wahrheit kann mit denselben Argumenten widerlegt werden wie
diese.

3.6. Darlegung und Kritik der Habermas’schen Version der Konsens-Theorie


der Wahrheit – Ist Wahrheit durch rationalen Diskurs erreichter Konsens?

Wenden wir uns nun der weiteren Darstellung und vor allem Kritik der
intelligentesten Form der Konsenstheorie der Wahrheit zu, die wir bereits
in allgemeinen Zügen dargestellt haben. Habermas versucht, seinen
„Diskursbegriff der Wahrheit“ als „Konsensfähigkeit“ und als dadurch
„gerechtfertigte Behauptbarkeit“ von einem gewöhnlichen Konsensbegriff
der Wahrheit zu unterscheiden. Habermas vertritt keine absolut geschlosse-
ne oder reine Konsenstheorie der Wahrheit, indem er von einem „über alle
verfügbaren Evidenzen hinausweisenden Anspruch“ und einem „realis-
tischen Stachel“ spricht, der uns verbiete, Wahrheit auf „gerechtfertigte
Behauptbarkeit“ zu reduzieren,184 aber verfällt knapp nach der Formulie-
rung dieser Erkenntnis in die dem Deutschen Idealismus nahestehende

184
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288; 292-293.

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250 KAPITEL 3

These, daß eine „wahre Aussage“ nicht nur eine „im jeweiligen Kontext“,
sondern eine „in allen möglichen Kontexten gerechtfertigte“ Aussage
bedeute,185 wobei aber diese „Rechtfertigung“ keinen Rekurs auf objektive
Evidenz der Sachen selbst bedeutet, sondern nur einen rein intersubjekti-
ven Verständigungshorizont, eine Welt reiner doxa, voraussetze.
Habermas’ „Diskursrationalität“ und damit „Konsensrationalität“ ist un-
trennbar nicht nur von dem schon im Deutschen Idealismus und Kant
steckenden Subjektivismus, sondern auch von dem, was er in seiner
Diskussion Heideggers als „Detranszendentalisierung der welterzeugenden
Spontaneität“ und damit als Verschiebung von einem transzendentalen auf
ein historisch-kulturelles Ich und historische Gemeinschaften, bezeich-
net.186
„Dieser [„der begründete Konsens“] gilt als Wahrheitskriterium, aber der
Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, daß überhaupt ein Konsens
erreicht wird, sondern: daß jederzeit und überall, wenn wir nur in einen
Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die
diesen als begründeten Konsens ausweisen. Wahrheit bedeutet ‘warranted
assertibility’.“187

185
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288-289.
186
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
35:
Mit diesem Konzept wird Heidegger der Detranszendentalisierung der welterzeu-
genden Spontaneität in der Form einer Historisierung des Sinnaprioris gerecht, ...
Vgl. auch Jürgen Habermas, ebd., S. 57 ff.; 63-64.
187
Habermas, ebd., S. 239 f. Vgl. den Vergleich zwischen Husserl und Habermas und
die Kritik an Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit von David Detmer,
“Habermas and Husserl on Positivism and the Philosophy of Science” in: Lewis E.
Hahn (Ed.), Perspectives on Habermas (Chicago: Open Court, 2000). Vgl. auch
Darrel Moellendorf, “Consensus and Cognitivism in Habermas’s Discourse
Ethics”, South African Journal of Philosophy (2000) June; 19(2): 65-74. Zur
Kritik der rechtlichen Anwendung der Habermas’schen Konsenstheorie der
Wahrheit vgl. Ota Weinberger, “Legal Validity, Acceptance of Law, Legitimacy:
Some Critical Comments and Constructive Proposals”, Ratio Juris (1999)
December; 12 (4): 336-353; ders., „Argumentation in Law and Politics“,
Communication and Cognition (1995); 28 (1): 37-54. Weinberger entwickelt dort
eine Kritik an der Diskursphilosophie von Habermas, Apel und Alexy. Vgl. auch

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 251

„Warranted assertability“ kann man hier als begründete oder nachprüf-


bare Behauptbarkeit deuten. Auch Nachprüfbarkeit, ein bei Habermas
wichtiger Begriff, bedeutet jedoch keine echte kognitive Nachprüfung
(Evidenz oder empirische Verifikation) von Wahrheitsansprüchen, sondern
nur noch praktische oder experimentelle ‚subjektive Überprüfung‘, also
eine Art sozialer und konsensorientierter ‚Nachprüfung‘ oder eines
psychologischen Nachfühlenkönnens anstatt objektiv fundierter Kognitio-
nen:
...; die Wahrheit einer in Diskursen behaupteten Proposition bedeutet, daß
jedermann mit Gründen veranlaßt werden kann, den Geltungsanspruch der
Behauptung als berechtigt anzuerkennen.188

Die subjektive Wende im Begriff der Nachprüfbarkeit macht sich bei


Habermas auch dort geltend, wo er den Geltungsanspruch, auf den er
Wahrheit reduziert, für ein bloßes Aufrechterhaltenkönnen (vor Gericht,
diskursiv) von Rechtsansprüchen erklärt oder – im Unterschied zum
kontrollierbaren Handlungserfolg einer Theorie, der für die Objektivität
der Erfahrung Kriterium sei – für die Einlösung eines Geltungsanspruchs
in „erfolgreicher Argumentation“.189 Hier betrachten wir diese erkenntnis-
theoretisch ganz verschiedenen Positionen jedoch unter einer einheitlichen
Kategorie, weil sie alle unter Konsens eine verifizierbare bzw. „begründe-
te“ Übereinstimmung verstehen. Je nachdem welche Evidenzen oder
Erfahrungen sie als Fundament einer „Verifikation“ oder „Begründung“
zulassen und welchen Erkenntnis-bzw. Wahrheitswert sie jenen „Kennt-

die Kritik an Apels Konsenstheorie der Wahrheit und deren Verleich mit der
Wahrheitstheorie des jungen Fichte: Vittorio Hösle, „Die Transzendentalprag-
matik als Fichteanismus der Intersubjektivität“, Zeitschrift für philosophische
Forschung, (1986); 40: 235-252. Vgl. ferner Alessandro Ferrara, “A Critique of
Habermas’s Consensus Theory of Truth”, Philosophy and Social Criticism (1987);
13: 39-67, sowie Paul Healy, “Is Habermas’s Consensus Theory a Theory Of
Truth?”, Irish Philosophical Journal (1987); 4: 145-152.
188
J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 389.
189
Habermas, ebd., Nachwort. Zur Kritik der Konsenstheorie als kriteriologische
Wahrheitstheorie vgl. auch Friedrich Kambartel, „Wahrheit und Begründung“,
Dialektik (1999); 1: 37-52.

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252 KAPITEL 3

nissen“, die „verifizierbar“ sind, zuweisen, unterscheiden sich die


einzelnen Positionen radikal von einander.
Auch Kamlah und Lorenzen vertreten eine derartige Theorie:
Wir stellen auf diesem Wege [durch interpersonale Verifizierung], durch
diese ‚Methode‘, Übereinstimmung zwischen dem Sprecher und seinen
Gesprächspartnern her, eine Übereinstimmung, die in der sokratischen
Dialogik ‚Homologie‘ genannt wurde.190

‚Wahr‘ und ‚falsch‘ werden in dieser Theorie zu Beurteilungsprädikatoren,


die durch ausdrückliche Vereinbarung (Homologie und Konsens) festgelegt
werden.191

Diese auch als ‚dialogische Theorie der Wahrheit‘ bezeichnete Theorie


ist also eine konstruktivistische und relativistische Theorie, die letzten
Endes die ‚intersubjektive Verifikation‘ selbst auf faktischen oder diskur-
siv erreichten Konsens reduziert, der durch Vereinbarung festgelegt wird.
Im Grunde finden wir hier in modernem Gewand die reinste Sophistik der
Wahrheitstheorie, die an die Stelle der aletheia (des Wahrseins) eine reine
doxa (ein Wahrscheinen) setzt. So bestehen Brücken zwischen Konsens-
theorie der Wahrheit, konstruktivistischen Wahrheitstheorien und Empiris-
mus.192
Habermas’ „warranted assertability“ (begründete oder nachprüfbare
Behauptbarkeit) wird also wieder durch Erfolg und letzten Endes, wie
Puntel bemerkt,193 durch Konsens bestimmt, der allein darüber entscheidet,
welche Argumentation erfolgreich, triftig und begründet oder deren

190
„Homologie“ bedeutet wörtlich „Gleiche Rede“. Vgl. W. Kamlah und P. Lorenzen,
Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, S. 120.
191
Vgl. zur Kritik der Wahrheits- und wertbezogenen Konsenstheorien der Wahrheit
von Jürgen Habermas Herbert Keuth, „Erkenntnis oder Entscheidung: Die Kon-
senstheorien der Wahrheit und der Richtigkeit von Jürgen Habermas“, Zeitschrift
für Allgemeine Wissenschaftstheorie (1979), 10, 375-393. Zur Kritik dieser stark
vom Positivismus geprägten Habermas-Kritik vgl. Hans Albert, „Realität und
Wahrheit: zu Herbert Keuths Kritik am kritischen Rationalismus“, Zeitschrift für
philosophische Forschung (Oktober-Dezember 1979), 33, 567-587.
192
Vgl. etwa Victor Kraft, „Konstruktiver Empirismus“, Zeitschrift für Allgemeine
Wissenschaftstheorie (1973), 4, 313-322.
193
Puntel, ebd., S. 153 ff.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 253

Gegenteil ist. Habermas formuliert an anderer Stelle, an der er seine in


diesem Zitat auch an Sir Karl Popper gemahnende Theorie mit dem Begriff
der „superassertability“ von Crispin Wright194 identifiziert, folgenderma-
ßen:
Demzufolge ist eine Aussage wahr genau dann, wenn sie unter den
anspruchsvollen Kommunikationsbedingungen rationaler Diskurse allen
Entkräftigungsversuchen standhält.195

Doch widersteht Habermas einer einfachen Zustimmung zu dieser


Bestimmung der Wahrheit mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit
zwischen Wahrheit und „diskursiver Überlebensfähigkeit“196 und scheint
die letztere nur noch als „Beleg der Wahrheit“, also als Wahrheitskriterium
anzusehen, mit dem wir uns zufriedengeben müßten.197
Wäre Konsensfähigkeit durch den Erfolg des Diskurses und seine
tatsächliche Erzielbarkeit definiert, würde man zwar die Konsensfähigkeit
erst am Ende eines Gesprächs feststellen können, und erst dann, wenn der
Konsens tatsächlich erreicht ist, aber man würde dennoch mit der
Konsensfähigkeit noch nicht die Tatsächlichkeit des Konsenses meinen,
sondern futurologistisch nur die empirische Konsensfähigkeit, die tatsäch-
liche Erreichbarkeit von Übereinstimmung, als Konsensfähigkeit bezeich-
nen. Übrigens ist auch eine solche empirische Konsensfähigkeit, die
Habermas innerhalb der idealen Gesprächssituation durch vier Chancen-
gleichheiten aller Diskursteilnehmer, also demokratisch, bestimmt,198

194
Vgl. Crispin Wright, Truth and Objectivity (Cambridge, Mass.: Harvard University
Press, 1992).
195
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze „Richtig-
keit versus Wahrheit“, S. 289.
196
A,a,O., S. 289.
197
Ebd., S. 290.
Habermas weist in diesem Zusammenhang auf seine Übereinstimmung mit
Durkheim und Piaget hinsichtlich einer „sozialen Konzeption der Wahrheit“ hin,
die nach Piaget notwendig daraus resultiere, daß man „jedes äußere oder innere
Absolute“ ablehne (ebd., S. 290, Anm. 29).
198
Puntel, ebd., S. 156 f. Vgl. die Kritik an Habermas von Sergio Belardinelli, “La
teoria consensual de la verdad de Jürgen Habermas”, Anuario Filosofico (1991);
115-123.

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254 KAPITEL 3

selbst nach Erreichen des tatsächlichen Konsenses, nicht leicht festzustel-


len.
Den erörterten Behauptungen entspricht auch Habermas’ Auffassung
der Geltung moralischer Urteile, die „sich an der inklusiven Natur eines
zwischen Konfliktparteien erzielten normativen Konsenses bemißt“.199 All
dies steht unter dem von Habermas wiederholt angesprochenen „nachmeta-
physischen Rechtfertigungsbedarfs“ im Rahmen einer idealistisch-
kantischen oder analytisch-empiristischen Philosophie, welche echte
Evidenz und Erkenntnis einer absoluten Wahrheit ausschließt, wobei
Habermas sich kritisch mit C. Lafonts Deutung der Diskurstheorie der
Wahrheit auseinandersetzt, die den klassischen Adäquationsbegriff der
Wahrheit voraussetzt und die Diskursethik nur im Sinne einer Unterstel-
lung deutet, der Gegenstand dieses diskursiv vermittelten und intersubjek-
tiv geteilten Wahrheitsanspruches entspräche den wirklichen Sachverhal-
ten.200
Jürgen Habermas stellt diese „Ontologisierung von verallgemeinerungs-
würdigen Interessen“ seiner These einer „Erzeugung einer Welt von
Normen“ durch soziale und intersubjektive Diskursmomente gegenüber
und nimmt den aus jeder Konsenstheorie der Wahrheit folgenden Relati-
vismus voll an.201 Dies geht auch aus den letzten Sätzen seiner gesammel-

199
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 300.
200
Jürgen Habermas, ebd., S. 307 ff. Vgl. auch C. Lafont, “Pluralism and Universa-
lism in Discourse Ethics”, in: A. Nascimento (Hrsg.), A Matter of Discourse.
Community and Communication (Hampshire: Averbury, 1997).
201
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
309. Vgl. auch ebd., S. 70, wo im Zusammenhang einer Diskussion der „diskursi-
ven Rationalität“ davon die Rede ist, daß a priori notwendige Geltung nur „für die
jeweilige Sprachgemeinschaften“ bestehe. Unter dieser Voraussetzung muß, wie
Habermas sagt, das Sinnapriori der „sprachlichen Weltbilder im Plural auftreten
und die allgemeine Geltung eines transzendentalen Apriori verlieren“ (ebd., S.
70). Habermas gibt wohl den folgenden von ihm bei Humboldt gefundenen und
schönen Gedanken auf: „Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit als ein
zwischen den ‚Weltansichten‘ verschiedener Sprachen ‚in der Mitte liegendes
Gebiet‘ ist eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche überhaupt.“
(Habermas, a.a.O., S. 73). Vgl. auch Habermas, ebd., S. 75-86. Vgl. auch Josef
Seifert, “Texts and Things”, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII,
41-68.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 255

ten Aufsätze zum Wahrheitsproblem hervor, in denen er ausdrücklich


betont, daß nach seiner Theorie die Menschenwürde und die in ihr
gründenden Menschenrechte „sich nur im Kontext einer auf gegenseitiger
Anerkennung beruhenden Gemeinschaft konstituieren“ und daß es keine
„angeborenen Rechte“ einer Person vor der Vergemeinschaftung gebe
(dies nennt er eine „falsche These“). Dabei geht aus dem Zusammenhang
hervor, daß er dabei nicht nur meint, daß die Person wesenhaft Glied einer
Gemeinschaft und auf diese von Natur aus zugeordnet ist, sondern daß erst
durch deren gegenseitige Anerkennung und Konsens diese Würde und
Menschenrechte sich konstituieren, daß sie also keine ontologische Grund-
lage haben. Damit ist es auch nicht objektiv wahr, daß der Sachverhalt
besteht, daß jede Person diese Würde und Menschenrechte besitzt, sondern
dies ist in dem „postmetaphysischen Begründungszusammenhang“ von
Habermas nur Gegenstand einer auf einem diskursiv vermittelten Konsens
beruhenden Anerkennung. So schließt er sein Werk (gesammelter
Aufsätze) über Wahrheit mit den Worten:
Um so mehr hilft die Einsicht, daß eine Einigung auf verpflichtende
Normen (für gegenseitige Rechte und Pflichten) nicht abhängt von der
wechselseitigen Wertschätzung kultureller Leistungen und Lebensstile,
sondern von der Unterstellung, daß jede Person als Person den gleichen
Wert hat.202

Indem er in diesem an sich schönen Text diese Grundlage der


Menschenwürde und Menschenrechte eine Unterstellung nennt, wird
deutlich, daß er beide nur im Sinne eines Gegenstandes eines sozialen und
interkulturellen Verständigungs- und Einigungsprozesses begreift. Damit
aber ist es nicht im Sinne der Adäquationstheorie der Wahrheit wahr, daß
jeder Mensch dieselbe ontologische Würde als Person besitzt, weil der
Sachverhalt besteht, daß es tatsächlich so ist, daß es auch nicht einmal im
Sinne einer Hypothese für objektiv wahr gehalten wird, sondern daß die
Wahrheit der Menschenwürde und Menschenrechte nur auf einem sozialen
und historischen Konsens, auf einer Einigung im Sinne einer Unterstellung
beruht.

202
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 333.

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256 KAPITEL 3

Dies erinnert stark an Kants Postulatsgedanken, bei dem man ebenfalls


Sätze als wahr annimmt (postuliert), die man als Ergebnis der theore-
tischen Philosophie für objektiv unbegründet und sogar falsch halten muß.
In ähnlicher Weise verschiebt sich über den Gedanken der Unterstellung
der Wahrheitsgehalt einer Aussage, der ihr nur zukommen kann, weil sie
dem gemeinten Sachverhalt entspricht, auf ein „Gegenstand eines
Konsenses Sein“.
Sosehr Habermas eine neue Form der Konsenstheorie entwickelt, so
wenig kann er die Irrtümer und Widersprüche jeder Konsenstheorie der
Wahrheit verändern oder diese grundsätzlich falsche Theorie durch seine
Sondervariante derselben wahr machen; alle gegen die allgemeinen Fehler
jeglicher Konsenstheorie als Wesenstheorie der Wahrheit bereits vorge-
brachten Einwände treffen auch auf die Habermas’sche Variante derselben
zu.
Dazu kommen weitere Widersprüche der Theorie, die sich aus den
Ideen eines begründeten Konsenses (warranted assertibility) oder eines
kritischen Konsenses und aus allen von ihm genannten Qualifizierungen
des Konsenses ergeben. Denn all diese Qualifizierungen setzen nicht nur
Wahrheit als Übereinstimmung mit den bestehenden Sachverhalten voraus,
wenn sie behaupten, der Konsens sei Wahrheit, sondern auch wenn sie
Unterschiede zwischen unbegründetem und begründetem Konsens oder
das Vorliegen der Begründetheit eines bestimmten Konsenses behaupten.
Dazu kommt, daß letzten Endes auch von einem angemessen begründeten
Konsens nur dort die Rede sein kann, wo wir Wahrheit im Sinne der
Übereinstimmung unserer Urteile mit bestimmten Sachverhalten und ihrer
begründenden Rolle oder wenn wir zumindest die Glaubwürdigkeit oder
Plausibilität gewisser Meinungen behaupten, welche den Konsens
begründen und ihrerseits ein Fundament in wirklich bestehenden Sachver-
halten und damit in Wahrheit im Sinne der Adaequatio voraussetzen.

4. Konsens als Wahrheitskriterium – Argumente und Einwände

Damit kommen wir zur Konsenstheorie in einem ganz anderen Sinne:


Übereinstimmung nicht als Wesen, sondern als Kriterium für Wahrheit
verstanden. Dabei unterscheiden wir positive von negativen Wahrheitskri-

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 257

terien, bzw. Kriterien der Wahrheit von solchen der Falschheit. Behalten
wir also die vorher unterschiedenen Bedeutungen von Konsens im Auge
und wenden sie nun auf die Frage des Konsenses als Wahrheitskriterium
an:
Wenn wir Konsens zurecht als Kriterium für Wahrheit bezeichnen, so
kann damit sicher nicht bloß ein rein negatives Wegfallen von Wider-
sprüchen mit der Meinung anderer gemeint sein; denn dieses kann
unmöglich als ein positives Kriterium für Wahrheit gelten. Wenn jemand
sagt: „Eben sehe ich, daß ein Mann im Nachbarhaus, das Ihr nicht sehen
könnt, einbricht“, so ist die Tatsache, daß dieses Urteil nicht im
Widerspruch mit irgendeiner anderen mir bekannten Meinung steht, weder
unbedingt ein Grund für meine Zustimmung (denn ich könnte den anderen
Menschen ja als Gewohnheitslügner oder als Spaßvogel kennen) noch gar
ein Beweis für seine Wahrheit. Die Person, die mir dies erzählt hat, könnte
z.B. einen Aprilscherz machen und aus diesem Grunde sagen, daß beim
Nachbarn jemand einbricht oder etwas anderes Aufregendes erzählen, von
dem sie weiß, daß es keinen mir bekannten Tatsachen widerspricht. Das im
Aprilscherz enthaltene Urteil über den sich eben ereignenden Einbruch
steht vielleicht auch nicht im Widerspruch mit der Meinung von irgend
jemand anderem, weil gerade niemand auf das Haus hinblickt oder in ihm
weilt, doch ist es offenbar falsch. Eine derartige Nichtwidersprüchlichkeit
meines Urteils mit anderen ist also gewiß weder ein Grund, das Vorliegen
eines Konsenses zu behaupten, noch ein Kriterium für Wahrheit.
Umgekehrt wäre es selbstverständlich ein gültiges Kriterium für die
Falschheit mindestens eines von verschiedenen Personen gefällten Urteils,
wenn zwischen ihnen keine Übereinstimmung bestünde. Wo zwischen
verschiedenen widersprüchlichen Meinungen kein Konsens besteht, ist dies
ein sicheres Indiz für die Falschheit zumindest einer von ihnen.
Konsens im Sinne ausdrücklicher oder auch impliziter Übereinstim-
mung kann mit dem Gesichtspunkt der „Quantität“ und der „Qualität“ der
Subjekte des Konsenses verbunden werden, sodaß jemand sagen möchte:
„Wenn alle Menschen oder wenigstens alle Sachkundigen oder Weisen
über etwas übereinstimmen, so liegt darin zwar kein sicheres Kriterium für
Wahrheit; denn es könnte sein, daß alle Weisen und alle Menschen
gemeinsam demselben Irrtum erliegen. Aber immerhin liegt darin doch ein
gewisser Hinweis auf Wahrheit, da es unwahrscheinlich ist, daß sich alle

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258 KAPITEL 3

Menschen oder all jene, die sich auf einem bestimmten Gegenstandsgebiet
sehr gut auskennen, irren.“ Freilich setzt dieses Kriterium bestimmte
unbezweifelbare Evidenzen über das Wesen der Erkenntnis überhaupt,
aber auch empirischere Erkenntnisse über die Erkenntnisfähigkeit des
Menschen und ihre Reichweite, über eine wenigstens unter manchen
Menschen verbreitete Wahrheitsliebe etc. voraus.
Auf diesem Hintergrund nur ist die Annahme, daß Konsens unter
Sachkundigen nur dadurch erklärbar sei, daß ihm Wahrheit zugrunde liegt,
berechtigt und deshalb das Vorliegen der genannten Formen des
Konsenses ein Wahrheitshinweis, bzw. ein gewisses Kriterium oder besser
gesagt ein Anzeichen für die wahrscheinlich bestehende Wahrheit,
allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Denn auch in der
Naturwissenschaft, in der viele Arten von Hypothesen, Annahmen und
theoretische Interpretationen vorliegen, die keineswegs klar gegeben sind,
ist Konsens keineswegs ein Gewißheit begründendes Wahrheitskriterium.203
Dieses Kriterium besitzt jedoch einen gewissen Wert und kann unter
bestimmten Umständen sogar zu einer theoretisch nahezu und moralisch
schlechthin gewissen und begründeten Überzeugung führen, nämlich dann,
wenn man guten Grund hat anzunehmen, daß der Konsens ausschließlich
aus der Wahrheit stammen kann. Das ist in besonderen Fällen anzuneh-
men. Denken wir an den Fall, in dem ein Richter vor Gericht fünf Zeugen
separat verhört und diese Zeugen zu verschiedenen Zeiten dasselbe
Ereignis gesehen haben. Der Richter weiß, daß keiner dieser Zeugen hat
miteinander konferiert hat. In einem solchen Fall kann ich sagen: „Wenn
sich aus diesen fünf Zeugenberichten ein vollständig kohärentes Bild ergibt
und zwischen den Aussagen dieser fünf Zeugen keinerlei Widerspruch,
sondern perfekter objektiver Konsens besteht, kann auch ein gewissenhaf-
ter Richter diese Übereinstimmung der Zeugen als hinreichende Evidenz
für Wahrheit annehmen.“
In ähnlicher Weise darf dort die Nichtübereinstimmung im Urteil als
Evidenz der Falschheit genommen werden, wo wie bei Daniels Richt-

203
Vgl. die auf Mill aufbauende Kritik am Konsens als Wahrheitskriterium in der
Wissenschaft bei Miriam Solomon, “Consensus in Science” in Tian Yu Cao,
(Ed.), The Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, Volume
10: Philosophy of Science.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 259

spruch gegen die Ankläger der Susanna deren Nichtübereinstimmung über


Fakten, hinsichtlich derer im Fall der Realitätswahrnehmung Übereinstim-
mung herrschen müßte, eindeutiges Kriterium der Falschheit ist. Wo die
Tatsachen leicht erkennbar sind und nicht zu übersehen sind, folgt mit
größerer oder geringerer Gewißheit daraus, daß verschiedene Zeugen
hinsichtlich solcher Fakten nicht miteinander übereinstimmen, daß das,
was sie sagen, falsch sein muß.
Umgekehrt, wenn Zeugen miteinander nicht über ganz simple, sondern
über äußerst komplexe Begebenheiten oder Situationen übereinstimmen,
wo nur Realitätswahrnehmung diese Übereinstimmung erklären kann, darf
ich schließen, daß das, was sie sagen, wahr ist.
Dabei ist es nicht einfach die Tatsache, daß sie übereinstimmen oder
nicht übereinstimmen, die das Kriterium für Wahrheit ist, sondern
vielmehr die besondere Natur der Erkenntnisart und des Gegenstandes, um
den es sich handelt. Diese sind solcherart, daß anders als durch Wahrheit
oder durch wirklichkeitsgemäße Erkenntnis ein solcher Konsens gar nicht
erklärbar wäre.
Diese Form des Konsenses als Kriterium für Wahrheit und des
Dissenses als Kriterium für Falschheit wird man in der Kriminologie, im
Bereich der Rechtssprechung oder vielleicht auch im Bereich historischer
Quellenanalyse und anderer Wissenschaften anwenden wie in der Geogra-
phie. Wenn wir etwa ein Land nicht kennen, aber fünf verschiedene
Personen, die zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander einen
Plan oder eine Landkarte dieses Landes hergestellt haben, über jedes Detail
übereinstimmen, werden wir darin ein Kriterium für Wahrheit erbli-
cken. Oder wenn historische Quellen alle übereinstimmend dasselbe sagen
und dabei unabhängig voneinander sind, dann werden sie vom Historiker,
der mehr als ein Lebensalter zurückliegende Ereignisse erforscht, es sei
denn bei der Vermutung abgekarteter Geschichtsfälschungen, als Wahr-
heitskriterium anerkannt werden, insbesondere da die Geschichtswissen-
schaft hauptsächlich nur Konsens und Konkordanz der Quellen als Wahr-
heitskriterium besitzt. Denn der Historiker selbst kennt ja niemanden, der
diese historischen Ereignisse erlebt hat, und kann die betreffenden
Tatsachen nicht selber prüfen wie der Chemiker oder Physiker. Also ist
Konsens für ihn durchaus ein wichtiges Kriterium, allerdings nicht einfach
wegen des Konsenses als solchem, sondern vielmehr weil historische

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260 KAPITEL 3

Sachverhalte oder Verbrechen so viele Details einschließen, die beobachtet


werden müssen, daß man – wenn eine falsche Zeugenaussage oder eine
falsche historische Quelle vorliegt –, annehmen muß, daß die verschiede-
nen falschen Berichte einander auch widersprechen würden, daß hier keine
Übereinstimmung möglich wäre. So ist in solchen Fällen aufgrund der
besonderen Gegenstands- und Erkenntnisart aus dem Konsens vieler ein
Kriterium für Wahrheit zu gewinnen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß dieses Kriterium absolut unfehlbar
ist. Denn es könnte z.B. im Prinzip der Fall sein, daß viele verschiedene
historische Quellen – vielleicht aufgrund derselben lügenhaften mündli-
chen Äußerungen eines Menschen, die verloren wurden – Konsens aufwei-
sen. Deshalb muß der Historiker nicht nur den Konsens der Quellen,
sondern auch die Verläßlichkeit der Zeugen, die Frage, ob einem Konsens
Fälschungen zugrundeliegen können, usf. prüfen. Man kann also auf
keinen Fall einfachhin den Konsens als Kriterium der Wahrheit
nehmen. Immerhin ist er ein entscheidendes Kriterium innerhalb anderer
Überlegungen und Wahrheitskriterien.
Wenn man Konsens hingegen im Sinne einer ausdrücklichen Über-
einstimmung mit Autoritäten versteht, von denen man überzeugt ist, daß
sie im sicheren Besitz der Erkenntnis oder der Wahrheit sind, dann ist der
Konsens mit diesen Autoritäten, die Wahrheit verbürgen, ein schlechthin
sicheres Wahrheitskriterium – allerdings nur unter der Voraussetzung, daß
die Bedingung, unter der Konsens hier Kriterium ist, auch erfüllt ist, daß es
sich also um schlechthin zuverlässige Wahrheitszeugen handelt.
Wenn z.B. die heilige Schrift unfehlbar wahr ist, und wenn es ferner
feststeht, daß die Interpretation dieser Schrift durch einen Menschen richtig
ist, dann ist damit notwendig gegeben, daß der ausdrückliche und erwiese-
ne Konsens mit dieser Schrift Wahrheit verbürgt. Oder wenn wirklich, wie
ein Katholik glaubt, als Dogmen verkündete Lehren unfehlbar wahr sind,
wenn man also glaubt, daß durch Gott selbst oder den Heiligen Geist die
Schrift sowohl als auch die dogmatischen Lehren der Kirche auf unfehlba-
rer Offenbarung beruhen und ihre Wahrheit durch ein besonderes
Geschenk des Heiligen Geistes gesichert ist, dann ist die Übereinstimmung
mit diesen Lehren ein zwingendes Kriterium für Wahrheit. Deshalb wird
z.B. in der Theologie die Übereinstimmung mit einem Text, der als
unfehlbar anerkannt wird, etwa in der evangelischen und der katholischen

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 261

Theologie mit der Bibel, in der katholischen Kirche außerdem mit jenen
Lehren der Kirche, die dogmatisch als Glaubensinhalte verkündet wurden,
als Wahrheitskriterium verwendet. Auch die Moslems oder Mitglieder
anderer Religionen, die eine Inspiration und Unfehlbarkeit ihrer heiligen
Texte annehmen, nehmen gleichermaßen Konsens mit diesen als Wahr-
heitskriterium an. Hier hängt alles davon ab, ob die Voraussetzungen
stimmen, unter denen das Konsenskriterium steht. Wenn es wirklich
unfehlbar geoffenbarte Inhalte gibt, dann ist die explizite Übereinstim-
mung mit ihnen ein unfehlbares Zeichen für Wahrheit. Wenn es sie nicht
gibt, dann natürlich nicht. Deshalb hängt hier alles von der soliden und
begründeten Quelle dieser Überzeugung von Unfehlbarkeit ab. Und diese
Erkenntnis der Unfehlbarkeit einer Quelle muß andere Kriterien außer
Konsens verwenden.
Eine andere Art von begründetem Konsens, der aus einer intersubjekti-
ven bzw. von mehreren Subjekten geteilten und kritisch vermittelten
Erkenntnis erwächst, etwa die im Dialog mit Sokrates erreichte Überein-
stimmung aufgrund von Argumenten und infolge einer eingehenden
Prüfung der Sachverhalte, ist gleichfalls ein wichtiges Wahrheitsindiz.
Unter Umständen ist ein solcher kritisch erreichter Konsens nur mit einem
einzigen Menschen, mit dem ich ein Problem eingehend besprochen habe,
wertvoller als der Konsens aller oder der Konsens einer großen Anzahl von
Menschen. Und dies ist deshalb so, weil es hier nicht nur um faktischen
Konsens geht, sondern um einen wertvolleren, nämlich einen aus Erkennt-
nis, eingehender Prüfung und Diskussion entspringenden Konsens. Es
handelt sich hier um intersubjektiv geteilte Erkenntnis, die zwar Akt des je
einzelnen Subjektes bleibt, aber doch gemeinsam erworben wird. Die
Tatsache, daß zwei Menschen dasselbe sehen und sich über die Gründe
ihrer Übereinstimmung verständigen, ist sicher ein gewisses, wenn auch an
sich kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit. Letzten Endes ist auch hier
Evidenz das noch weitaus tragendere Kriterium. Denn die Frage bleibt
immer bestehen, aufgrund welcher Evidenz und welcher Begründung der
Konsens erreicht worden ist. Verdeutlichen wir dies anhand eines
einfachen Beispiels aus der Schachtheorie: Ein „Matt in zwei Zügen“ wird
nach einigen Versuchen von zwei Freunden zusammen „gefunden“; sie
übersahen dabei aber eine andere Antwort auf den ersten Zug und so irren

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262 KAPITEL 3

sie sich. Ihr Konsens ist also wertlos, weil er auf unzureichender Evidenz
und falschen Annahmen beruhte.
Wenn ich also nicht die Evidenz der Erkenntnisse, die Grundlagen einer
Verständigung sind, erfasse, dann kann ich auch den Wert eines Konsenses
als Wahrheitskriterium nicht beurteilen. Denn selbst wenn der Konsens
zwar aus einer eingehenden Prüfung, aber nur daraus entspringt, daß man
gewisse Hypothesen für wahrscheinlich hält, die nicht wahr sind, so kann
die bloße Tatsache, daß man sich über dieselben nach langen Gesprächen
verständigt hat, kein gültiges Kriterium oder gar zwingendes Kriterium für
ihre Wahrheit sein. Daher hängt auch bei dieser Form des begründeten
Konsenses alles davon ab, wie gut die erkenntnismäßige Begründung und
Evidenz jener Erkenntnis ist, welche die Überzeugung des einzelnen
Gesprächspartners begründet und damit auch die Quelle des Konsenses
ist. Das führt uns wieder zurück zu einem anderen Kriterium, das
außerhalb des Konsenses liegt, nämlich der Evidenz in ihren vielfältigen,
dem jeweiligen Gegenstandsbereich angemessenen Formen.
Dasselbe könnte man über alle Formen von Konsens als Kriterium
sagen. Letzten Endes beruht auch dort, wo der Konsens als zuverlässiges
Kriterium für Wahrheit akzeptiert wird, das letzte Fundament der
Gültigkeit des Konsenskriteriums für Wahrheit nicht im Konsens als
solchem, sondern in der Evidenz jener Wahrheiten und Erkenntnisse, in
denen der Konsens begründet ist. Deshalb kann dieser letzten Endes nur
aus Evidenz seine Gültigkeit beziehen.
Dies führt uns zu einem für die gegenwärtige Diskussion wichtigen
Resultat: Konsens und Evidenz als Kriterien der Wahrheit stehen nicht in
einem Gegensatz zueinander, sondern das erstere setzt das letztere
voraus. Die beiden stehen auch nicht bloß nebeneinander. Vielmehr ist
Evidenz die grundlegendste Form der Erkenntnisgewißheit und somit das
ursprünglichste Wahrheitskriterium. Zu seiner Erkenntnis letztbegründen-
den Klarheit und Deutlichkeit kann Konsens gleichsam nur ein zusätzli-
ches und untergeordnetes Kriterium sein. Man könnte und sollte dieses
Verhältnis zwischen Evidenz und Konsens sicher viel eingehender und
genauer erforschen.
Man wird trotz der letztfundierenden Rolle der Evidenz als Kriterium
umgekehrt sagen müssen, daß der Konsens über eine Evidenz eine gewisse
Bestärkung derselben bringt, und daß vor allem angesichts unserer von uns

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 263

selber oft am wenigsten bemerkten eigenen Vorurteile das Prüfen unserer


echten Evidenzen und falsch angenommenen Pseudoevidenzen im Feuer
der Kritik und im Dialog uns fruchtet, teilweise deshalb, weil uns im
Dialog unsere eigenen Gründe klarer werden, teilweise weil sie sich in der
Diskussion als Argument für andere bewähren. Eine zusätzliche Bestär-
kung unserer Urteile durch Konsens erwächst einfach aus der Tatsache,
daß der Mensch ein Gesellschaftswesen ist und gewöhnlich seine Überzeu-
gung nicht ganz alleine hegt, sondern sie mit jemandem teilen will. Auch
diese Natur des Menschen als soziales Wesen bedingt eine in gewissem
Maße berechtigte Bestärkung der eigenen Überzeugung durch Übereins-
timmung mit anderen. Dennoch entsteht, insbesondere in der Philosophie,
aber auch in anderen Bereichen der Wahrheitserkenntnis, eine Perversion,
wenn der Konsens gegenüber der Evidenz die Oberhand gewinnt.
Selbst dort, wo die Qualität der Person, deren Zustimmung ich als
Kriterium der Wahrheit anerkenne, verlangt, daß ich im Zweifelsfalle mein
eigenes Urteil dem des Wissenden und Weiseren und damit einer Form des
Konsenses unterwerfen soll, verlangt auch dieses vertrauensvolle Anneh-
men des Urteils des anderen oder mehrerer anderer, die sich im Konsens
mit einander befinden, eine Evidenz über Grundlagen und Berechtigung
dieses Vertrauens. Dies gilt auch für religiösen Glauben. Es besteht in
diesem Belang eine Priorität der Evidenz vor jedwedem Konsens als
Wahrheitskriterium. Wenn er tatsächlich evidente Erkenntnis besitzt, sollte
ein Mensch gegen alle Übrigen an dieser festhalten. Der Widerspruch zu
Mehrheitsmeinungen ist durchaus berechtigt, wenn die Evidenz echt ist.
Vor allem darf man die soziale Komponente und Bestärkung durch die
Überzeugung Anderer als solche nie als ein letztes Kriterium
nehmen. Selbst wenn Konsens eine Hilfe zur Vertiefung der Evidenz und
zur Bestärkung im Festhalten an eigenen Evidenzen sein kann, so ist also
demnach das Verhältnis zwischen diesen beiden Kriterien so, daß die
Evidenz das fundierende und letztliche ist und der Konsens ein abgeleite-
tes, sekundäres.

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264 KAPITEL 3

5. Konsens als Wahrheitsbedingung?

Es darf sicher nicht mit Recht behauptet werden, daß Konsens im Sinne
ausdrücklicher Zustimmung oder Gleichheit des Urteils Mehrer Bedingung
für Wahrheit ist. Das geht schon daraus hervor, daß es Dinge gibt, die nur
ein einziger Mensch wissen kann, bei deren Erkenntnis also Konsens gar
nicht in Frage kommt. Wenn es etwa um ein ganz persönliches Geheimnis
geht, um ein Gefühl oder eine Intention meines privatesten Innenlebens,
dann kann gewiß weder ausdrückliche noch stillschweigende Übereinstim-
mung mit anderen Menschen, die ja von meinem Geheimnis nichts wissen
oder auch nur ahnen, Bedingung für Wahrheit sein.
Hinsichtlich solcher privater Inhalte kann nicht einmal die Konsensfä-
higkeit mit einem einzigen Menschen Wahrheitsbedingung sein. Denn es
ist möglich, daß niemand ein seltsames individuelles Erlebnis eines
anderen Menschen überhaupt versteht oder ihm glaubt, was in ihm vorge-
gangen ist, selbst wenn er es ihm mitteilt. So ist es gewiß nicht Bedingung
der Wahrheit der Aussagen, in denen jemand ein ganz merkwürdiges
Erlebnis, das er hatte, schildert, daß irgend jemand anderer diesen
zustimmt. Es bleibt vielmehr wahr, daß jemand dieses Erlebnis gehabt hat,
auch wenn nur er allein davon weiß und keinen Anderen davon überzeugen
kann.
Deshalb allein schon ist auch Konsens im Sinne intersubjektiver
Verifizierbarkeit keinesfalls Bedingung der Wahrheit.204
Wenn Konsens bloß Wegfallen des Widerspruchs, und in diesem Sinn
in Einklang Stehen mit anderen Urteilen bedeutet, dann ist Konsens nur
dann Bedingung der Wahrheit, wenn es um einen Widerspruch oder
Konsens mit schon als wahr feststehenden Urteilen geht.
Wenn man „reinen Konsens“ (d.h. ohne auf bereits als wahr erwiesene
Urteile zu rekurrieren) im Auge hat, selbst wenn man diesen sowohl der

204
Wenn allerdings Konsens – das haben wir wegen der Ausgefallenheit dieses
Konsensbegriffs überhaupt nicht als eine Bedeutung von Konsens festgehalten –
die Übereinstimmung mit einem alle Wahrheit erkennenden Wesen meinen
würde, also etwa Konsens mit dem göttlichen Wissen, dann wäre selbstverständ-
lich Konsens eine notwendige Bedingung der Wahrheit, aber das ist wohl ein
Begriff von Konsens, den kein Mensch verwenden wird.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 265

Quantität als auch der Qualität seiner Subjekte nach maximal steigert
(Konsens aller, der Weisen, derer, die einen rationalen Diskurs geführt
haben), so kommt er ebenfalls als notwendige Bedingung der Wahrheit
nicht in Frage.
Betrachtet man hingegen Konsens im Sinne der rein objektiven
Übereinstimmung mit solchen, die schon Wahrheit wissen, so ist Konsens
eine Bedingung für Wahrheit, wenn wirklich feststeht, daß derjenige, mit
dem man in Konsens steht, die Wahrheit über die betreffende Angelegen-
heit kennt. Darauf baut Brentanos Wesensdefinition der Wahrheit durch
ihren Bezug zur Evidenz auf.

6. Konsens als Wahrheitsfolge?

Es ist auch als Folge der Wahrheit offenbar nicht schlechthin


notwendig, daß tatsächlicher Konsens eintritt. Das geht schon aus dem
bisher Gesagten hervor. Denn wenn es Wahrheiten gibt, über die aus den
verschiedensten Gründen überhaupt kein Konsens unter Menschen zu
erreichen ist, wie im Falle von Tatsachen, die nur ein bestimmter Mensch
kennt, dem niemand glaubt, dann ist damit die Wahrheit seiner Aussage
keineswegs ausgeschlossen. Es ist durchaus vereinbar mit der Wahrheit
einer Aussage, daß niemand mit ihr übereinstimmt.
Wenn man Konsens hingegen als prinzipielle Konsensfähigkeit versteht,
als Möglichkeit, Konsens zu erreichen, dann stellt sich das Problem anders
dar und kommt es in erster Linie darauf an, was für eine Erkenntnis oder
was für eine Wahrheit in Frage steht. Wenn es eine Wahrheit ist, die
prinzipiell jedermann zugänglich ist, wenn es also um einen prinzipiell
durch Sinneswahrnehmung, intellektuelle Einsicht, Beweis oder andere
Erkenntnisformen feststellbaren und „intersubjektiv verifizierbaren“
Sachverhalt geht, dann ist gewiß die prinzipielle Konsensfähigkeit als
Folge der Wahrheit und der Erkenntnisfähigkeit gegeben, während
Irrtümer prinzipiell davon ausgeschlossen sind, daß eine durch Erkenntnis
begründete Konsensfähigkeit aus ihnen folgen würde. Also keineswegs,
wenn eine Annahme oder Schlußfolgerung irrig ist, wohl aber wenn sie
wahr und allgemein erkennbar ist, ist im Prinzip mit ihrer Wahrheit und
allgemeinen Erkennbarkeit auch die Möglichkeit des Konsenses und zwar

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266 KAPITEL 3

eines nicht auf sophistischer Rhetorik, sondern auf Erkenntnis beruhenden


Konsenses gegeben. In diesem Sinn ist sicher eine prinzipielle Konsensfä-
higkeit unter allen, die sie erkennen können, eine Folge der Wahrheit.
Nur heißt dies keineswegs, daß die tatsächliche Erreichbarkeit dieses
Konsenses eine notwendige Folge von Wahrheit wäre. Es ist nicht
notwendig, daß diese prinzipielle Möglichkeit, Konsens, und zwar in
Erkenntnis begründete Übereinstimmung über eine Wahrheit zu erlangen,
auch tatsächlich eintritt. Es kann ja Hindernisse in einem Menschen geben,
die ihn an der Erkenntnis und deshalb auch daran hindern, zuzustim-
men. Wenn man etwa mit Cicero205 annimmt, daß in sittlichen Fragen trotz
der großen Meinungsgegensätze, die hinsichtlich ihrer bestehen, objektive
Erkenntnis und ganz evidente Erkenntnis über gerecht und ungerecht
möglich ist, dann wird eine solche Wahrheit und Evidenz der Erkenntnis
des Gerechten nicht dadurch in Frage gestellt, daß in ethischen Fragen kein
tatsächlicher Konsens aller oder auch nur vieler erreichbar ist. Cicero sagt,
daß der Grund dafür, daß so viele Meinungsgegensätze über Fragen der
Gerechtigkeit bestehen, während über Fragen der Sinneserkenntnis keine
ähnlichen Gegensätze der Anschauung bestehen, nicht darin liege, daß es
über Gerechtigkeit keine Evidenz gäbe. Im Gegenteil, so sagt er, wäre es
wahnsinnig zu behaupten, daß es keine objektive Gerechtigkeit gebe oder
daß es z.B. nicht objektiv ungerecht sei, wenn ein Interrex in Rom vor
kurzem ein Gesetz erlassen habe, demzufolge jeder Römer ohne irgend-
welche Verhöre oder Gerichtsuntersuchungen hingerichtet werden konnte,
einfach nach dem willkürlichen Willen des Diktators. Cicero sagt mit
Recht, jedermann könne erkennen, daß das ungerecht ist.
Gleichermaßen, wenn jemand Testamente fälsche, erkenne dies jeder als
Unrecht, wenn er nur ehrlich denke und rede. Cicero zählt einen langen
Katalog von Dingen auf, von denen in der Tat jedermann einsehen kann,
daß es vollkommen evident ist, daß die von ihm beschriebenen Hand-
lungen objektiv ungerecht oder gerecht sind. Und dann fragt er: Warum
bestehen dann so große Gegensätze der Meinungen? Er antwortet mit zwei
Gründen darauf, die voll überzeugend sind:
Einmal würden auf unser sittliches Urteil von Kindheit an Anschläge
aller Art ausgeübt. Ammen, Lehrer, Eltern, öffentliche Meinung, Volks-

205
Siehe Cicero, De legibus I, 48-53.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 267

mengen usf. versuchen, unsere Urteile über sittliche Fragen zu beein-


flussen. Daher sei es ganz verständlich, daß unser sittliches Urteil unter
dem Attentat dieser verschiedensten sozialen Einflüsse verwirrt werden
könne. Sodann sagt Cicero, in jedem Menschen, ja in jedem seiner Sinne
lauere eine Bestie, die Lust, die ihn bewege und motiviere, das Angenehme
zu suchen und das, was gerecht ist, nicht anzuerkennen, wenn es seiner
Lust und seiner Neigung, oder seinen Machtgelüsten widerspricht.
Diese zwei Begründungen warum in Fragen der Ethik kein Konsens im
selben Sinn wie in Fragen der Sinneserkenntnis erreicht werden kann,
genügen durchaus, um den oft zur Begründung des ethischen Relativismus
hervorgehobenen Mangel an ethischem Konsens zu erklären – ohne
behaupten zu müssen, daß es in diesem Falle keine objektiv erkennbare
Wahrheit gebe.
Damit leuchtet auch die objektive Evidenz der ethischen Erkenntnis ein,
sowie daß diese in keiner Weise durch den ethischen Dissens widerlegt
werden kann.
Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn man bedenkt, daß Konsens
niemals selber die Erkenntnisform oder das letzte Kriterium ist. Wahrheit
kann nie durch Konsens als solchen festgestellt werden. Das sollte schon
daraus einleuchten, daß Konsens einfach eine Übereinstimmung ist, wobei
jedes der mit einander übereinstimmenden Urteile nach einer anderen
Begründung verlangt als der Übereinstimmung selbst. Dies gilt selbst für
den Fall, in dem wir etwas für wahr halten, weil es eine andere Person
sagt. Auch hier bedürfen wir eines von Konsens verschiedenen Grundes
für unser Vertrauen. Die Erkenntnis, die dem Konsens zugrunde liegt,
selbst wenn wir aus dem Konsens erkennen, daß etwas wahr ist, kann nicht
selber Konsens sein, da etwa die Einsicht, in welcher Weise Konsens
Wahrheitskriterium ist, oder worin die Glaubwürdigkeit des einhelligen
Zeugnisses Vieler wurzelt, immer schon andere Erkenntnisse vorsaussetzt,
welche nicht durch Konsens gewonnen sind. In vielen Fällen verstehen wir
also auf Grund der besonderen Erkenntnis- und Objektsphäre, um die es
geht, daß wir aus Konsens Wahrheit erkennen können. Aber selbst dann
kann weder der Konsens als solcher diese Erkenntnis sein noch (und erst
recht nicht) der hinreichende Grund für die Erkenntnis des Erkenntnis-
kriteriums des Konsenses sein.

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268 KAPITEL 3

7. Konsens und Ethik – Ein besonderer Fall der Konsenstheorie der


Wahrheit und ihre Kritik

Es gibt einen besonderen Fall, in dem sowohl die Konsenstheorie der


Wahrheit eine Rolle spielt als sie auch gerade dort besonders
unangemessen ist, obgleich Vielen das Gegenteil der Fall zu sein scheint.

7.1. Konsens als schöpferische Instanz für sittliche Normen

Im Rahmen der Ethik begegnet uns die Konsenstheorie der Wahrheit in


verschiedener Gestalt. Eine erste Form wäre die These, daß der Konsens
sittliche Normen schaffe. Ausgehend von Kant und einer freien Interpreta-
tion von Thomas von Aquin hat die autonome Ethik im Rahmen der
katholischen Moraltheologie in verschiedenen Formen die These eines
schöpferischen Gewissens entwickelt, das, oft durch Konsens, Normen
schafft oder sogar erfindet.206
Der Hinweis auf Geschichte, Kultur, Akzeptanz von Normen, Konsens
der Moraltheologen usf. deutet an, daß nicht das Gewissen des Einzelnen,
eine göttliche Autorität oder ein Lehramt, sondern vielmehr der Konsens
als normensetzend, normenschaffend angesehen wird.
Nun kann der Konsens tatsächlich überall dort Normen und Gesetze
begründen oder schaffen, wo diese den Charakter von Spielregeln oder
vielleicht auch jenen von positiven Gesetzen haben.
Überall dort jedoch, wo die sittlichen Normen dem intelligiblen und
notwendigen Wesen der Dinge entstammen, die wir als notwendige

206
Zur Kritik dieser Auffassungen vgl. besonders Andreas Laun, Das Gewissen.
Oberste Norm sittlichen Handelns, bes. S. 37 ff., wo die einschlägigen
Auffassungen von Auer, Böckle, Pesch, Schillebeecks und anderen kritisch
erörtert werden. Autonomie wird dann als ‚schöpferische Vernunft‘ verstanden,
aus der heraus die Erneuerung der Moraltheologie zu leisten wäre. Vgl. C.
Kowarz, „Kreativität im Bereich der christlichen Ethik“, 262-265, bes. S. 265.
Vgl. auch W. Korff, Norm und Sittlichkeit (Mainz, 1973), und Alphons Auer,
Autonome Moral und christlicher Glaube. Vgl. auch Andreas Laun, „Das
Gewissen – sein Gesetz und seine Freiheit. Anmerkungen zur heutigen
Diskussion“, S. 31-64.

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Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit 269

Wesenheiten und notwendige Wesensgesetze bezeichnet haben,207 ist es


ganz unmöglich, daß der Konsens Normen schafft oder daß irgendeine
andere Instanz objektive Normen schafft.
Auch wenn es sich um wahrscheinliche Normen handelt, insoferne sie
sich in den konkreten Situationen aus den allgemeinen Wesensgesetzen
anwenden lassen, handelt es sich nicht um ein Schaffen, sondern um den
Versuch, mit aller gebotenen Klugheit, das in der konkreten Situation
Geforderte zu finden.
Was für ein Nominalismus und Positivismus in der Ethik und im Staat
würde daraus folgen, daß z.B. die Gesellschaft durch bloßen Mehrheits-
konsens eine wirkliche Norm schaffen könnte, Ungeborene zu töten, alte
Menschen oder Angehörige einer bestimmten Rasse zu ermorden, und alle
denkbaren Greuel der Menschheit durch Mehrheitskonsens zu sanktionie-
ren!
Der Konsens ist eindeutig nicht der Schöpfer ethischer Normen. Nicht
in ihm, sondern in dem abwertend als bloßes „Ableseorgan“ bezeichneten
Erkennen sittlich relevanter Strukturen erblicken wir gerade den Weg des
Zugangs zu den objektiven moralischen Normen.

7.2. Konsens als Kriterium für das Bestehen sittlicher Normen

Ganz anders ist die Idee, daß der Konsens Kriterium für das Bestehen
objektiver ethischer Normen sei. Diese Auffassung geht von zwei Ideen
aus, einer richtigen, die sich in Kants Kritik der praktischen Vernunft
findet, und einer falschen.
Die richtige ist diejenige, daß im Gegensatz zu theoretischen Erkennt-
nissen, zu denen vielen das nötige Talent und die nötige Vorkenntnis fehlt,
die sittliche Wahrheit prinzipiell jedermann bekannt und in jedes
Menschen Herz eingeschrieben ist bzw. daß prinzipiell jeder Mensch dazu
in der Lage ist, sie zu erkennen.
Falsch hingegen ist zweifellos die Meinung, daß es keine wesentlichen
Hindernisse der adäquaten Erkenntnis der Menschen – gerade in sittlichen
Erkenntnissen – gäbe. Ganz im Gegenteil gibt es hier mehr Quellen der

207
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.

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270 KAPITEL 3

Wertblindheit und des Irrtums als irgendwo anders.208 Sei es die


Subsumptionsblindheit, sei es die partielle konstitutive oder Verdunke-
lungsblindheit, sei es die Abstumpfungsblindheit oder die totale sittliche
Wertblindheit – in zahlreichen Formen kann die ethische Werterkenntnis
abgeschwächt oder sogar verhindert werden. Aus diesem Grund kann in
der Ethik die Meinung der Mehrheit keineswegs maßgeblich sein. Sokrates
geht darauf auch ausführlich im Kriton ein, wo er die Notwendigkeit
betont, die Meinung der Mehrheit, der Menge usf. in Fragen wie der, ob
man der staatlichen Strafe entfliehen dürfe, lügen dürfe, usf., kritisch zu
prüfen.
Ganz anders ist es, wenn der Konsens mit solchen Autoritäten besteht,
von denen wir eine höhere oder gar eine unfehlbare Erkenntnis erwarten
dürfen, wie dies in der Idee der allgemeinen und speziellen Unfehlbarkeit
in der katholischen Kirche geglaubt wird. Für den Gläubigen ist der
Konsens mit dem authentischen Lehramt in seinen höchsten Äußerungen
supremes Wahrheitskriterium.

7.3. Konsens und Konsensfähigkeit als Wesen ethischer Wahrheit

Am allerwenigsten kann die Meinung überzeugen, daß die Wahrheit


über sittliche Normen im Konsens selber bestehe könne. Dies widerspricht
dem evidenten Wesen der Wahrheit, es widerspricht ferner sich selbst, da
dann der Konsens auch darüber eintreten könnte, daß Wahrheit nicht im
Konsens besteht – ein evidenter Widersinn, wenn das Wesen der Wahrheit
der Konsens wäre.
Die Kritik dieses Standpunkts folgt aus dem oben Gesagten deutlich.

208
Vgl. die Untersuchungen dazu in Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische
Werterkenntnis, Kap. 1 ff.

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KAPITEL 4

PRAGMATISTISCHE, PRAGMATIZISTISCHE UND NEOPOSITIVISTISCHE


WAHRHEITSTHEORIEN

Es gibt eine Reihe von Wahrheitstheorien, die Wahrheit in Bezug zu


„Erfolg“ setzen. Solche Wahrheitstheorien werden mit Namen wie Charles
Sanders Peirce,209 William James, John Dewey,210 Hegel211 und
Nietzsche,212 und auch mit einer Seite der Wahrheitstheorie von Habermas
(neben der Diskurstheorie und Elementen einer Kohärenztheorie sowie
einer Popper’schen Theorie der Wahrheit als Teile seiner komplizierten
Wahrheitstheorie) verbunden.213 In anderer, aber sehr radikaler Form

209
Charles Sanders Peirce, Collected Papers, hrsg. v. C. Hartshorne und P. Weiss, 6
Bde (Cambridge, Mass, 1965-1967).
210
See The Collected Works of John Dewey, edited by Jo Ann Boydston, 37 volumes
(Carbondale: Southern Illinois University Press, 1967-1991).
211
Zur These einer Art höherer pragmatischer Idee und Rechtfertigung der Wahrheit
bei Hegel vgl. Walter Zimmerli, „Die Wahrheit des ‚impliziten Denkers‘: Zur
Logikbegründungsproblematik in Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“. Stud Phil
(Schweiz), 41 (1982), 139-160.
212
Vgl. die einschlägigen Texte und ihre Kritik in Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches
Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Dietrich
von Hildebrand (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 197 ff.; ders.,
„Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche
Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheits-
erkenntnis“.
213
Die brillante Wahrheitstheorie von Jürgen Habermas scheint mir nicht nur in der
angedeuteten Weise äußerst schillernd zu sein, sondern auch dadurch, daß es
unklar bleibt, ob er das Wesen der Wahrheit beschreiben oder nur Kriterien oder
Methoden der Wahrheitsfindung beschreiben will. Auch bleibt unklar, ob er die
Erkenntniswahrheit oder die Urteilswahrheit im Auge hat. Vgl. Jürgen Habermas,
Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, „Einleitung: Realismus
nach der sprachpragmatischen Wende“, S. 7 ff. Vgl. etwa ebd., S. 14: „Die
folgenden Beiträge sind Ausdruck des erneuten Interesses an Fragen eines
pragmatistischen Erkenntnisrealismus, der den Spuren des linguistischen
Kantianismus folgt.“ Pragmatismus wird hier als „ein praktisches Zurechtkommen
mit der Welt“, einem „Coping-Verhalten“, identifiziert, das zu einem Übergang

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274 KAPITEL 4

werden Erfolgstheorien der Wahrheit auch vom Diamat und dem


dialektischen Materialismus vertreten, wobei die Wahrheit einer Aussage
als deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit entweder überhaupt
geleugnet oder als eine dünne, bedeutungslose, rein scholastische Frage
angesehen und zur Bedeutungslosigkeit degradiert wird. Man denke, wie
diese Entthronung der Wahrheit,214 die Karl Marx deutlich zum Ausdruck
gebracht hat, nicht nur in der berühmten 11.,215 sondern auch in der
zweiten seiner Thesen über Feuerbach, erscheint:
Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit
zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In
der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht,
Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit
oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine
rein scholastische Frage.216

von Hermeneutik zu formaler Pragmatik und von „kommunikativer Rationalität“


zur „Interaktion zwischen sprachlicher Welterschließung und innerweltlichen
Lernprozessen“ führen soll, deren eigentliche Wurzel in dem erwähnten
„praktischen Zurechtkommen mit der Welt“ bestehen soll (ebd., S. 14). Habermas
sieht seine Position auch mit dem Pragmatismus Richard Rortys verwandt. (ebd.,
S. 17). Wenn Habermas ferner davon spricht, daß Karl-Otto Apel „gegen
Wittgensteins Kontextualismus der Sprachspiele“, gegen Heideggers Idealismus
der sprachlichen Welterschließung und gegen Gadamers Rehabilitierung der
Vorurteile einen „pragmatisch transformierten Kant aufgeboten“ habe (Habermas,
a.a.O., S. 66), zeigen sich gewisse Sympathien Habermas’ für eine solche
pragmatische Wende.
214
Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, S. 309-339.
215
Karl Marx, Thesen über Feuerbach (niedergeschrieben in Brüssel im Frühjahr
1845), 11:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu
verändern.
[Marx: Thesen über Feuerbach, S. 7. Digitale Bibliothek Sonderband:
Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 32422 (vgl. MEW Bd. 3, S. 7)].
Vgl. auch John F. Crosby, „Evolutionism and the Ontology of the Human
Person“, Review of Politics, 38 (April, 1976), S. 208-243.
216
[Marx: Thesen über Feuerbach, S. 3, S. 32418 (vgl. MEW Bd. 3, S. 5)].

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 275

Eine rein pragmatische und dadurch eo ipso auch relativistische


Auffassung der Wahrheit217 wird ebenso vom Faschismus und Nationalso-
zialismus in verschiedensten Versionen vorgebracht.218 Man muß natürlich
zwischen diesen Theorien sowie deren diversen Varianten differenzie-
ren. Dennoch läßt sich allgemein sagen: Wahrheit wird hier durch
Nützlichkeit oder Erfolg bestimmt. Dabei stellt sich natürlich zuerst die
Frage:

1. Was heißt Nützlichkeit oder Erfolg?

1. Erstens könnte man Erfolg einfach als Sieg einer Idee verstehen,
insofern sie zur Verwirklichung von einem Individuum oder Staat gesetzter
politisch-gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ziele verhilft. Im Privatle-
ben bestünde der Erfolg in diesem Sinne im Nutzbringen einer Theorie, der
ich in meinem Leben oder Betrieb folge, darin, daß diese Theorie mir
persönlich bei der Erreichung meiner Ziele nützt, z.B. wirtschaftlich oder
zur Durchsetzung meiner Rechtsansprüche, usw. Wir können in dieser
Weise Erfolg einer Theorie als einen politisch-gesellschaftlichen oder auch
privaten Nutzen für die Realisierung der jeweiligen subjektiven Ziele
definieren, der daraus resultiert, daß jemand eine bestimmte Theorie oder
Ideologie vertritt oder anwendet. Dieser Nutzen kann direkt einfach daraus
erwachsen, daß man der Theorie folgt, oder indirekt daraus, daß man
andere davon überzeugt, daß die eigene Theorie stimmt. Im letzteren Fall
erwächst dann der Nutzen z.B. daraus, daß sehr viele, vereint in einer
bestimmten Ideologie, um irgendeine Angelegenheit, sagen wir einen
bestimmten politischen Sieg einer Partei und Durchsetzung ihrer Ziele,
kämpfen und sie durchsetzen.
In offiziellen Textbüchern des Diamat liest man zu seiner Verwunde-
rung, daß die Wahrheit der marxistisch-leninistischen Ideologie durch den
direkten Nutzen des Marxismus in diesem Sinne, nämlich durch den Sieg
der Revolution 1917 und auch durch alle späteren Siege und Eroberungen
217
Vgl. dazu Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus, zit.
218
Vgl. dazu auch Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den
Nationalsozialismus 1933-1938, sowie Josef Seifert, (Hrsg.), Dietrich von
Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus.

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276 KAPITEL 4

des Weltkommunismus bewiesen worden sei. Hier wird also der mit der
Wahrheit einer Ideologie oder mit deren Beweis identifizierte Erfolg in
einem politisch-kriegerischen Sinne gedeutet, der entweder mit der „realen
Wahrheit“ des Dialektischen Materialismus oder mit dessen Wert, oder
auch mit dem sicheren Beweis seiner Wahrheit identifiziert wird. In
ähnlicher Weise wird im Rahmen einer Wesenstheorie der Wahrheit im
Nationalsozialismus Wahrheit durch politisch-ökonomischen Erfolg
definiert, wenn behauptet wird, wahr sei, was dem deutschen Volke nütze
und dann eine Liste nützlicher Folgen der nationalsozialistischen Partei
angeführt wird, welche die Wahrheit des Nationalsozialismus „in der
Praxis“ beweisen sollen. In diesem Fall wird „Nutzen“ durch größere
Macht, militärische Siege oder auch durch wirtschaftlichen Erfolg des
deutschen Volkes definiert.
2. Zweitens könnte man Erfolg nicht bloß als einfachen politisch-
gesellschaftlichen Sieg oder subjektiven Nutzen in dem Sinne verstehen,
daß dasjenige, was ein Individuum, eine Partei, oder ein Volk sich
subjektiv als Ziel setzen und für nützlich betrachten, eintritt, sondern tiefer
als politisch-gesellschaftliches Gut denken. Dann würde „Erfolg“ nicht
subjektiven Kriterien unterworfen und mit einer bloßen subjektiven
Nützlichkeit (in Bezug auf bestimmte von einem Volk oder einer Partei
gesetzte Zwecke) gleichgesetzt, sondern im Sinne einer Idee des Guten,
eines sittlich Guten oder einer Wohlfahrt des Individuums oder des Staates
verstanden, die objektiver Natur sind und weit tiefer reichen als die
Erfüllung subjektiver Machtambitionen oder als der objektive, aber keines-
wegs notwendig wertbestimmte Vorteil in kriegerischen Handlungen. Im
Gegensatz zum „rein pragmatischen“ hat der zweite Erfolgsbegriff eine
objektive Grundlage und unterscheidet sich daher von dem bloßen
politisch-gesellschaftlichen Sieg einer Ideologie. Veranschaulichen wir
uns den gewaltigen Unterschied dieser beiden Erfolgsbegriffe an einem
Beispiel: Im ersten, rein militärischen und wirtschaftlichen Sinn war der
Nationalsozialismus eine Zeitlang erfolgreich und hat gesiegt, aber dieser
Erfolg und Sieg entsprang einer grundfalschen Auffassung über den
Menschen und einer Terrorherrschaft, durch deren politische Herrschaft
Bürger und ihre Gewissen unterdrückt und Millionen von Unschuldigen
ermordet und durch und durch ungerechte Eroberungskriege gewonnen
wurden. Die militärischen Erfolge selber trugen zur weiteren Ausdehnung

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 277

und Festigung des Naziterrorregimes und zu dessen „Erfolg“ bei. Ein


derartiger „wertfreier“ Erfolg sagt nicht nur überhaupt nichts über die
Wahrheit der Theorie, sondern war keinerlei echter Erfolg, denn diese
Erfolge bedeuteten nur einen Sieg des Bösen und der Unmenschlichkeit
und die „erfolgreiche“ „arische“ Gesellschaft, das deutsche Volk, dem
angeblich „genutzt“ wurde, zog zwar wirtschaftliche Vorteile aus diesen
Siegen, wurde aber durch sie kurzfristig und noch mehr langfristig in
größtes Unglück gestürzt und erlitt Übel aller Art.
Eine intelligentere pragmatische Wahrheitstheorie könnte daher die
marxistischen und nationalsozialistischen sowie ähnliche Formen des
Pragmatismus und eines rein subjektiven „Erfolgsbegriffs“ zurückweisen
und unter Erfolg, der die Wahrheit verbürge oder gar mit dieser identisch
wäre, nur Erfolg in der axiologischen Bedeutung des Wortes (Erfolg im
zweiten Sinn) verstehen. Eine Theorie sei dann wahr, wenn man infolge
ihrer Vorhersagen oder vor allem ihrer Anwendung in der Gesellschaft
besser lebe, wenn Ordnung und Frieden hergestellt würden, wenn
Menschen ihr eigentliches Gut erlangten. Nur dies sei unter Nutzen zu
verstehen. Nutzen sei also der Sieg des objektiv Guten und des
gesamtheitlichen Gutes der Bürger, des bonum comune, in dem Sinne von
„an ihren Früchten werdet ihr sie (die Wahrheit einer Theorie) erkennen“.
Wahrheit einer politischen Theorie oder eines Parteiprogramms bestünde
also nur in deren Geeignetheit, Erfolg in diesem Sinne herbeizuführen und
auch die Wahrheit einer Religion bestünde in nichts anderem als darin,
entsprechende geistige, kulturelle, psychologische und moralische Früch-
ten zu zeitigen. In dem letzteren Sinne verteidigt Hermann Lübbe einen
psychologisch-anthropologischen pragmatischen Wahrheitsbegriff in der
Religion, deren Wahrheit in der durch sie ermöglichten „Kontingenz-
bewältigung“ liege.219
3. Drittens könnte man von Erfolg mit Rücksicht auf das reine Interesse
an Ideen als solchen und ihren Einfluß, ihre intersubjektive historische
Herrschaft, oder auch das Erreichen des Konsenses über sie, vor allem des

219
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (Graz: Styria, 1986). Daß aus
einer – in Analogie zu einem Placebo-Medikament – zur Kontingenzbewältigung
benutzten Religion auch kein echtes Gut der wirklichen „Kontingenzbewältigung“
resultiert, werden im Kapitel über Wittgenstein zeigen.

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278 KAPITEL 4

Konsenses Vieler, reden, etwa im Sinne des Hegelschen „Zeitgeistes“,


während dessen Dauer und intersubjektiv-historischer Herrschaft ein
Ideenkomplex die Gesellschaft und Politik der Zeit prägt. In diesem ihrem
historischen Sieg als Idee habe sie ihre Wahrheit – eine unendlich
gefährliche und falsche, relativistische Theorie, deren grausige Folgen das
20. Jahrhundert bewiesen hat. Eine Philosophie hätte Erfolg in diesem
Sinne und sei daher zu ihrer Zeit wahr, wenn sie an vielen oder allen
Universitäten vertreten werde. Dabei kann Erfolg einer Philosophie einmal
nichts weiter bedeuten, als daß die Werke, die sie formulieren, gekauft
oder obendrein sogar gelesen werden. Erfolg einer Philosophie kann aber
auch einen bedeutungsvolleren Sinn haben und meinen, daß sie von der
Fachwelt ernstgenommen und an Universitäten vertreten oder zumindest
kritisch diskutiert wird. In einem noch weiter reichenden Sinne hätte eine
Philosophie Erfolg, wenn sowohl sehr viele oder sehr angesehene Denker
als auch weite Kreise, Gruppen oder Gesellschaftsschichten von einer Idee
überzeugt werden, wenn Ideen also breiten Konsens erzielen. Je nach den
früher nach Quantität, Qualität usf. unterschiedenen Arten von Konsens
könnte man hier viele weitere Unterarten unterscheiden: bei allen oder bei
bestimmten Gruppen, bei den Wissenden oder Weisen, bei den Massen,
usf.
So kann der intersubjektiv-historische Sieg einer Idee auch dann als
Erfolg betrachtet werden, wenn gar kein weiterer Nutzen aus ihm erwächst
und wenn vielleicht sogar das Volk, von dem eine Idee angenommen wird,
so arm und machtlos ist und ein so elendes Militär besitzt, daß überhaupt
kein praktischer Erfolg eintritt. Erfolg im dritten Sinne liegt also rein auf
der Ebene der Rezeption oder Annahme einer Überzeugung und meint
daher den reinen Erfolg der Ideen im Bewußtsein von Menschen; so
könnte man diesen Sachverhalt auch definieren.
4. Viertens schließlich könnte man „Erfolg“ als jene Erfahrungen
definieren, die durch eine Theorie vorhergesagt werden. In diesem völlig
neuen, für den Pragmatismus und Neopositivismus charakteristischen Sinn
bestünde der „Erfolg“, der eine Theorie bestätigt, etwa in den Ergebnissen
der Experimente, durch die eine Hypothese verifiziert wird. Erfolg in.
diesem Sinne, wie er etwa im Wienerkreis verstanden wurde, ist mit dem
Prozeß der Verifikation identisch. Die Wahrnehmungen also, die eine
Theorie verifizieren, bzw. der in ihnen wahrgenommene und von der

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 279

Theorie vorhergesagte Sachverhalt, sind ihr „Erfolg“ in diesem Sinne.


Diese Idee von „Erfolg“ nähert sich am ehesten der Adäquationstheorie der
Wahrheit.
Man sollte „Erfolg“ in dieser Bedeutung eindeutiger definieren, nämlich
nicht als die Wahrnehmungen und Erfahrungserlebnisse selber, durch die
eine Theorie wirklich oder vermeintlich bestätigt wird, sondern als das
Eintreten der durch eine Hypothese oder Theorie vorhergesagten Sachver-
halte oder deren notwendiger Folgen und deren (intersubjektiv verifizier-
bare) Feststellung. Wenn jemand eine Theorie entwirft, etwa eine physika-
lische Theorie über die Reduktion oder das Wegfallen der Schwerkraft im
Weltraum, und wenn die Erfahrung der Weltraumfahrer diese von der
Theorie vorhergesagten Phänomene bestätigt oder aufgrund dieser Theorie
ein Sputnik oder Apollo-Satellit seine Bahn vorhersagegemäß durchläuft
und nicht unerwarteterweise an einem Planeten zerschellt, wie andere
Satelliten, die nach einer anderen Theorie konstruiert werden, so ist damit
der Erfolg dieser Theorie und eo ipso, denkt der Pragmatist, auch ihre
Wahrheit erwiesen. In dieser Deutung versteht man also unter Erfolg all
jene Erfahrungen und Konsequenzen, die von dem Inhalt der Theorie her
zu erwarten waren und von ihrer Annahme her vorhersagbar sind.
5. In einem fünften Sinne, der vielen Momenten des Marxismus, aber
auch Heideggers und der sprach-pragmatistischen Wende der analytischen
Philosophie entspricht, bestimmt Habermas ‚Erfolg‘, indem er diesen in
komplizierter und vielfältiger Weise deutet:
1) als aus einem „intelligenten Umgang mit einer riskanten Welt“ sich
ergebende Folgen;
2) als eine Art von „sozialer Dimension“ der „Rechtfertigung von
Problemlösungen gegenüber Einwänden anderer Diskussionsteilnehmer“;
3) als Lernvorgänge, die von der „Revision eigener Fehler zehren“.220
4) Wo Jürgen Habermas von einer „teleologischen Rationalität“ als von
einem „intentionalen Abzielen auf Realisierung gesetzter Zwecke“ redet,

220
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
36-37:
„Aus pragmatischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes; sie macht sich einzig in
den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind,
performativ – als das Ganze der verarbeiteten und zu erwartenden Widerstände – geltend.“

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280 KAPITEL 4

scheint er Erfolg mit dem Resultat einer solchen teleologischen Rationali-


tät und Wahrheit mit der Geeignetheit einer Theorie, dieses hervorzurufen,
gleichzusetzen; an anderen Stellen beziehen sich seine Erfolgs- und die
damit verbundene Wahrheitstheorie nur auf
5) aus rationalen Präferenzen und Erfolgserwartungen hervorgehende
und ihnen entsprechende Ergebnisse. Gelegentlich scheint er Wahrheit
auch mit
6) dem „illokutionären und perlokutionären“ Erfolg zu identifizieren.
Dabei ist es im Habermas’schen Pragmatismus die Idee der „kommuni-
kativen Rationalität“, die „einigende Kraft der verständigungsorientierten
Rede“, die letztlich einen Bezug auf eine „intersubjektiv geteilte
Lebenswelt“ herstellt. Somit identifiziert Habermas Wahrheit mit „einem
Horizont ..., innerhalb dessen sich alle auf ein und dieselbe objektive Welt
beziehen können“. Habermas identifiziert also Wahrheit mit „kommunika-
tivem Erfolg“ und „kommunikativer Rationalität“, wodurch er sie relativie-
ren würde.221 So ist es, wie man sieht, sehr schwer, Habermas’ Position
eindeutig zu identifizieren. Auch gibt es eine Reihe von Stellen, in denen
er den Erfolg nicht mit dem Wesen der Wahrheit zu identifizieren scheint,
sondern in ihm nur ein Wahrheitskriterium erblickt.222

2. Ist Erfolg gleich Wahrheit? Evidente Irrtümer und Widersprüche


pragmatischer Wahrheitstheorien

Gehen wir wieder die verschiedenen Möglichkeiten einer konsequenzia-


listisch/utilitaristischen Wahrheitstheorie durch. Erstens können die
verschiedenen Bedeutungen von Erfolg als Wesen, bzw. als Grundlage der
Definition betrachtet werden: „Wahrheit ist das, was Erfolg hat“.

221
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 110-
137.
222
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S.
288:
Obwohl Wahrheit kein Erfolgsbegriff ist, gehen wir davon aus, daß eine nach unseren
Maßstäben erfolgreiche Rechtfertigung von ‚p‘ für die Wahrheit von ‚p‘ spricht.“

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 281

Gegen eine derartige Reduktion der Wahrheit auf Erfolg oder, präziser
gesagt, auf das, was Erfolg bringt, läßt sich auf vielfältige Weise
argumentieren. Es ist erstens evident, daß Wahrheit nicht mit Erfolg in
irgendeiner der genannten Bedeutungen identifizierbar ist. Zeigen wir das,
indem wir diese Versionen der Erfolgstheorie und der pragmatischen
Wahrheitstheorie, nach der Ordnung ihrer Plausibilität nach, von der
plausibelsten beginnend, knapp analysieren.
AD 4: Selbst wenn man jene (vierte) Bedeutung von Erfolg nimmt, die
der Wahrheit am nächsten kommt, nämlich die Erfahrungen, die eine
Theorie verifizieren oder auch, besser gesagt, das Eintreten der Wirkungen,
die man aufgrund einer Theorie erwarten muß, so liegt in diesem Erfolg
nicht das Wesen der Wahrheit. Betrachten wir dies im Licht einer weiteren
wichtigen dreifachen Unterscheidung zwischen:
(a) Erfolg im Sinne der Verifikation bzw. des „verifizierten Eintretens“
des einer Theorie oder Aussage direkt entsprechenden und von ihr
behaupteten Sachverhalts;
(b) Erfolg im Sinne des tatsächlichen Bestehens oder Eintretens des von
einer Aussage oder Theorie direkt behaupteten Sachverhalts, gleichgültig
ob es verifiziert wird oder nicht;
(c) Erfolg im Sinne des Eintretens von Sachverhalten, die nicht selber in
einer Aussage oder Theorie behauptet werden, wohl aber von ihr erwartet
werden können und durch sie (besser oder leichter) erklärbar werden.
Daß – im Sinne von (b) – das Bestehen oder Eintreten des behaupteten
Sachverhalts Grund ist, die diesen Sachverhalt direkt behauptende Aussage
oder Theorie wahr zu nennen, liegt auf der Hand, wird jedoch weder
sinnvoll als „Erfolg“ bezeichnet, sondern besteht eben in der
Korrespondenz der Aussage mit dem Sachverhalt, noch ist es der „Erfolg“
oder die Bewährung der Theorie durch das Bestehen oder Eintreten des
behaupteten Sachverhalts, was ihre Wahrheit ausmacht, sondern diese
besteht in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als solcher. Man
kann in dem Sinne von (b) Theorien vielmehr Erfolg nur zusprechen, weil
sie wahr sind und dem Sachverhalt entsprechen und weil diese Wahrheit
ihren „Erfolg“ begründet, nicht aber ausmacht. Erst recht aber garantiert
oder konstituiert Erfolg weder im Sinne von (a) noch in dem von (c)
Wahrheit.

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282 KAPITEL 4

Hinsichtlich der Falschheit der These (a) läßt sich diese an Hector
Malots Roman Heimatlos exemplifizieren, wo die Wahrheit über die im
Bergwerk seines Onkels mit Remis verschütteten Bergarbeiter eindeutig
nicht mit dem Prozeß der Verifikation dieser Tatsache oder mit einer
verifizierten Tatsache identifiziert werden kann. Denn wenn z.B. jemand
sagt, in dem Kohlenbergwerk, in dem 120 Bergarbeiter verschwunden
sind, lebt kein einziger Mensch mehr, dann ist die Wahrheit dieses Urteils
zunächst völlig unverifizierbar, aber dieses Urteil bleibt wahr oder falsch,
völlig unabhängig davon, ob irgend jemand fähig ist, diese Aussage zu
verifizieren. Wenn man etwa später findet, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem
dieses Urteil gefällt wurde, alle Minenarbeiter wirklich tot waren, dann
erkennt man, daß das Urteil wahr war, aber es war damals ganz unmöglich,
es zu verifizieren. Und wenn das Bergwerk durch irgendeinen Umstand so
verschüttet wird, daß niemand je feststellen kann, ob alle Kumpeln damals
tot waren, dann bleibt das ursprüngliche Urteil doch wahr oder falsch, je
nachdem, ob wirklich in dem Bergwerk niemand mehr oder ob noch
jemand gelebt hat. So kann Wahrheit in ihrem Wesen nicht von Erfolg,
selbst nicht im Sinn des „verifizierten Gegenstands der Urteils“, abhängig
sein.
Eine derartige Unreduzierbarkeit der Wahrheit auf Erfolg gilt natürlich
erst recht für „Erfolg“ in den anderen Bedeutungen. Denn ob die Aussage,
daß in dem Bergwerk noch jemand lebte, irgendeinen sonstigen
politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Erfolg bringt oder viele
Menschen oder niemanden überzeugt, intersubjektive Herrschaft erlangt,
dem Zeitgeist entspricht, etc., das hat mit ihrer Wahrheit, wie wir klar und
deutlich einsehen, überhaupt nichts zu tun.
Wenn wir Erfolg im Sinne von (c) – also im Sinne von durch eine
Theorie erwarteten oder vorhergesagten Fakten – zur Grundlage einer
Wesensdefinition von Wahrheit machen wollten, können wir feststellen,
daß sehr oft falsche Ideen Erfolg in diesem Sinn haben. Aus dem Erfolg
der nicht-euklidischen Geometrien in der Physik und Weltraumschiffahrt
etwa folgt nicht im geringsten ihre Wahrheit, da das, was hier empirisch
festgestellt wird, gleichermaßen kompatibel mit der Wahrheit der
euklidischen Geometrie ist und durch sie erklärt werden kann, auch wenn
nicht-euklidische Theorien die Resultate empirischer Wissenschaften
leichter und schneller erklären können. Desungeachtet bleiben diese

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 283

Geometrien im Widerspruch zum Wesen des Raumes und können die


Naturphänomene nur deshalb besser erklären, weil eben das Licht sich
nicht auf einer absolut geraden Linie fortbewegt und diese Natur-
phänomene daher zu ihrer Erklärung entweder die kompliziertere
sphärische euklidische Geometrie verlangen oder durch die Axiome einer
nicht-euklidischen Geometrie, und zwar leichter, berechnet werden
können. In ähnlicher Weise kann eine psychologische Theorie, der zufolge
der Mensch durch nichts als durch Sexualtrieb oder durch einen, zu
Ressentiments führenden und meist frustrierten, Machttrieb bestimmt wird,
die meisten historischen Phänomene leichter erklären als eine Ethik, die
auch andere mögliche Motivationen menschlicher Handlungen anerkennt,
bleibt aber desungeachtet falsch und wird durch die gemeinten empirischen
Ergebnisse keineswegs als wahr erwiesen. Ebenso wird eine Theorie der
Gerechtigkeit, die der Gerechtigkeit viele ihr nicht zugehörige Merkmale
der Ungerechtigkeit zuschreibt, und deshalb viel besser auf unsere
ungerechten Verhaltensweisen, auf die empirische, reale, soziale und
politische Welt paßt und daher als politische Theorie mehr Erfolg hat,
dadurch keineswegs wahr.
AD 2: Auch im Sinn der objektiv wertvollen Konsequenzen (Erfolg im
zweiten Sinne) kann Wahrheit unmöglich auf Erfolg reduziert bzw. durch
diesen definiert werden. Das geht bereits daraus hervor, daß auch falsche
Ideen positive moralische Werte begründen oder motivieren kön-
nen. Wählen wir ein Beispiel dafür. Es kann z.B. jemand aufgrund der
Tatsache, daß er meint, er sterbe am nächsten Tag, ein wunderbarer
Mensch und moralisch besser werden, als er ohne diese falsche Meinung
geworden wäre. Er kann sich mit aller Kraft bemühen, an seinem
vermeintlich letzten Lebenstag noch das Beste zu tun. Sein Irrtum kann
also im sittlichen Sinn sehr erfolgreich sein, aber er hört deshalb nicht auf,
ein Irrtum zu sein, wenn der Mensch noch Jahrzehnte lang weiterlebt. Oder
ein ganzes Dorf kann fälschlich meinen, es sei umringt von Löwen, die
seine Bewohner im nächsten Moment zerfleischen könnten. Diese
Meinung kann völlig falsch sein, aber dazu führen, daß die Bewohner des
Dorfes technisch hochstehende Gebäude errichten, Befestigungswerke
anlegen, bisher unbewältigte praktische Probleme lösen, für den Kampf
mit den Löwen trainieren, sportliche Leistungen erbringen, sodaß die
Gemeinde in vielfältiger Weise floriert und zwar aufgrund der Illusion, daß

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284 KAPITEL 4

man sich auf einen Kampf mit Löwen vorbereiten müsse. So sieht man,
daß auch falsche Urteile in diesem Sinn durchaus erfolgreich sein können.
Selbst das Urteil der Nationalsozialisten, daß die Juden keine
gleichwertigen Menschen seien, hat – durch den Neid auf die erfolgreichen
Juden sowie rassistischen Haß und Ressentiment als Basis der politischen
Machtausweitung Hitlers – nebst allen greulichen Konsequenzen auf
begrenzten Sektoren wirtschaftlich oder technisch positive Effekte
gezeitigt wie die heute noch benützten von den Nazis gebauten Stras-
sen. Aber wer möchte leugnen, daß der Rassismus Hitlers ein Irrtum, und
zwar ein dummer und zugleich in seinen direkten und hauptsächlichen
Wirkungen dämonischer Irrtum war? Die praktischen „Erfolge“ dieser
idiotischen und zugleich teuflischen Rassen-Ideologie vermindern
evidenterweise nicht im mindesten deren Irrtum.
Gewiß war sogar dieser Irrtum oder besser diese Lüge mit ein Grund
des Erfolges Hitlers in Deutschland. Seine politische Ideologie war aufs
Engste mit seinem politischen Erfolg verwoben und doch von Grund auf
falsch.
Hitlers rassistische Ideologie hatte auch Erfolg in dem dritten Sinn, daß
sie nicht nur viele Ressentiments erzeugte, daß Hitler nicht nur mit großer
Schläue auf dem mit Haß und Ressentiment geladenen Geist vieler
Deutscher mit seiner Ideologie des Rassismus gespielt hat und nur deshalb
zum politischen Erfolg gekommen ist, weil er in den Juden einen
Sündenbock gesucht hat, um die Leute von anderen politischen Unzufrie-
denheiten abzulenken. Seine Ideologie hatte vielmehr auch „Erfolg“ in
dem Sinne, daß die nach dem Worte Göbbels’ oft wiederholte Lüge von
Tausenden, ja von Millionen geglaubt wurde. All dieser „Erfolg“ hat
jedoch überhaupt nichts mit der Frage der Wahrheit der nazistischen
Ideologie zu tun. Die Frage, ob die Juden gleichwertige Menschen sind
oder nicht und gleiche Würde wie die Arier besitzen oder nicht, hängt in
keiner Weise davon ab, ob diese These oder ihr Gegenteil intersubjektiven
oder historischen Erfolg hat oder von den Massen geglaubt wird. Das läßt
sich leicht und deutlich erkennen.
So beweist auch allgemein die Herrschaft von Ideen, die Verbreitung
von Ideen zu einer bestimmten Zeit an angesehenen Universitäten, oder
was immer man sonst noch als Erfolgskriterium nehmen kann, sicher in
keinerlei Weise die Wahrheit einer Ideologie oder fällt gar mit dieser

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 285

zusammen. Denn es mag wohl sein und ist überaus häufig der Fall, daß zu
einer bestimmten Zeit irgendeine ganz falsche Idee intersubjektiv-
historisch gesehen Riesenerfolge feiert. Wenn aber Erfolg im Sinne der
intersubjektiven Annahme von Ideen deren Wahrheit nicht beweist, also
kein Kriterium von Wahrheit ist, so kann man erst recht nicht den Erfolg
als Wesen der Wahrheit bezeichnen. Wahrheit einer Idee unterscheidet sich
evidenterweise von deren intersubjektiver Annahme und auch die Wahrheit
einer erfolgreichen Idee würde immer noch darin liegen, daß die Idee mit
der Wirklichkeit übereinstimmt, nicht darin, daß sie Erfolg hat. Die
Verschiedenheit zwischen Erfolg und Wahrheit geht indirekt und per
implicationem auch daraus hervor, daß dieser Erfolg nicht einmal eine
Bedingung oder ein Kriterium für Wahrheit ist.
Übrigens setzt auch jede Erfolgstheorie der Wahrheit, genauso wie dies
im Falle der Kohärenz- und Konsenstheorie der Wahrheit gezeigt wurde,
Wahrheit im Sinne der Adäquation voraus und widerspricht sich also
selber. Denn sie beansprucht ja für sich Wahrheit in dem Sinne, daß sie uns
erschließen möchte, daß diese wirklich im „Erfolg“ besteht. Betrachten wir
etwa den folgenden Satz von Habermas, in dem er den von ihm
befürworteten diskursphilosophisch geprägten Pragmatismus ausdrücklich
der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüberstellt:
Das Repräsentationsmodell der Erkenntnis, das ... „Wahrheit“ als die
Korrespondenz zwischen Vorstellung und Gegenstand bzw. Satz und
Tatsache begreiflich macht, verfehlt den kognitiv-operativen Sinn der
„Bewältigung von Problemen“ und des „Gelingens“ von Lernprozessen...223

Aber erhebt nicht gerade dieses Urteil, in dem die Korrespondenztheorie


der Wahrheit verworfen wird, Anspruch darauf, daß es wirklich so ist, daß
eine Korrespondenztheorie der Wahrheit den „kognitiv-operativen Sinn
der ‚Bewältigung von Problemen‘” – und zwar genau im Sinne der
Adäquationstheorie der Wahrheit – verfehle?! Der Widerspruch jeder
Abart des pragmatistischen Ersetzens der Wahrheit als adaequatio ist
unvermeidlich!
Oder betrachten wir jene Stelle, an der Habermas seine Diskurstheorie
bzw. Konsenstheorie der Wahrheit mit seinem Pragmatismus verbindet:

223
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 37.

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286 KAPITEL 4

Demnach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie unter den anspruchs-
vollen pragmatischen Voraussetzungen rationaler Diskurse allen Entkräf-
tungsversuchen standhalten würde, d.h. in einer idealen epistemischen
Situation gerechtfertigt werden könnte.224

Auch in dieser Formulierung, in der direkte Bezüge zu Sir Karl Poppers


Erkenntnistheorie und gewisse Anklänge an Franz Brentanos Evidenz-
theorie der Wahrheit unüberhörbar sind, liegt wieder eindeutig ein
korrespondenztheoretischer Anspruch darüber, worin die Wahrheit einer
Aussage wirklich besteht. Die Wahrheit als Entsprechung mit den
vorgegebenen Sachverhalten über das Wesen der Wahrheit wird hier nicht
weniger vorausgesetzt als in der Adäquationstheorie der Wahrheit selber,
kraft deren wir einer solchen pragmatisch-konsenstheoretischen Auffas-
sung des Wesens der Wahrheit widersprechen müssen. Jürgen Habermas
selber räumt den „contraintuitiven“ Charakter dieser prozeduralen
Wahrheitstheorie ein, weil „Wahrheit offensichtlich kein Erfolgsbegriff
ist“,225 aber er zieht aus dieser Einsicht nicht die einzig haltbare
Konsequenz: die Verwerfung seiner eigenen Theorie als evidentermaßen
falsch und widersprüchlich, sondern revidiert seine frühere Theorie der
Wahrheit als „rationaler“ und durch Diskurs und Widerstand gegen
Einwände gegangener „rationaler Behauptbarkeit von Sätzen“ im Sinne
eines „pragmatisch gefaßten, nicht-epistemischen Wahrheitsbegriffs“.226
Dabei scheinen von Jürgen Habermas auch durchgehend die Probleme des
Wesens der Urteilswahrheit und der Wahrheitsvergewisserung, d.h. der
Rechtfertigung und Kriterien von Wahrheit, vermengt zu werden.227
Um noch einmal auf „Erfolg“ im Sinne des Pragmatizismus von Peirce
und der Verifizierung, bzw. jener Erfahrungen, in denen wir ein Urteil
verifizieren, zurückzukommen, so zeigt sich wohl schon im Wortsinn von
Verifikation, daß in dieser unmöglich das Wesen der Wahrheit liegen
kann. Auch hier führt Definition der Wahrheit durch Verifikation zu einem
Zirkel. Verifikation heißt ja „Bestätigung“ von Wahrheit. Wenn jemand in
das verschüttete Bergwerk eindringt und dann sieht, ob von den 120 dort

224
Vgl. Habermas, ebd., S. 48-49.
225
Ebd., S. 50.
226
Ebd., S. 50-51; 271 ff.
227
Vgl. etwa ebd., S. 54-55.

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 287

liegenden Menschen noch jemand am Leben ist, und wir diese


Wahrnehmungen, in denen die Zahl der Lebenden festgestellt wird, als
Verifikation bezeichnen, dann wird eben durch diese Wahrnehmungen
bestätigt, daß das schon vorher gefällte Urteil wahr war. Bestätigung von
Wahrheit setzt voraus, daß die Wahrheit nicht die Bestätigung ist. Ja es hat
gar keinen Sinn mehr, die Wahrheit von etwas durch Wahrnehmung zu
bestätigen, wenn die Wahrheit nichts anderes ist als diese Wahrnehmung.
Wenn wir daher den eigentlichen Sinn des Wortes „Verifikation“ als
Bestätigung von Wahrem betrachten, ist der Unterschied zwischen der
Bestätigung selbst und der Wahrheit, die bestätigt wird, offenbar.
Daraus zeigt sich, daß selbst durch den wahrheitsnächsten Sinn von
Erfolg, nämlich Beobachtung und Verifikation, das Wesen der Wahrheit
unmöglich definiert werden kann. Im übrigen gelten auch früher
ausführlich entwickelte Argumente gegen die Evidenztheorie der Wahrheit
ebenso gegen die Erfolgstheorie im seriösesten Sinn, nämlich in dem des
Pragmatizismus von Peirce.
Man kann außerdem, wohl zu recht, behaupten, daß nach Peirce
„Erfolg“ im Sinne aller Erfahrungen, die einem Urteil bzw. seiner
Verifikation entsprechen, primär ein Kriterium des Sinnes ist und nicht der
Wahrheit. Denn schon der Sinn eines Urteils besteht nach Peirce in seinem
„Erfolg“ (einer Idee von Erfolg, die Husserls Begriff der „Erfüllung“ von
Meinungsintentionen durch Anschauungen nahekommt), d.h. in den
Wahrnehmungen, durch die das Urteil in gewissem Sinn verifiziert wird
oder die ihm entsprechen. Auch als Sinnkriterium ist die pragmatizistische
Interpretation mehr als problematisch, aber das ist hier nicht unmittelbar
unser Thema.

2.1. Erfolg – Bedingung oder notwendige Folge der Wahrheit?

Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, ob Erfolg eine Bedingung oder
auch eine notwendige Folge von Wahrheit ist, so haben wir auch dies
schon implizite für falsch befunden durch einige unserer Argumente dafür,
daß Erfolg nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht. Denn wir haben
gezeigt, daß es, etwa über inner Zustände, wahre Urteile geben kann,
denen niemand zustimmt, die deshalb auch nicht intersubjektiv verifizier-

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288 KAPITEL 4

bar sind oder in sonst einem Sinne „Erfolg“ haben. Es gibt sogar wahre
Urteile, etwa über Ereignisse über Milliarden Lichtjahre entfernte
Sonnensysteme, deren Wahrheit kein Mensch jemals feststellen oder
verifizieren kann. Durch diese Hinweise und einige Argumente dagegen,
das Wesen der Wahrheit mit Erfolg in irgendeinem Sinne zu identifizieren,
haben wir implizite auch schon abgelehnt, daß Erfolg eine notwendige
Bedingung von Wahrheit ist.
Wenn man im gesellschaftlich-historischen Sieg von Ideen eine
notwendige Bedingung oder auch eine notwendige Folge der Wahrheit
sieht, so darf man dies sinnvollerweise ausschließlich dann tun, wenn man
eine Metaphysik oder Eschatologie voraussetzt, nach der nur das Wahre
„am Ende“ siegen kann (was nicht ausschließt, daß im Laufe der
Geschichte unzählige falsche Ideen siegen und herrschen). So meint Hegel,
in der Geschichte und vor allem an deren Ende, nämlich in seinem eigenen
System, werde die Wahrheit triumphieren. In einer weniger tiefsinnig
durchdachten und in einem materialistischen System letztlich total
irrationalen Version meint auch Marx, in der Ideologie der klassenlosen
Gesellschaft, des Proletariats, werde am Ende der Geschichte das Wahre
und Gute triumphieren. Auf ganz anderer Grundlage als ihre säkularisier-
ten oder sogar atheistischen Pendants glauben auch die Christen, daß am
Jüngsten Tag alles Wahre ans Licht kommen und triumphieren wird. Daß
der Sieg der Wahrheit in der Geschichte nicht vollkommen ist und viel
eher Irrtum und Bosheit triumphieren, liegt von Sodoma bis Auschwitz auf
der Hand. Daß es keinen sichtbaren historischen Sieg der Wahrheit und des
Guten gibt, schließt jedoch nicht aus, daß die Wahrheit am Ende, im
Eschaton, siege.
Wenn man den letzten eschatologischen „Erfolg“ als notwendige Folge
der Wahrheit erkennt, so stellt sich natürlich die Frage, auf welcher
metaphysischen Basis man einen solchen letzten Sieg der Wahrheit in der
Realität behauptet. Geht man von einem theozentrischen Weltbild oder
einer rein philosophischen Gotteserkenntnis228 aus und sagt, daß es

228
Wie ich sie etwa in Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C.
Winter, 1996), 2. Aufl. 2000 und in: „Die natürliche Gotteserkenntnis als
menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 289

metaphysisch undenkbar ist, daß in einer von einem unendlich guten und
personalen Gott geschaffenen Welt auf ewig Lüge und Falschheit
triumphieren, daß es daher einen Augenblick oder eine „absolute Zukunft“
geben muß, wo die Wahrheit offenbar wird und sich durchsetzt und auch
die Wirklichkeit gemäß der Wahrheit geordnet wird, dann hat man in Gott
als höchster Einheit von Sein, Macht und Wert, sei es auf Grund der reinen
Vernunft, sei es auf Grund eines theistischen Glaubens, einen soliden
metaphysischen Grund für die Annahme, daß letzten Endes die Wahrheit
triumphieren wird.
Dabei kann auch der Theist aus der letzten metaphysischen und
eschatologischen Einheit von Sein und Wert keinesfalls schließen, daß der
historisch-innerweltliche Sieg von Ideen deren Wahrheit garantiere oder
eine notwendige Folge oder Bedingung für Wahrheit sei. Daß dem nicht so
ist, ergibt sich bereits daraus, daß zu verschiedenen Zeiten ganz verschie-
dene, und oft einander widersprechende, Ideen triumphiert haben.
Wenn man jedoch nicht von einer Metaphysik der letzten Einheit von
Sein und Wert, sondern etwa von einem marxistischen Weltbild ausgeht,
so beraubt man sich überhaupt jeglicher metaphysischen Grundlage, um
begründetermaßen einen Endsieg am Ende der Geschichte als notwendige
Folge der Wahrheit einer Lehre behaupten zu können. Denn was soll
garantieren, daß in einem rein materialistisch erklärten, dialektisch in
Gegensätzen sich bewegenden Universum und in einer dialektisch sich
bewegenden Entwicklung der Geschichte, das Proletariat (das angeblich
am Ende in einer klassenlosen Gesellschaft übrigbleiben bzw. zu ihr führen
wird, deshalb) eine wahre Ideologie vertreten wird?
Nur wenn es feststeht, daß das Subjekt, das den Endsieg bestimmt, gut
und allmächtig, und daß seine Erkenntnis irrtumsfrei ist, weshalb allein
feststeht, daß das Gute und die Erkenntnis sich wegen der Ordnung der
Welt durch Gott als den Urgütigen und Allmächtigen letzten Endes auch in
der Realität durchsetzen wird – nur dann kann man begründen, daß am

Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag,
2001), 9-102, zu begründen suchte und in „Zur Herkunft des Glaubens. Gründe
und Hintergründe. Refexionen über das Problem einer Theodizee angesichts der
Leiden und Übel in der Welt“ in: Glaube im Unglauben der Zeit (Augsburg:
Dialogsekretariat, 1983) gegen diverse atheistische Einwände aus der Existenz
der Übel in der Welt verteidigt habe.

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290 KAPITEL 4

Ende die Wahrheit triumphiert. Auf einer materialistischen Grundlage


hingegen kann man diese Behauptung überhaupt nicht rational rechtfer-
tigen, sondern bleibt diese eine rein dogmatische und unbegründbare
Beteuerung. Denn es könnte genauso gut sein, daß die klassenlose, am
Ende übrigbleibende und nur aus materiellen historischen Gesetzen sich
entwickelnde Gesellschaft von Irrtümern und Bosheit besessen sein oder
die ganze Menschheit auslöschen wird.
So gibt es innerhalb einer materialistischen Metaphysik überhaupt keine
rationale Basis dafür, der Wahrheit einen historischen Endsieg zuzuschrei-
ben und einen „historischen Pragmatismus“ zu verteidigen.
Die Plausibilität und Anziehungskraft der marxistischen Ideologie für
viele zehrt in der Tat von einer säkularisierten theistischen oder postchrist-
lichen Vorstellung. Denn ohne einen letzten geistigen Sinngaranten, in
dem Macht, Realität und Wahrheit zusammenfallen, läßt sich der histo-
rische oder eschatologische Sieg der Wahrheit überhaupt nicht rational
begründen oder auch nur erwarten und erhoffen.
So kann man in der marxistischen Geschichtsphilosophie eine radikal
säkularisierte und in eine andere Welt übertragene jüdisch-christliche
Theologie sehen, was auch für Ernst Blochs Prinzip Hoffnung gilt, insofern
dieses Werk nicht rein als historisch-beschreibend zu kennzeichnen ist,
sondern Hoffnung mit Recht als ein wesentliches Moment des Humanum
betrachtet.229 Anders läßt es sich kaum erklären, warum man nicht der
Dekadenz oder dem Irrtum, sondern der Wahrheit den Endsieg in der
Gesellschaft und Geschichte zuschreiben kann.

2.2. Erfolg als Kriterium der Wahrheit?

Wenn man den Erfolg als Kriterium der Wahrheit betrachtet, so ist wohl
aus dem Gesagten auch schon klar, daß Erfolg im Sinne der sachfernen
Wirkungen und des Nutzens einer Ideologie in keiner Weise ein Kriterium
für ihre Wahrheit sein kann. Wenn die Nationalsozialisten sagten, daß ihre
militärischen Siege ein Beweis für die Wahrheit ihrer Ideologie seien, so
liegt es auf der Hand, daß dies ein Unfug ist. Denn was soll es auch mit der

229
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1-3 (Frankfurt a. M:, Suhrkamp 1959).

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 291

Wahrheit einer Ideologie zu tun haben, daß man bessere Waffen produziert
und andere damit besiegen kann? Das stellt höchstens einen Beweis für die
Güte ihrer Waffenproduktion oder für die Überlegenheit des Plans ihrer
Waffen oder ihres technischen Könnens dar. Gleichfalls, wenn die
Bolschewiken und spätere Generationen von Kommunisten behaupteten, es
sei ein Beweis der Wahrheit der marxistischen Ideologie, daß sie den Sieg
gegen den Zarismus und zahlreiche andere Siege errungen hätten, dann ist
dies ebenso Unsinn. Denn wieso soll die Tatsache, daß sie besser
bewaffnet waren, oder daß mehr Menschen ihre Anhänger als ihre Gegner
gewesen sind, ein Beweis dafür sein, daß die kommunistische Ideologie
wahr war? Angesichts des schwankenden Erfolgs der Völker in der
Geschichte und der brutalen Kräfte im Menschen, die sie beherrschen, ist
eine solche Meinung ein purer irrationaler Wahn.
Auch Hegels Theorie, daß der Zeitgeist immer die historische Wahrheit
verkörpere und daß das, was nicht dem Zeitgeist entspreche, schon deshalb
als solches unwahr sei, hat zwar in der Hegelschen Metaphysik des sich in
der Geschichte entfaltenden Weltgeistes ein Fundament, das die These
vom Sieg der Wahrheit in der Geschichte begründen könnte. Da aber die
Ideen Hegels von einem Gutes und Böses gleichermaßen wollenden
Weltgeiste eher in Schopenhauers oder Nietzsches metaphysischen
Pessimismus münden müßten und außerdem die Selbstentfaltung des
Geistes in der Geschichte jeder Evidenz entbehrt und eine abenteuerliche
Konstruktion ist, finden wir auch in Hegels Metaphysik keine objektive
Begründung für den Endsieg der Wahrheit in der Geschichte oder am Ende
der Geschichte. Eine solche angesichts der Mächte der Zerstörung und des
Bösen in der Geschichte proklamierte „historische Theodizee“ und Lehre
vom Endsieg der Wahrheit innerhalb oder am Ende der Menschheits-
geschichte könnte jedenfalls nur von einer Gotteserkenntnis kommen, wie
sie hier nicht unser Thema ist. So ist auch bei Hegel der Sieg der Wahrheit
am Ende der Geschichte von seiner apersonalen Gottesidee und Idee des
Absoluten her nicht nur eine unwahrscheinliche Annahme, sondern wäre –
selbst wenn Hegels diesbezüglichen Prophezeiungen einträten – ein durch
und durch willkürliches Kriterium für Wahrheit oder ein unbegründbares
Postulat ihrer historischen Wirksamkeit oder ihres Sieges, das weder der
kritischen Analyse der evidenten wesenhaften Sachverhalte über das

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292 KAPITEL 4

Verhältnis zwischen Wahrheit und intersubjektiver Herrschaft von Ideen


noch empirischen Tatsachen standhalten kann.230
Erst recht gilt diese Kritik für geschichtsimmanente Erfolge, wenn
dieselben die Wahrheit von Ideen beweisen sollen. Dann müßte man etwa
sagen, daß der Nationalsozialismus wahr war, weil er gesiegt hat,
zumindest für die Zeit, in der er gesiegt hat, wonach er falsch geworden
sei, nachdem er wieder verschwand, was offenbar absurd ist.
Ein Kriterium für Wahrheit in geschichtsimmanenten politischen,
militärischen oder anderweitigen Erfolgen zu erblicken ist außerdem
widersprüchlich, weil dieselben Ideen und Ideologien geschichtlich
gesehen einmal siegen, dann wieder verlieren. Dann müßte aber gemäß
dieser Theorie die Wahrheit einmal auf der Seite der Sieger, dann
wiederum auf jener der Verlierer liegen. Obwohl also eine bestimmte
Philosophie oder Ideologie immer dasselbe gemeint hätte, müßte sie bei
ihrem Sieg in der Geschichte wahr sein, bei ihrer Niederlage falsch
werden.
Wenn man mit Erfolg hingegen meint, daß eine Überzeugung auf Dauer
nur akzeptiert werden und historisch herrschen kann, wenn sie wahr ist,

230
Vgl. G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe (Frankfurt a.M.:
Suhrkamp Verlag, 1970) – ein Wiederabdurck von G.W.F. Hegel, Werke.
Vollständige Ausg. durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph.
Marheineke [et al.] Berlin: Duncker und Humblot, 1832-1845. Vorlesungen über
die Philosophie der Geschichte, (Bd.) 12:11. (Jub. IX):
Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz
metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so
daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden
sollte. In der Tat liegt nirgend eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden
Erkenntnis als in der Weltgeschichte. Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des
Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und
Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck
der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm
sich letztlich geltend gemacht habe. Hierfür aber genügt der bloße Glaube an den noÿV und
die Vorsehung noch keineswegs. Die Vernunft, von der gesagt worden, daß sie in der Welt
regiere, ist ein ebenso unbestimmtes Wort als die Vorsehung - man spricht immer von der
Vernunft, ohne eben angeben zu können, was denn ihre Bestimmung, ihr Inhalt ist, wonach
wir beurteilen können, ob etwas vernünftig ist, ob unvernünftig. Die Vernunft in 12/28 ihrer
Bestimmung gefaßt, dies ist erst die Sache; das andere, wenn man ebenso bei der Vernunft
überhaupt stehenbleibt, das sind nur Worte. Mit diesen Angaben gehen wir zu dem zweiten
Gesichtspunkte über, den wir in dieser Einleitung betrachten wollen.

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 293

dann kann das Kriterium des Erfolgs für Wahrheit unter sehr bestimmten
Umständen durchaus berechtigt und sinnvoll sein. Denken wir an das
Argument Gamaliels in der Apostelgeschichte, wo er zu den Juden sagt, sie
sollten die Apostel nicht verfolgen oder töten. Denn wenn ihre Lehre eine
rein menschliche sei, dann werde es mit ihr genauso gehen wie mit
zahllosen anderen rein menschlichen Lehren, die innerhalb einer oder
zweier Generationen ausgestorben sind. Man brauche sie also nur ihrem
Schicksal zu überlassen. Wenn ihre Lehre aber von Gott sei, dann werde
sie dauern. In diesem Fall sollten die Juden aber nicht gegen Gott kämpfen,
indem sie die Apostel, welche göttliche Lehren vertreten, hinrichten.
In seinem Argument sieht Gamaliel also in dem historischen Erfolg der
Ideen des Christentums einen Beweis für ihre Göttlichkeit und Wahrheit.
Warum? Nicht einfach aus dem Grund, daß Ideen, die ein so differenzier-
tes und schwer zu akzeptierendes metaphysisch-religiöses System und eine
Lehre wie das Christentum, die so viele harte Konsequenzen für das
persönliche Leben der Menschen hat, auf einer rein menschlichen Basis
nicht lange nicht bestehen bleiben kann. Gamaliel argumentiert vielmehr,
daß die historische Erfahrung zeigt, daß wenn Menschen Philosophien oder
Ideologien aller Art entwickeln, diese nach kurzer Zeit verändert werden
oder aussterben.
Man kann selbstverständlich fragen, ob dieses Argument aus dem
Überleben und der Dauer des Christentums als solches genügend ist, um
dessen Wahrheit zu beweisen. Dieses Gamaliel-Argument ist nicht nur für
viele Christen, sondern in neuem Sinn für viele Katholiken einer der
Gründe, warum sie von der Wahrheit der Kirche überzeugt sind. Sie
argumentieren, daß es außerhalb der katholischen Lehre nirgends eine
ähnlich langlebige und zugleich höchst differenzierte Lehre gibt, die über
2000 Jahre hindurch, und zwar inmitten wüstester historischer Debatten
und Kontroversen und aller möglichen anderen Deutungen des Christen-
tums und Einflüsse, sich als einheitliche Lehre durchgehalten hat.
Der Platonismus etwa war im Gegensatz dazu schon unter Platons
direkten Schülern nicht einheitlich und zerfiel nach einer Generation in alle
möglichen Schulen, die von einander radikal verschieden waren. Andere
Religionen sind in Sekten zersplittert, wie die Buddhisten. Sogar innerhalb
der reformierten, lutherischen und anderer Christen haben sich die
verschiedenen christlichen Bekenntnisse in Hunderte aufgespaltet. Überall

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294 KAPITEL 4

ist irgendeine andere Kirche da, die etwas anderes glaubt. Und daß über
eine Dauer von fast 2000 Jahren eine so schwer begreifbare, subtile und
zugleich einfache metaphysisch-anthropologische, ethische, und religiöse
Lehre erhalten blieb wie sie in den dogmatischen Formulierungen der
Kirche von deren Anfängen bis zur Gegenwart ohne Bruch und Wider-
spruch zum Ausdruck kommt, mag der Katholik, aber selbst der Anders-
denkende als einen einmaligen „Erfolg“, eine Art Wunder betrachten, das
man nicht rein menschlich-natürlich erklären kann. Denn wo sonst
Menschen zusammenkommen und über so schwierige fragen wie jene der
christlichen Lehre sprechen, sind sie fast immer schon innerhalb einer
Generation entzweit.
Dieses Argument liegt übrigens auch Boccaccios „Lumpenbeweis“
zugrunde. Boccaccio bringt im Decamerone die Geschichte vom Juden
Abraham und dem christlichen Kaufmann. Beide disputieren über den
Glauben. Der Jude Abraham lehnt das Christentum völlig ab. Schließlich
sagt er dem Christen, er wolle nach Rom gehen, um das Christentum im
Zentrum der Christenheit kennenzulernen. Daraufhin sagt der Christ: „Um
Gottes willen, gehe nur ja nicht nach Rom! Wenn Du den Papst und die
Kardinäle siehst und all den Unfug und all die Greuel, die am päpstlichen
Hof vorgehen, dann wirst Du jeden Glauben an das Christentum
verlieren!“ Der Jude Abraham geht dennoch nach Rom und nach einigen
Monaten schreibt er, er wolle jetzt zur Kirche übertreten und hätte sich
bekehrt. Der Christ ist ganz verblüfft und schreibt: „Wieso um Gottes
willen, wie kannst Du in Rom, im Sündenpfuhl, im Babel, zum Glauben
gefunden haben?“ Und darauf antwortet der Jude sinngemäß: „Alles, was
Du mir über die Übel und Korruption im Vatikan erzählt hast, ist wahr, ja
wird durch die Tatsachen weit übertroffen. Eine Lehre aber, die durch so
üble Menschen wie viele Kardinäle und Päpste es sind und durch so
korrupte Menschen wie die Katholiken es oft sind, in über 1000 Jahren
noch nicht zerstört worden ist, die kann nur göttlichen Ursprungs sein.“
Das ist natürlich, wenn man es so lesen will, ein merkwürdiges
Argument und vielleicht in Boccaccios verächtlich vorgetragenem Ton in
seinem von der katholischen Kirche auf den Index verbotener Bücher
gesetzten Werk zynisch gemeint. Aber meines Erachtens ist dies ein
ähnliches Argument wie das des Gamaliel in der Apostelgeschichte.

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Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien 295

Nach diesem Argument wäre der Erfolg einer Idee im Sinne des
Bewahrtwerdens einer Idee in einer Gemeinschaft oder in der Geschichte
Ausgangspunkt der Argumentation. Und dieser Erfolg wird nicht deshalb
als Wahrheitsbeweis gewertet, weil einfach irgendeine Idee historisch
lange lebendig bleibt. Vielmehr wird hier eine besondere historische
Tatsache als Wahrheitsbeweis gewertet, und angenommen, daß eine andere
Erklärung dieses einzigartigen „Erfolges“ außer durch die Wahrheit oder
durch einen göttlichen Einfluß nicht möglich ist. Die Diskussion der
Erfolgstheorie der Wahrheit als Kriterium für Wahrheit durfte nicht
abgeschlossen werden, ohne auf diese besondere Form des Arguments
einzugehen, die nicht in Erfolg als solchem, sondern in einer menschlich
nicht erklärbaren und der sonstigen Erfahrung des Erfolgs von Ideen in der
Geschichte widerstreitenden Art des Sieges eines Glaubens einen Beweis
für dessen göttlichen Ursprung und damit auch für dessen Wahrheit
erblickt.

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KAPITEL 5

FUNKTIONALISTISCHER WAHRHEITSBEGRIFF

Zwischen existentialistischem und utilitaristischem Wahrheitsbegriff,


und beiden überaus verwandt, steht der funktionalistische Wahrheits-
begriff, der psychologische, soziale, politische, aber auch religiöse Formen
annehmen kann und jeweils die Wahrheit einer Theorie oder eines
Glaubens mit deren Funktion identifiziert. In dieser Hinsicht ist der
funktionalistische Wahrheitsbegriff dem des Pragmatismus verwandt. Er
ähnelt aber auch dem existentialistischen Wahrheitsbegriff, zwar nicht
jenem, der das Engagement und frei gewählte Interesse des Subjekts
hervorhebt, wohl aber dem, der die Auswirkungen von Ideen auf das
Subjekt und die existentiellen Interessen desselben zum Angelpunkt des
Wahrheitsbegriffs macht.
Eine besondere Form des Funktionalismus finden wir nicht nur in
diversen Religionsphilosophien und Religionspsychologien, von denen nur
wenige ganz frei vom Funktionalismus sind, sondern auch innerhalb
bestimmter religiöser und politischer Gruppen und Gesellschaftsschichten,
denen mehr an politischen Funktionen von Ideen und Religionen als an
deren Wahrheit liegt.231 Nach Ansicht mancher Interpreten liegt sogar im
Kern mancher östlicher Religionen, wie des Buddhismus, in denen nicht so
sehr ein Wahrheitsanspruch im Sinne der Korrespondenz von Urteilen mit
der Wirklichkeit, sondern ein Weg zur Leidensfreiheit und inneren
Erfüllung den Haupttenor religiösen Bewußtseins ausmache, ein Funktio-
nalismus.232

231
Spaemann hat hinsichtlich einer Reihe von konservativen, aber auch progressiven
französischen Autoren wie de Bonald gezeigt, daß ihrem Denken ein derartiger
Ersatz der Wahrheitsfrage durch die Frage der Funktionalität von Ideen für das
Ancien Régime zugrundeliegt. Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der
Soziologie aus dem Geist der Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald
(München: Kösel, 1959).
232
Vgl. etwa David Scott, “Buddhist Functionalism – Instrumentality Reaffirmed”,
Asian Philosophy, (1995); 5 (2): 127-149. Der Autor untersucht die Frage, ob der
Buddhismus am besten innerhalb einer funktionalistischen Wahrheitsauffassung

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298 KAPITEL 5

Auch wenn das Wahrheitspathos und die absolut grundlegende Rolle


der Wahrheit als Fundament des Glaubens jede Spur von Funktionalismus
aus dem Kern des Christentums, aber auch etwa aus dem ursprünglichen
Judentum und dem Islam verbannt, die absolute Wahrheitsansprüche aner-
kennen, welche G. Elizabeth M. Anscombe insbesondere dem Monotheis-
mus im Gegensatz zu polytheistischen Religionen zuordnet,233 so gibt es
doch auch innerhalb vieler jüdischer, christlicher sowie anderer religiöser
Trends und Bewegungen Elemente des Funktionalismus. Innerhalb der
Religionsphilosophie von Hermann Lübbe etwa finden wir ein markantes
Beispiel funktionalistischer Religionsauffassung und zumindest nahelie-
genderweise auch eine einem psychologischen Pragmatismus verwandte
funktionalistische Auffassung religiöser Wahrheit, die Lübbe nach der
Aufklärung und nach Kants Kritik aller transzendenten Wahrheits-
ansprüche über Gott für die einzige Weise einer Rettung des Wertes der
Religion hält. In Lübbes Dialogen mit Robert Spaemann stehen wir vor

verstanden werden könne, die insbesondere auch mit James‘s Pragmatismus,


Dewey‘s Instrumentalismus und Braithwaite‘s ‚Empirizismus‘, aber auch
Wittgenstein‘s ‚Sprachspieltheorie‘ verwandt ist. Indem er diese Frage zumindest
teilweise bejaht, zieht der Autor auch zu Prozessphilosophien wie jenen
Hartshornes und Jacobsons Parallelen. Innerhalb des Buddhismus behandelt er vor
allem die traditionellen ethischen Theravada-Vorschriften, die Samadhi-Medita-
tion und die Idee der Panna-Weisheit samt einigen Theravada Ritualen, um seine
These zu erhärten. Er findet allerdings auch im Buddhismus Elemente von
Wahrheitsansprüchen im Sinne der „Korrespondenz,“ wie etwa die Vipassana
‚Einsicht‘ und die Abhidharma Analyse, aber erblickt im innersten Kern des
Buddhismus einen Funktionalismus, vor allem auch im Mahayana und Upaya.
Den Madyamika, Tantras und Ch‘an (Zen) Schulen ordnet er einen klar
hervorstechenden Funktionalismus zu. Und selbst den anfänglich ‚absolutis-
tischer‘ wirkenden Positionen des ‚Pure Land Buddhismus‘ und der Nichireni-
schen Glaubenstraditionen, sowie Dharmakirti‘s Vijnanavada Erkenntnistheorie
schreibt er wesentliche funktionalistische Züge zu.
233
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, “Paganism, Superstition and Philosophy (by Ms.
G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik
und Ethik (Heidelberg: C. Winter, 1998), S. 93-105. Vgl. auch zur teils kritischen
Diskussion ihrer Auffassungen Josef Seifert, “A Response to: Paganism,
Superstition and Philosophy (by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo
(Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 107-117.

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Funktionalistischer Wahrheitsbegriff 299

einem der besten jüngeren Beispiele einer Diskussion solcher funktionalis-


tischer Theorien religiöser Wahrheit.234
Nach diesem funktionalistischen Wahrheitsbegriff bedeutet die Wahr-
heit einer Theorie oder Religion, daß dieselbe eine Funktion erfülle, also,
ähnlich wie im Utilitarismus, eine bestimmte Wirksamkeit entfalte und
eine bestimmte Nützlichkeit besitze.
In verschiedener Hinsicht unterscheiden sich diverse funktionalistische
Wahrheitstheorien wesentlich von einander. Manchmal identifiziert man
die Wahrheit mit einer rein äußerlichen Wirkung von etwas, wie dies etwa
in einer traditionalistischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche
Frankreichs geschah, deren Mitglieder die Funktion der katholischen
Kirche für das Ancien Régime bejahten, dabei aber selber Atheisten waren;
hier wurde die Wahrheit (oder auch der Wahrheitsersatz) einer Religion
nur in ihrer politischen Rolle zur Bewahrung des Ancien Régime
gesehen.235
Andere Auffassungen sehen die Funktion, welche den Wert oder die
Wahrheit der Religion ausmache, in innerlicheren Auswirkungen auf das
Bewußtsein und Glück des Menschen oder in psychologischen Wirkungen
der Religion und ähnlichen Funktionen derselben.
Lübbe entwickelt sein funktionalistisches und pragmatisches Wahrheits-
verständnis der Religion in einem tieferen Sinne, indem er der Religion in
erster Linie die Funktion der „Kontingenzbewältigung“ zuschreibt. Der
Mensch könne nur dann gesund als Mensch leben, wenn er sich als
kontingentes Wesen, das er objektiv ist, versteht und annimmt. Dies sei
angesichts des Todes, der Leiden, aber überhaupt der Zufälligkeiten des

234
Vgl. Robert Spaemann, „Kritik der politischen Theologie“, in: Wort und Wahrheit
24, 1969, Heft 6; als ‚Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen
Theologie‘, in: Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, 57-76.
Ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“, in
Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Vgl. Auch Georg Lohmann,
„Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo
Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg.,
Konservatismus in Geschichte und Gegenwart (Würzburg: Verlag Könighausen &
Neumann, 1991), S.183-20.
235
Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald, zit.

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300 KAPITEL 5

menschlichen Daseins ein für authentische menschliche Existenz unent-


behrliches Moment, das jedoch nur die Religion leisten könne. Zur eigenen
Kontingenzbewältigung sei deshalb Religion notwendig und in diesem
Sinne funktionalistisch gesprochen wahr.236
Dabei kann diese Funktion der Religion an die Stelle von deren
Wahrheit gesetzt werden, ohne zu behaupten, daß ihre Funktion die
Wahrheit der Religion ausmache (eine solche Auffassung des „Abschieds
der Religion von der Wahrheit“ nach der Aufklärung und der Notwendig-
keit ihrer Beschränkung auf Funktionen ist wohl Lübbes Ansicht), oder
man kann das Wesen der Wahrheit mit diesen Funktionen gleichsetzen.

1. Kritik funktionalistischer Wahrheits- und Religionsauffassungen

Dieser Auffassung kann man zunächst entgegenhalten, daß gerade,


abgesehen von rein äußeren politischen Wirkungen derselben, die Funktion
einer Religion, vor allem die innere geistlich-spirituelle, nur durch das
Festhalten bzw. den Glauben an ihre Wahrheit geleistet werden kann. In
diesem Sinn hat Robert Spaemann gegen Lübbe Einwendungen erhoben
und hat Lübbe repliziert237, daß, den neuesten Statistiken zufolge, Placebo-
Medikamente selbst nachdem man ihre objektive medizinische Wirkungs-
losigkeit festgestellt bzw. ihren Charakter als Placebo-Medikament
durchschaut habe, immer noch wirksam blieben. Doch kann dieses
Argument kaum überzeugen, wenn man es mit Lübbe auf Religionen
anwendet, da die Religion nicht oder kaum im Sinne einer lebhaften
Phantasie, die hinsichtlich eines Placebo-Medikamentes vielleicht bei
phantastisch veranlagten Menschen wirksam ist, wirken kann. Da sie sich
auf die letzte metaphysische Ebene bezieht und auf die Frage der
wirklichen Bestimmung und des wirklichen Ursprungs des Menschen,
kann wohl jemandem, der nicht die Wahrheit im Sinne der Übereinstim-
mung dieser Religion oder Metaphysik mit der Wirklichkeit annimmt, eine
religiöse oder metaphysische Vorstellung in keiner Weise bei seiner
„Kontingenzbewältigung“ helfen.

236
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung.
237
Siehe Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung.

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Funktionalistischer Wahrheitsbegriff 301

Vor allem jedoch geht es gar nicht primär um die Frage, ob auch eine
funktionalistisch durchschaute Religion, Ethik oder Metaphysik sich zur
Kontingenzbewältigung als wirksam erweisen kann. Vielleicht gibt es
Menschen, die trotz vorausgesetzter Unwahrheit oder Nichtwahrheit ihrer
Religion diese dennoch funktionalistisch wie ein durchschautes Placebo-
Medikament autosuggestiv benützen. Damit ist jedoch der tiefere Einwand
Spaemanns, den Lübbe nicht zu berücksichtigen scheint, nicht getroffen,
nämlich der, daß es dem Wesen des Göttlichen, ja sogar dem Gottesbegriff
widerspricht, wie Robert Spaemann im Anschluß an Anselm von
Canterbury zeigt, daß das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden
kann, nur funktionalistisch umgedeutet werden könnte.238 Denn wenn es
um des Menschen willen eine Funktion erfüllt, so wäre es sogar dem
Menschen an Wert unterlegen und daher nicht mehr Gott bzw. die Einheit
von Realität, Macht, und Gutheit, im höchsten, ja im unendlichen Sinne,
die die göttliche Wesenheit des „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres
gedacht werden kann“ ausmacht.
An diese Erwiderungen Spaemanns möchten wir hier eine noch
allgemeinere philosophische Überlegung, die die Frage nach dem Wesen
der Wahrheit betrifft, anschließen. Es zeigt sich nämlich, daß sich der
Funktionalismus ebenso widerspricht wie die existentialistische und die
utilitaristische Wahrheitsdefinitionen. Denn wenn man im strikten Sinne
(es sei hier nicht entschieden, ob Lübbe diese Auffassung vertritt oder
nicht) Wahrheit mit Funktionalität identifizieren wollte, so würde man
immer noch in diesem Urteil der Identifizierung der beiden Wahrheit als
adaequatio voraussetzen. Denn indem man diese Theorie über die
funktionalistische Natur der Wahrheit formuliert, darf man gewiß diese
Theorie des Funktionalismus selbst nicht wiederum funktionalistisch
deuten, denn sonst wäre sie als Aussage darüber, was Wahrheit ist, völlig
wertlos und würde nur eine Anschauung darstellen, die bestimmte
persönliche, psychologische oder existentielle Funktionen erfüllt. So kann
auch diese Theorie gleich wie die früher auf dieser Basis kritisierten
Auffassungen, nicht umhin, Wahrheit im klassischen Sinn als

238
Spaemann, Robert, „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚Gott‘“, in: Robert
Spaemann, Einsprüche. Christliche Reden, S. 13-35.

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302 KAPITEL 5

Übereinstimmung eines Urteils mit dem Selbstverhalten der Gegenstände


vorauszusetzen.
Dazu kommt, daß es dem Wesen der Wahrheit des Urteils, das
einsichtig vor uns liegt, eindeutig widerspricht, als Funktionalität des
Urteils bestimmt zu werden. Denn ganz offensichtlich können Funktionen
aller Art auch von Illusionen und offenkundig falschen Meinungen
ausgeübt werden. Selbst Hitlers Glaube an die Unwürde der Juden war von
großer praktischer und politischer Wirksamkeit und besaß in der
Geschichte des Nationalsozialismus seine „Funktion.“ Wird diese Theorie
deshalb wahr? Aus ähnlichen Gründen wie jenen, die wir gegen den
utilitaristischen und pragmatischen Wahrheitsbegriff schon geltend
gemacht haben, kann die Funktionalität auch nicht als Kriterium für
Wahrheit, als Bedingung für Wahrheit, als notwendige Folge von
Wahrheit, etc. gelten.
Dabei sei in keiner Weise geleugnet, daß Wahrheit praktische, politische
und psychologische Funktionen ausüben kann und daß ein Inhalt, der wahr
ist, wenn er zugleich wahr und tröstlich ist, sich zugleich als wirksam,
vielleicht sogar als allein wirksam zur Kontingenzbewältigung, zur
Antwort auf Leiden und dergleichen, sowie auch zur Bewältigung
praktischer politischer Probleme erweist. Unsere Einwände gelten nicht der
möglichen Funktion der Wahrheit, sondern nur der Reduktion des Wesens
der Wahrheit auf Funktionalität sowie deren Deutung als eindeutiges
Kriterium, als Bedingung oder als notwendige Folge der Wahrheit. Denn
auch Irrtümer und Illusionen können praktisch und politisch wirksam sein
und vielleicht sogar ähnlich gesundheitsförderliche und psychologisch
befreiende Funktionen erfüllen wie wahre Überzeugungen.

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KAPITEL 6

CHIFFRE-THEORIEN DER WAHRHEIT


KRITIK DER WAHRHEITSTHEORIE VON KARL JASPERS UND VERWANDTER
THEORIEN

Die unter diesem Titel zusammengefaßten Wahrheitstheorien sind viel-


fältiger Art und finden sich von der Gnosis an bis zu so radikalen Gegnern
der Gnosis wie Voegelin, in seiner Deutung des 7. Briefes Platons. Am
bekanntesten dürfte Karl Jaspers’ Fassung der Wahrheit als des
Umgreifenden und seine Nietzsche-Deutung sein, nach der die zahllosen
Widersprüche in Nietzsches Philosophie ein gelungener Versuch seien, die
absolute Transzendenz der Wahrheit im Verhältnis zu unseren Urteilen
auszudrücken.239
Diese Art von Theorie kommt wohl primär und fast ausschließlich als
Theorie über das Wesen der Urteilswahrheit in Frage. Nach derartigen
Theorien gibt es entweder keine Urteilswahrheit oder dieselbe bedeutet nur
noch, daß das Urteil eine Chiffre für eine uns total unerkennbare
Transzendenz sei.
Eine solche Theorie ist zunächst überaus unklar, weil sie in keiner
Weise erklärt, was mit absoluter Transzendenz und mit Chiffre gemeint
sei.
Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß die Wahrheit, die ganze
Wahrheit, die vollständige und umfassende Totalität aller wahren Urteile,
jegliches menschliche Erkennen und Erfassen unendlich übersteigt und daß
deshalb menschliches Erkennen niemals das Ganze aller Urteile erfassen
kann und aus diesem Grunde die allumfassende Wahrheit gegenüber jeder
vom Menschen erkennbaren Reihe wahrer Urteile absolut transzendent ist,
eben weil menschliches Erkennen immer unvollständig bleibt?
In diesem Sinne ist die alles umgreifende und in sich begreifende
Wahrheit sicherlich im Verhältnis zu menschlichem Erkennen von

239
Vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit (München, R. Piper & Co, 1958); ders.,
Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Gruyter
Studienbuch, 4. Aufl. (Berlin: Gruyter, 1981).

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306 KAPITEL 6

„absoluter Transzendenz,“ wenn damit nur gemeint ist, daß sie sich jeder
allumfassenden menschlichen Erkenntnis entzieht und jenseits derselben
liegt, aber in keiner Weise kann daraus abgeleitet werden, daß nicht viele
wahren Urteile vom menschlichen Geist erkannt werden oder daß
irgendein Teil der allumfassenden Wahrheit in sich widersprüchlich sein
oder irgendeiner der zahllosen von uns als solchen erkannten Teilwahrhei-
ten widersprechen könnte, was evidentermaßen unmöglich ist, wie wir im
Licht der Evidenz des Widerspruchsprinzips einsehen.
Oder wird in der Chiffre-Theorie der Wahrheit in einer Art von
Hegelianismus gerade dies gemeint, daß alle Widersprüche Teile der einen
und unserem logischen Verstand ganz unzugänglichen Ganzheit der
Wahrheit seien, die – gemessen an den von uns erfaßten Prinzipien des
Widerspruchs und ausgeschlossenen Dritten – widersprüchlich sein könne
bzw. jenseits jeden Gegensatzes einander kontradiktorisch widerspre-
chender Urteile angesetzt werden müsse? So wäre Wahrheit nicht nur
unendlich und uns in ihrer Ganzheit verborgen, sondern könnten wir auch
die Wahrheit keines einzigen Urteils erkennen, ja die Wahrheit wäre
irrational, widersprüchlich und durch die menschliche ratio gänzlich
unerkennbar. Alle unsere Urteile, und besonders die einander widerspre-
chenden, wären nichts als Chiffren, inhaltsleere Zeichen, für eine absolut
transzendente und unserem Geist durch und durch unbegreifliche Wahr-
heit. Eine Chiffre-Theorie der Wahrheit im Sinne eines derart verschwom-
menen Transzendenzbegriffs jedoch vermag weder das Verhältnis der
Urteile zur Wahrheit noch deren Wesen anzugeben.240
Außerdem mündet sie in Positionen wie die, daß radikaler Antisemitis-
mus und Verteidigung der gleichen Würde des jüdischen Menschen beide,
trotz ihres Widerspruchs, gleichermaßen bloße Chiffren seien für eine uns
total unbekannte Wahrheit des Umgreifenden. Damit widerspricht diese
Position jedoch der eindeutig zugänglichen Evidenz von Werten, der
eindeutigen Falschheit von Irrtümern wie dem Rassismus, aber auch
evidenten philosophischen Erkenntnissen wie denen des Cogito, der
logischen Prinzipien, sowie allen bisher gewonnenen Erkenntnissen über

240
Zu den verschiedenen Begriffen von Transzendenz vgl. Josef Seifert, Erkenntnis
objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis,
Einleitung.

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Chiffre-Theorien der Wahrheit 307

das Wesen der Wahrheit, und verfällt so in eine unbegründete Skepsis und
einen Irrationalismus, der klaren und deutlichen Einsichten, die unumstöß-
liche Evidenz besitzen, widerspricht und den fundamentalen Unterschied
zwischen unbezweifelbarer und evidenter Erkenntnis von Wahrheit und
vollständiger Erkenntnis der Wahrheit nicht macht und daher verworren
ist.
Überdies widerspricht sich diese Theorie auch unweigerlich selber,
indem sie offenbar für sich selber Wahrheit im Sinne der Adäquation
voraussetzt, möchte sie uns doch auseinandersetzen, worin Wahrheit des
Urteils nicht besteht und worin sie besteht. Wir brauchen diesen gleichen
Widerspruch, der jede Wahrheitstheorie, welche das Urphänomen der
Übereinstimmung des wahren Urteils umgehen oder ausschalten möchte,
befällt und auf den wir schon mehrmals gestoßen sind, hier nicht noch
einmal auszuführen. Einem ähnlichen Widerspruch verfällt auch jede
Leugnung der Erkennbarkeit (Skepsis) sowie jede These der Relativität der
Wahrheit (Relativismus). Denn beide Positionen setzen die Erkenntnis der
Wahrheit voraus und erheben notwendigerweise den Anspruch auf eine
objektive und eo ipso absolute Wahrheit für ihre eigenen Aussagen.
Die Chiffre-Theorie der Wahrheit kann auch in keiner Weise den
Wahrheitsbegriff der Religion aufklären, obwohl sie durch den Bezug zum
„Umgreifenden“ diesem am nächsten zu kommen scheint. In der in
Wittgensteins Ethik und Religionsphilosophie entwickelten Wahrheits-
theorie, aber auch bei vielen Theologen inklusive katholischen Dogmatik-
professoren, etwa den „Theologen der Religionen“, die die Zeit der
begrifflich-logischen Wahrheit für endgültig vergangen halten und meinen,
Glaubensformulierungen seien nichts als Chiffren für eine uns unbekannte
Transzendenz oder den Akt der Anbetung, kehren derartige Ideen
wieder. Dabei bemerken diese Theologen häufig nicht, daß dem Begriff
der Anbetung jeglicher Boden entzogen wird, wenn das Göttliche durch
keinen menschlichen Begriff und kein wahres Urteil überhaupt soweit
faßbar ist, daß man wahre und falsche Aussagen über Gott machen und
unterscheiden kann. Denn Anbetung setzt die Wahrheit des Urteils voraus,
daß Gott existiert und nicht nichts ist, daß er absolut und nicht von uns
abhängig, heilig und nicht ein böser Weltwille ist, der uns zu seinem
grausamen Spiel geschaffen hat und den wir mit Iwan Karamasoff und
Sartre ablehnen müßten. Ohne wahre Urteile läßt sich also Anbetung

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308 KAPITEL 6

überhaupt nicht denken. Deshalb liefert die Chiffrentheorie der Wahrheit


nicht nur keine angemessene Erklärung der Wahrheit in Philosophie und
Wissenschaft, sondern erklärt auch theologische oder metaphysische
Wahrheit nicht, ja muß zu ihrer Leugnung führen und enthält überdies den
notwendigen inneren Widerspruch, der jeder Umdeutung der Wahrheit des
Urteils als adaequatio, die den geleugneten Wesenszug der Urteilswahrheit
für sich beansprucht, anhaftet und sie innerlich aushöhlt und als irrig
erweist.

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KAPITEL 7

KRITIK SUBJEKTIVISTISCHER EXISTENTIALISTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN

1. Grundbedeutungen von „existentieller Wahrheit“

Es gibt noch eine weitere Gruppe von verbreiteten „existentialistischen“


Interpretationen von Wahrheit, denen zufolge diese ebenfalls nicht in einer
Übereinstimmung zwischen Überzeugungen bzw. Urteilen einerseits und
Sachverhalten, die unabhängig von diesen bestehen, andererseits, liege,
sondern vielmehr in einem Verhältnis von Überzeugung und Urteil zum
existierenden Subjekt bzw. zu dessen Eigentlichkeit. Diese Theorie kann
noch einmal in verschiedensten Weisen interpretiert werden. Ganz allge-
mein betrachtet, betonen die sogenannten existentialistischen Theorien der
Wahrheit die Notwendigkeit, Wahrheit im Verhältnis zum Subjekt, seinen
Haltungen, Einstellungen und Handlungen zu betrachten.

1.1. Die unbestreitbare Bedeutung der existentiellen Wahrheit (der veritas vitae)

Manche der existentialistischen Wahrheitstheorien betrachten ein


existentielles Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit nicht als Wesen der
Urteilswahrheit oder dessen, was wir so nennen, sondern nur als ein
entscheidendes moralisches Erfordernis und betonen, daß es nie genügt,
ein rein theoretisches Verhältnis zur Wahrheit zu haben. In diesem Sinne
waren nicht nur Soeren Kierkegaard,241 sondern auch Augustinus oder John
Henry Cardinal Newman,242 der den Unterschied zwischen reinem theore-
tischem Glauben (notional assent) and einem existentiell realen Glauben
(real assent) und die Wichtigkeit des letzteren betonte, existentielle
Denker, die in Form der „existentiellen Wahrheit“ als dem gelebten und
angemessenen Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit und vor allem zu

241
Vgl. vor allem Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nach-
schrift zu den philosophischen Brocken.
242
John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of A Grammar of Assent
(Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973).

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310 KAPITEL 7

den Werten und Gütern eine neue Bedeutung der Wahrheit einführten, die
in vielen Hinsichten der ontologischen personalen Wahrheit sowie der
moralischen veritas vitae, die etwa Bonaventura so sehr betont, entspricht
und eine der klassischen Bedeutungen des Wortes „wahr“ ausmacht.
Wahrheit in diesem existentiellen Sinne des Wortes einer „gelebten
Wahrheit“, die in unser Leben formend eingreift, eines „Tuns der
Wahrheit“, wie das Evangelium dies nennt und wie es G. Elizabeth M.
Anscombe zum Gegenstand interessanter philosophischer Überlegungen
gemacht hat,243 könnte als adaequatio vitae ad rem („Angemessenheit des
Lebens an die Sache“ – Sache dabei vor allem im Sinne moralisch
bedeutsamer Wirklichkeit) verstanden werden und bedeutet nur eine
Ergänzung zur adaequatio des Urteils an die bestehenden Sachverhalte und
keineswegs deren Ersatz. Ja der klassische Wahrheitsbegriff wird hier
eindeutig und ganz bewußt vorausgesetzt und keineswegs ersetzt.
Wenn Soeren Kierkegaard die von ihm gewiß intendierte Wahrheit des
Lebens „subjektive Wahrheit“ nennt, so hat er meist gerade diese Wahrheit
des Lebens im Auge. Allerdings ist sein Ausdruck äußerst mißverständlich.
Darüber hinaus findet sich bei Kierkegaard, etwa in seinem Lob des
berühmten, unten zitierten, Lessing-Wortes, sowohl eine Verschiebung des
Primats in Richtung existentieller Wahrheit als auch eine tiefgreifende
Verwechslung der echten existentiellen und „subjektiven“ Wahrheit, dem
geforderten „Subjektivwerden“ (im ersten Sinn existentieller Wahrheit),
mit der grundlegend falschen und subjektivistischen Idee der „subjektiven
Wahrheit“, die in Lessings Wort zum Ausdruck kommt, das mit dem
Streben nach Wahrheit wenngleich „mit dem Zusatze, mich immer und
ewig zu irren“, eine theoretische und existentielle Absurdität darstellt.

1.2. Existentielle (subjektive) Wahrheit als Frucht der Loslösung vom


Fundament der Wahrheit als adaequatio

Die existentialistische Wahrheitstheorie wird nämlich ganz anders


verstanden, wenn das gelebte Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit für viel

243
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, „Die Wahrheit ‚Thun‘“, in: Crespo, M. (Hrsg.),
Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 57-60.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 311

wichtiger erachtet wird als der Inhalt der Wahrheit und deren Wahrheits-
charakter selbst, womit diese „existentielle Wahrheit“ nicht mehr die im
Leben ergriffene und adäquat beantwortete tatsächliche Wahrheit meint,
sondern subjektivistisch als „ehrliches Leben gemäß den eigenen subjekti-
ven Maximen“ – sogar in Indifferenz gegenüber der Wahrheit – aufgefaßt
wird. Auch ungeachtet der Tatsache, daß man dabei nicht notwendiger-
weise die klassische Wahrheitsdefinition als Übereinstimmung des Urteils
mit den bestehenden Sachverhalten ganz zu leugnen braucht, vollzieht sich
hier eine radikale Gewichtsverlagerung im Wahrheitsbegriff in Richtung
„existentieller Wahrheit“, die sogar mit einer Gleichgültigkeit gegenüber
der Frage gepaart ist, ob die festgehaltene Meinung objektiv wahr ist oder
falsch. Ja diese Frage wird als eine für Menschen nicht passende oder
sogar hohle Frage angesehen. In diesem Sinne kann man Lessings
berühmtes und von Kierkegaard geliebtes Wort verstehen:
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein
vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die
Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch
den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich
seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -* Wenn Gott in seiner
Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb
nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren,
verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ Ich fiele ihm mit Demut
in seine Linke und sagte: ›Vater gib!‹ die reine Wahrheit ist ja doch nur für
dich allein!“ 244

244
G. E. Lessing, Duplik, (1977), 213-215 . Vgl. auch Herder: Briefe zur Beförderung
der Humanität, S. 874. (214-215) Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke
deutscher Dichter und Denker, S. 20058 (vgl. Herder-HB Bd. 2, S. 206-207). Vgl.
auch Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den
philosophischen Brocken.

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312 KAPITEL 7

1.3. Existentielle Wahrheit als Umdefinition der Urteilswahrheit oder als Ersatz
für diese

Wieder anders und noch radikal antithetischer zur klassischen


Wahrheitsdefinition wird die existentielle Wahrheit verstanden, wenn man
sie als Ersatz der ersteren und als Wesensdefinition der Wahrheit auffaßt.
Wahr wären nach dieser Auffassung Anschauungen, Überzeugungen,
Urteile etc., wenn sie die Authentizität der Existenz und Überzeugungen
eines Subjekts gewährleisteten bzw. zum Ausdruck brächten. Wahr ist,
was die existentiellen Bedürfnisse des Menschen ausdrückt oder was
menschlicher Existenz Erfüllung verleiht, oder auch (in Verbindung mit
einer funktionalistischen Wahrheitstheorie) was ihr Kontingenzbewälti-
gung im Sinne Lübbes erlaubt, u.ä. 245
Noch mehr vom klassischen Wahrheitsverständnis der Adäquations-
theorie verschieden wäre die existentialistische Auffassung der Wahrheit
des Urteils als schöpferisch. Wahrheit wäre dieser Theorie vom „Subjek-
tivwerden“ nach, die bei Kierkegaard anklingt, wenn sie auch keineswegs
dessen tiefsten Intentionen entspricht, und die in immer weiteren
Versionen innerhalb der sogenannten existentialistischen Philosophie
auftaucht, eine Art „Entwurf“ des Subjekts bzw. eine Lebensform, die
diesem Entwurf entspricht.
Bei Sartre wäre die Grundidee der „existentialistischen“ Wahrheits-
deutung noch radikaler so zu fassen: Das Subjekt ist wesens- und damit
wahrheitsschaffend.

245
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, sowie Robert Spaemann, Zur
Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, (Stuttgart:
Klett-Cotta, 1977); ‚Kritik der politischen Theologie‘, in Wort und Wahrheit 24
1969, Heft 6; als auch ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politi-
schen Theologie“, in: Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, zit.,
57-76; ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“,
in: Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Georg Lohmann,
„Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo
Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg.,
Konservatismus in Geschichte und Gegenwart, S.183-20.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 313

2. Kritische Analyse der genannten Auffassungen

2.1. Existentielle Wahrheit als Veritas Vitae – ein grundlegender und wichtiger
Begriff

Daß es im Verhältnis zur Wahrheit – insbesondere über Werte – nicht


genügt, ihr gegenüber ein distanziertes oder rein theoretisches Verhältnis
einzunehmen, sondern daß man das, was man für wahr hält, auch mit
seinem Willen sich zu eigen machen und im Leben umsetzen sollte, ist
klar, und eine solche Rolle der Freiheit und veritas vitae beginnt schon im
intellektuellen Leben und dem Akt der Zustimmung zur Wahrheit,246 aber
geht weit darüber hinaus in dem Tun der Wahrheit und in aktuellen und
überaktuellen freien inneren Antworten auf die Wahrheit. Ein angemesse-
nes existentielles Verhältnis eines Menschen zur erkannten Wahrheit, auf
das sich ja auch das Urphänomen des Gewissens bezieht, ist ein
entscheidendes moralisches Erfordernis. Zu betonen, daß es nie genügt, ein
rein theoretisches Verhältnis zur Wahrheit zu haben, wie Soeren
Kierkegaard und John Henry Cardinal Newman dies in tausenden Variatio-
nen hervorheben, sondern daß die Wahrhaftigkeit und Authentizität des
menschlichen Lebens und der „existentiellen Wahrheit“ als dem gelebten
und angemessenen Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit und vor allem
zu den Werten und Gütern, daß also die veritas vitae gefordert ist, ist ohne
Zweifel richtig und wichtig.
Dieser existentielle Sinn des Wortes einer „gelebten Wahrheit“, die in
unser Leben formend eingreift, diese adaequatio vitae ad rem (Sache dabei
vor allem im Sinne moralisch bedeutsamer Wirklichkeit) bildet ein echtes
und unerläßliches Gegenstück und eine Ergänzung zur adaequatio des
Urteils an die bestehenden Sachverhalte, jedoch keineswegs deren Ersatz.
Ja der klassische Wahrheitsbegriff wird hier eindeutig und ganz bewußt
vorausgesetzt und keineswegs ersetzt.

246
Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso (Milano: Franco Angeli, 2002).

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314 KAPITEL 7

2.2. „Existentielle (subjektive) Wahrheit“ als Loslösung der existentiellen


Wahrheit von der Wahrheit des Urteils bei Lessing und manchen Stellen
bei Soeren Kierkegaard

Damit berühren wir schon den erwähnten zweiten und völlig verschie-
denen Sinn von „existentieller Wahrheit“, welcher die Wahrheit des
Lebens und der menschlichen Existenz von der objektiven Wahrheit der
Urteile, auf denen die echte veritas vitae aufbaut, abschneidet, wie dies in
dem zitierten Lessingwort enthalten ist.
Die existentielle Wahrheit jedoch darf nie den Primat vor der objektiven
Wahrheit unserer Erkenntnisse und Urteile haben, denn der innerste Sinn
all unserer Wertantworten und Taten sollte darin liegen, den Dingen, den
Personen und der absoluten göttlichen Wahrheit und Wesenheit die ihnen
gebührende Antwort zu geben. Der Sinn des geistigen Lebens der Person
liegt nicht in diesem selbst als ein Glücksgefühl oder eine Befriedigung
unserer Strebungen, sondern in der Angemessenheit an die Wahrheit und
das Gute. Deshalb bricht dieser Sinn des geistigen Lebens der Person
zusammen, wenn wir das Sein nicht erkennen, wie es ist, wenn unser Urteil
falsch ist, wenn unser Wollen nur Scheinwerte bejaht und nicht das wahre
Gute. Die Beziehung zur Wahrheit ist der Lebensnerv des Geistes. Deshalb
ist jede Loslösung der existentiellen Wahrheit des Lebens von der
Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit ein subjektivistischer und
verhängnisvoller Schritt in eine Leere und ein geistiges Nichts, ein Schritt,
der auch tief in Kants transzendentaler Dialektik der Kritik der reinen
Vernunft sowie in seiner Idee der moralischen Postulate und in dem liegt,
was Vaihinger die „als Ob-Philosophie“ nennt.
Man darf auch nicht vergessen, daß eine veritas vitae, über die unser
Gewissen Zeugnis ablegt, nur dann eine existentielle Wahrheit heißen darf,
wenn unser Leben nach bestem Wissen und Gewissen auf der objektiven
Wahrheit der Urteile über die Dinge, über Gott und über den Menschen
beruht. Auch wenn wir tatsächlich unschuldigerweise im Irrtum sind, muß
das innerste Prinzip menschlichen Lebens und Handelns der Wille zur
Wahrheit sein.
Zwar mag es moralisch besser sein, wenn jemand ehrlich seinen irrigen
Ideen folgt als wenn er zwar eine objektive Wahrheit erkennt, aber die
Wahrheit nicht tut, doch gilt dieses Lob der „existentiell gesuchten und

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 315

ergriffenen, aber nur subjektiv als wahr vermeinten oder nur für wahr
gehaltenen Wahrheit“ erstens nur dann, wenn der Mensch dasjenige,
worauf er sein Leben gründet, für wahr im Sinne der adaequatio hält und
nach der Wahrheit sucht. Sobald es ihm nicht mehr darauf ankommt, ob
sein Leben auf der Wahrheit oder auf falschen und willkürlichen Ideen
über Gott und die Welt beruht, sobald es ihm nur noch auf die Relation
seines Lebens zu seinen persönlichen Lebensoptionen und Überzeugungen
ankommt und nicht mehr um deren Wahrheit zu tun ist, sind auch der
moralische Wert und der Sinn der existentiellen „subjektiven Wahrheit“
dahin. Ja sogar schon wenn man den theoretischen und ethisch relevanten
Primat der Wahrheit jener Urteile, auf denen unser moralisches Leben
aufbauen sollte, als eigentliche raison d’être menschlichen und sittlichen
Lebens verkennt, tritt eine radikale Verfälschung der Lebenswahrheit ein
und wird unser Leben letzten Endes auch existentiell „unwahr“.
In dem Augenblick, in dem man deshalb dieser existentiellen Wahrheit
einen ungebührlichen Vorzug gibt oder gar sie ganz von der Frage der
objektiven Wahrheit loslöst, verfälscht man sie radikal, ja verwandelt sie in
eine existentielle Unwahrheit.

2.3. Die radikale Loslösung des Lebens von der Wahrheit als adaequatio: Von
deren Leugnung zur Umdeutung der Illusion und Lüge im
außermoralischen Sinn in Wahrheit: Friedrich Nietzsche und die Geburt der
„subjektiven Wahrheit“ im Werk einiger Existentialisten

Der Denker, welcher in neuerer Zeit diese radikal verschiedene Idee der
„existentiellen Wahrheit“ mit aller Schärfe vertreten hat, ja sie beim
rechten Namen genannt hat, als ein Leben ohne Wahrheit, wenn nicht
sogar gegen diese, ist Friedrich Nietzsche. An Nietzsches Schriften zeigt
sich, daß diese zweite Form des Begriffes der existentiellen Wahrheit einer
Loslösung des Lebens von der Wahrheit entstammt. Um diese Idee der
„existentiellen Wahrheit“ und ihre Geburt aus einer Loslösung von der
Urteilswahrheit als adaequatio besser zu verstehen, holen wir hier weiter
aus und stellen in knappen Zügen Friedrich Nietzsches Philosophie der
Wahrheit und den Übergang vom Zweifel an der Erkennbarkeit der
Urteilswahrheit als adaequatio zur angeblichen Befreiung von ihr dar, ein

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316 KAPITEL 7

Thema, auf das wir ja schon in der Einleitung hingewiesen und worüber
wir Nietzsche-Stellen zitiert haben, auf die wir nun näher eingehen
möchten.
In seinem Aufsatz über Schopenhauer als Erzieher schreibt Nietzsche
folgendes: (In einem späteren Brief aber erklärt Nietzsche, er habe in
diesem Aufsatz im Grunde über sich selbst, nicht über Schopenhauer
geschrieben):
Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs:
Vereinsamung, Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese
Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus
seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch
in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und
Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit
dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint
mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig
eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man
überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht
glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor
allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete
es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung
auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und
zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden ; und nur
bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel
ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und
Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie z.B. Heinrich von Kleist
als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem‘, schreibt er
einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen
Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken
mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft
erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir
Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s
das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode
nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch
noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens
dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in
seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.‘ Ja, wann werden die
Menschen wieder dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 317

sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern‘
messen? ...247

Man kann die Entwicklung Nietzsches unmöglich verfolgen, wenn man


seine Stellung zu Kant nicht begreift und deshalb sei diese hier kurz
dargelegt. Nietzsches Verhältnis zu Kant ändert sich wesentlich, aber
Kants Philosophie verfolgt ihn intensiv bis zu seinen Auseinanderset-
zungen mit Kant im Willen zur Macht (1887).
Nietzsche bezeichnet in diesem Aufsatz zwar noch Schopenhauer als
den „Befreier, der aus der Höhle des skeptischen Unmuts hinausführt“,
doch fühlt man schon hier, daß das für Nietzsche selbst gar nicht sehr
überzeugend ist – abgesehen davon, daß man Schopenhauers Die Welt als
Wille und Vorstellung mit bestem Willen nicht als die Befreiung vom
Skeptizismus bezeichnen kann.
Doch was war denn diese tödliche Aushöhlung der Wahrheit durch
Kant? – Man kann Nietzsche nicht verstehen, ohne zu sehen, wie wahr das
ist, was er erkannt hat! Jeder „Kleistisch-natürlich“ empfindende Mensch
wird es unmittelbar begreifen!
Kants bis zu einem gewissen Grad berechtigter Ausgangspunkt ist die
Situation, in der wir uns bei den sogenannten „sekundären
Sinnesqualitäten“ (wie Farben, Töne) finden. Aus der Tatsache, daß diese
nicht „unabhängig“ von jedem erkennenden Bewußtsein bestehen, schloß
Kant sozusagen in einer von jedem Sachkontakt gelösten, immanenten
„Logik“, dieses Prinzip lasse sich auch auf die „primären Sinnes-
qualitäten“, ja sogar auf alle Erkenntnis des Gegebenen ausdehnen. Dabei
übersah Kant, daß diese „sekundären Sinnesqualitäten“ ihrem Wesen nach
so wenig den Anspruch erheben, „unabhängig“ von jedem perzipierenden
Subjekt zu bestehen – bei voller Wahrung ihrer objektiven Gültigkeit – daß
es geradezu erstaunlich wäre, wäre es anders. So setzen etwa Worte, die
ich jetzt spreche, bei den Zuhörern Gehörsorgane voraus, um als solche
vernommen zu werden. Aber das hindert doch einsichtigermaßen nicht im

247
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Friedrich Nietzsche,
Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. 1,
S. 302/ 3. Die von Nietzsche zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22.
III. 1801. Vgl. Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, 1964, hrsg. v. Helmut
Sembdner, Bd. 6, Briefe 1793 – 1804, S. 163., III, 3.

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318 KAPITEL 7

geringsten, daß diese Zuhörer im Hören und nur im Hören meine Worte als
das erfassen, was sie objektiv sind, das heißt, als das, als was sie eigentlich
„gemeint“ sind, unabhängig davon, ob sie hören oder taub sind. Zu
behaupten, meine Worte würden nur dann „objektiv“ (weil unabhängig von
jedem perzipierenden Subjekt) vernommen, wenn sie ein Physiker als
flatus vocis mit einem Instrument feststellt, wäre offenbar eine konfuse und
überdies beleidigende Feststellung; ähnliches gilt für alle Farben, Töne
usw.
Aber nun von diesem besonderen Fall auszugehen und zu sagen: „Wenn
das bei Tönen so ist, daß ,objektiv‘ (jetzt nicht mehr im Sinne des
,eigentlich Gemeinten‘, sondern des ,unabhängig von jedem Subjekt‘) nur
Schwingungen bestehen, warum kann man dieses Prinzip denn nicht auch
auf die Schwingungen der Luft selbst, ja auf Raum und Zeit selbst
ausdehnen? Warum kann man nicht überhaupt von allem, was wir
erkennen, sagen, es bestünde nicht unabhängig von unserem Erkennen?!“ –
darin liegt das unmittelbar erlebte und im folgenden zu klärende
Mißverständnis Kants, wenn er diesen Gedanken auch nicht auf alle
Gegenstände des Bewusstseins ausgedehnt und die Grenzidee eines Dinges
an sich beibehalten hat.248
Schon die primären Sinnesqualitäten (wie Ausdehnung, Gestalt usw.),
erst recht Raum und noch mehr die Zeit, Kausalität, Pflanzen und Tiere,
vor allem aber andere Personen, erheben ihrem Wesen nach ganz
elementar den Anspruch darauf, unabhängig von jedem Erkenntnissubjekt
zu existieren, um objektiv zu sein, besser: um überhaupt zu sein. All dies
erhebt den Anspruch, im Wesen von all dem liegt, unabhängig von jeder
Erkenntnis so zu existieren, wie wir es erkennen. Dieses Bewußtsein
begleitet jeden Menschen mit so elementarer Ursprünglichkeit, daß es fast

248
Natürlich liegt in dieser „Übertragung“ Kants nicht der eigentliche Ausgangspunkt
für seine Lehre: Dieser liegt vielmehr darin, daß er bei seiner klassischen
Fragestellung: wie sind synthetische Sätze apriori möglich? (in deren Beantwor-
tung tatsächlich das Schicksal jeder Metaphysik liegt) völlig verschiedene
Begriffe von „a priori“, „Erfahrung“, „Begriff“ nicht unterschied und deshalb
notwendige, apriorische Urteile sich nicht anders denken konnte, als von jeder
Erfahrung unabhängig. Vgl. zu diesem Thema mein Buch Erkenntnis objektiver
Wahrheit, bes. S. 140 ff.; S. 163 ff.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 319

absurd scheint, über so Selbstverständliches zu sprechen249: In jedem


Augenblick, in dem wir mit einem Menschen sprechen, hören, was er getan
hat, was er tun wird, erkennen, was er ist, haben wir das urgegebene
Bewußtsein, daß all dies: Raum, Zeit, Dinge, andere Menschen und ihre
Erlebnisse eine objektive, im Sinne einer von unserer Erkenntnis

249
Diesen Uranspruch der „Außenwelt“ auf Unabhängigkeit, der jedem Kind
elementar bewußt ist und den Kleist und Nietzsche so gewaltig ausdrücken,
versucht Kant zu leugnen, bzw. umzudeuten: Er versucht, diesen elementaren
„Unabhängigkeitsanspruch“, der einsichtigermaßen im Wesen von Raum, Zeit,
anderen Personen usw. liegt, auf ein nur von uns ausgehendes „Urteil“ der
Vernunft zurückzuführen, das den „Erscheinungen“ eine objektive, transzendente
Realität „zusprechen“ soll: ja er geht sogar bis zu der Behauptung, nicht nur Dinge
außer uns bestünden nicht als transzendente, von unserm Erkennen unabhängige
Wirklichkeiten und stellten auch gar keinen derartigen Anspruch, sondern mit
unserm erlebten Ich sei es ebenso, daß es sich dabei nur um Erscheinungen
handle. Damit steckt Schopenhauer schon in Kant, und die genialen Einsichten des
hl. Augustinus, aber auch von Descartes, sind völlig verloren: „... und es ist eine
ebenso sichere Erfahrung, daß Körper außer uns (im Raum) existieren, als daß ich
selbst nach der Vorstellung des inneren Sinnes (der Zeit) da bin; denn der Begriff
,außer uns‘ bedeutet nur die Existenz im Raume. Da aber das ich in dem Satze: ich
bin, nicht bloß den Gegenstand der inneren Anschauung (der Zeit), sondern das
Subjekt des Bewußtseins, sowie nicht bloß die äußere Anschauung (im Raume),
sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, was dieser Erscheinung zum
Grunde liegt: so kann die Frage, ob die Körper (als Erscheinungen des äußeren
Sinnes) außer meinen Gedanken in der Natur als Körper existieren, ohne alles
Bedenken verneint werden; aber darin verhält es sich gar nicht anders mit der
Frage, ‚ob ich selbst als Erscheinung des inneren Sinnes (Seele nach der
empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere‘,
denn diese muß ebensowohl verneint werden...‘ (Prolegomena, § 49) u. vgl. auch
Kritik d. r. V., l. Teil, II. Abschnitt Ausgabe B 69/70). Anderseits in Vorrede B
XXVII-XXIX versucht Kant, zu zeigen, daß die Freiheit der Seele als Ding an
sich zukomme, die Notwendigkeit der Erscheinung nach und behauptet also eine
Freiheit ohne Zeit und die dem (zugleich absolut unbekannten) Ding an sich der
Seele angehöre und andere Widersprüche mehr, auf die schon Schopenhauer
hinweist. Zu sagen, auch unser Ich und damit alle seine Akte, (also auch
Erkenntnis) – soweit sie uns bekannt sind – seien nur eine „Erscheinung“ und kein
„Ding an sich“, ja diese Erscheinung erhebe nicht einmal einen Anspruch darauf,
ein Ding an sich zu sein, sondern dies sei nur ein willkürliches Urteil und unsere
eigene Schuld (B 69/70), dies führt zu unabsehbaren Widersprüchen.

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320 KAPITEL 7

unabhängigen Realität beanspruchen. Um das ganz ohne viel Philosophie


zu begreifen, braucht man nur den Sandmann von E. Th. A. Hoffmann zu
lesen und die glühende Liebe des Nathanael zur Puppe Olympia zu
verstehen, die dieser durch das Wunderglas Coppolas ganz wie einen
Menschen sieht, in den er sich verliebt: Dort wird jeder Kleist verstehen,
der sagt, daß er sich durch die Philosophie Kants „in seinem heiligsten
Innern verwundet fühle.“ Das Bild des einer entsetzlichen Täuschung
dienenden Wunderglases Coppolas, das zur Verwechslung einer bloßen
Erscheinung der Marionette Olympia mit einer an sich bestehenden Person
führt, verwendet Kleist in anderer Gestalt in dem von Nietzsche zitierten
Brief, um den Eindruck zu schildern, den Kants Philosophie auf „sein
innerstes Heiligtum“ gemacht hat:
Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie
urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün
– und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge
zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht
ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande...

und in einem andern Brief schildert er noch mehr den Schauder, den
ihm dieser Gedanke erregt hat:
... Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit
wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders
heißt ... dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele
erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines
mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den
Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von
neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine
innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und
Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen
und zu betäuben, Thorheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und
doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußeren Tumulte meine Seele
unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und
höchstes Ziel ist gesunken ... Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir
deutlich bewußt zu sein, wohin ich will.

Die Widernatürlichkeit der „kopernikanischen Wende“ und das


Erschütternde wird hier deutlich, das in jener Übertragung der – dadurch

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 321

übrigens ganz falsch gedeuteten – Verhältnisse der sekundären Sinnes-


wahrnehmung auf das Gesamt unserer Erkenntnis liegt...
Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft
Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. ... Ist’s das letztere, so ist die
Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr.250

Das Tragische in unserer geistigen Verfassung scheint mir gerade darin


zu liegen, daß diese kopernikanische Wende wie eine dunkle geistige
Gegenwart uns alle schon so sehr entmutigt hat, ja daß wir gegen ihr
Grauen schon so sehr abgestumpft sind, daß es heute schon als ganz
„altmodisch“ oder „anmaßend“ erscheint, Kant widerlegen zu wollen. „Wir
können hinter so große Geister nicht mehr zurück ... wir müssen an unserm
Ort im Fluß der Geschichte denken ... die Wahrheit ist eben geschichtlich
bedingt, zumindest unsere Erkenntnis der Wahrheit ... „: so und ähnlich
heißen die verworrenen Äußerungen, in denen sich der Einfluß des
„Alleszermalmers“ ausdrückt, von dem Nietzsche gesprochen hat – und
der Einfluß Hegelscher Geschichtsphilosophie; und wer denkt nicht an die
Erschütterung Heinrichs von Kleist darüber, „daß all die Wahrheit, die wir

250
Es war ein ähnlicher Gedanke, der Gabriel Marcel beim Tode seiner Mutter bis ins
Innerste traf, als seine Tante ihm sagte, über das Schicksal der Toten wüßten wir
nichts; es war derselbe Gedanke, der ihn beim Studium der idealistischen
Philosophie erschütterte, als er sah, wie diese die Grunderfahrungen seines Lebens
nicht zu deuten vermochte, außer in einer grauenvollen Weise diese Grunderfah-
rungen Lügen zu strafen. Die ganze Philosophie Gabriel Marcels scheint mir in
gewissem Sinn um den Gedanken zu kreisen: es ist unmöglich, daß der tiefste
Sinn unseres Lebens, der sich in der Beziehung zu einem geliebten Wesen
enthüllt, dem wir auch nach dem Tod und wider den Tod die Treue bewahren – es
ist unmöglich, daß die Realität dieses Sinnes nichts als Täuschung ist. Ausgehend
von seiner eigenen Erfahrung und angeregt durch Martin Buber und William
Ernest Hocking hat Gabriel Marcel diesen Gedanken entwickelt und mit dieser
Waffe greift er den Idealismus im Punkte seines vielleicht tiefsten Grauens an:
daß es in ihm keinen Ort für ein Du gibt.
Schon Augustinus, aber nach Kant vor allem durch den großen Durchbruch der
Philosophie in der klassischen, (realistischen) Phänomenologie ermöglicht, hat der
frühe Husserl, Scheler, aber mit viel größerer Klarheit von Hildebrand diesen
Grundirrtum Kants widerlegt, der in der „ kopernikanischen Wende“ liegt.

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322 KAPITEL 7

hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr ist“, wenn er in Heideggers Sein
und Zeit liest:
Der Selbstmörder ..., sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat,
hat in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die
Wahrheit ausgelöscht.251

So neu sich auch Heidegger gebärdet, in dem Augenblick, in dem er die


Wahrheit durch den Selbstmord ausgelöscht sieht und als „eine Seinsweise
des Daseins (= Menschen)“ erklärt, sagt er auf andere Weise dasselbe wie
Kant, nur daß nach seiner Auffassung schon die Frage nach dem Ding an
sich „den Skandal der Philosophiegeschichte“ ausmacht, wie er sagt.
In einem nur um weniges später verfaßten Aufsatz (1873) „über
Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ fällt Nietzsche selbst ganz
in den Kantischen Gedanken, und schon in diesem Aufsatz kündet sich die
Spätphilosophie F. Nietzsches an, den man seitdem im Unterschied zum
Alleszermalmer den alleszersetzenden, die Wahrheit bis zum Ende in den
Seelen der Menschen auflösenden Denker nennen könnte. Nietzsche sagt
in dem erwähnten Aufsatz, die Tatsache, daß wir immer dieselbe geordnete
Welt wahrnehmen, ebenso wie die Tatsache, daß sich unsere Auffassung
von der äußeren Welt durch die verschiedenen Sinneswahrnehmungen
gegenseitig bestätige, beweise nichts für die Behauptung, daß die Dinge
objektiv so seien, wie wir sie sehen. (Ich glaube, Nietzsche hat darin in
gewissem Sinne recht, solange man nämlich dieser „Bestätigung“ nicht
andere Erkenntnisse hinzufügt.)
Ebenso:
wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und
beurteilt werden würde.

Dann fährt Nietzsche so fort:


Es hat gewiß jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist,
gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Mißtrauen empfunden, so oft er
sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz, Allgegenwärtigkeit
und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluß gemacht:

251
Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max Niemeyer,
2006), § 44, c.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 323

hier ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und
nach der Tiefe der mikroskopischen Welt so sicher, ausgebaut, endlos,
gesetzmäßig und ohne Lügen; die Wissenschaft wird ewig in diesen
Schachten mit Erfolg zu graben haben, und alles Gefundene wird
zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. Wie wenig gleicht dies
einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müßte es doch
irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal
zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige
Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm,
bald als Pflanze perzipieren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als
rot, der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde
niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie
nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen. Sodann... Was ist für uns
überhaupt ein Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in
seinen Wirkungen, das heißt, in seinen Relationen zu anderen Naturgeset-
zen, die uns wieder nur als Summe von Relationen bekannt sind. Also
verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind
uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch. Nur das, was wir
hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen,
sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an
den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum
Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz
allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit-
und Raumvorstellungen. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit
jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind,
alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr
wunderbar, daß wir in allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen
begreifen: Denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und
die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in allen Dingen. Alle Gesetzmäßig-
keit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt
im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge
heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren. Dabei ergibt sich
allerdings, daß jene künstlerische Metaphernbildung, mit der in uns jede
Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen
vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich
die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der
Begriffe konstruiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung
der Zeit-Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.

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324 KAPITEL 7

Nur durch das Vergessen dieser primitiven Metaphernwelt, nur durch den
unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Körper sei eine
Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, und
zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt, lebt er mit einiger Ruhe,
Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängnis-
wänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem
,Selbstbewußtsein‘ vorbei.

Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien,
Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die,
poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die
nach einem langen Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich
dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß
sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden
sind, Münzen die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als
Münzen in Betracht kommen. 252

So kommt es zu Nietzsches Idee der Wahrheiten als Illusionen, die nur


eine Funktion für unsere Existenz haben und uns mit „einer Ruhe,
Sicherheit und Konsequenz“ leben lassen.
Doch setzt dabei Nietzsche nicht nur die Einsicht in das Wesen der
Wahrheit voraus, die es ihm erlaubt, von Illusion überhaupt zu reden,
sondern allein die Frage: Und alles, was Sie jetzt über Wahrheit, Irrtum,
Welt und Mensch gesagt haben, ist das auch nur eine Illusion? – wirft eine
solche Gedankenkonstruktion um und erweist sie als widersprüchlich.
Eine widersprüchliche Theorie kann aber unmöglich wahr sein, da sich die
Wahrheit nicht widersprechen kann.
Obwohl Nietzsche hier von Wahrheiten als „Illusionen, von denen man
vergessen hat, daß sie welche sind“, redet, und nicht von existentieller
Wahrheit, so hat doch gerade diese Idee von illusorischen „Pseudowahr-
heiten“ tief auf die Einführung der Idee einer subjektiven „existentiellen
Wahrheit“ gewirkt, die sich eben ganz von der Wahrheit im Sinne der
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit losgelöst hat.

252
Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in:
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische Studienausgabe. Herausgegeben
von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York:
Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Band 1, S.875-890.
Abschn. 1.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 325

Eine weitere Kritik betrifft die völlige Unterwanderung der wirklichen


existentiellen Wahrheit im ersten Sinne (A) durch diese Idee einer letzten
Endes nur illusorischen, aber doch existentiell zur Kontingenzbewältigung
funktionierenden „Wahrheit“. Durch eine solche Idee von „subjektiver
Wahrheit“, die nur noch für unsere Lebenssicherheit taugt, wird dem Geist
seine „Substanz“ selbst ausgesogen: Die „Substanz“ des geistigen
Menschen, die ich hier meine und die der ersten Bedeutung von
existentieller Wahrheit zugrundeliegt, ist das im Menschen, was die Frage
nach der Wahrheit über die wichtigsten Dinge stellt und auf diese
‚Wahrheit‘ angemessen antwortet. Das „eigentliche Sein“ der menschli-
chen Person erwacht sozusagen in dem Maße, in dem es mit einer von ihm
selbst verschiedenen und unabhängigen Wirklichkeit in Beziehung tritt.
Die Beziehung zu einer Wahrheit, die mit tatsächlich bestehenden
Sachverhalten Übereinstimmt und unabhängig vom menschlichen Geist
wahr ist, zu der sie aber in Beziehung treten kann, ist der Lebensnerv der
Person und jeder echten Religion. In diesem Sinn sagt auch Platon im
Phaidros:
Du fragst: warum wollen doch alle Seelen mit so großem Fleiße die Gefilde
der Wahrheit sehen? – So höre: Dort auf jenen lichten Flächen wächst die
Weide des edelsten Teiles der Seele, und auf dieser Wiese finden die
Flügel, welche die Seele beschwingen, ihre Nahrung ...

Auf dieser Bahn, da schaut die Seele ... nicht die Wissenschaft, die stets
am Gegenstande wechselt und mit dem, was wir in der Zeit wirklich
nennen, spielt; nein, hier erkennt die Seele die Wissenschaft von dem, was
wahrhaft und ewig da ist.

Wir wollen jetzt noch nicht die Frage stellen, welcher Art die Beziehung
des menschlichen Geistes zu einer von ihm selbst unabhängigen
Wirklichkeit sein muß, damit die Seele in ihrem Lebenszentrum erwache.
Wir fragen hier noch nicht, was diese von ihm unabhängige Wirklichkeit
selbst ist, was in ihr wechselnd, was notwendig und unveränderlich ist.
Nur das eine wollen wir über das Verhältnis zwischen Urteilswahrheit
als adaequatio und existentieller Wahrheit sagen: Die Frage nach der
Wahrheit, danach, wie es wirklich ist, berührt den Lebensnerv des
Menschen als geistiger Person: all unsern Fragens, all unsern Nachden-
kens, aller unserer Urteile, aller unserer Philosophie – und natürlich erst

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326 KAPITEL 7

recht aller Religion! Doch kann die fundamentale Bedeutung der Wahrheit
für alles geistige Leben auch vom Atheisten anerkannt und verstanden
werden. Es ist deshalb selbst von einem vorreligiösen, rein philoso-
phischen Standpunkt aus eine furchtbare Lehre, die die Bedeutung eines
Lebens auf dem Fundament der Wahrheit – vielleicht im Einflusse
Bultmanns,253 Heideggers oder anderer Philosophen – leugnet:254
Mit der Frage, ob wir eine objektive Wirklichkeit erreichen können, wie
sie ist, mit der Wahrheitsfrage steht und fällt der Sinn unserer geistigen
Existenz und erst recht der Sinn aller Philosophie.
Selbst ein Mensch, dem die Hoffnung geschwunden ist, je die Fülle der
Wahrheit zu erreichen, hält doch an einigem fest, was er für unverrückbar
wahr hält (selbst wenn er dies in seiner bewußten Reflexion vergißt) – ja,
ohne das könnte er nicht einmal die Frage nach der Wahrheit stellen, ja
nicht einmal zweifeln. Das zeigt schon Augustinus mit unübertrefflicher
Klarheit:
„Wer könnte dennoch zweifeln, daß er sowohl lebt, als auch sich erinnert,
als auch erkennt, als auch will, als auch denkt, als auch weiß, als auch
urteilt? Denn selbst, wenn er zweifelt, lebt er; wenn er zweifelt, erinnert er
sich daran, woran er zweifelt; wenn er zweifelt, erkennt er, daß er zweifelt;
wenn er zweifelt, will er sicher sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er
zweifelt, weiß er, daß er (etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß
er seine Zustimmung nicht ohne genügenden Grund geben solle. Wenn
deshalb jemand auch an allem andern zweifeln mag, so darf er doch an all
diesem nicht zweifeln: Denn wenn das nicht (so) wäre, so könnte er an
überhaupt nichts zweifeln.“255

In dieser und in vielen anderen Formulierungen geht Augustinus noch


viel radikaler vom Zweifel aus als Descartes, und viel großartiger noch als

253
Vgl. die Analyse Bultmanns in Karl Prümm, Gnosis an der Wurzel des
Christentums (Salzburg, 1972), S. 107 ff.
254
Hier denke ich auch an das Buch Lübbes über die Religion nach dem Zeitalter der
Aufklärung, in dem eine funktionalistisch verstandene Wahrheit als Kontingenz-
bewältigung als einziges Motiv der Religion gilt und eine Religion, die auf einer
Wahrheit über Gott und den Menschen beruhen würde, wie ein endlos über-
wundenes Relikt vergangener Zeitalter behandelt wird. Vgl. Hermann Lübbe,
Religion nach der Aufklärung.
255
Augustinus, De Trinitate, X, X, 14.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 327

dieser überwindet Augustinus den Zweifel, indem er „mit einem Schlage“


zeigt, wie mit der Wirklichkeit des Zweifels selbst notwendig zwei Arten
absolut gewisser und unbezweifelbarer Erkenntnis gegeben sind: Die völlig
gewisse Einsicht in die eigene Existenz, das über allen Zweifel erhabene
Innesein der eigenen Existenz einerseits, und andererseits die absolut
sichere Einsicht in das notwendige Wesen des Zweifels selbst, der in sich
zusammenbrechen würde, den ich nie vollziehen könnte ohne all die
genannten Erkenntnisse, die er notwendig voraussetzt; einmal die absolut
gewisse Berührung der realen Welt im Innesein der eigenen bewußten
Existenz, dann wieder die Erkenntnis notwendiger Wesenheiten.
Diese beiden hat Dietrich von Hildebrand als die zwei archimedischen
Punkte der Erkenntnislehre bezeichnet,256 an denen jede Möglichkeit des
Zweifels zerschellt. Augustinus beleuchtet hier beide mit höchster Klarheit
und zeigt zugleich, wie man ohne diese beiden Arten über allen Zweifel
erhabener Erkenntnis nicht einmal zweifeln könnte. Als Ausgangspunkt für
diese befreiendste und grundlegendste philosophische Erkenntnis fordert
Augustinus nichts, als daß man den Zweifel an „allem“ betrachtet oder
sogar zweifelt!257
Die Urgegebenheit der Wahrheit ist also so unentthronbar, daß jeder
Mensch an vielem Wahren als absolut gewiß festhalten muß, um überhaupt
zweifeln zu können oder auch, um mit Nietzsche von Illusionen zu

256
Vgl. die Vorlesungsabschriften von Dietrich von Hildebrand, Wesen und Wert
menschlicher Erkenntnis (Salzburg 1964), Nachlaß, Kopie an den Bibliotheken
der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an
der Pontificia Universidad Católica de Chile. Teilabdruck: „Das Cogito und die
Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen
Hildebrands: ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“, Aletheia 6/1993-1994
(1994), 2- 27.
257
In diesen tiefen Einsichten des hl. Augustinus aber die Ursache für den deutschen
Idealismus, den Subjektivismus und Solipsismus vieler moderner Philosophien zu
sehen, ist ganz abwegig. Auch ist die Einsicht Gabriel Marcels in die
Urbezogenheit jedes Ich auf ein Du, in welcher Bezogenheit es überhaupt erst „zu
sich selbst kommt“ und in der es von Anfang seines Lebens an erwacht, einerseits
kein Ersatz für die augustinische Erkenntnis, anderseits steht sie in gar keinem
Widerspruch zu ihr. Wie noch deutlicher werden wird, bildet sie sogar eine
Ergänzung zu ihr.

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328 KAPITEL 7

sprechen, von denen wir vergessen haben, daß sie welche sind und die
unserem Leben Sicherheit geben.
Obwohl Augustinus und später Descartes den Skeptizismus und Relati-
vismus widerlegt haben, so ist doch bald nach Descartes – vor allem durch
David Hume und Kant – die Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen und selbst
die Wahrheitsfrage tödlich getroffen worden, was Nietzsche wie kaum ein
anderer Philosoph erkannte. Seitdem haben erschreckend viele Menschen
und Philosophen diese Frage aus dem Bewußtsein zu verdrängen gesucht
und hängen einer aus dem Verzicht auf wirkliche Wahrheit geborenen Idee
einer rein persönlich existentiellen „Wahrheit“, die eigentlich nur dem
Leben dienende Illusionen sind, die man nicht als solche durchschaut.258
Kants kopernikanische Wende, nach der sich nicht mehr unser
Erkennen, sondern die Dinge nach unserem Geist richten sollen, war eine
tödliche Wunde, die selbst die sinnvolle Frage nach der Wahrheit,
geschweige denn das Bewußtsein ihrer Erkennbarkeit in der Neuzeit
erhalten hat. Nietzsche selbst hat das so tief erkannt wie kaum ein anderer
Denker – und darunter bis zur Verzweiflung gelitten. Zugleich aber hat er
diese Wunde wie unauslöschlich eingebrannt in den Geist vieler – so sehr,
daß man diese Wunde bereits wieder anfängt zu vergessen. Nietzsche
erliegt dieser Wunde nicht wie Kleist in Verzweiflung und Selbstmord –
obwohl er diese Verzweiflung an der Wahrheit zunächst als die
angemessene Antwort schildert – sondern in Nietzsche verwandelt sich
dieser „Tod der Wahrheit“, den er so tief erschaut hat, statt daß er ihn
besiegt, in ein neues, unheimliches, gegen die Wahrheit gerichtetes Leben
des Geistes, der – von der eigentlichen Lebensquelle abgeschnitten – nun
jenseits von Gut und Böse, von wahr und falsch fortlebt. Und nur von
diesem Punkt eines Lebens unabhängig von der Wahrheit, in

258
Und vielleicht ist es diese Verdrängung und Abschiebung der Wahrheitsfrage, die
die verhängnisvollsten Störungen in der Seele der Menschen hervorgerufen hat,
und es wäre auch erstaunlich, wenn die Verdrängung dieser Urfrage des
Menschen ohne neurotische und andere Störungen vor sich gegangen wäre. Hier
liegt eine Richtung psychologisch-metaphysischer Forschung, zu der etwa Viktor
Frankls Logotherapie überaus verdienstvoller Weise eine Tür aufgemacht hat, in
der aber noch ungeheuer viel weiter gegangen werden müßte, um auch nur einen
Bruchteil der psychologischen Gegebenheiten zu erfassen.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 329

Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, können Nietzsches Positionen


zur Gottes- und Religionsfrage verstanden werden.
Wir wissen aber noch immer nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt:
... von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen,
herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun vergißt
freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten
Weise unbewußt und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt
eben durch diese Unbewußtheit, eben durch dies Vergessen, zu dem Gefühl
der Wahrheit.

Hier sieht man auch, wie die Tiefenpsychologie über Nietzsche von
Kant herkommt, was Freud selbst teilweise zugegeben hat. Es ist
entscheidend zu sehen, wie Nietzsche hier in genialer Weise ganz den
Grundgedanken Kants entwirft: Nicht mehr und nicht weniger bedeutet
Kants „kopernikanische Wende“! Zugleich schildert Nietzsche die
Aushöhlung der bisherigen, der einzigen Idee der Wahrheit (die zumindest
ein von der Philosophie unverdorbener, „naiver“ Mensch kennt), die in
Kants Philosophie enthalten ist, so gewaltig, daß man den Kantischen
Gedanken in dem Licht sieht, in dem er Kleist in die Verzweiflung
getrieben hat. Endlich klingen schon hier Töne „dionysischer Musik“ an,
mit der Nietzsche sich von der Verzweiflung Kleists „erlösen“ und jenseits
der wahren, der einzigen Lebensquelle leben will.
Zunächst bleibt entscheidend zu sehen, wie hier Nietzsche ganz die
Philosophie Kants ergriffen hat, sie zugleich aber anders – meiner
Überzeugung nach tiefer als Kant – versteht:
Kants Tragik liegt darin, daß er sozusagen, um die Objektivität und
Absolutheit der Wahrheit zu retten, die Erkenntnis für eine Art
notwendigen Irrtum erklärte, nämlich für Anschauungen und Urteile, die
nicht mit jener Wirklichkeit übereinstimmen, mit der sie übereinzustimmen
scheinen, mit den Dingen an sich: dadurch will Kant uns aber doch wieder
zu einer absoluten Wahrheit führen. Indem er auf die phantastisch-geniale
Idee verfiel, die Erkenntnis-Ding-Relation auf den Kopf zu stellen, glaubt
er die Wahrheit – auf andere Weise – neu begründet zu haben. Dabei
widerspricht er sich selber in der erwähnten, fast unverständlich-krassen
Weise: Indem er behauptet, die Erkenntnis erreiche nie „das Ding an sich“,
sondern sei nur eine Anwendung von im Gemüte bereitliegenden

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330 KAPITEL 7

Kategorien auf das Ding, will er ja „das Ding der Erkenntnis an sich“
begriffen haben. Wenn Kant nicht nur allgemein, sondern auch hier den
wesenhaft rezeptiven Charakter aller Erkenntnis leugnet, dann ist ja auch,
was er über die Erkenntnis sagt, nur eine spontane, konstruktive Tätigkeit
des Verstandes und verliert damit jedes Interesse als Aussage über die
Erkenntnis selbst. Die Erkenntnis als eine rezeptive, transzendierende und
nicht transzendentale Tätigkeit des menschlichen Geistes ist eine so
elementare Gegebenheit, daß sie zu leugnen sie schon wieder notwendig
voraussetzt.
In diesem Zusammenhang wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf
folgende Tatsache richten: Einerseits ist Kant befriedigt mit dieser
„Lösung“ des Erkenntnisproblems. Dabei übersieht er, wie es – ich sehe
jetzt von dem besonders schwierigen Fall der sekundären Sinnesqualitäten
ab259 – einen unermeßlichen Unterschied macht, ob ich das Seiende so
erkenne, wie es unabhängig von meinem Geiste ist, oder ob ich immer
einen notwendigen Irrtum begehe, ob ich die Wirklichkeit mit meinem
Geiste erreiche oder nur eine auf den Menschen relative „Erscheinungs-
welt“, ob die Notwendigkeit meiner Erkenntnis nur in „Zwangsideen“
meines Geistes besteht oder den notwendigen Wesenheiten der Dinge
selbst entstammt. Dabei entgeht Kant ferner, daß im Augenblick, in dem
ich Raum und Zeit und die Verstandeskategorien als Produkte des Geistes
erkläre (ob es ein sogenanntes transzendentales oder „das empirische Ich“
ist, das das vollbringt, bleibt völlig gleich), notwendig auch die anderen
Menschen, ihre Akte, Freuden, Leiden, ja das ganze Leben dann notwendig
nur eine Konstruktion („Illusion“, wie Nietzsche besser formuliert) ist. Die
anderen Menschen kenne ich ja auch nur durch Raum und Zeit; schon
wenn ich nur diese beiden wegnehme, bleibt vom andern Menschen-an-
sich (und allein dieser interessiert mich, wenn ich nicht ein metaphysischer
Solipsist bin: so hat Gabriel Marcel die Philosophie Heideggers einmal
bezeichnet) nichts mehr übrig: um wieviel mehr, wenn ich elementare
Elemente der Wirklichkeit wegnehme, wie Realität, Einheit, Vielheit,

259
Vgl. D. von Hildebrand, „Independence and Objectivity“, wo sich vor allem auch
eine eingehende phänomenologische Analyse der verschiedenen Begriffe von
‚subjektiv‘– ‚objektiv‘ findet. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?; Che
cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 5.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 331

Kausalität, Substantialität, Negation etc., die Kant der unabhängig von


meinem Geist existierenden Welt abspricht. Dabei übersieht Kant, daß –
ungleich den sekundären Sinnesqualitäten, deren eigentliches Sosein
(Farbe, Ton) zu begreifen Sinnesorgane voraussetzt – die ganze Natur, die
äußere Welt, vor allem die anderen Personen (ganz zu schweigen von Gott
oder all der Wahrheit, an die ich glaube!) ihrem Wesen nach autonomes
Selbstsein „beanspruchen“, ja überhaupt nur sind, wenn sie unabhängig
von unserem Erkennen sind und ein eigenes Sein „außer“ uns und jedem
(auch noch so absoluten!) Geist haben. In dem Augenblick, in dem ich das
leugne, wird nicht nur die Existenz von Raum und Zeit und anderen
Menschen, sondern darüber hinaus noch meine eigene Existenz ihrer
„Substanz“ entleert, innerlich ausgehöhlt und sinnlos.
Anderseits aber ist Kant von einer halb edlen, halb unbegreiflichen
Inkonsequenz, wenn er mitunter doch, zumindest im Bewußtsein sittlicher
Forderungen und Postulate, annimmt, wir erreichen das Ding-an-sich.260
Nietzsche versteht dieselben Gedanken zunächst konsequenter (wodurch
sie allerdings objektiv noch widersprüchlicher werden. Jeder konsequente
metaphysische und epistemologische Irrtum widerspricht sich immer mehr,
je konsequenter ich ihn durchdenke): Einerseits begreift er, daß der
Mensch immer die Außenwelt, metaphysische Prinzipien und vor allem
andere Personen und Gott als eine von seiner Erkenntnis unabhängige
Wirklichkeit nimmt. Er versteht, daß unsere Erkenntnis dieser Welt in sich
zusammenbricht und furchtbar ausgehöhlt wird, wenn ihr „Unabhängig-
keitsanspruch“ nicht zu Recht besteht. Er versteht noch viel mehr, daß
durch Kants kopernikanische Wende all unsere Erkenntnis in der Wurzel
getroffen ist. Nietzsche sieht deshalb viel tiefer, wenn er das, was Kant als
„Erkenntnis“, als „Wahrheit“ erklärt, „Illusionen“ nennt. Nietzsche begreift
auch hier noch Kants Philosophie in dem nämlichen Sinne, der Kleist zur
Verzweiflung getrieben hat. Nietzsche hat eine zu unmittelbare, zu
ursprüngliche Beziehung zu den Dingen, um zu übersehen, daß „wahrhafte

260
In bezug auf die „Vernunftideen“ (Gott, Seele, Welt) und Postulate ist dies
zweifelhaft und z.B. Gott wird von Kant wirklich als vom Menschen bloß
„gemachte Idee“ bezeichnet. Vgl. die Zitate in meinem Buch Erkenntnis
objektiver Wahrheit, S. 137, Anm. 173.

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332 KAPITEL 7

Wahrheit“ in einem transzendierenden Begreifen der Dinge an sich


bestünde.
Kant zerstört zuerst den Begriff der Wahrheit, „vergißt“ das aber
sozusagen nachher wieder, ja er meint sogar, durch diese Zerstörung die
Wahrheit wieder erreichen zu können. Sein letztes Ziel ist doch in
gewissem Sinn wieder die Wahrheit (und zwar im eigentlichen Sinn des
Wortes, nicht in seiner „Interpretation“).
Nietzsche übernimmt mehr und mehr den „kopernikanischen Wahrheits-
begriff“ Kants, er übernimmt ihn und versteht ihn – wie Kleist – tiefer und
konsequenter als Kant: als Verzweiflung an der Wahrheit.261 Aber
Nietzsche verzweifelt nicht, obwohl dies sowie der Gedanke an Selbstmord
immer wieder als Möglichkeit in ihm durchbrechen. Nietzsche übernimmt
immer mehr den Kantischen Gedanken: – trotz namenloser Leiden und mit
immer wiederkehrenden Widersprüchen – den Gedanken, daß wir in nichts
die Wirklichkeit so erfassen, wie sie ist.262 Mit all dem aber haben wir noch
nicht die „Eigenart‘ Nietzsches getroffen.

261
Obwohl die existentielle Verzweiflung Kleists die einzigklassische Antwort auf
das Verzweifeln an der Wahrheit darstellt, so liegt doch in diesem selbst, vor
allem aber im „es im Zweifel nicht Aushalten“ von dem Nietzsche spricht,
einerseits der innere Widerspruch, daß diese Verzweiflung in ihrer Motivation
schon wieder viele Erkenntnisse einschließt, und andererseits auch eine
unklassische Haltung. Da ja das Gegenteil, daß die Wahrheit nicht zu erreichen ist,
niemals erkannt werden kann, weil es falsch ist und lauter Widersprüche birgt und
„nichts Falsches kann erkannt werden“ (Platon), dürfte ein Mensch auch nie
endgültig verzweifeln, sondern ein sehnsüchtiges, geduldiges Hoffen trotz aller
Qual wäre die klassisch-menschliche Haltung im Zweifel: eine Bereitschaft zu
verzweifeln, falls es keine Wahrheit über den Tod hinaus gibt und zugleich eine
noch viel größere Bereitschaft und Sehnsucht, alles zu tun, solange zu warten, als
gefordert ist, bis man die Wahrheit erreicht. Die Tiefe der Verzweiflung wenn es
keine Wahrheit gibt – muß sich an der Tiefe der Hoffnung und Sehnsucht
beweisen, solange zu warten, als auch nur ein Funke Hoffnung besteht, die
Wahrheit zu finden. (Viele andere unklassische Elemente in Kleists edler Natur,
z.B. ein großer Ehrgeiz, haben mit zum Selbstmord geführt.)
262
Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Herausgege-
ben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York:
Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Bd. 5: Jenseits von Gut
und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff., I, 16.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 333

Nietzsche nimmt (in vielen erschütternden und bedeutsamen


Übergängen, die wir hier nicht zeigen können) den Kantischen Gedanken
weder mit Kants Befriedigung über den „Ausweg“ noch mit Kleists
ergreifender Verzweiflung an, sondern mit einem „höhnischen Lachen“
sozusagen.
Nietzsche greift die Wahrheitsfrage in dem einzigen Punkte an, in dem
man sie (in einem bestimmten Sinn) ohne inneren Widerspruch angreifen
kann. Nietzsche gibt sich an einem entsetzlich-tiefen Punkte mit Kants
Gedanken „zufrieden“, vor dem Kant entsetzt fliehen würde, obwohl sein
Gedanke philosophisch konsequent dorthin steuert – nämlich an dem
Punkte eines Lebens ohne Wahrheit und einer Leugnung des Wertes der
Wahrheit:
Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit
Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit
uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen
Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte und doch – scheint es, daß sie
kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir endlich einmal
mißtrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß
wir von dieser Sphinx auch unsrerseits das Fragen lernen: Wer ist das
eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ,zur
Wahrheit‘? – In der Tat, wir machten lange halt vor der Frage nach der
Ursache dieses Willens – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren
Frage ganz und gar stehenblieben. Wir fragten nach dem Werte dieses
Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?
Und Ungewißheit? Selbst Unwissenheit? – Das Problem vom Werte der
Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wir’s, die vor das Problem
hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx? Es ist ein
Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. – Und sollte
man’s glauben, daß es uns schließlich bedünken will, als sei das Problem
noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, ins
Auge gefaßt, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei und vielleicht gibt es
kein größeres.263

263
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Bd. 5: Jenseits
von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff.

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334 KAPITEL 7

Das Leben . . . geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier
über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des
Erkennenden sein dürfe264

Dies nennt Heidegger in seinem Buch über Nietzsche mit Recht die
„Grunderfahrung, die sein Denken bestimmt“. Man könnte hier auch
beweisen, daß Heidegger sich in seinem Buch über Nietzsche ganz mit
dieser „Grunderfahrung“ identifiziert. Wir wollen noch ein Zitat anführen,
in dem Nietzsche noch deutlicher sagt, was diese „existentielle
Grunderfahrung“ eigentlich ist:
Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage
aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten
in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den
umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner
Lage erst in‘s Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft
(sein „Geist“ –) unter langem Druck und Zwang sich in‘s Feine und
Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-
Willen gesteigert werden musste: – wir vermeinen, dass Härte,
Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen,
Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass
alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am
Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein
Gegensatz… 265

Angesichts unzähliger solcher Stellen kann man nicht, wie es von vielen
Autoren (z.B. in G. Thibons Buch über Nietzsche) versucht wird,
Nietzsches Philosophie von dem Vorwurf reinwaschen, alle Greuel der
Nazizeit (oder andere Verbrechen) zu rechtfertigen, wobei man sich auf die
„Banalität“ der Nazizeit beruft.
Auch Religion und der religiöse Akt betreffen immer die existentielle
Wahrheit im ersten erwähnten Sinn, das existentielle, gelebte Verhältnis
und die Beziehung des Menschen zum Höchsten, das er kennt oder
anerkennt. In diesem weiten Sinn von Religion kann auch das Verhältnis

264
Die fröhliche Wissenschaft, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische
Studienausgabe, Bd. 3, IV. Buch, 324-1882.
265
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe, Bd. 5: Jenseits
von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, II. Hauptstück, „Der Freie Geist“,
Aph. 44.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 335

des Atheisten zur Materie oder zum Menschen als dem höchsten Wesen
religiösen Charakter haben, was man vor allem dann behaupten wird, wenn
man mit Max Scheler die Unvermeidlichkeit des religiösen Aktes in
irgendeiner Form oder Zerrform annimmt.266 Nietzsche lebt ein solches
Pathos und verkündet eine solche „Religion des Atheismus“ und des
Übermenschen.
Doch angesichts der sinnvollen Entsprechung zwischen intentionalen
Akten und deren Gegenständen ist der religiöse Akt oder sind die
religiösen Akte des Glaubens, der Anbetung usf. in ihrer Reinheit und
Vollständigkeit nur in dem Maße möglich, in dem jener unerfindbare
Gegenstand des göttlichen Wesens erkannt und anerkannt wird, jenes id
quo maius nihil cogitari possit, ohne das authentische Religion unmöglich
ist.
In merkwürdig luzider Weise hat Nietzsche gerade das erkannt.
Zugleich betrachtet Nietzsche die Religion – ähnlich wie Marx – als eine
Art Überbau. Ich zitiere Schwarz:
Aber damit, daß man die Gottesfrage in den ideologischen Überbau
verweist, hat man sie im Grunde schon vorentschieden. Denn alles in
diesem Überbau ist, nach Marx, Illusion, „schlechtes Bewußtsein“. Für uns,
die wir nicht gewillt sind, solche Vorentscheidung hinzunehmen, bleibt die
Frage, ob Gott ist, von ungeheurem Gewicht. „Es handelt sich um uns selbst
und um unser alles“, sagt Pascal.

Schon der junge Marx schreibt: „Die Kritik der Religion ist die
Voraussetzung aller Kritik“ (Seite 207) und „Die Moral, Religion,
Metaphysik und sonstige Ideologie und ihnen entsprechende
Bewußtseinsformen behalten ... nicht länger den Schein der
Selbständigkeit“ (Seite 349). Somit ist „die Kritik keine Leidenschaft des
Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft . . . Ihr Gegenstand ist ihr Feind,
den sie nicht widerlegen, den sie vernichten will“ (Seite 210).267

Um Nietzsches Religionsphilosophie zu verstehen, muß man zwei


radikal verschiedene Bedeutungen derselben unterscheiden, die seinen

266
Vgl. Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im
Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 101-354.
267
Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten (Reden zur Zeit, Bd. 26). (Würzburg
1968).

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336 KAPITEL 7

radikal verschiedenen Haltungen gegenüber der „Wahrheit“ genau entspre-


chen. Einmal betrachtet er diejenigen Akte mit großer Tiefe, die allein Gott
gebühren, und sieht eine Welt, in der es keinen Gott gibt, als Grund zur
Verzweiflung an. Es gibt auch eine andere, haßerfüllte Religionsphilo-
sophie bei Nietzsche, in der er dieselbe Lehre vom Tod Gottes als Quelle
äußerster Erfüllung des Willens zur Macht und der Freude sieht.
Um die erste und tiefere Form seiner Religionsphilosophie zu verstehen,
müssen wir zunächst diejenige Haltung philosophisch erfassen, die ihr
zugrundeliegt:
Es gibt ein Zentrum in der Seele des Menschen, das wahre Lebenszen-
trum des Geistes, in dem der Mensch so auf die Wahrheit hingeordnet ist
und auf die Wirklichkeit in der Fülle ihrer in sich ruhenden Bedeutsamkeit
und Kostbarkeit, daß er entwurzelt wird, zerstört wird in dem Augenblick,
in dem er verzweifelt, je die Wahrheit erreichen zu können. Lebt der
Mensch in und aus diesem Zentrum, so ist der Augenblick, in dem ihm
verkündet würde: Alle Güter, auf die antwortend du glücklich warst, alle
Menschen, die du geliebt hast, alle Wahrheit, die du zu erkennen glaubtest,
Gott selbst – all dies ist nicht unabhängig von dir, all dies wird mit deinem
Tode „nichts“ mehr sein – dieser Augenblick ist dann sein Tod und
Verzweiflung die einzig gebührende Antwort, aus der nichts ihn erretten
kann und soll außer der Wahrheit, die eine solche Rede widerlegt.
Dieses Zentrum ist jenes „heiligste Innere“, von dem Kleist spricht, es
ist der Ort, von dem Platon gesprochen hat, der Ort der Seele, wo wir die
Wahrheit lieben.
Es ist jenes Zentrum in uns, in dem wir Antworten auf moralisch
verpflichtende Güter geben und vor Grausamkeit, Bosheit, Neid,
teuflischem Haß, Begehrlichkeit, Unreinheit, Untreue, Verrat, Verleum-
dung, Mord zurückschrecken, wo wir mit Sokrates den Tod nicht scheuen
im Vergleich zu dem Abscheu über all dieses. Es ist der Ort in uns, wo wir
uns nach unserer wahren Heimat sehnen, von der Platon im Phaidros
ahnungshaft spricht. Wenn wir dort unsere Wurzeln haben, dann nehmen
wir die Wirklichkeiten, auf die wir in all den genannten Akten antworten,
notwendig als von uns unabhängig bestehende Wirklichkeiten ernst – oder
wir verwerfen sie.
Und in diesem Sinne versteht Nietzsche auch den religiösen Akt als
einen Akt, dessen Sinn verlangt, daß Gott unabhängig von uns besteht.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 337

Sonst ist Gott nur die größte Lüge und die größte Illusion, von der man
vergißt, daß sie eine ist. Die Position Kants in der Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft,268 der zur Folge Gott keine von unserem
Geist unabhängige Wirklichkeit, sondern nur eine subjektive Schöpfung
ist, ist deshalb für Nietzsche nicht eine Religionsbegründung, sondern der
Erweis, daß Gott tot ist, in der kopernikanischen Wende und Relativierung
und Subjektivierung der Gottesidee ist diese entthront worden:
Excelsior! – Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals
mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten
Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine
Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und
Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein
Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt –
es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es
gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was
dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo
es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen
irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und
Frieden – Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird
dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft!269

Wohin ist Gott? Haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was war das für
ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten? Wie
brachten wir dies zustande, diese ewige Linie wegzuwischen, auf die bisher
alle Linien und Masse sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister
des Lebens bauten, ohne die es keine Perspektiven, keine Ordnung, keine
Baukunst zu geben schien?270

268
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793,
zweite vermehrte Auflage, 1794).
269
Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft 285, in: Werke in drei Bänden; und
Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. II, S. 166-7.
270
Gott ist tot (Toller Mensch), Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche, Werke, Bd.
II, S. 7-274, S. 126: Nr. 124-125.
Vgl. Eugen Biser, „Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs und ihre
theologischen Konsequenzen“, Philosophisches Jahrbuch 78 Jg 1971. Ders., „Gott
ist tot“: Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins (München: Koesel,
1962). Siehe auch Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten, S. 28, 31.

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338 KAPITEL 7

Und eine solche Auffassung widerspricht dem Sinn jedes Urteils ebenso
wie jenem der veritas vitae, wie wir gesehen haben.

2.4. Kritik an der existentialistischen subjektiven Wahrheit als Ersatz der


objektiven Wahrheit und als Umdeutung der Wahrheit in eine
leidenschaftliche Übereinstimmung allein mit sich selber oder als
Selbstschöpfung, in der wahr einfach das wäre, von dem ich will, daß es
wahr sei

Wieder anders und noch radikaler antithetisch zur klassischen Wahr-


heitsdefinition wird die subjektive oder existentielle Wahrheit verstanden,
wenn man sie als Ersatz der Urteilswahrheit und als Wesensdefinition der
Wahrheit auffaßt. Diese Auffassung, nach der Anschauungen, Überzeu-
gungen, Urteile etc. einfach dadurch wahr wären, daß sie die existentiellen
Bedürfnisse des Menschen, die Authentizität seiner Existenz und seines
Lebensprojekts sowie seine Überzeugungen gewährleisteten bzw. zum
Ausdruck brächten, stellt eine radikale Umdeutung des Sinnes der Wahr-
heit dar, eine Theorie, in der die Lüge zur existentiellen Wahrheit erklärt
und das evidente Wesen der Urteilswahrheit geleugnet wird. Auch die (in
Verbindung mit einer funktionalistischen Wahrheitstheorie vorgebrachte)
Idee, wahr sei, was zur subjektiven Kontingenzbewältigung beitrage,
verkennt, daß die einzige des Menschen würdige Kontingenzbewältigung
in einer Wahrheit liegen kann, welche auf die Rätsel der Kontingenz, des
Leidens, des Bösen und des Todes Antwort gibt, und zwar eine Antwort,
welche wahr ist, nicht irgendeine fiktive Selbsttäuschung darstellt.271
Die Sartre’sche Auffassung der Wahrheit des Urteils als schöpferisch
verkennt den andernorts herausgearbeiteten rezeptiven Grundzug jedes
Erkennens272 und setzt gegen dieses Urphänomen des Erkennens der
Dinge, wie sie sind, einen „Entwurf“ des Subjekts, welcher seiner
notwendig geforderten Begründung in der Wahrheit verlustig gegangen ist.

271
Siehe Fussnote 245.
272
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen
in der Erkenntnis; ders., Wahrheit und Person, Kap. 2; ders., Back to Things in
Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism. Vgl. Auch
Dietrich von Hildebrand, Che cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 1-2.

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Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien 339

Die Sartre’sche Grundidee, daß das Subjekt wesens- und damit wahrheits-
schaffend und sich selbst schaffend sei, ja jene absolute willkürliche
Freiheit im Schaffen der Wahrheit, sogar der ewigen Wahrheiten, besäße,
die Descartes Gott zugeschrieben hat, stellt, wie wir im Licht der Analyse
der Erkenntniswahrheit und der Urteilswahrheit sehen, einen Angriff auf
die innerste geistige Substanz der Person dar.273
Wie alle ähnlichen Theorien springt auch hier der innere Widerspruch in
die Augen: Wollen uns nicht Nietzsche und Sartre sagen, was der Kern
menschlicher Freiheit und existentieller Wahrheit ist? Und setzt er damit
nicht notwendig genau das voraus, was er leugnen möchte: daß Wahrheit
darin liegt, im Erkennen und im objektiven Urteil dem zu entsprechen, was
die Freiheit und jegliches sonstige Sein wirklich sind.
Die Trennung der existentiellen Wahrheit von der Urteilswahrheit im
Sinne der adaequatio erreicht in der komplexen Philosophie der Wahrheit
Heideggers eine neue Form, der wir uns jetzt in der kritischen Erörterung
des Streites um die Wahrheit zuwenden möchten. Dabei werden wir auch
die allgemeine kritische Analyse des existentialistischen Wahrheits-
begriffs, des Themas dieses Kapitels, wesentlich erweitern.

273
Vgl. dazu Jean-Paul Sartres Nachwort zu René Descartes, Discours de la méthode
(franz.-dt.); mit einem Vorwort von K. Jaspers und einem Beitrag J.-P. Sartres,
„Descartes und die Freiheit“ (Mainz: Internationaler Universumverlag, 1948).

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KAPITEL 8

HEIDEGGERS VERWERFUNG DER ADÄQUATIO-(ORTHÓTES) THEORIE DER


WAHRHEIT UND KRITIK AN SEINER WAHRHEITSTHEORIE UND THESE VOM
WESENSWANDEL DER WAHRHEIT

1. Einige positive Beiträge Heideggers zur Philosophie der Wahrheit

Wir haben bisher zu wiederholten Malen, vorwiegend positiv würdi-


gend, auf eine Reihe wichtiger Einsichten Heideggers in die Wahrheit
hingewiesen.
Heidegger beginnt seine Ausführungen über das Wesen der Wahrheit
mit der Aufforderung, das Wesen der Wahrheit nicht wie eine Selbst-
verständlichkeit anzunehmen, deren Beantwortung man dem gemeinen
Menschenverstand überlassen dürfe, sondern sie ganz neu zu überdenken.
Was könnte angesichts der Wahrheit ein angemessenerer Aufruf sein?
Heidegger versucht, die Frage nach der Wahrheit ganz neu zu stellen und
das ans Licht zu bringen, was Wahrheit in ihrem eigentlichsten Wesen ist;
er betont mit vollstem Recht die immense Bedeutung nach dem Wesen der
Wahrheit und wie wenig diese den verbreiteten Verdacht, die unnützeste
aller Fragen zu sein, bestätigt.274 Er weist mit ebensolchem Recht auf die
Notwendigkeit hin, den Begriff der Übereinstimmung zu klären und nicht
für selbstverständlich zu nehmen. Obwohl er dabei ganz statthafterweise
verlangt, nicht den gemeinen Menschenverstand als Richtmaß dafür zu
nehmen, was Wahrheit ist, so klingt hier bereits jene absolut neue und m.E.
verkehrte und verworrene Wahrheitstheorie an, auf die wir im einzelnen
kritisch eingehen werden.275
Scharfsinnig unterscheidet Heidegger einige Bedeutungen von Überein-
stimmung und Ähnlichkeit, die sicherlich nicht gemeint sein können, wenn
man die Wahrheit als Übereinstimmung, adaequatio oder homoiosis
bestimmt: Wahrheit kann keine Ähnlichkeit zwischen Satz und Sachen
274
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967),
S. 178 f.
275
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 178-182.

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342 KAPITEL 8

(Sachverhalten) bedeuten, der Art wie die Ähnlichkeit zwischen zwei


Geldstücken. Denn das Urteil (außer dem Urteil über das Urteil selbst) ist
gänzlich von den durch es gemeinten Sachen und Sachverhalten
verschieden; und selbst in dem Fall eines Urteils über das allgemeine
Wesen des Urteils, eine bestimmte Gruppe oder Art von Urteilen, oder
über ein bestimmtes Urteil, besteht seine Wahrheit nicht in der
Übereinstimmung seiner Ähnlichkeit mit dem Urteil, das Gegenstand des
ersten Urteils ist. In dem Falle des Urteils, „Das Geldstück ist rund“, etwa
ist das Geldstück aus Metall, das Urteil überhaupt nicht stofflich: „das
Geldstück ist rund, die Aussage hat überhaupt nicht die Art eines
Räumlichen. Mit dem Geldstück kann man etwas kaufen. Die Aussage
darüber ist niemals ein Zahlungsmittel…“276
Wenn wir auf die Art, wie etwas völlig Ungleiches, die Aussage, sich an
Dinge angleichen könne, erwägen, so sehen wir ein, wie Heidegger in
einem schönen Teil seiner Schrift ausführt, wie hier überhaupt kein
dinghaftes Gleichwerden zwischen ganz ungleichartigen Dingen gemeint
sein kann und gelangen zu einer sehr wichtigen phänomenologischen
Einsicht: „Das Wesen der Angleichung bestimmt sich vielmehr aus der Art
jener Beziehung, die zwischen der Aussage und dem Ding obwaltet.“277

2. Erste Darstellung der Gegenstände unserer Kritik der Heidegger’schen


Philosophie der Wahrheit als Freiheit

Doch anstatt von hier aus zu einer weiteren Analyse der einzigartigen
Form der adaequatio überzugehen, die wir im Urteil finden278, wendet sich
Heidegger zunächst von der Analyse der Art der „Angleichung“ des Urteils
zur Untersuchung der nicht dem Urteil selbst, sondern dem Seienden
zukommenden (der ontologischen) Wahrheit zu. Dabei geht Heidegger
nicht mit derselben sachlichen und differenzierten Analyse, in welcher er
zuvor die Weisen, in denen die Wahrheit als Übereinstimmung nicht
verstanden werden dürfe, behandelt hat, auf das Wesen der ontologischen

276
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183.
277
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183.
278
Und im Kapitel 3 des Bandes Wahrheit und Person zu klären versuchten.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 343

Wahrheit ein, sondern ergeht sich statt dessen in mehr als obskuren
Übergängen in etwas, was man nicht anders denn als dichterische oder
pseudodichterische Sprach- und Gedankenspiele bezeichnen muß. So sagt
er etwa in der für ihn fast zum Markenzeichen gewordenen gekünstelten
Sprache, das „Entgegenstehende des Urteils“ müsse „ein offenes Entgegen
durchmessen“ oder beim Verhältnis zwischen Ding und Aussage gehe es
um ein „Verhalten“, das sich „zum Schwingen bringt“.279
Danach macht er wiederum einige sehr interessante Bemerkungen, die
nähere Reflexion verdienen würden: Es gehe bei der Wahrheit des Seins
gar nicht um ein Verhältnis, sondern um Seiendes, das ein Offenbares sei
und seit ehedem als „Anwesendes“ gefaßt werde, usf.
Nach diesen knappen Ausführungen wird wiederum die adaequatio
mehr durch undurchsichtige Ausdrücke weiter umschrieben als sorgfältig
untersucht, indem Heidegger Offenbares als „Richtmaß für vor-stellende
Angleichung“ bezeichnet und sagt: „Das offenständige Verhalten selbst
muß dieses Maß sich anweisen lassen.“ 280
Dann aber müsse „das, was die Richtigkeit erst ermöglicht, mit
ursprünglicherem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten.“281 Soweit, so
gut. Heidegger könnte hier auf die ganz andere Bedeutung und Wesenheit
der Wahrheit der Dinge, der ontologischen Wahrheit,282 hinweisen, aber,
wie schon sein Versuch, ein einheitliches Wesen oder eine einheitliche
Definition von Wahrheit zu finden, die all diese Arten von Wahrheit (des
Seins, des Erkennens, des Urteils, des Lebens, usf.) umfaßt, verliert er sich
in der Vermengung dieser Bedeutungen von Wahrheit so, als müßte man
im Hinblick auf die ursprünglichere Wahrheit des Seins selbst die
Wahrheit als Übereinstimmung ganz zurücktreten lassen, wenn nicht
geradezu verwerfen, indem man auf den Grund der Ermöglichung der
Richtigkeit blicke.
Dieser wird nun in einem „Offenen für ein aus diesem waltendes
Offenbares“ und zugleich als Freiheit gesehen, was eher die richtige
Haltung charakterisiert, die der Erkenntnis der Wahrheit vorhergeht und
279
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 184.
280
A.a.O., S. 185.
281
Ebd., S. 185.
282
Diese haben wir in Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1, ausführlich erör-
tert.

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344 KAPITEL 8

sie ermöglicht, als das Wesen der Urteilswahrheit, obwohl er die Freiheit
nicht auf die Haltung der Person gegenüber der Urteilswahrheit, sondern
auf die Wahrheit des Urteils selber bezieht, so als könnte ein aus Begriffen
bestehendes logisches Urteilsgebilde frei sein, und sagt: „Das Wesen der
Wahrheit, als Richtigkeit der Aussage verstanden, ist die Freiheit“, ja die
„Freiheit ist das Wesen der Wahrheit selbst.“283
Wie kann man aber dann noch Lüge und reinste Subjektivität von
Wahrheit unterscheiden, wenn man sie als Freiheit begreift, fragt
Heidegger sich selbst? Auch wenn Heidegger zunächst (durch die
Bestimmung der Urteilswahrheit durch Merkmale, die eher von Akten der
Überzeugung und des Urteilens oder von deren personalen Subjekten
gelten) eine gewisse Übereinstimmung mit diesem Wahrheitsbegriff
beibehält und sich noch im Rahmen einer Aufklärung der besonderen Art
von Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt zu bewegen
scheint, so weicht er von dieser doch stark und zunehmend gänzlich ab. Er
bestimmt zwar zunächst die Freiheit als „Freiheit für das Offenbare des
Offenen“ oder als „Sein-lassen“ und „das Sicheinlassen auf das Seiende“,
als Entborgenheit und Entbergung des Seienden, Termini, die noch die
Idee einer adaequatio voraussetzen.284
Die Wahrheit aber, so meint Heidegger, könne überhaupt nicht, wie man
bisher fast allenthalben annahm, und jedenfalls nicht in erster Linie, die
Richtigkeit von Sätzen oder auch „das Stimmen“, sei es des Satzes, sei es
der Sache, durch eine Angleichung an ihre Idee, bedeuten: „Die ‚Wahrheit‘
ist kein Merkmal des richtigen Satzes, der durch ein menschliches
‚Subjekt‘ von einem ‚Objekt‘ ausgesagt wird …“ Und von hier aus geht
Heidegger einen radikalen Weg des Subjektivismus der Wahrheitsdeutung,
und zwar in verschiedenen Weisen, auf die wir zurückkommen werden:
zum Beispiel indem er die Wahrheit als Akt des Subjekts definiert, sei es
als dessen Freiheit, sei es als dessen Entdeckendsein, sei es als Entbergung,
etc.285
Insbesondere mit der Gleichsetzung der Wahrheit mit Freiheit hängt
auch die These Heideggers zusammen, die Wahrheit sei so eng mit der

283
Ebd., S. 186.
284
Ebd., S. 187-178.
285
Vgl. a.a.O., S. 191 ff.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 345

Unwahrheit verbunden, daß gelte: „Die Wahrheit muß vielmehr aus dem
Wesen der Unwahrheit kommen“.286 Diese These, die einen gewissen
Aspekt der Erkenntniswahrheit, welcher das Fehlen derselben
vorhergeht,287 zum Ausdruck bringt, hat nicht nur darin ihre Wurzel, daß
evidenterweise die Wahrheit auch die Wahrheit darüber begreift, was
unwahr ist, und in diesem Sinne jede Wahrheit die Unwahrheit enthält und
einschließt, aber nicht als einen Teil von ihr, sondern als ihr Derivat und
Gegenteil sowie als den Gegenstand der Wahrheit (über alle
Unwahrheiten). Diese These Heideggers, die auch die Freiheit des
Seinslassens des Seienden der Freiheit des Lügners, der das Seiende nicht
sein läßt, gegenüberstellt, hat nicht einmal ihre Wurzel nur in der
Identifizierung der Vergessenheit und des Unwissens, die in der Tat einen
Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bilden, mit dem Irrtum und der
Unwahrheit als ganz anderen Gegensätzen zur Erkenntniswahrheit. (Das
Unwissen, als ein privativer Gegensatz zur Erkenntniswahrheit, ist gerade
nicht dasselbe wie Irrtum.) Heidegger hingegen sieht die absolut
verschiedene Wesenheit unvollständiger Erkenntnis und des Irrens nicht.288
Heideggers Auffassung, daß die Wahrheit selbst zugleich Unwahrheit ist
und die Entbergung zugleich Verbergung, hat ihre Wurzel auch nicht nur
in der Verwechslung zwischen dem tatsächlichen Sachverhalt, daß sich in
jeder unvollständigen Erkenntnis und ihrer Wahrheit auch ein Mangel an
Erkenntnis verbirgt, mit der Meinung, daß in der Wahrheit der Erkenntnis
selber die Unwahrheit stecke bzw. daß Erkenntnis im engeren Sinn sich gar
nicht – als wesenhaft wahr – vom Irrtum unterscheide, und so spricht er
auch von „falscher Erkenntnis“ und, in seiner künstlichen Sprache, davon
daß „in-sistente Ek-sistenz des Menschen in die Irre geht.“289 Seine These
hat auch nicht einmal ausschließlich darin ihren Grund, daß Heidegger
richtig bemerkt, daß die Seinswahrheit nicht auf eine Richtigkeit reduziert
werden kann und daß wir diese ontologische Wahrheit von der Urteils-
wahrheit unterscheiden und als deren Quelle erkennen müssen.

286
Ebd., S. 191.
287
Vgl. Josef Seifert, Kap. 2.
288
Vgl. Heidegger, op. Cit., S. 192-196. Vgl. auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit, I, Kap. 3.
289
Heidegger, ebd., S. 197.

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346 KAPITEL 8

Vielmehr müsse Wahrheit ganz anderes bestimmt werden als durch


orthotes und einen tieferen Ort bzw. ein Fundament im Sein haben; ja noch
viel mehr: das Wesen der Wahrheit müsse nicht einerseits in den
ontologischen, andererseits in den Dimensionen der Übereinstimmung
aufgeklärt, sondern die ganze Bestimmung der Wahrheit als Richtigkeit sei
ein Irrweg gewesen und müsse nun endlich überwunden werden.
In diesem Zusammenhang vertritt Heidegger eine These, die seiner m.E.
gänzlich unfundierten Behauptung der Seinsvergessenheit der ganzen
abendländischen Philosophie seit den Vorsokratikern an Ehrgeizigkeit in
nichts nachsteht: es habe bei Platon ein „Wesenswandel der Wahrheit“
stattgefunden und damit eine Art „Wahrheitsvergessenheit“: statt dem
ursprünglichen Sinn der Wahrheit als Unverborgenheit (Âl®jðeia) sei die
Richtigkeit, die adaequatio (die ÔrjðóthV) getreten, und dadurch sei der
ursprüngliche Sinn der Wahrheit verstellt worden; auch sei von Platon die
als Unverborgenheit und Freiheit zu bestimmende Wahrheit dem „Joch der
Idee“ unterworfen worden.290
Und wie Heidegger sich angesichts der „allgemeinen Seinsvergessen-
heit“ als Wiederentdecker des Seins gebärdet, tritt er im Falle der
angeblichen Wahrheitsvergessenheit aufs neue als eine Art Retter, diesmal
der Wahrheit in ihrer ursprünglichen Bedeutung, auf, als einer, der den
eigentlichen Sinn der Wahrheit wieder entdeckt habe, aber zugleich eine
Art schicksalhafte Entwicklung, welche das ganze abendländische Denken
vom ursprünglichen Wesen der Wahrheit entfernt habe, eher prophetisch
verkünden und diagnostizieren zu müssen als überwinden zu können
meint.
Er möchte dabei keineswegs nur unsere offenkundige Ohnmacht und
Grenzen hinsichtlich einer Umänderung von Bewegungen der Geistes-
geschichte anerkennen, sondern behauptet eine Unfähigkeit, in unserer
eigenen Philosophie das Wesen der Wahrheit zu entdecken. Mit anderen
Worten vertritt er einen Geschichtsfatalismus und legt zugleich eine an
Hegel gemahnende Rolle des Philosophen als eine Art „in seiner Zeit
gefangenes Sprachrohr des Zeitgeistes“ nahe, anstatt die wahre Rolle des
Philosophen als eines Kritikers der eigenen Zeit im Licht ewiger Wahrheit
zu erkennen.

290
Zur Unrichtigkeit dieser These vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 347

Der historische Relativismus ist tief in Heideggers Philosophie


verwurzelt und wurde ebenso schonungslos wie exzellent, wenngleich von
einer sehr problematischen Fichte’schen Warte aus, von Lauth als in sich
widerspruchsvoll und contraevident kritisiert.291 So wird der sogenannte
Wesenswandel der Wahrheit in der Geschichte mit einer Geschichte des
Seins selbst verwoben. Die ganze Lehre Heideggers läuft auf „die Sage
einer Kehre innerhalb der Geschichte des Seyns“292 hinaus, in welche die
Frage nach dem Wesen und Wesenswandel der Wahrheit, die in „Wahrheit
als Verbergung und Irre“ und einer „Überwindung der Metaphysik“ ende,
mündet. All dies ist aufs engste mit Heideggers These verbunden, daß sich
im Höhlengleichnis in Platons Staat ein Wesenswandel der Wahrheit
ereignet habe. Was genau ist dieser „Wesenswandel der Wahrheit“?

3. Kritische, aufrichtige und allgemeine Vorbemerkungen über


Heideggers Philosophie

Wenn wir uns nun im folgenden dieser schon angedeuteten Wahrheits-


theorie Heideggers und seiner Kritik der platonischen Lehre von der
Wahrheit mehr im einzelnen und – trotz der Anerkennung der Wichtigkeit
des von Heidegger geforderten echt philosophischen Unterfangens des
Neudurchdenkens dessen, was Wahrheit ist, und ungeachtet einiger anderer
wichtiger positiver Beiträge Heideggers zu einer Philosophie der Wahrheit
– dennoch überaus kritisch zuwenden müssen, so schicke ich dieser
Untersuchung einige Vorbemerkungen voraus, die sich mir geradezu
aufdrängen:
Schon als ich zum erstenmal in meiner Studentenzeit Heideggers
Abhandlungen über die Wahrheit las, war ich von manchen außerordent-
lich bemerkenswerten Passagen und Einsichten Heideggers stark
beeindruckt, wirkten jedoch andere Aspekte derselben ausgesprochen
aufreizend auf mich und erschienen mir zutiefst falsch und in fataler Weise
verwirrt, ja abstoßend; und ich habe in den vergangenen vierzig Jahren

291
Vgl. Reinhard Lauth, Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit (Stuttgart:
Kohlhammer, 1966).
292
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 201.

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348 KAPITEL 8

meine Meinung über diese gegensätzlichen Aspekte der Heideggerschen


Philosophie der Wahrheit nicht geändert. Trotz meiner sich auf viele
Punkte beziehenden und schon hinreichend zur Sprache gebrachten
Bewunderung mancher Heidegger’schen Beiträge zur Philosophie der
Wahrheit denke ich, daß seine Philosophie insgesamt, und ganz besonders
seine Wahrheitstheorie, einen gewaltigen Irrweg darstellt, einen Kulmina-
tionspunkt der sechsten Krise der Philosophie.293 Aber während Ähnliches
auch von Kant und dem späteren Husserl gesagt werden kann, treten bei
Heidegger noch aufreizende Elemente hinzu, die sich nicht nur auf
Irrtümer eingrenzen lassen, sondern die zu einer verbreiteten Verderbnis
echter Phänomenologie und ihres Ideals der Klarheit der prise de
conscience der Urgegebenheiten zugunsten eines zutiefst unehrlichen und
verworrenen, aber auch aus anderem Grunde abstoßenden Philosophierens
geführt haben und nicht zufällig zu Heideggers nationalsozialistischer Zeit
und seinem schmählichen Verhalten gegenüber Husserl führten, sondern
solches Verhalten gleichsam als Ausgeburt seiner letztlichen Identifizie-
rung von Wahrheit und Irrtum und seiner subjektivistischen und absolut
wertfreien und ethik-losen Philosophie der Eigentlichkeit, der Geschichte
und des Menschen erscheinen lassen.
Der Leser lasse den Autor seine Mißbilligung des ganzen
Heidegger’schen Stils des Philosophierens und wesentlicher Teile seiner
Philosophie der Wahrheit in Form von Fragen formulieren: 1) Was soll es
heißen, das Wesen der Wahrheit, und nicht nur die Meinung Platons oder
anderer Philosophen über sie, habe sich gewandelt? Ist eine solche These
nicht entweder eine Folge der Verwechslung der grundlegend verschiede-
nen Bedeutungen und Arten von Wahrheit, die Heidegger in unmöglicher
Weise einer einzigen Definition, einem einzigen Wesen der Wahrheit
unterordnen möchte,294 obwohl er selbst innerhalb des Abschnitts über den
„geläufigen Begriff der Wahrheit“ einige der früher gemachten
Unterscheidungen zwischen ontologischer Wahrheit, Erkenntniswahrheit
und Urteilswahrheit sehr gut ausführt, worauf wir schon hingewiesen

293
Diese geht auch nach Beginn der 7. Ausfahrt weiter. Vgl. Balduin Schwarz, (Paula
Premoli/Josef Seifert ed.), Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen
Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie.
294
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 177-178.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 349

haben, oder gar nur ein effekthascherischer … Unsinn? Wie soll sich das
Wesen der Wahrheit wandeln können?
Ferner habe sich dieser Wesenswandel der Wahrheit selbst in Platons
Höhlengleichnis vollzogen. Selbst wenn sich das Wesen der Wahrheit
gewandelt haben könnte, wie soll es sich im Werk eines bestimmten
Philosophen gewandelt haben? Für wie töricht muß Heidegger den Leser
zu halten, um derart absurde Behauptungen aufzustellen und zu meinen,
die Leser ließen sie ihm hingehen?
Weiters wirkt Heideggers Verachtung der Logik aufreizend. Hat er
schon in Sein und Zeit den Nachweis logischer Widersprüche einer
Position als Argument für ihre Falschheit (einen der klassischen Wege
philosophischer Kritik, den wir auch Heidegger nicht ersparen können und
den wir bei Platon, Aristoteles, Augustinus, Bonaventura, Descartes,
Leibniz, Husserl und anderen großen Denkern finden und der sich schon
von der Einsicht in die absolute Gültigkeit des logischen und ontologischen
Widerspruchsprinzips als zwingend erweist) herablassend und verächtlich,
ohne jede weitere Begründung, als „plumpen Überrumpelungsversuch“
abgetan, so kümmert er sich in seiner Wahrheitstheorie auch nicht im
mindesten um die logischen Widersprüche derselben, so als sei die Frage
solcher Widersprüche irrelevant und trivial in einem so revolutionären
Denker wie er selber, der wie ein Prophet seine Philosophie mehr
verkündet als begründet.
Dazu kommt Heideggers ungeprüfte und in den Raum gestellte
Voraussetzung, daß wenn wir vom Sein, von der Erkenntnis oder vom
Urteil sagen, sie seien wahr, derselbe Sinn und dieselbe Bestimmung des
Wesens der Wahrheit zutreffen müßten, so als handelte es sich, wenn
einmal von der Wahrheit des Seins, dann von jener des Erkennens, dann
wiederum von der des Urteils die Rede sei, um ein und dasselbe
Phänomen. Von einer solchen Gleichsetzung von Verschiedenem folgen
allerdings viele Ungereimtheiten in Platons Lehre, wenn man eine ähnliche
Verwirrung bei Platon voraussetzt, bei dem sie nicht besteht. Ohne eine
solche beabsichtigte oder unbeabsichtigte Vermengung von grundverschie-
denen Wahrheitsphänomenen läßt sich Heideggers Philosophie der Wahr-
heit nicht denken, aber eine solche Grundlage macht sie eben mehr zu
einer vielleicht genialischen Sophistik als zu einer echten Philosophie.

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350 KAPITEL 8

Werden daher die untereinander objektiv völlig verschiedenen Phäno-


mene, die wir mit dem Wort „Wahrheit“ meinen, von Platon, der Natur der
Sache gemäß, verschieden gekennzeichnet, so sei dies der von Heidegger
pathetisch als „Wesenswandel der Wahrheit“ bezeichnete Vorgang, anstatt
darin einfach Hinweise auf ganz verschiedene Bedeutungen und Bereiche
der Wahrheit zu erblicken, die als solche aus rein objektiven Gründen, vom
Wesen der Sache her, verschieden bestimmt und definiert werden müssen
und überdies durchaus mit einander verträglich sind und nicht gegen
einander ausgespielt werden dürfen.
Außer all diesen und einer Reihe anderer inhaltlicher Gründe, die uns zu
einer scharfen Kritik motivieren werden, ist die Art, in der sich Heidegger
über seine größten Vorgänger erhebt, von einer unglaublichen Arroganz
des vollkommen unberechtigten Anspruchs eigener überragender Größe
des Wahrheitsverständnisses, obwohl er dieses überwiegend mehr verdun-
kelt hat als je ein Denker vor ihm. Zu alledem kommt, daß Heidegger sich
trotz vieler schöner und schlichter Bemerkungen über die Wahrheit, wenn
er zum Kern seiner Aussagen gelangt, in einer für den normalen Leser
geradezu unerträglich komplizierten, gekünstelten und keineswegs von der
Komplexität der Sachen her diktierten Kompliziertheit und Obskurität der
Sprache und des Gedankens ergeht. Man kann nicht umhin, ihn jenes „Tief
Scheinen Wollens“ zu bezichtigen, das Friedrich Nietzsche dem Tiefsein
entgegensetzt:
Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen
möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält alles für tief,
dessen Grund sie nicht sehen kann: ...295

Wollen wir uns daher nicht im Dickicht unergründlichen Dunkels der


Sprache und des Denkens verirren, müssen wir Heideggers ausdrückliche
und implizierte Aussagen in ihren schlichten Sinn übersetzen und vor
allem den Inhalt seiner revolutionär wirkenden Aussagen über die Wahr-

295
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 173, „Tief sein und tief scheinen“,
II/S. 144. Und an anderer Stelle fügt Nietzsche hinzu:
Das Publikum verwechselt leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der
Tiefe schöpft.
Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band, 262, „Tiefe und Trübe“, I/S. 835).

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 351

heit und seine Abschaffung der Wahrheit als „Übereinstimmung“-sui-


generis im Licht einer kritischen Sachanalyse hinsichtlich ihrer Richtigkeit
und Haltbarkeit prüfen und, wenn sie sich als unhaltbar erweisen,
verwerfen.
Ich möchte mir eine weitere Vorbemerkung über Heideggers Wahrheits-
theorie gestatten: Trotz allem gegenteiligen Anschein, so als wäre
Heideggers Philosophie der Wahrheit eine radikale Rückbesinnung auf das
Sein und den ontologischen Sinn der Wahrheit und weg vom relativen und
subjektiven Sinn von Wahrheit im Psychologismus und Transzendentalis-
mus, wie er selbst behauptet,296 oder vielmehr so, als stünde sie jenseits des
Subjektivismus des Deutschen Idealismus, ja (ein anderer aufreizender
Anspruch) jenseits der ganzen Realismus-Idealismus Kontroverse (was ein
Ding der Unmöglichkeit ist), steht Heideggers Philosophie der Wahrheit
keineswegs jenseits dieses Unterschieds, sondern ist mindestens ebenso
subjektivistisch wie jene Nietzsches, dessen Philosophie im allgemeinen
und Wahrheitstheorie im besonderen er sich ja in seinem zweibändigen
Nietzsche-Buch eingehend und überaus zustimmend zugewandt hat, oder
Sartres.297
Heideggers radikal subjektivistische existentialistische Wahrheitsauffas-
sung kommt etwa in seiner Bemerkung zum Ausdruck, der Selbstmörder
habe mit seinem Selbstmord auch die Wahrheit ausgelöscht,298 aber auch in
seiner Definition der Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins“, d.h. als
Entdeckendsein des Menschen, welches eine sehr verschiedene Auffassung
der Wahrheit als eine dem Sein selber angeblich zukommende Unverbor-
genheit bedeutet.
Denn dieser Wahrheitsbegriff eines Entbergens und Entdeckendseins
wird von Heidegger nicht etwa in Einklang mit der ganzen großen
Tradition als ein mit der Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung voll

296
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 202:
Jede Art von Anthropologie und alle Subjektivität des Menschen als Subjekt ist nicht nur,
wie schon in „Sein und Zeit“, verlassen …, sondern der Gang des Vortrags schickt sich an, ..
[zu einem] Weg des Denkens [zu gelangen], das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern,
sich als Wandlung des Besuchs zum Sein erfährt und erprobt.“
297
Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961.
298
Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max
Niemeyer, 2006), § 44.

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352 KAPITEL 8

vereinbarer Begriff der Erkenntniswahrheit begriffen, sondern vielmehr in


ausdrücklichen scharfen Gegensatz zur Idee der Wahrheit als adaequatio
intellectus et rei gesetzt, also nicht so aufgefaßt, als würde das Subjekt eine
ihm vorgegebene Wirklichkeit rezeptiv entdecken, wie dies jede Überwin-
dung des Idealismus und Subjektivismus des Wahrheitsbegriffs voraus-
setzt. Vielmehr ersetzt Heidegger jedes solche das Subjekt transzendie-
rende Entdecken durch einen immanenten Seinsmodus des „Entdeckend-
seins“, womit der eigentliche Sinn von „Entdecken“, der immer eine
Vorgegebenheit des Seins voraussetzt, radikal umgedeutet und sogar
aufgelöst wird.299
Zumindest von dieser existentialistischen Wahrheitstheorie, aber auch
von der These der Wahrheit als Unverborgenheit gilt ferner keineswegs,
daß Heidegger keine neue Wahrheitstheorie einführen oder nur die Grund-
lagen der immer schon vertretenen Adäquationstheorie der Wahrheit im
Sein und Erkennen aufzeigen und somit nur die letzten Fundamente der
Korrespondenztheorie und anderer Theorien der Wahrheit aufzeigen
möchte.300 Vielmehr finden wir bei Heidegger eine, oder vielmehr mehrere,
in ihrem sprachlichen Gewand sehr neue (aber inhaltlich in vielerlei
Hinsicht alte) und mehrheitlich subjektivistische Deutungen der Wahrheit.
Dies drückt sich (1) in seiner Bestimmung der Seinswahrheit als „Unver-
borgenheit vor dem menschlichen Subjekt“ (dem Dasein); (2) in seiner
subjektiven und vor allem wertneutralen Idee von Wahrheit als „Eigent-
lichkeit“, der gemäß ihm Haß und Liebe als gleich ursprüngliche Formen
der „Eigentlichkeit“ gelten, sodann auch (3) in seiner Definition der
(Erkenntnis-)Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins,“ und damit in
deren Verständnis als subjektiven „Zustand“ (mit gleichzeitiger Ablehnung
des im Entdecken an sich liegenden Seinsbezugs) und ferner auch, und

299
Siehe M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, wo Heidegger seine Theorie der Wahrheit
als Entdeckendsein des Daseins entwickelt, vor allem § 44 c, wo er seine These
der Abhängigkeit der Wahrheit vom Menschen und der Auslöschung der Wahrheit
selbst durch den Selbstmord vertritt. Vgl. auch Martin Heidegger, Vom Wesen der
Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), sowie ders., Platons Lehre von der
Wahrheit (2. Auflage). Bern, Francke 1954.
300
Das behauptet etwa Georg Rompp, „Wesen der Wahrheit und Wahrheit des
Wesens,“ Zeitschrift für philosophische Forschung (April-Juni 1986), 40, 181-
205.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 353

damit eng verknüpft: (4) in seiner Deutung der Wahrheit als Freiheit, die
nicht nur jenes „Sein-lassen des Seienden“ meint, sondern auch eine Art
schöpferische Wahrheitssetzung im Auge hat, wie wir sehen werden.

4. Kritik an Heideggers Kritik des platonischen Wahrheitsverständnisses


und der Adäquationstheorie überhaupt durch seine Identifizierung der
Wahrheit mit Unverborgenheit und seine These vom „Wesenswandel
der Wahrheit“ in Platons Höhlengleichnis

Die möglicherweise wichtigste und bekannteste Schrift Heideggers über


die Wahrheit und insbesondere über den Wesenswandel der Wahrheit ist
Platons Lehre von der Wahrheit.

4.1. Heideggers Grundthesen

Heidegger meint, den traditionellen Wahrheitsbegriff als einer irgend-


wie gearteten orthotes (Richtigkeit) bzw. als einer adaequatio zwischen
Verstand und Wirklichkeit, als eine Entfremdung vom ursprünglichen
Wesen der Wahrheit auffassen zu können. Die Wiederentdeckung des
ursprünglichen Wesens der Wahrheit vermeint er insbesondere durch seine
Platondeutung und Lesung des Höhlengleichnisses leisten zu können:
Neben der Idee der Wahrheit als existentieller Eigentlichkeit und als
„Entdeckendsein des Daseins“ entwickelt Heidegger vor allem die Idee der
Wahrheit als Unverborgenheit, die er den Vorsokratikern zuschreibt, indem
er den Sinn des griechischen Wortes aletheia, das von a (alpha privativum)
und lethe (Schleier, Vergessen) kommt, als Unverborgenheit des Seins
deutet und dann die These eines Wesenswandels der Wahrheit bei Platon
aufstellt, der vor allem im Höhlengleichnis zum Ausdruck käme, ja sich in
ihm ereignet hätte. Heidegger interpretiert also Platons Höhlengleichnis
ganz im Hinblick auf Platons Lehre von der Wahrheit. Was Heidegger im
Grunde zeigen will, ist Folgendes: Wenn man im Höhlengleichnis alle jene
Stellen betrachtet, die etwas über Platons Lehre von der Wahrheit
aussagen, zeichnet sich innerhalb des Höhlengleichnisses ein Wandel des
Wesensbegriffs der Wahrheit ab, den Platon selber aber nicht als solchen

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354 KAPITEL 8

erkenne. Dieser Wandel des Wesensbegriffs der Wahrheit vollziehe sich


vielmehr stillschweigend und soll nun von Heidegger ans Licht gebracht
werden.
Zunächst, so will Heidegger zeigen, habe das Wort Wahrheit die
urgriechische Bedeutung, die unserem Denken, das die Wahrheit immer als
adaequatio intellectus et rei auffasse, fernliege, nämlich: a-lethes als das
nicht Verhüllte, das Unverborgene. Als solches sei Wahrheit nicht eine
Eigenschaft des Intellekts, d.h. eine wie immer geartete Übereinstimmung
desselben mit dem Sein, sondern vielmehr eine Eigenschaft des Seins
selbst. Wenn sich der Mensch von seinen Ketten und seiner elenden
Existenz in der Höhle löse und zum wahreren Sein vordringe, so meine
Wahrheit hier nichts als das Vordringen zum unverborgeneren Sein. Wenn
schließlich der von den Fesseln Befreite und der Höhle Entflohene das a-
lethestata, das Wahrste, schaue, so ergäbe es keinen Sinn, wie Heidegger
zu Recht bemerkt, diesen Wahrheitsbegriff als Übereinstimmung zu
deuten. Man müsse ihn vielmehr als Unverborgenheit verstehen, meint er.
Auch die vierte Stufe des Bildes des Höhlengleichnisses, nämlich die
Rückkehr des befreiten Gefangenen in die Höhle zu seinen Mitgefangenen,
um nun auch diese zu befreien, zeigt nach Heidegger an, wie Platon im
Herausgerissenwerden aus der Verborgenheit der Höhle in die Unverbor-
genheit des Freien außerhalb der Höhle, also in der Unverborgenheit des
Seins, die Wahrheit verstanden wissen will. Es gäbe auf dieser Ebene
keinen Sinn, Wahrheit in dem späteren abendländischen Sinn als
Übereinstimmung zu deuten. Darin liegen manche tiefe Einsichten
Heideggers, die allerdings mit sehr tiefgreifenden Verwechslungen gepaart
sind.

4.2. Platons Idee der Wahrheit und der paideia und die These vom angeblichen
Verlust der „anfänglichen Idee der Wahrheit“

Das ganze Höhlengleichnis soll nach Heidegger verdeutlichen, was


Platon unter der paideia verstehe. Bildung werde von Platon in jenem
ursprünglichen Sinne verstanden, den man so wiedergeben könne:

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 355

„Bildung ist Prägung zumal und Geleit durch ein Bild.“301 Bildung ist noch
genauer nach Platon eine Umwendung der ganzen Seele, eine Kehre, ja
eine Be-kehrung (metanoia). So wie man die gegen Ausgang der Höhle
liegende Wirklichkeit nur sehen kann, wenn man den ganzen Körper
wende, so könne man auch die Welt der unwandelbaren, ewigen Ideen nur
sehen, wenn man sich geistig völlig umwende. Heidegger führt aus, daß
nach Platon Bildung eine „Versetzung“, ein langsamer Übergang des
ganzen Menschen (holees tees psychees) von einem Bereich in einen
anderen sei.302
Die Bildung geschieht nun aber durch das Erblicken der ewigen Ideen,
durch das sich Ausrichten nach ihnen, indem man sie anschaut. Und so
wird Wahrheit bei Platon in einem zweiten und ganz verschiedenen Sinne
verstanden, als orthótes (Richtigkeit), als homoiosis (als Angleichung), als
eine Richtigkeit des Sehens und Erkennens und als eine Angleichung des
Geistes an die Idee in der Richtigkeit der Erkenntnis und des Urteils.
An dieser Stelle vollzieht sich nach Heidegger eine Wandlung im
Wesensbegriff der Wahrheit selbst. Durch diese Seite der platonischen
Philosophie werde das alte, ursprüngliche Wesen der Wahrheit als
Unverborgenheit preisgegeben und durch eine adaequatio intellectus et rei
ersetzt und „so ruht das anfängliche Wesen der Wahrheit noch in seinem
verborgenen Anfang“. So endet Heidegger seine Ausführungen über
Platons Lehre von der Wahrheit, wobei er hinzufügt, daß erst in einer Zeit
der geistigen Not, in der das Seiende oder das Sein selbst fraglich
geworden sind, das anfängliche Wesen der Wahrheit als eine Proprietät des
Seins selbst – als Unverborgenheit – und deren Bedeutung neu ergründet
werden könnten. Und von diesen Voraussetzungen aus gelangt Heidegger
dann zur oben angedeuteten Interpretation der Wahrheit als existentieller
Entwurf, ja als Schöpfung des Subjekts.
Im folgenden sollen die einzelnen Stufen im Gedankengang Heideggers
verfolgt und kritisch untersucht werden, sowohl von einem systematischen
Gesichtspunkt als auch von jenem einer adäquaten Platon-Interpretation
aus. Da Heidegger zunächst zeigen will, daß und in welcher Weise Platon

301
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), S.
217.
302
Siehe M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 26-27.

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356 KAPITEL 8

das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit bestimmt, wollen wir uns
zunächst vor Augen führen, wie Heidegger das Unverborgene bestimmt,
um dann zu erkennen, ob diese Wesensbestimmung der Wahrheit Platons
Lehre von der Wahrheit gerecht wird.

4.3. Kritik an der Subjektivierung der „Ontologischen Wahrheit“ durch ihre


Deutung als Unverborgenheit

Wenn wir auch im Licht der Untersuchungen der ersten beiden Kapitel
von Wahrheit und Person durchaus einen gültigen intrinsischen und
extrinsischen Sinn einer ontologischen Wahrheit anerkennen, die sich nicht
auf eine Adäquation zwischen Intellekt und Wirklichkeit reduzieren läßt,
so ist es doch problematisch, dieselbe als „Unverborgenheit“ zu
bezeichnen. Denn diese ist nicht nur ein relationaler Begriff, wie dies auch
in der zweiten erörterten Grundbedeutung der ontologischen Wahrheit als
Offenheit gegenüber Geist notwendig liegt, sondern wenn man die
Seinswahrheit (nicht die Erkenntniswahrheit) als „Unverborgenheit“ im
Verhältnis zum „Dasein“, d.h. zum menschlichen Subjekt, bezeichnet, so
ist ein solcher Begriff ontologischer Wahrheit auch ein relativer Begriff,
insofern ein und dasselbe Sein verborgen in Relation auf einen Intellekt A
und unverborgen im Hinblick auf einen Intellekt B sein kann. Denn
Unverborgenheit in diesem durch und durch anthropologischen und
ausdrücklich nicht auf Gott bezogenen Sinne bleibt immer auf jemanden
bezogen, dem etwas unverborgen oder verborgen ist. So wie alles Sein und
alle Seinsdimensionen, die noch vor unsern geistigen Augen wie durch
einen Schleier verborgen sind, nicht an sich verborgen sind, sondern nur
für uns, da ja ein anderer Intellekt303 sie erkennen mag, so ist auch das
Unverborgene des Seins nicht an sich unverborgen, sondern nur in Bezug
auf den Blick bzw. das Erkenntnisvermögen eines bestimmten Subjekts
oder eines Subjekts überhaupt.
Sobald deshalb der Begriff der Unverborgenheit des Sein vor dem
menschlichen Geist nicht zur Kennzeichnung der Erkenntniswahrheit,
sondern zur Charakterisierung der Seinswahrheit oder der Urteilswahrheit

303
Und kraft seines Wesens ein göttlicher Intellekt.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 357

verwendet wird, folgt eine Relativität derselben, obgleich es in dem Sinne


ontologischer Wahrheit als Erkennbarkeit ebenfalls eine Relation auf den
Verstand gibt, aber eben eine, die nicht relativ auf den menschlichen
Verstand gesetzt wird. Wenn nämlich Wahrheit als Unverborgenheit-vor-
einem-menschlichen-Geist gefaßt wird, kann dasselbe zugleich ontologisch
wahr (für ein Subjekt) und nicht ontologisch wahr (für einen anderen) sein.
Es scheint also, daß Heidegger anstelle der Intelligibilität und
Erkennbarkeit (die objektiv das Seiende im Verhältnis zu einem
erkennenden Intellekt überhaupt kennzeichnet) das tatsächliche Erkannt-
sein durch den Menschen (die Unverborgenheit des Seins vor dem Dasein)
als ontologische Wahrheit ansetzt und damit die Seinswahrheit in einer
Weise relational sieht, die, wenn Heidegger von der Wahrheit des
Erkennens spräche, keinen Relativismus ausdrücken würde, da ja
tatsächlich dem Erkennen derselben Sache durch ein Subjekt Wahrheit
zukommen kann, die dem Erkenntnisleben des anderen Menschen, der
dieselbe Sache oder denselben Sachverhalt nicht erkennt, fehlt, da
Erkenntniswahrheit eine tatsächlich von Fall zu Fall verschiedene Relation
des tatsächlichen Erkennens zum Erkannten ausdrückt. Sobald aber diese
Relationalität auf den menschlichen Geist in den Begriff der Seinswahrheit
als Unverborgenheit vor dem menschlichen Geist eingeführt und diese
Unverborgenheit des Seins überdies noch in Gegensatz zur Wahrheit als
adaequatio gebracht wird, muß dies zu einer Relativierung und
Subjektivierung des Wahrheitsbegriffs führen, die deren objektivem Wesen
widerspricht.
Eine solche Subjektivierung wird durch ein weiteres Moment in
Heideggers Wahrheitstheorie hervorgerufen, nämlich durch seine Konzep-
tion der Erkenntniswahrheit als ein Entdeckendsein des Subjekts wie wenn
es bei Erkenntniswahrheit um einen Zustand des Subjekts ginge anstatt um
ein Verhältnis zwischen dem Akt des Entdeckens und etwas Entdecktem.
Darauf werden wir gleich noch einmal zurückkommen.
Sehen wir einmal von dem durch Friedländer hervorgehobenen
philologischen Problem der Heideggerschen Übersetzung von aletheia als
Unverborgenheit ab und nehmen an, daß in der Tat der anfängliche Begriff
der Wahrheit der der Unverborgenheit gewesen ist, so kann damit
zweierlei gemeint sein: einmal ein bestimmte Dimension der Erkenntnis-
wahrheit bzw. deren Folge: wenn die Erkenntnis das Seiende so entdeckt

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358 KAPITEL 8

wie es wirklich ist, so ist sie selber wahr und das Erkannte ist nun dem
Erkennenden im Maße seiner Erkenntnis unverborgen. Andererseits kann
Unverborgenheit einen zweiten grundsätzlichen Sinn von ontologischer
Wahrheit meinen,304 nämlich die Erkennbarkeit und Intelligibilität des
Seins, welche dieses immer und an sich, wenngleich in unendlich vielen
Abstufungen, kennzeichnet und die eine Relation zum Intellekt darstellt:
und zwar zum menschlichen nur eine begrenzte Offenheit und Unverbor-
genheit, zum göttlichen eine grenzenlose. Man könnte sagen, in diesem
zweiten Sinne bedeutet ontologische Wahrheit als Unverborgenheit die
ontologische Wahrheit im Hinblick auf die Erkenntniswahrheit, in welcher
allein diese Unverborgenheit realisiert und aktualisiert wird.
Wenn die Griechen, wie wir hier einmal des Argumentes willen
Heidegger zugestehen möchten, die Wahrheit als Unverborgenheit
bestimmen, so wohl auf Grund des Erlebnisses, daß der Mensch das
Seiende nur ganz unvollkommen erkennt und daß die tieferen Schichten
des Seins unserem Geist nicht einfachhin gegeben und zugänglich sind,
sondern uns erst durch die harte Arbeit der „Entbergung“, von der Platon
wie von einer Jagd und einem Heranpirschen an das Sein und an die
Wahrheit über die Gerechtigkeit redet, zugänglich werden, und auch dann
noch unvollkommen.305 Ja vielleicht schließt der Gedanke der Unverbor-
genheit die Überzeugung ein, daß das Tiefste des Seins uns Menschen
überhaupt verborgen ist und von uns nicht erkannt wird, sondern daß die
volle Erkenntnis und Wahrheit, die Weisheit, wie Sokrates in der Apologie
sagt, nicht der Mensch, sondern nur Gott besitze.
Das alethes als das Wahre, und das alethestaton im Sinne des im
eigentlichsten Sinne Wahren und Seienden wäre dann nicht das uns jeweils
Unverborgene, sondern im Gegenteil das dem menschlichen Geist
Verborgenste und dennoch in sich Wahrste und deshalb auch nur der
göttlichen Erkenntnis gänzlich Unverborgene, wie es in den Aristoteles-
und Thomas-Zitaten im ersten Kapitel von Wahrheit und Person über das
Auge der Nachteule einen klassischen Ausdruck findet. Das Wahrste ist
also dann zugleich das uns Verborgenste und das nur unendlicher
Erkenntnis Unverborgene.

304
Vgl., Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1-2.
305
Vgl. Platon, Politeia 4.423b-433b; Laches 194b ff.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 359

Gewiß, in dem Maß, in dem wir die Schleier lüften und in dem wir die
Wirklichkeit erkennen, wie sie ist, und mit unserem Geist in sie eindringen,
wird das Verborgene auch uns unverborgen. In diesem Sinne der
Erkenntniswahrheit ist Wahrheit tatsächlich als eine Unverborgenheit und
als eine Anwesenheit des Seins vor unserem erkennenden und verste-
henden intentionalen Bewußtsein zu verstehen. In diesem Sinne ist auch
die Wahrheit tatsächlich relational auf den erkennenden Geist bezogen.
Aber dann sollte die Erkenntniswahrheit (in ihrer Relation zur ontolo-
gischen Wahrheit) als Unverborgenheit des Seins und damit von etwas,
was entdeckt wird und nicht in einem Zustand des Subjekts besteht,
verstanden werden. Und erst recht sollte der andernorts306 ausführlich
untersuchte Begriff der einzigartigen Übereinstimmung nicht geleugnet
werden, der ausschließlich im sich selber transzendierenden Sehen des
Seins, wie es in sich ist, liegt. Jede Ablehnung dieser erkennenden
Übereinstimmung leugnet den Sinn der Unverborgenheit selbst.
Ja wenn dieser Begriff der Unverborgenheit von Heidegger als „das uns
jeweils Anwesende“ gedeutet wird, wird auch der legitimerweise relationa-
le Begriff der Erkenntniswahrheit in unzulässiger Weise relativiert. Für
Platon ist ja das uns jeweilig anwesende sinnliche Objekt das uneigentlich
Seiende und das, was nicht das wahrhafte Seiende ist. Wenn also die
Menschen in der Höhle das ihnen je Anwesende der sinnlichen
Erscheinung für das Wahre halten, irren sie sich nach Platon gewaltig.
Platon sagt ja nirgends, daß die Schatten für die Bewohner der Höhle das
Wahre seien, sondern nur, daß sie es dafür hielten. Deshalb kann man auch
die Steigerung des alethes, des Wahren, zum alethestaton, dem Aller-
wahrsten, nicht primär im Sinne der Unverborgenheit, die sich auf das
Offenstehen des Seins gegenüber dem Geist bezieht, und überhaupt nicht
als Erkenntniswahrheit deuten, sondern muß sie in einem rein
ontologischen Sinne verstehen, der weder das an sich für den Geist
überhaupt Offenstehen (das transzendentale verum oder die Intelligibilität)
noch das tatsächliche Anwesendsein des Dinges vor unserem Geist
bedeutet.
Das tiefere Wahre, auf das hin die Gefangenen zugeordnet sind,
bedeutet einen höheren, eigentlicheren, dauernderen und deshalb wahreren

306
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person.

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360 KAPITEL 8

Bereich der Wirklichkeit und des Seins selber, nicht deshalb, weil es uns
unverborgen ist, sondern weil es die eigentlichere Wirklichkeit ist, das
ontoos on, im Vergleich zu dem die anderen Seienden wie bloße Schatten
sind.307 Die Ursache hievon erblickt Platon in einem objektiven
ontologischen Sachverhalt und nicht in der Relation des Seins zu unserem
Erkennen, die man Unverborgenheit nennen mag. Außerdem versteht er
auch diese Anwesenheit unserem Geist gegenüber in einem objektivis-
tischen Sinne und nicht im Sinne eines bloßen „uns jeweils Anwesend-
seins“. Denn die Wahrheit des Erkennens versteht er – wie auch Thomas –
im Sinne einer Anwesenheit des in sich Seienden vor unserem Geist.
Heidegger macht hier also schon durch die Wahl der Ausdrücke die
klassische und objektivistische Idee der ontologischen Wahrheit und auch
der Erkenntniswahrheit relativ, und zwar paradoxerweise, indem er das
Unverborgene zu einer objektiven Eigenschaft des Seienden selbst erhebt,
also scheinbar objektiviert. Aber „unverborgen“ meint eben wesenhaft eine
relationale Eigenschaft und wenn man diese mit dem Sein selbst
identifiziert, relativiert man dieses und reduziert es auf ein bloßes Scheinen
oder Erscheinen, ein bloßes Präsentsein vor unserem Bewußtsein.
Gerade die Idee der Unverborgenheit, die sich auf eine Dimension der
Wahrheit des Erkennens bezieht, impliziert einen objektiven Sinn von
Seinswahrheit, der dem Entdecken des Verborgenen entspricht und
vorausliegt. Wenn deshalb Heidegger sich mit seiner Deutung der
ontologischen Wahrheit als Unverborgenheit auf die griechische Sprache
und den Wortsinn von aletheia beruft, dürfte er nicht in der
Unverborgenheit den Charakter ontologischer Wahrheit erblicken, sondern
müßte sagen, das hinter den Schleiern Verborgene sei das Wahre, das
ontoos on. Die mallon onta, wie Platon sie nennt, bleiben was sie sind,
nämlich in höherem Sinne Seiende, auch wenn sie dem menschlichen
Erkennen verborgen sind.308 Durch eine solche Interpretation wäre auch
der Sinn des griechischen Wortes getroffen, das folgende These
voraussetzt: durch die Unvollkommenheit unseres Erkenntnisvermögens
haben wir Schleier vor den Augen, die uns daran hindern, das Wahre im

307
Siehe J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una
metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 9.
308
Siehe Platon, Politeia, VII, 515 c 4, 5.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 361

Sinne des wirklich und im vollen Sinne Seienden, zu schauen. Nur durch
eine Wende und Bekehrung können wir es schauen.
Wie unpassend die Heideggersche Übersetzung der Wahrheit als
„Unverborgenheit“ für den ontologischen Sinn von Wahrheit ist, der den
Begriffen des „wahrer“ und „mehr“ Seins bei Platon zugrundeliegt, geht
auch daraus hervor, daß Platon im Höhlengleichnis sagt, der mit Gewalt
aus seinen Fesseln Befreite und aus der Höhle Herausgeführte halte die
ihm vertrauten Schatten der Höhle für wahrer (alethestera) als das, was er
jetzt sehe. Wenn man hier Wahrheit mit Unverborgenheit übersetzt,
verliert der Text seinen spezifischen Sinn. Denn die Gegenstände der
Höhle erscheinen ihm ja nicht als unverborgener, sondern sind es
tatsächlich. Die Schatten sind ihm viel unverborgener als die Gegenstände
außerhalb der Höhle, die im ontologischen Sinne wahrer (alethesteron),
aber dem eben aus der Höhle ans Licht Gelangten ganz verborgen sind, ja
angesichts deren er, in die Sonnenansicht der Welt gelangt, vorübergehend
erblindet.309 Nicht ihr Charakter als im ontologischen Sinne „wahrere
Welt“, wirklichere Welt, in höherem Sinne seiende Welt, nicht ihr
Charakter des ontoos on, sondern nur die Wahrheit ihrer Erkenntnis (oder
aber ihrer objektiven Erkennbarkeit) besteht in der Unverborgenheit dieser
Welt vor dem geistigen Blick.
Diese Unverborgenheit im Sinne der Intelligibilität alles Seienden
besteht rein objektiv in jedem Seienden und sogar in Sachverhalten über
nicht Seiendes, aber auch dann in Relation auf etwas anderes (ad aliud),
nämlich auf den Geist, dem gegenüber alles Seiende im Prinzip offensteht.
Nur wenn ein Geist die Wirklichkeit aktuell erkennt, ist diese
Unverborgenheit aktualisiert, sonst bleibt sie Potentialität. Die aktuelle
Unverborgenheit des Seins hingegen setzt tatsächliche Erkenntnis voraus.
Und in diesem Sinne ist dem menschlichen Geist im Maß der jeweiligen
Erkenntnis das Sein unverborgen, zum unendlich überwiegenden Teil aber
verborgen. Nur dem absoluten göttlichen Geist ist das Sein vollkommen
unverborgen. Nur seine Erkenntnis besitzt vollkommenste und voll-
ständigste Wahrheit in diesem Sinn, wobei Heideggers Idee, daß unsere
unvollständige Erkenntnis und Unwissenheit Unwahrheit sei, absolut
unrichtig ist, da selbst die unvollständigste Erkenntnis absolut von

309
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 27-28.

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362 KAPITEL 8

Unwahrheit verschieden ist, ja ihrem Wesen nach nicht irren kann; Irrtum
und die ihm eigene Unwahrheit ist erst möglich, wenn unser Geist in
seinen Urteilen über die Erkenntnis im strikten Sinne hinausgeht.
So sehr auch die Erkenntniswahrheit menschlichen Erfassens der Dinge
ihre eigene Objektivität besitzt, so wenig kann die Wahrheit des Seins auf
sie beschränkt oder durch sie definiert werden, ja sie setzt eine ihr
vorhergehende und sie begründende Wahrheit voraus, das Sein und seine
Realität sowie seine objektive Intelligibilität, die unendlich weiter reicht
als das „Entdeckendsein des Daseins“ oder die Unverborgenheit des Seins
vor dem menschlichen Geist, die nur in Relation auf diesen Geist und nicht
in sich dem Seienden, dem Wesen und dem Sein zukommt.
Gerade wenn daher die ontologische Wahrheit von Heidegger als die
Unverborgenheit des Seins, insbesondere mit Beschränkung auf menschli-
ches Erkennen, bezeichnet wird, wird die ontologische Wahrheit relational
und in eine Abhängigkeit vom menschlichen Entbergen bzw. Erkennen
gesetzt, die der ihr eigenen Objektivität ebenso viel widerspricht, wie
wenig sie der Erkenntniswahrheit widerspricht.
Noch subjektivistischer im Verhältnis zur klassischen thomasischen
Wahrheitsauffassung als die heideggersche Interpretation der „Unverbor-
genheit“ ist seine Interpretation des „ihm jeweils Anwesendseins“ oder des
„ihm Seins“. Der Ausdruck „ihm Sein“ hat in Heideggers philosophischem
Diskurs zwei Bedeutungen: einmal heißt es „ihm Scheinen“, und ihm
subjektiv anwesend und unverborgen sein. Dies ist aber gerade der
Gegensatz zur Wahrheit, will man nicht einen radikalen Relativismus
behaupten, dem gemäß es zwischen Schein und Wirklichkeit überhaupt
keinen Unterschied mehr gibt. Dann aber heißt das „ihm Sein“ zweitens
das Unverborgensein, in dem sich ein Seiendes, das keineswegs nur scheint
oder erscheint, dem Geist erschließt.310
Was aber hat Heidegger zur dritten Stufe des Höhlengleichnisses zu
sagen?311 Fragen wir nach Platons sowie Heideggers Interpretation der
Wahrheit auf der dritten Ebene des Höhlengleichnisses, aber zugleich auch

310
Welche Rolle nach Heidegger die Freiheit innerhalb Platons Lehre von der
Wahrheit bei der Bestimmung der Wahrheit spielt, und darauf, wie Heidegger die
Freiheit selber bestimmt, haben wir bereits behandelt.
311
Siehe Platon, Politeia, 515 d 5 ff; 484 c 5.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 363

nach dem wirklichen Wesen von Wahrheit!312 Das Wahrste ist hier als das
Beste schlechthin und als dasjenige gedacht, das hinter allen Schleiern
unserer Erkenntnisgrenzen liegt und uns verborgen, nicht unverborgen ist.
Das Wahrste ist im abschließenden Teil des Höhlengleichnisses und
seiner Deutung durch Platon weder das Verborgene noch das Unverbor-
gene als solches, sondern vielmehr die eigentlichere Wirklichkeit, das
ontoos on, das uns in der Höhle verborgen ist, uns aber nach der Befreiung
aus der Gefangenschaft der Höhle aber auch offenbar werden kann, das
aber weder im einen noch im andern Fall aufhört, das eigentlich Wirkliche
und, als das Höchste und Beste, zugleich das wahrste Sein zu sein.
Wir dürfen hier nicht Sklaven der philologischen Bedeutungen und
Wurzeln des Wortes aletheia werden, eine Bemerkung, die ihre Triftigkeit
selbst dann behält, wenn Heidegger auf der Ebene der Philologie gegen
Friedländer recht behalten sollte, was sehr zu bezweifeln ist.313
Wir können die platonische Lehre von der Wahrheit auch nicht von
derjenigen vom Guten loslösen, dessen Entdeckung durch Anaxagoras als
höchster Grund aller Dinge ja gerade von Sokrates gepriesen wird, auch
wenn dieser es nicht wirklich konsequent als Ursache aller Dinge aufgefaßt
hat. Die Frage nach dem Wahrsten, auf ihrer höchsten Ebene, läßt sich bei
Platon nicht von der Frage nach dem Guten loslösen. Das alethestaton, das
Wahrste überhaupt, ist zugleich das Gute selber. Wenn Platon also die
Ideen als alethestera („wahrer“) als die Dinge bezeichnet, so kann man
Wahrheit hier gewiß nicht mit „Unverborgenheit“ und als das „uns jeweils
Anwesende“ übersetzen. Denn gerade die Idee des Guten bleibt das
Wahrste in sich selber, wie wir im ersten Kapitel von Wahrheit und Person
ausgeführt haben, auch wenn sie dem Menschen in der Höhle nicht
anwesend ist. Denn die Idee des Guten erscheint bei Platon nicht zu
Anfang, sondern als Letztes, „hintennach“ sozusagen. Sie macht auch nicht
sosehr die Erscheinung, die Welt der Schatten, den in der Höhle Gefange-
nen zugänglich, sondern in ihrem Licht erkennt der Mensch, daß die
Schatten eben Schatten und nicht die eigentliche Wirklichkeit sind. Sie
eröffnet, nach dem Höhlengleichnis, auch nicht den Blick auf die Schatten
oder ist primär das, was in den Schatten erscheint, sondern sie ist nur der

312
Siehe Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 29-30.
313
Vgl. dazu auch Heidegger, ebd., S. 30.

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364 KAPITEL 8

letzte Grund der Wirklichkeit und infolgedessen auch der erste Ursprung
der Schatten. Sie ist das in sich Höchste und zugleich der letzte Grund und
der erste Ursprung allen Seins, durch den alle Dinge ihr Sein und Wesen
haben, wie es in der Politeia VI und VII heißt. Ohne die Idee des Guten
könnte nichts bestehen, aber sie ist gerade deshalb das zunächst dem
endlichen Geist Allerverborgenste, auch wenn sie in jeder Erfahrung
implizite anwesend und mitgegeben sein mag. Ihre bewußte Erkenntnis
jedoch steht erst am Ende des Erkenntnisweges.
Hier zeigt sich wieder, daß man die Wahrheit, vor allem die
ontologische Wahrheit, nicht einfach als Unverborgenheit bezeichnen
darf.314 Das Urerlebnis für den Griechen ist gerade, daß das Wahre im
Sinne der Gesamtheit des Seienden und des höchsten Wirklichen unserem
erkennenden Zugriff weitgehend verborgen ist. Das „Unverborgene“ ist
deshalb nicht ein Synonym für das im ontologischen Sinne Wahre, sondern
bezieht sich, wie bereits mehrfach gesagt, viel eher auf die Erkenntnis-
wahrheit. Eine philosophische Deutung von aletheia im Hinblick auf die
Erkenntniswahrheit könnte also darauf hinweisen, daß die Erkenntnis-
wahrheit darin besteht, das im ontologischen Sinne Wirkliche und Wahre
zu entdecken, zu entbergen, ans Licht zu bringen. Die Wahrheit des
Erkennens besteht eben darin, das verborgene wahre Sein unverborgen zu
erkennen.
Deshalb hat Heideggers Äußerung, der zufolge das Höhlengleichnis
einen Wesenswandel der Wahrheit einschließt, keinen richtigen Sinn.315
Was nämlich Heidegger als völlig anderen Wesensbegriff der Wahrheit
bezeichnet, nämlich die Unverborgenheit, ist in Wirklichkeit weder ein
Gegensatz zur ontologischen Wahrheit in ihren verschiedenen Bedeu-
tungen noch zur Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung. Statt
pathetisch von einem Wesenswandel der Wahrheit oder auch nur des
Wahrheitsbegriffes zu reden, sollte man vielmehr erkennen, daß
Unverborgenheit in korrekter Weise die Erkenntniswahrheit, ein Urphäno-
men innerhalb der Erkenntnissphäre, bezeichnet, das in vollem Einklang
mit dem Wesen der Wahrheit als adaequatio steht und dieses einerseits in
der Erkenntnis erst möglich macht und andererseits von ihm überhaupt

314
Siehe dazu Heidegger, ebd., S. 33.
315
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 33.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 365

erst Sinn empfängt: Daß uns nämlich das Seiende und Wahre zunächst
verborgen sind und daß deshalb am Anfang und vor dem menschlichen
Erkenntnisprozeß, ja auch auf einer höheren Ebene, immer auch eine
Entfernung vom Sein durch jene Verborgenheiten liegt, die unseren Blick
auf das Seiende trüben. Im Maße meiner Erkenntnis ist mir zwar das
Seiende unverborgen gegeben, aber seine Verborgenheit bleibt immer
größer als seine Unverborgenheit. Ja man könnte das völlige Ideal der
Unverborgenheit eines vollkommenen Erkennens im Gegensatz zum
menschlichen Erkennen in einem Erfassen erblicken, vor dem alles Sein
schlechthin unverborgen offen daliegt.
Das Phänomen der Unverborgenheit, in dessen Erkenntnis Heidegger
einen Wesenswandel der Wahrheit erblickt, ist daher so weit davon ent-
fernt, einen Widerspruch zu den anderen Wahrheitsbegriffen einzuschlie-
ßen, daß es überhaupt nur im Zusammenhang mit ihnen sinnvoll ist.
Doch bevor wir dies zeigen, sollten wir noch bedenken, daß vielleicht in
der dunklen Sprache Heideggers und vor allem bei Platons Rede von
aletheia noch auf einen dem Seienden selbst eigenen Zug hingewiesen
wird, dessen Anerkennung keine falsche Ontologisierung der Unverbor-
genheit ist, sondern auf ein wichtiges Phänomen hinweist. Wir meinen hier
nicht nur die Gegebenheit des Erkennbarseins als solchen, sondern die
höhere Intelligibilität jener Wesenheiten, die sich in höchst einsichtiger
Weise dem Geist erschließen und in denen nicht die Dunkelheit für unser
Verstehen des Kontingenten und rein Faktischen besteht. Dieses
Einsichtige, von innen her Verstehbare und nicht bloß äußerlich Feststell-
bare ist das eigentliche Wahre.
Heidegger weist auf diese Entdeckung Platons hin, wenn er hervorhebt,
Platon bezeichne die Ideen als das emphanestaton, als das Leuchtendste.
Damit kann nicht nur ein echter transzendentaler Wesenszug allen Seins
gemeint sein, der je nach Art des Seienden ungeheuer modifiziert ist und
sich, wie früher erörtert, von der Wirklichkeit und auch vom Wert abhebt.
Nur die ewige Schönheit der Ideen oder eines ewigen und zugleich realen
und notwendigen Wesens besitzt dieses Leuchtend- und Einleuchtendsein

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366 KAPITEL 8

im vollkommenen Maß.316 Wenn Heidegger allerdings diesen Sinn von


Unverborgenheit anerkennt, muß er jene Äußerungen ganz fallen lassen, in
denen er von der „jeweiligen Wahrheit“ und der in der Höhle herrschenden
Unverborgenheit u.a. spricht.
Wo er das wahrste Seiende als das Leuchtendste oder Einleuchtendste
bezeichnet, wird von Platon tatsächlich dem Seienden selbst Wahrheit und
eine besondere Art der „Unverborgenheit“ zugesprochen, die nur ein
objektives Apriori, etwas in sich selber Notwendiges und deshalb
Einleuchtendes, besitzen kann. Doch beachte man, daß Platon hier nicht
Unverborgenheit vor dem menschlichen Geist, sondern jene Intelligibilität,
jenes Gestalthafte und Geformte des Seins meint, die es uns erst erlauben,
es zu erkennen und sogar einzusehen. Wahrheit als das Leuchten des Seins
steht dann im Gegensatz zum Chaos und dem Dunklen des Nichts, zum
Schattenhaften des Sinnarmen oder Sinnleeren oder gar zum Widersinni-
gen, an dem die Fähigkeit zum Schauen gar nicht zu seiner Entfaltung
kommen kann. Ähnlich wie die Sehkraft ohne Licht der Sonne nichts sieht,
könnte der Intellekt nichts einsehen ohne das Licht der Intelligibilität des
Seins.317

5. Die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs und des Guten bei


Heidegger

Versuchen wir, noch näher zu verstehen, warum Heidegger behauptet,


innerhalb des Höhlengleichnisses vollziehe sich ein Wandel im Wesen der
Wahrheit und was er für die korrekte Deutung des platonischen Begriffs
des Guten hält.

316
Siehe Platon, Politeia 508 d 5. Auf dieser Einsicht beruht auch der ontologische
Gottesbeweis. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments.
317
Platon sagt übrigens ausdrücklich, daß die Idee des Guten weder die Wahrheit im
Sinne der Wirklichkeit als Erkennbarkeit noch die Erkenntnis ist, sondern von
beiden verschieden sei. Vgl. auch Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-
total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”,
in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues
on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 367

Heideggers Interpretation der Ideenlehre bleibt stets dunkel, ja ist fast


völlig unverständlich.318 Was soll es auch heißen, wenn Heidegger sagt,
Platon bestimme die Wahrheit im Verlauf des Höhlengleichnisses plötzlich
als das im Sehen Gesehene, das im Vernehmen Vernommene – und dies
sei eine völlig neue Begriffsbildung der Wahrheit, die einen Wandel in
ihrem Wesen als Unverborgenheit bedeute? Die Intelligibilität des Seins ist
ja nicht nur die Grundlage für die Erkenntniswahrheit, wie wir gesehen
haben, sondern ermöglicht auch die logische Wahrheit, die Urteilswahr-
heit. Die Wirklichkeit in ihrer Intelligibilität und Sinnhaftigkeit ist jene
Wirklichkeit, die das Fundament jeden wahren Urteils und damit der
urteilsmäßigen adaequatio ist. Die Wahrheit der Erkenntnis besteht
notwendigerweise in einer besonderen homoiosis (Angleichung) und einer
orthotes der Erkenntnis. Daß damit die Wahrheit relativ auf mein Sehen
gemacht werde, ist eine grundlose Befürchtung Heideggers, die viel eher
auf seine Philosophie zutrifft als auf jene Platons. Nicht eine Relativität der
Wahrheit ist im Gedanken der orthotes impliziert, sondern nur eine
wesenhafte Relation und Bezogenheit, kraft deren weder dem Erkennen
noch den Urteilen als solchen Wahrheit als rein immanente Eigenschaft
zukommt, sondern – wie Thomas ausführt – beiden nur in Relation auf
einen anderen Terminus: nämlich in Bezug auf das Sein und auf die
objektiv bestehenden Sachverhalte. Auch wenn Heidegger Aristoteles
vorwirft, dieselbe Wesenswandlung des Wahrheitsbegriffs mitgemacht zu
haben, bleibt ganz uneinsichtig, wo der Ansatzpunkt zu einem solchen
Vorwurf liegen kann, wenn man das objektiv bestehende Band zwischen
dem Sein selbst sowie der ontologischen Wahrheit zur Wahrheit des
Erkennens und des Urteils andererseits beachtet.319

318
Zum Beweis der Wahrheit dieser Aussage siehe Heidegger, Platons Lehre von der
Wahrheit, a.a.O.., S. 35. Damit steht sie in schärfstem Gegensatz zur luziden
Platon-Deutung Reales. Vgl. Giovanni Reale, Verso una nuova interpretazione die
Platone, 20e Aufl. (Milano: Jaca Book, 1997); Giovanni Reale, Zu einer neuen
Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im
Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. v. L. Hölscher, mit einer Einleitung
von H. Krämer, hrsg. und mit einem Nachwort von J. Seifert (Paderborn:
Schöningh, 1993)
319
Siehe dazu Aristoteles, Metaphysik, 1051 a 34; 1027 b 25. Vgl. auch Josef Seifert,
Wahrheit und Person, Kap. 1-3.

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368 KAPITEL 8

Heideggers Platoninterpretation bedarf auch noch einer kurzen


Untersuchung dessen, was die beiden Philosophen unter dem Guten bzw.
unter dem Tauglichen, wie Heidegger übersetzt, verstehen.320 Dabei ist es
schwer zu begreifen, warum Heidegger einen so unpassenden Ausdruck
wie den des „Tauglichen“ verwendet, um den platonischen Ausdruck des
agathon zu übersetzen. Denn mit dieser Übersetzung wird die Idee des
Guten entweder als die Idee des Tauglichen an sich bestimmt, was sowohl
sprachlich als auch philosophisch gesehen ein Unding ist, da das Taugliche
immer ein „zu etwas tauglich Sein“ impliziert. Oder aber die Tauglichkeit
des Guten besteht darin, sich selbst und die anderen Ideen zum Scheinen
zu bringen, wie Heidegger erklärt. Dann aber muß man erklären, was die
Idee des Guten selbst ist. Denn „das, dem allein am Scheinen seiner selbst
gelegen ist“, beschreibt wohl eher Eitelkeit als das Wesen des Guten.
Darin kann – abgesehen vom metaphorischen Gebrauch des Wörtchens
„gelegen sein“ – unmöglich das Wesen des Guten bestehen. Sollte etwa
Platon meinen, wenn er im II. Buch der Politeia sagt, die Götter seien die
best möglichen Wesen,321 sie seien tauglich – für was? Das Höchste in der
Metaphysik läßt sich unmöglich durch seine reine Funktion bestimmen,
worauf besonders Robert Spaemann in seiner Interpretation des
Proslogions Anselms als Bestimmung des Sinnes des Namens „Gott“ und
in seiner Kritik am Funktionalismus Lübbes hingewiesen hat.322 Heidegger
wendet sich gegen alle traditionellen Philosophien des Guten, indem er das
agathon als das Taugliche bestimmt. Dabei entlädt Heidegger ein großes
Ressentiment gegen alle Wertphilosophien. Sollen wir daraus schließen,
daß Heidegger einen völlig neutralen Seinsbegriff und eine Metaphysik, in

320
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 36-38.
321
Platon betont insbesondere den unendlichen Wertcharakter Gottes, in dem alle
Wertbeschränkung und alle Übel wegfallen. So nennt er im Zweiten Buch des
Staates Gott gÅhhfmokn g_f Ülfmokn zi ¡xm oö bpi_oôi, so schön und gut wie
überhaupt möglich“ [wörtlich: „am schönsten und am besten seiend bis zum
Äußersten“ „(so sehr) im höchsten Maße schön und im höchsten Maß gut seiend
wie (überhaupt) möglich.“]. Platon, Politeia II, 381 c. In Platons Phaidon und
Phaidros finden wir ebenfalls die Idee Gottes als eines notwendig seienden
Wesens, in dem Dasein und Wesen untrennbar eins sind.
322
Vgl. Robert Spaemann „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‘Gott‘“, S. 13-
35.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 369

der es nur wertneutrale Fakten einerseits und subjektive Zwecke, für die
Mittel tauglich sein können, andererseits gibt? Läßt nicht auch Heidegger
unbemerkt den Gedanken des Wertes bzw. des in sich selber Kostbaren
wieder in seine Metaphysik hereinschlüpfen?323
Sicher können wir Heideggers Aufsatz zugutehalten, daß man es sich oft
allzu leicht gemacht hat, die Ausdrücke des Guten und der Wahrheit zu
verwenden, ohne tiefer über ihren Sinn nachzudenken. Gerade dies
versuchen die beiden Bände des vorliegenden Werkes zu unternehmen und
gerade im Lichte eines solchen tieferen Nachdenkens über die Wahrheit
erschließt sich der Sinn der ontologischen gegenüber der Erkenntnis- und
Urteilswahrheit sowie die Tatsache, daß bei Platon die Anerkennung beider
keinerlei Wesenswandel der Wahrheit, sondern vielmehr ein komplexes,
wenn auch weiter zu differenzierendes Verständnis des Wesens der Wahr-
heit einschließt. Denn gerade nur in einer Erkenntnis, in der das Seiende
unverborgen vor dem Geist liegt oder jedenfalls partiell aus seiner
Verborgenheit gezogen wird, kann auch eine echte homoiosis liegen. Nur
wenn es auf der Ebene der Erkenntnis und des Urteils adaequatio gibt, gibt
es auch die Unverborgenheit des Seins. Darin liegt die Widersprüchlich-
keit, ja Absurdität in Heideggers These vom Wesenswandel der Wahrheit,
daß darin ja jeweils auch vorausgesetzt wird, was er leugnet, nämlich die
volle Verträglichkeit beider Bedeutungen von Wahrheit.
Ein anderer Einwand Heideggers gegen Platons Lehre von der Wahrheit
betrifft den Vorwurf, Platon habe die Ideen zwischen Ding und Geist
dazwischengeschaltet. Platon habe gemeint, das, was die Ideen an den
Phänomenen zeigen, wenn man die Ideen selber geschaut habe, sei die
Wahrheit, die aletheia. Ob nun Platon in den Ideen selbst das eigentlich
Seiende erblickt oder nur betont, daß die Einzeldinge nur im Licht der
zeitlosen Wesenheiten und eide angemessen erkannt werden können, auf
keinen Fall impliziert seine These einen Wesenswandel der Wahrheit oder
einen Wandel des Wahrheitsbegriffs. Vielmehr ergänzen sich der
ontologische Wahrheitsbegriff des viele Grade aufweisenden „wahrhaftig
Seins“, sowie der Begriff der Erkenntniswahrheit und der ganz andere der
Wahrheit von Urteilen bzw. Sätzen im logischen Sinne dieses Wortes.

323
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 36-37.

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370 KAPITEL 8

Über das Erkennbare, Wirkliche oder eigentlich Seiende gibt es wahre


Erkenntnisse und wahre Urteile. Das eine ist unmöglich ohne das andere.

6. Der eigentliche „existentialistische Wahrheitsbegriff“ bei Heidegger im


Unterschied zu jenem der Unverborgenheit

6.1. Darstellung des existentialistischen Wahrheitsbegriffs bei Heidegger

Bei Heidegger finden wir noch einen anderen Wahrheitsbegriff, den er


vor allem in Sein und Zeit, aber auch in seinem Buch über Nietzsche und in
anderen Werken entwickelt. Dieser spezifisch existentielle Wahrheits-
begriff versteht unter „Wahrheit” existentielle Eigentlichkeit. Die Wahrheit
des Hasses liegt in einem nicht-konventionellen Haß, oder in einer nicht
konventionellen Liebe, die einem „man haßt“, „man liebt“ oder schwachen
Ausdrucksformen von Haß und Liebe entgegengesetzt sind. In diesem Sinn
ist der wahre Mensch jener Mensch, der in seinen Leiden und Freuden, in
seinem Haß und in seiner Liebe ganz ist.
Heideggers Idee der Wahrheit als existentielle Eigentlichkeit einerseits
und als Unverborgenheit im Sinne eines Seinsmodus des Daseins (= des
Menschen) andererseits wird zwar von Heidegger der Idee der Wahrheit
als adaequatio entgegengesetzt. Dennoch kann sich auch Heidegger nicht
aus der „Schlinge der Wahrheit“ lösen und setzt voraus, daß die
existentielle „Wahrheit“ eine Art von „Übereinstimmung“ ist (obwohl
Heidegger die Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung vehement
zurückweist): nämlich eine Übereinstimmung zwischen der Struktur des
existierenden Subjekts und dem Inhalt seiner Überzeugungen, sowie
zwischen seiner Liebe, seinem Haß etc. und deren eigentlichem (wahren)
Wesen.
Wahr ist, was die Eigentlichkeit des Subjekts, seines Liebens wie seines
Hassens, entfaltet, was Heidegger zunehmend als das deutet, was dem
Selbstverständnis und der Selbstinterpretation des Subjekts entspricht und
was ihm Existenz und Sein ermöglicht. Indem er die Wahrheit der
Eigentlichkeit auf eine Art Verhältnis zu dem eigenen schöpferischen

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 371

Lebensentwurf deutet, fühlt sich Heidegger mit Recht Nietzsches


Philosophie des Übermenschen eng verwandt.
Ein ähnliches Verständnis von existentieller Wahrheit finden wir auch
in Bultmanns Theologie der Entmythologisierung, nach der etwa die Sätze
des Credo nicht objektive Wirklichkeiten ausdrücken, die unabhängig vom
Glaubenden bestehen, sondern vielmehr bloß sein eigenes Selbstverständ-
nis und das, was ihm existentielle Erfüllung gewährt, ausdrücken.

6.2. Kritik der existentialistischen Wahrheitstheorie als Wesenstheorie der


Wahrheit

In der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Auffassung ist zunächst


positiv zu sagen, daß sie ein sehr wichtiges Phänomen zum Ausdruck
bringt, das eigentlich zwei Dinge umfaßt: einmal die alte, bei Bonaventura
stark betonte Idee einer Wahrheit des Willens und Herzens, eine Wahrheit
des Lebens; zum anderen die bei Kierkegaard Heidegger vorweggenom-
mene geniale Idee der existentiellen Uneigentlichkeit des „man denkt“,
„man stirbt“, „man glaubt“, im Gegensatz zum eigentlichen, personal
vollzogenen Denken, Sterben oder Glauben.
Doch in dem Augenblick, in dem dieser existentielle Wahrheitsbegriff
an die Stelle der satzhaften Urteilswahrheit und Übereinstimmung treten
soll, wie sich dies in Heideggers Platons Lehre von der Wahrheit und bei
Nietzsche, sowie in Heideggers Nietzsche-Buch geltend macht, muß diese
Wahrheitstheorie aus den folgenden Gründen kritisch zurückgewiesen
werden:
Erstens widerspricht die existentielle Wahrheitstheorie, welche die
sogenannte „existentielle Wahrheit“ mit dem Wesen der Wahrheit
identifiziert und durch sie die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit
verdrängen will, sich selbst, wenn sie als Ersatz für Wahrheit im Sinne der
adaequatio genommen wird. Denn sie setzt notwendig jenen Wahrheits-
begriff und jenes klassische Wahrheitsverständnis voraus, das nicht bloß
„traditionell“ ist, sondern eine ohne Widerspruch nicht leugbare Einsicht in
das objektive Wesen der Wahrheit ausdrückt. Auch diese existentialis-
tische Wahrheitstheorie erhebt ja unweigerlich den Anspruch, das zu
sagen, was wirklich Wahrheit sei, worin Wahrheit wirklich bestehe. So

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372 KAPITEL 8

faßt Heidegger diese als ein „Entdeckendsein des Daseins“ oder als eine
Übereinstimmung zwischen der Struktur der Eigentlichkeit des Subjekts
und dem Inhalt ihrer Überzeugungen bzw. ihrer Aktvollzüge auf. Mit
dieser Theorie jedoch, als einer Theorie darüber, worin Wahrheit bestehe,
erhebt diese Auffassung notwendig den Anspruch darauf, das auszusagen,
was wirklich die Wahrheit ist. Sie selbst also kann nicht umhin, für die in
ihr enthaltenen Aussagen Wahrheit gerade in jenem Sinne vorauszusetzen,
den sie durch die existentialistische Deutung von Wahrheit überwinden
will.
Daraus ergibt sich jedoch ein Selbstwiderspruch der Theorie, da diese
allgemein aussagen möchte, worin Wahrheit besteht, aber im Inhalt dieser
Aussage die Wahrheit existentialistisch bestimmen will, dabei jedoch
unweigerlich bereits wieder eine „nicht-existentialistische“ Konzeption der
Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit voraussetzt.
Es ist mit Heidegger (und auch mit Russells Typentheorie in den
Principia Mathematica) Mode geworden, sich großspurig über jedes
Argument hinwegzusetzen, das in der eigenen Theorie innere Wider-
sprüche nachweist. Russell und Whitehead meinen, die Selbstanwendung
(die Bedingung der meisten inneren Widersprüche) überhaupt ausschließen
zu dürfen, um die scheinbaren mathematischen Antinomien, etwa die der
Mengenlehre, zu vermeiden. Dabei übersehen sie, daß ein solches Prinzip
weder nötig ist, um die Antinomien auszuschließen, noch als allgemeines
Prinzip der Typentheorie oder der Unterscheidung Sprache-Metasprache
haltbar ist. Denn bei seiner Behauptung würden die obersten logischen
Prinzipien wie das des Widerspruchs auf sich selbst nicht anwendbar sein
und damit würde der Logik und allgemeinen Ontologie jeglicher Boden
entzogen. Außerdem fehlt die Typentheorie gegen die Evidenz, daß (im
Gegensatz zu empirischen Allgemeinheiten wie dem „Barbier von Sevilla,
der alle und nur diejenigen Männer Sevillas rasiert, die sich nicht selbst
rasieren“) im Falle allgemeiner und notwendiger Prinzipien der sie
Aussagende oder die sie behauptende Theorie, sich unmöglich von ihrem
Inhalt ausnehmen können, wenn sie objektiv unter ihn fallen.
Heidegger bemerkt noch einfacher und noch unverhohlener als Russell
in den Principia Mathematica, es handle sich bei einem Argument aus dem
Selbstwiderspruch einer Theorie um bloße „plumpe Überrumpelungsversu-
che“. Er scheint sich damit nicht bewußt zu sein, daß das Widerspruchs-

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 373

prinzip, wie Aristoteles formuliert, das sicherste aller wahren Prinzipien ist
und daß es deshalb einen Todesstoß für eine Theorie und einen
vernichtenden Falschheitsbeweis derselben darstellt, wenn nachgewiesen
wird, daß sie sich notwendig in einen Widerspruch verstrickt. Dieses von
Platons Theaitetos bis Descartes, Schopenhauer oder Husserl verwendete
Argument als „plumpen Überrumpelungsversuch“ abzutun kann höchstens
rhetorischen Erfolg haben, ist aber philosophisch gesprochen Unfug, wie
andernorts ausführlich begründet wurde.324
Abgesehen von diesem inneren Widerspruch leuchtet es auch aus der
intelligiblen Struktur des Urteils ein, daß das Wesen der Wahrheit eines
Urteils, und damit eines von jedermann vorausgesetzten hauptsächlichen
Wahrheitsträgers, unmöglich mit der existentiellen Erfüllung von
Subjekten identifiziert werden kann. Denken wir nur an einen Menschen,
der sich eine Welt von Illusionen schafft, wie dies etwa in Anouilhs
Leocadia anschaulich vor Augen geführt wird. Dort begegnet uns ein
Mensch, der in einer Traumwelt lebt und in dieser Erfüllung findet, der
sich alle möglichen Dinge einbildet, durch die er glücklicher zu leben
meint als ohne solche Einbildungen. Ein solcher Mensch mag tatsächlich
durch den Inhalt seiner Überzeugungen existentielle Erfüllung finden;
diese sind aber offensichtlich nicht deshalb wahr.
Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß es auch eine
existentielle Wahrheit geben kann und gibt. Diese liegt allerdings nicht
primär in dem Phänomen des „Ich“ im Gegensatz zum „Man“, das
Heidegger als Eigentlichkeit bezeichnet und das einfach die lebendig-
existentiell vollzogene Wirklichkeit derjenigen Akte zum Ausdruck bringt,
die von ihm als eigentlich bezeichnet werden. So spricht Heidegger in
seinem Nietzsche-Buch von der Eigentlichkeit, die sich gleich ursprünglich
in Liebe und Haß eines Menschen erweisen könne. Damit ist wohl
gemeint, daß es sich bei eigentlicher Liebe oder bei einem ebensolchen
Haß nicht um ein konventionelles Phänomen handelt, um ein „man haßt“
oder „man liebt“, das der Einzelne gleichsam anonym-gedankenlos

324
Siehe Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Wider-
spruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als
ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“ in:
Prima Philosophia, Bd. 2, H 2, 1989.

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374 KAPITEL 8

mitmacht, sondern um eigentlichen persönlichen Haß, wie wir ihn etwa in


der Gestalt Jagos in Shakespeares Othello finden. Dieses Phänomen der
Eigentlichkeit und Authentizität ist gewiß ein wichtiges, das Heidegger
besonders in den Blick gerückt hat, aber vor ihm noch viel deutlicher
Kierkegaard, etwa in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, herausgearbei-
tet hat.
Diese Eigentlichkeit wird jedoch wohl kaum in akzeptabler
Wortprägung als Wahrheit im existentiellen Sinn zu bezeichnen sein, da
auch ein destruktiver, nihilistischer Geist, ein bösartiger Neid „eigentlich“
sein kann, deshalb aber noch nicht im tieferen existentiellen Sinne des
Wortes wahr ist. Existentielle Wahrheit in einem viel tieferen Sinn zielt
vielmehr auf das Phänomen ab, das Bonaventura als veritas vitae
bezeichnet hat, das die Konformität der Existenz und Akte des Menschen
mit seiner Berufung und der Wahrheit über den Menschen bedeutet, und
zwar sowohl mit den Gütern und Wirklichkeiten, auf die hin der Mensch
seiner Natur nach angelegt und zugeordnet ist, als auch mit seinem eigenen
tieferen Wesen. In diesem Sinne ist die Erfüllung des Subjekts nicht
subjektivistisch als bloß eigener Entwurf oder als bloße Übereinstimmung
des Inhalts des Lebens mit dem eigenen Lebensprojekt oder als
„Entdeckendsein des Daseins“ gedacht, sondern vielmehr als Übereinstim-
mung der Person mit der Wahrheit der Dinge und zugleich mit der
Wahrheit des Subjekts selbst.
Wahrheit im existentiellen Sinne, so verstanden, und in der Philosophie
Wojtyáas in höchst neuer, aber zugleich klassischer Weise neu gedeutet,325
kann jedoch unmöglich als Ersatz für Urteilswahrheit aufgefaßt werden,
insbesondere da jede existentielle Wahrheit die Urteilswahrheit bereits
wieder voraussetzt. Denn das, was in der letztbestimmten Weise im
existentiellen Sinne wahr ist, schöpft seine Wahrheit gerade aus einem
Bezug zur Wirklichkeit jenseits des Subjekts, zur Welt der Werte und
Güter, und zugleich zur eigenen Wirklichkeit des Subjekts. Dessen „in der
325
Vgl. Karol Wojtyáa, “Subjectivity and the Irreducible in the Human Being,” in:
Analecta Husserliana VII (Dordrecht: D. Reidel, 1978), pp. 107-114; Karol
Wojtyáa, Metafisica della persona. Tutte le opere filosofiche a saggi integrative, a
cura di Giovanni Reale e Tadeusz StyczeĔ, (Milano: Bompiani, 2003). Vgl. Auch
Josef Seifert, “Karol Cardinal Karol Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher
and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), pp. 130-199.

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Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit 375

Wahrheit des Lebens Sein“ beruht gerade auf der Wahrheit im Sinne der
adaequatio an die Wirklichkeit, die zur inneren Form des Lebens und Tuns
der Person wird; man könnte geradezu von der Wahrheit als forma vitae
sprechen. Im existentiellen Sinne des Wortes „wahr“ ist ein Leben, das mit
den Forderungen, Gütern und Wirklichkeiten in Einklang steht, die auch in
wahren Urteilen formuliert werden könnten und deren existentieller Ruf an
die Person, sowie das Fühlen, Wollen und Tun derselben gleichfalls wieder
in Form wahrer Urteile zu fassen ist.

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KAPITEL 9

WITTGENSTEIN UND DAS PROBLEM „RELIGIÖSER WAHRHEIT“ – KRITISCHE


REFLEXIONEN ÜBER WITTGENSTEINS WAHRHEITSBEGRIFF

Wie man Religionsfähigkeit als Wesenseigenschaft der Person deutet,


ob im Sinne des Atheismus, im Sinne einer rein subjektiv-kreativen
Sinngebung und Konstitution religiöser Objekte von einer bestimmten
„Lebenswelt“ oder „Lebensform“ aus, oder als wirklichen oder möglichen
Wahrheitsbezug im religiösen Glauben, an dieser Frage scheiden sich die
Geister. Zahlreiche Deutungen der Religiosität des Menschen deuten oder
erklären im Grunde diese Wesenseigenschaft der Person nicht, sondern
bestreiten sie, indem sie jedes eigentliche Verhältnis der menschlichen
Person zum Absoluten, zu Gott, leugnen oder ausschließen. Und zu diesen
Philosophien zähle ich viele der Ansätze zu einer Religionsphilosophie, die
wir bei Wittgenstein finden und die auch Wittgensteins Philosophie der
Wahrheit zum Ausdruck bringen. Allerdings müssen wir von zwei
verschiedenen und miteinander unverträglichen Gedankenlinien in
Wittgensteins Religionsphilosophie reden. Die folgenden Reflexionen
gelten primär der religionskritischen These Wittgensteins, religiöse
Aussagen seien Unsinn.
Die Wurzeln dieser Ansichten wie jener Wittgensteins, als einer unter
Hunderten ähnlichen, finden sich in der subjektivistischen und letztlich
relativistischen Deutung der Erkenntnis durch David Hume und der
„kopernikanischen Wende“ Immanuel Kants, der gemäß alle Gegenstände
des Bewußtseins, und insbesondere die „(transzendentalen) Ideen“ ‚Gott‘,
‚Seele‘, ‚Unsterblichkeit‘ vom menschlichen Geist konstituiert werden, sei
es durch Assoziationen, ein transzendentales Ich, die Geschichte,
Gesellschaft, Materie oder Sprache, weshalb ein Zugang zum Ding an sich,
zu objektiver Wirklichkeit und Wahrheit a priori, noch vor aller Diskussion
der Frage religiöser Wahrheit, ausgeschlossen ist.326 Auf diesem Boden

326
Mit Max Black und Elizabeth Anscombe könnte man leugnen, daß der Tractatus
Wittgensteins empiristische Tendenzen aufweise oder dem Neopositivismus des
Wiener Kreises nahestünde. Freilich läßt sich, wie übrigens auch für Humes und

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378 KAPITEL 9

operieren der weitaus größte Teil heutiger Religionsphilosophen. Ich


meine hingegen sehr wohl, daß wir den Boden der Aufklärung, des
Empirismus oder Kantianismus nicht als unverrückbare Basis heutigen
Philosophierens oder als unabwendbares Schicksal zu betrachten brauchen,
sondern aus dieser subjektivistischen Verengung der Philosophie, als ihrer
größten Krise in der Geschichte abendländischen Denkens, herauskommen
und einen kritischen Rückgang auf eine realistische und objektivistische
Philosophie suchen müssen und finden können. Von vielen Aspekten
dieser erkenntnistheoretischen Grundlagen der folgenden Reflexionen
haben wir bereits gehandelt und verweisen auf weitere Werke.327

Carnaps Positionen, keine einzige philosophische These Wittgensteins empirisch


begründen. Auch sucht Wittgenstein eine formale Ontologie. Doch bleibt er mit
seiner Auffassung, notwendige Urteile seien sinnlos und entweder Tautologien
oder Widersprüche, dem Kern des Empirismus verhaftet (Tractatus 4.46-4.4661).
327
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Adolf Reinach, Sämtliche
Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische
Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 531-550;
ders., Über Phänomenologie, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S.
531-550; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus dem Engl. übers. v.
Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I (Regensburg/Stuttgart:
Habbel/Kohlhammer, 1976); ders., What is Philosophy?; ders., Das Cogito und
die Erkenntnis der realen Welt, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen
Hildebrands: ‘Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis’, Aletheia 6/1993-1994
(1994), 2- 27; Balduin Schwarz (posthum, hg. von Paola Premoli, Josef Seifert),
Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben
Ausfahrten der abendländischen Philosophie; Fritz Wenisch, Die Philosophie und
ihre Methode (Salzburg: A. Pustet, 1976); Josef Seifert, „Die ‘Siebte Ausfahrt’ als
Aufgabe der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum
Liechtenstein (1986-1996). Rede zur 10-Jahres-Jubiläumsfeier der Internationalen
Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein am 26. Oktober 1996“, in:
Mariano Crespo (Hg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 19-55; ders.,
Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der
Erkenntnis; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation
for Classical Realism; ders., Essere e persona. Verso una fondazione
fenomenologica di una metafisica classica e personalistica; ders. Sein und Wesen;
ders., Gott als Gottesbeweis.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 379

1. Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit der Religion und ihre


Gründe

Ludwig Wittgenstein vertritt in vielen Passagen eine Auffassung von


Religion und Ethik, in der er diesen Phänomenen respektvoll gegenüberste-
hen will, sie aber zugleich für Unsinn hält; ja Wittgenstein, der andernorts
allgemeine Wesen überhaupt leugnet, behauptet von Ethik und Religion,
daß „ihre Unsinnigkeit ihr Wesen ausmacht”.328 Man mag freilich mit
Ramsey sagen, Wittgenstein spreche hier von einem „bedeutungsvollen
Unsinn”329 oder habe ganz ähnliche Intentionen wie die Phänomenologen,
indem er nicht absolute Werte als solche, sondern nur deren reduktionis-
tische Erklärung und Zurückführung auf etwas anderes als Unsinn
erkläre.330 Daß sich eine so wohlwollende Interpretation nicht halten läßt,

328
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg.v.
Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 18. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein,
Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, in der von Peter Sloterdijk herausgegebenen Reihe Philosophie
Jetzt! (München: Eugen Diederichs Verlag, 1996), S. 359-361. Die Stelle, an
denen diese beiden Meinungen am schärfsten zusammengebracht werden, ist
vielleicht der folgende Text: „Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die
Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind... Ich kann nur sagen: ich mache mich
über diese Tendenz im Menschen nicht lustig; ich ziehe den Hut davor.“ (Ebd., S.
361).
329
Diesen Ausdruck hat Frank Plumpton Ramsey in seinen Foundations of
Mathematics and other Logical Essays (1931), (London: Routledge, 2001)
geprägt. Vgl. auch Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief
(Oxford UK & Cambridge USA: Blackwell Publishers, 1991, 2002), S. 22. Auch
Allan Janik, Essays on Wittgenstein and Weininger (Den Haag/Amsterdam: CIP-
Gegevens Koninklijke Bibiotheek/Rodopi, 1985), S. 76, schreibt diese Meinung
Wittgenstein selbst zu.
330
Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 22 f. Vgl. auch ebd.,
S. 161 f., wo Barrett die Unterscheidung Wittgensteins zwischen relativen und
absoluten Werturteilen erklärt und selber (S. 162) den absoluten Wahrheits- und
Wertbegriff der Religion hervorhebt. Völlig andere Erklärungen werden von
anderen Autoren gegeben. So hat, gestützt auf Wittgensteins eigene Bemerkung,
er müsse anders leben, um ethisch anders zu denken, Albert William Levi, in The
Biographical Sources of Wittgensteins Ethics, Telos 38 (Winter 1978-1979), 63-
76, die ethischen Grundideen Wittgensteins als Frucht „schuldhafter Homosexua-

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380 KAPITEL 9

gibt sogar derjenige Wittgenstein-Interpret zu, der ihr am nächsten steht


bzw. sie zu vertreten scheint, Cyril Barrett.331 Abgesehen davon, daß diese
Erklärungen daran scheitern, daß niemand Werte und Religion Unsinn
nennt, wenn er nur ihre falschen Zurückführungen ablehnt, meint
Wittgenstein, wie viele Texte zeigen, mit dem Unsinn von Religion und
absoluten Werten gerade eben ...: Unsinn! Es liegt jedoch wohl auf der
Hand, daß es ganz unmöglich ist, ernsthaften Respekt vor religiösem
Glauben mit der Behauptung seiner Unsinnigkeit zu vereinbaren. Denn in
welchem Sinn des Wortes kann Unsinn Gegenstand von Respekt sein?
Man kann daraus zwei Schlüsse ziehen: entweder liegt in Wittgensteins
Denken über Religion sehr viel Dunkles, Unergründliches und
Widersprüchliches, sodaß er in der Tat in manchen Gedanken das
respektiert, was er an anderer Stelle für Unsinn erklärt. Dafür sprechen
viele der Stellen, in denen Wittgenstein sich sehr ernsthaft und mitunter
tief mit Soeren Kierkegaard und mit den Fragen des Glaubens selbst,
besonders des christlichen Glaubens (so etwa mit den Fragen des Heils, der
Auferstehung und Liebe als Quelle religiösen Glaubens)332 auseinander-
setzt, den Glauben scharf von Aberglauben unterscheidet, oder die
Meinung Frazers über die Irrigkeit aller religiöser Anschauungen, unter
Berufung auf die offenbar nicht als „irrig“ qualifizierbaren Anrufungen

lität“ angesehen, eine Meinung, der andere sowohl aus biographischen wie aus
allgemeineren Erwägungen heraus entgegentreten. Vgl. etwa Allan Janik, Essays
on Wittgenstein and Weininger, S. 74 ff.
331
Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 28, wo er sagt,
er stimme den Wittgenstein-Kritikern zu, wenn sie hervorheben, daß ethische
Aussagen, von denen Wittgenstein in seiner „Sinnlosigkeits-“ bzw. Unsinnigkeits-
these behauptet, sie könnten nicht wahr oder falsch sein, doch sehr wohl wahr
oder falsch sein können und daß rassistische Nazis sich ethisch, gelinde gesagt,
irren.
332
In seiner Betonung einer Ich-Du-Beziehung zu Gott und der Unmöglichkeit, mit
Gott ohne eine eigene persönliche Gottesbeziehung zu reden, ist Wittgenstein in
mancher Hinsicht Kierkegaard oder auch Martin Buber oder Gabriel Marcel
verwandt. Vgl. Ludwig Wittgensteins (vorwiegend zwischen 1945-1948
entstandene), Zettel, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und G. H. von Wright
(Berkeley and Los Angeles, 1967, 1970), 717: „Gott kannst du nicht mit einem
Andern reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist. Das ist eine
grammatische Bemerkung.“

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 381

Gottes des hl. Augustinus in dessen Confessiones, zurückweist.333 Oder


aber man beharrt auf den vielen Stellen bei Wittgenstein, oft in denselben
Werken,334 in denen deutlich wird, was noch klarer von vielen
Wittgensteinianern gilt, daß er wirklich Religion für reinen Unsinn hält;
und dies ist objektiv mit Respekt für sie unverträglich. In dieser
Interpretation kann Wittgensteins These des unsinnigen Charakters aller
religiösen Aussagen, konsequent weitergedacht, logischerweise nur dazu
führen, Religion abzulehnen oder abschaffen zu wollen, eine Konsequenz
des Neopositivismus, die bei verschiedenen Vertretern des kritischen
Rationalismus kraß hervortritt.335 Derart weittragende Folgen einer
philosophischen Position, die glaubt, so grundlegende Phänomene wie
Ethik und Religion als Unsinn qualifizieren zu dürfen, bedürfen jedoch,
angesichts des Gewichts der hier dramatisch sich stellenden Frage, der
eingehendsten und genauesten kritischen Analyse. So müssen wir zunächst
fragen: Warum hält Wittgenstein an vielen Stellen sowohl jede ethische
wie jede religiöse Aussage für unsinnig?
Diese seine These versucht Wittgenstein auf verschiedene Weisen zu
begründen:

333
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value,
amended 2nd ed., hrsg. v./ed. Georg Henrik von Wright, übers. V./trans. Peter
Winch (Oxford UK&Cambridge USA/Frankfurt a.M.: Basil Blackwell/Suhrkamp
Verlag, 1977, 1980/1988), S. 33, bes. ibid., S. 45-46 (ca. 1944), S. 64, sowie S. 72
f., 80-81, 85-86. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Notizen zu James George
Frazers ‚The Golden Bough’, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, S. 412-428, bes. S. 412. Vgl. ebenfalls Ludwig Wittgenstein,
Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo
(Hg.), Bd. 3 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1995), S. 276 f., Nr. 3 ff. Vgl.
auch den Kommentar über die schönsten Texte Wittgensteins in CV, S. 33, in
Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief , S. 180-182.
334
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S.
29, 64. Im allgemeinen enthalten die Vermischten Bemerkungen fast durchwegs
tiefe, von Kierkegaard und dem Evangelium inspirierte Texte über Religion und
Gott, in denen der Gedanke, daß Religion Unsinn ist, ganz fehlt. Vgl. z. B. ebd., S.
31ff.
335
Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft (Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul
Siebeck, 51980).

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382 KAPITEL 9

(1) Als Voraussetzung seiner These, Ethik und Religion seien Unsinn,
sieht Wittgenstein die Tatsache, daß von der Ethik und Religion notwendig
Aussagen über absolute Werte gemacht werden.336 Die Unsinnigkeit
religiösen Glaubens liegt nun nach Wittgenstein zunächst darin begründet,
daß die Religion keinerlei rationale Begründung und Rechtfertigung für
ihre Werturteile, keinerlei denkbare Verifikation für ihre wertbetonten
Aussagen besitze, und zwar gerade dann, wenn sie nicht einfach sagt, „Gut
ist, was Gott befiehlt“, sondern behauptet, Gott wolle das Gute, weil es in
sich gut sei.337 Denn Urteile über absolute Werte, wie sie Religion und
Ethik voraussetzen, seien inkohärente Ausdrucksweisen: der in ihnen
liegende Versuch, über Fakten hinauszugehen, stelle einen Versuch dar,
über die Welt hinauszugehen, und damit – sowie mit dem Fehlen jeder
Nachprüfbarkeit338 – werde das Reich sinnvoller Sprache verlassen.339 Ob
Wittgenstein ein überzeugendes Argument für diese aller Erfahrung
widersprechende Aussage bietet, daß uns absolute Werte nicht klar und
eindeutig als Eigenschaft von Seienden, z.B. von Personen oder gerechten
Handlungen auf Grund ihres Wesens und Daseins gegeben seien, muß
jedoch geprüft werden.
(2) Sodann liegt der Grund der behaupteten Unsinnigkeit von Religion
Wittgensteins Meinung nach noch in einem ganz anderen Faktor, nämlich
darin, daß wir in der Religion über etwas Aussagen machen, von dem wir
bildhaft reden, ohne daß es im nicht-bildhaften Ziel religiöser Aussagen –
in den spezifisch religiösen Inhalten der Schöpfung der Welt, der Gnade,
Schuld und Erlösung340 – irgendein etwas gäbe, wofür das religiöse

336
In diesem Punkte folgt ihm die Theorie Mackies. Vgl. J. L. Mackie, Ethics:
Inventing Right and Wrong (New York: Pinguin Books, 1977).
337
Wittgenstein, Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt),
Wittgenstein, S. 359-361, bes. S. 359. Dort betont Wittgenstein, die (schon in
Platons Eutyphro geäußerte) Auffassung, die Götter gebieten das Gute, weil es gut
ist, und es sei nicht gut, weil Gott es gebiete, sei oberflächlicher, nicht tiefer als
die erwähnte positivistische Zurückführung des Wertes auf einen unbegründeten
Willen oder Befehl Gottes.
338
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, in: Thomas
H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 362-385, S. 370 f.
339
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, S. 362-385.
340
Wittgenstein, ebd., S. 16.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 383

„Gleichnis“ ein Gleichnis wäre.341 Es bleibe bei näherer Betrachtung des


spezifisch religiösen (nicht bildhaften) Inhalts religiöser Aussagen
schlechthin nichts übrig. Ein radikaler Agnostizismus hinsichtlich dessen,
wofür religiöse Bilder sein sollen, bildet also den zweiten Grund für
Wittgensteins These.
(3) Drittens faßt Wittgenstein religiöse Aussagen als unsinnig auf, weil
sie „gegen die Gesetze der Sprache gerichtet“ seien. Er meint aber
eigentlich etwas anderes, nämlich: religiöse Gefühle und deren sprachli-
cher Ausdruck seien gegen die Wesensgesetze humaner Akte gerichtet. So
staune man in der Religion über etwas (die Existenz der Welt), wovon wir
uns nicht vorstellen können, es sei nicht der Fall, und das deshalb kein
sinnvolles Staunen verdiene oder ermögliche, weil es „eine absolute
Tautologie“ sei.342 In ähnlicher Weise begründet Wittgenstein seine These,
daß Religion wesenhaft unsinnig sei, damit, daß es ein Mißbrauch der
Sprache sei zu behaupten, man fühle sich religiös „sicher, egal was
passiert“, weil Sicherheit gerade bedeute, sicher zu sein, daß bestimmte
Dinge nicht passieren werden. Also handle es sich bei religiösen Gefühlen
um absurde und sinnlose Gefühle.343
(4) Aus all diesen Gründen gehe es bei religiösen Sätzen nicht nur um
unbegründbare und unverifizierbare Aussagen, sondern im Grunde um gar
keine Aussagen, vielmehr um den bloßen Schein derselben. Durch seine
Überlegungen über Quellen und Natur religiöser Glaubensaussagen
geleitet, verbannt Wittgenstein in vielen Texten jeden sinnvollen
Wahrheitsanspruch aus religiösen Aussagen und Glaubenssätzen, die
eigentlich nur gegenüber dem Ungläubigen oder dem unvernünftig
Religiösen selber „so tun“, als wären sie sinnvolle Aussagen, aber in denen
im Grunde nichts gesagt oder behauptet wird, genauso wenig wie in einem
Schachspiel oder einem Damespiel etwas über Damen jenseits dieser
Spiele behauptet werde.344 Religion müsse daher nicht in der Weise
sinnvoller Sätze mit Wahrheitsansprüchen, sondern rein anthropologisch
341
Wittgenstein, ebd., S. 19.
342
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 15.
343
Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften., S. 15-16.
344
Zur Begründung dieser Wittgenstein-Interpretation vgl. Wayne Grennan,
Wittgenstein on Religious Utterances, in: Sophia (Australien) Oktober 1976, 15,
13-18.

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384 KAPITEL 9

und ganz subjektiv, wie ein bloß persönlich bevorzugtes Spiel, gedeutet
werden.345 Diese Ansicht findet sich besonders in Ludwig Wittgensteins
Lectures on Religious Belief.346
Wittgenstein zufolge bleiben deshalb für die religiöse Aussage nur
andere Funktionen außer ihrem Wahrheitswert übrig, die Wittgenstein an
verschiedenen Stellen je verschieden faßt:
a) Manchmal als psychologische Funktion (unsinniger) religiöser Sätze,
die nur „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein“ sind.
Anstatt dabei einen existentialistischen oder psychologistischen Wahrheits-
begriff einzuführen, demnach Wahrheit nur ein psychologischer und
existentieller Persönlichkeitsausdruck oder existentielle Eigentlichkeit
wäre, faßt Wittgenstein diese Deutung religiöser Wahrheit mit Recht als
ihre Falscherklärung, ja als eine Sinnloserklärung auf, da eine Aussage, die
einen Wahrheitsanspruch macht und eine bloße Äußerung eines Dranges
wesensverschieden sind.347
b) In anderen Texten sieht Wittgenstein in der Religion ein
spezifischeres psychologisch-sprachliches und zugleich prometheisches
Motiv: nämlich sinnlos „gegen die Wände unseres Käfigs“ anzurennen,
indem wir „über die sinnvolle Sprache“ und „über die Welt“ (was dasselbe
sei) „hinauszugelangen“348 suchen, oder von „Hirngespinsten“, die gar
keine Sachverhalte sein können,349 reden wollen. Dadurch würden wir aber
die Grenzen menschlicher Sprache übersehen.350
Es scheint mir, daß keines der Argumente Wittgensteins gegen die
wesentliche Beziehung zwischen Sinn, Wahrheit und Religion und für die
345
Von diesem Weg Wittgensteins vom Objektivismus zum Anthropozentrismus von
Sprachspielen in seiner Deutung des anthropomorphen Charakters der Religion
handelt ein interessanter Artikel: N. H. G. Robinson, After Wittgenstein, in: Relig
Stud (1976), 12, 493-507.
346
Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversations
on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, ed. by Cyril Barrett (Oxford: Basil
Blackwell, 1966/1970), S. 53-72, S. 53 ff.
347
Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleinere Schriften, S. 19.
348
Wittgenstein, ebd., S. 18.
349
Ebd., S. 14.
350
Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Philosophische Betrachtungen/Philosophische
Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.), Bd. 2 (Wien/New York:
Springer-Verlag, 1994,) S. 3, Nr. 5-7.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 385

Konsequenzen, die er daraus im Sinne des unsinnigen Wesens der Religion


zieht, klar, geschweige denn gültig ist. Das soll im folgenden klargestellt
werden. Doch schon eingangs können wir thesenhaft formulieren, was es
später zu begründen gilt: Die Existenz einer Welt, die – ebenso wie wir –
auch nicht existieren kann, ist keinerlei Tautologie. Religiöse Aussagen
haben einen klaren Sinn, von dem wir sehr wohl Wahrheit oder Falschheit
aussagen können. Ebenso unhaltbar ist Wittgensteins Argument für die
Unsinnigkeit der Religion aus einer Aktphänomenologie.351 Das Gefühl
metaphysischen Staunens über das Dasein der Welt ist keineswegs sinnlos,
und zwar sowohl deshalb, weil wir sehr wohl über etwas staunen können,
dessen Nichtsein unmöglich ist (Gott), als auch aus dem Grunde, daß das
Dasein der Welt kontingent und gerade nicht notwendig ist. Auch ist jenes
Gefühl religiöser Geborgenheit keineswegs das absurde innerweltliche
Gefühl, vor Unfällen u. dgl. „sicher zu sein, egal was passiert“, als das
Wittgenstein es beschreibt. Erst recht sind jene Sachverhalte, auf die
Lehren wie die der Existenz Gottes oder Schöpfung abzielen, kein Nichts,
noch reduzierbar auf Gleichnisse, sondern verstehbare Aussagen, von
denen man Wahrheit oder Falschheit aussagen kann, an deren Wahrheit
man zweifeln kann, usf.352 Es leuchtet ein, wie wichtig eine sorgfältige
kritische Untersuchung dieser Thesen, die Wahrheit ganz aus der Religion
verbannen wollen, für jede Religionsphilosophie, Religion und Theologie,
aber auch für unser Verständnis des Wesens der Wahrheit ist. Wenn
Wittgenstein in den im Folgenden erörterten Texten, denen allerdings ganz

351
Zur Frage, wie Wittgenstein zur Phänomenologie im allgemeinen steht und wie er
den von Stumpf geprägten bzw. verfeinerten Sachverhaltsbegriff von Husserl
übernahm, vgl. Nicholas F. Gier, Wittgenstein and Phenomenology. A
Comparative Study of the Later Wittgenstein, Husserl, Heidegger, and Merleau-
Ponty (Albany: State University of New York Press, 1981), S. 103-104. Vgl. auch
Barry Smith, Wittgenstein and the Background of Austrian Philosophy, in
Lernfellner, W.; Berghel, H., and Hübner, A. (Hrsg.), Wittgenstein and His Impact
on Contemporary Thought, S. 31-35. Ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-
69. Ders., Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano (Chicago/LaSalle:
Open Court, 1995).
352
Mehr dazu in Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy
(by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik. S. 107-117.

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386 KAPITEL 9

andere gegenüberstehen, recht hat, ist Religion wirklich am Ende und gibt
es in ihr weder Wahrheit noch Wahrheitsansprüche.

2. Was ist Wahrheit?

Läßt sich von religiösen Aussagen Wahrheit oder Falschheit sinnvoll


aussagen oder sind sie als unsinnige Sätze prinzipiell wahrheitsunfähig?
Beginnen wir mit einer allgemeinen Untersuchung über Wahrheit und
stellen wir danach die Frage: In welcher Weise ist die Rede von Wahrheit
im Bereich von Glauben und Religion sinnvoll?
Von der Wahrheit sprechen wir, insbesondere im Reich der Religion, in
vielfachem und so grundsätzlich verschiedenem Sinne, daß das Wort bzw.
der in ihm ausgedrückte Begriff ‚Wahrheit‘ kein echtes Allgemeines
darstellt, sondern eine Fülle verschiedener Bedeutungen besitzt, zwischen
denen, wie wir in der Sprache Wittgensteins sagen könnten, eine bloße
‚Familienähnlichkeit besteht. Was sind die wichtigsten dieser Bedeu-
tungen?
Oft hat der Ausdruck ‚Wahrheit‘ einen ontologischen Sinn und bezieht
sich auf Seiendes, das wahr genannt wird. Auch hier sprechen wir von
Wahrheit in verschiedener Bedeutung: manchmal im Sinne der Wirklich-
keit, wie wenn wir von wahren (im Gegensatz zu erfundenen) Begebenhei-
ten reden.353 Deshalb läßt sich die Wahrheit des Seins auch als „die
Ungeteiltheit des Seins und dessen was ist“ definieren.354
Andere Male meinen wir mit ‚wahr‘ einfach seiend als Fundament der
Wahrheit des Urteils. In diesem Sinne darf man nicht nur alles, was in
irgendeinem Sinne wirkliche Existenz besitzt, sondern sogar Negationen

353
Thomas sagt, es verleihe das Sein (die Existenz) einer Sache Wahrheit. In Quaestio
I, Artikel 1, von De Veritate sagt Thomas von Aquin:
„Wenn die Wahrheit in der Übereinstimmung besteht, so kann sie im Prinzip in drei Weisen
gefaßt werden, deren erste sie nach dem benennt, was der Wahrheit ordnungsgemäß
vorausgeht und worin das Wahre begründet ist.“
354
„Indivisio esse et eius quod est”. Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein.
Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg.
L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986), S. 257-
301, bes. 263-301.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 387

und das Bestehen des negativen Sachverhalts, „daß X wirklich nicht ist“,
als seiend in jenem Sinne bezeichnen, in dem das Sein Grundlage der
Wahrheit ist.355 Ludwig Wittgenstein sagt an manchen Stellen etwas
Ähnliches, wenn er das Fundament von Sätzen in einem „es verhält sich so
und so” erblickt356 oder im Tractatus (1; 1.12) die Welt als „alles, was der
Fall ist“ inklusive dessen, „was alles nicht der Fall ist“, definiert.
So kann also das Wort ‚Wahrheit‘ im ontologischen Sinn Wirklichkeit
sowohl im engeren Sinn des tatsächlich Existierenden (das Wittgenstein als
„Tatsachen“ anspricht) als auch im weiteren aller in irgendeinem Sinn
bestehenden Sachverhalte meinen. Wenn wir hingegen vom wahren (im
Gegensatz zum rein konventionellen, uneigentlichen) Menschen oder von
der wahren Liebe reden, so meinen wir wieder etwas anderes mit ‚wahr‘:
nämlich einen Menschen oder eine Liebe, die ihrer eigentlichen
Bestimmung oder dem, was Platon und Augustinus als deren ewige Ideen
bzw. Eide und Paradigmata bezeichneten, entsprechen.357 Wenn wir
jedoch, ebenfalls im ontologischen Sinne, von Gott als der Wahrheit
sprechen, so meinen wir mit der Wahrheit nicht mehr irgendeine Art der
ontologischen ‚adaequatio‘ oder Entsprechung, sondern das Urbild des
Seins und des Guten und zugleich den Inbegriff aller Wahrheit des
Erkennens und der Urteile.
In einem anderen, vom ontologischen Wahrheitsbegriff verschiedenen
und strikte epistemologischen Sinne reden wir von Wahrheit, wenn wir mit
Platons Gorgias sagen, die Erkenntnis sei immer wahr und niemals falsch,

355
Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice
thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto
Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587 (meine Überset-
zung):
Darum sagt der Philosoph: „Die Negation oder Privation des Seienden werde in einem Sinne
seiend genannt.... Darum sagt auch Avicenna am Anfang seiner Metaphysik, es könne nur
vom Seienden eine Aussage (enuntiatio) gemacht werden, weil das, worüber ein Satz
(propositio) gebildet werde, notwendig unter der Erkenntnis befaßt sein müsse. Daraus wird
deutlich, daß alles Wahre in gewissem Sinne ein Seiendes sein muß.“
356
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical
Investigations, trans. Elizabeth Anscombe (Oxford: Basil Blackwell, 1958), 136,
S. 52 f. Vgl. auch ders., Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische
Abhandlung (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1963), 2.04-2.06.
357
Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1.

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388 KAPITEL 9

was auch wiederum in verschiedener Weise verstanden werden kann:


nämlich entweder als wesenhaft der Erkenntnis selber zugehörig oder nur
als bloße Folge der Definition von Erkennen in dem Sinne, daß wir
„falsche Erkenntnis“ eben nicht Erkenntnis nennen. Im Sinne objektiver
Wesensnotwendigkeit der Irrtumsfreiheit des Erkennens liegt es in der
Wahrnehmung sowie in der Erkenntnis im engeren Sinne selber begründet,
daß sie nicht irren können, sondern daß der Akt des Irrens immer nur in
solchen Überzeugungen und Urteilen liegen kann, die über das strikt
erkennntismäßig Gegebene hinausgehen: die reine Wahrnehmung oder
erkennende Aufnahme eines Seienden kann nie irren.358 Irrtumsfreiheit
gehört hingegen zur Erkenntnis im weiteren Sinne, also etwa der auf
Vertrauen auf Quellen aufgebauten historischen Erkenntnis, die viele
Momente des Meinens oder Glaubens enthält, nur per definitionem.359
Im folgenden wenden wir uns hingegen einer ganz anderen, von der
ontologischen und epistemologischen verschiedenen Bedeutung von
‚Wahrheit‘ zu, nämlich der Wahrheit des Urteils oder, wie Wittgenstein
sagt, des Satzes, den er nicht scharf vom in ihm ausgedrückten Urteil
unterscheidet.360 Jedes Urteil behauptet einen Sachverhalt: daß etwas ist

358
Vgl. Platon, Gorgias S 454, II/200:
SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich
jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du
bejahen, denke ich?
GORGIAS: Ja.
SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre?
GORGIAS: Keineswegs.
SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei.
GORGIAS: Du hast recht.
SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden.
Vgl. auch Platon, Theaitetos, 64a ff., 166a - 167e, 178a - 179b.
359
Diese gewaltigen, bei Platon, Aristoteles, Augustinus, René Descartes und vielen
anderen Philosophen vorhandenen Thesen versuchte ich andernorts, näher zu
begründen. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, I. Teil, Kap. 3,
sowie ders., Wahrheit und Person, Kap. 2.
360
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136. Vgl. auch
Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 389

oder daß es nicht existiert, daß es so oder nicht so ist, sich so oder anders
verhält. Mit der Behauptung eines Sachverhalts im Urteil ist zunächst der
Anspruch verknüpft, daß die Dinge objektiv so sind oder so geschehen
sind, wie ich im Urteil behaupte, oder objektiv nicht so sind oder
geschehen sind, ebenfalls genauso wie ich im Urteil behaupte. So liegt in
jedem Urteil hinsichtlich seines Objekts ein Seinsanspruch; es wird das
Bestehen eines positiven oder negativen Sachverhalts – der unabhängig
vom Urteil selbst besteht – behauptet.
Unter einem Sachverhalt verstehen wir eine eigenartige ontische
Struktur, die sich von Dingen und deren Prädikaten und Attributen klar
unterscheidet und innerhalb deren wir positive von negativen
Sachverhalten unterscheiden müssen.361 Die allgemeinste Seinsform, die
man im Unterschied etwa zu Dingen als Sachverhalt bezeichnen kann,
kann daher präzise in der disjunktiven Sachverhaltsformel ausgedrückt
werden: „das a-Sein [oder das nicht-a-Sein] eines B“, oder mit
Wittgenstein „es verhält sich so und so“362 oder eben nicht so.363
Sachverhalte unterscheiden sich in vielen Hinsichten von Sachen und
Gegenständen, können aber alle Arten von Gegenständen in sich
einschließen. Sie können Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile
enthalten, sie bestehen aber niemals einfach aus diesen. Nicht ein Mensch,
eine Person überhaupt oder ein Tier und auch keine Ansammlung
derselben, kann ein Sachverhalt sein, sondern nur daß diese Seienden
existieren oder nicht existieren, so oder anders sind oder mit einander in
Beziehung stehen. Sachverhalte sind auch keine logischen Begriffe noch
bestehen sie aus diesen. Selbst Sachverhalte, die sich auf Begriffe
beziehen, etwa der Sachverhalt, daß sich in einem Urteil mindestens drei
Begriffe finden, beziehen sich zwar auf Begriffe, bestehen aber keineswegs
aus ihnen wie das Urteil selbst.
Besonders Anhänger der analytischen Philosophie könnten versucht
sein, den Sachverhalt selbst für einen Satz oder für ein Urteil zu halten, da
Wittgenstein, der meist Satz und Sachverhalt in ähnlicher Weise wie wir

Ausgabe, Michael Nedo (Hrsg.), Bd. 3 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1995),


S. 118 ff.
361
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.
362
Wittgenstein, ebd., 136, S. 52. Vgl. auch ders., Tractatus 1; 1.12.
363
Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2-3.

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390 KAPITEL 9

unterscheidet364, an verschiedenen Stellen das „es verhält sich so und so“,


also den Sachverhalt, mit dem Satz zu identifizieren scheint. Doch leuchtet
es sofort ein, daß ein solcher Reduktionismus, der den Sachverhalt mit dem
Urteil (oder gar mit dem Satz) identifiziert, unhaltbar ist. Denn
Sachverhalte bestehen nicht wesenhaft aus Begriffen wie das Urteil,
sondern in sie gehen vielmehr nur möglicherweise Urteile oder Begriffe ein
(im Falle logischer Sachverhalte in bezug auf Begriffe); normalerweise
gehen gerade nicht Begriffe, aus denen hingegen das Urteil immer und
wesenhaft besteht und gebildet ist, sondern vielmehr reale Gegenstände
und deren Attribute in Sachverhalte ein, wie der Sachverhalt „das
Weißsein dieses Schafes“ die weiße Farbe und das gegebene Schaf in sich
befaßt.
Der Unterschied zwischen Sachverhalt und Urteil geht aus einer
weiteren Tatsache hervor: Sachverhalte, im Gegensatz zum Urteil, meinen
nichts von ihnen Verschiedenes; sie können daher auch nicht wahr oder
falsch sein, sondern nur bestehen oder nicht bestehen. Auch bestehen
Sachverhalte überall in der Welt ganz unabhängig davon, ob sie in einem
Urteil behauptet werden oder nicht. Sie sind zwar einzig möglicher
direkter Gegenstand des Urteils,365 unterscheiden sich aber gerade dadurch
von diesem, daß sie Gegenstände von Urteilen sind, aber selber keine
Gegenstände haben oder Sachverhalte außerhalb ihrer selbst meinen. Da
sie nichts meinen oder behaupten, können Sachverhalte auch nicht Urteile
sein.
Außerdem ergibt sich diese Verschiedenheit auch aus folgendem
Umstand. Sachverhalte können ja gleich gut, außer Gegenstand des Urteils,
auch Gegenstände von Fragen und anderen Gedanken sein. Niemand aber
wird bei klarem Verstand denselben Sachverhalt mit dem Urteil, das ihn
behauptet und zugleich mit der Frage, die nach seinem Bestehen fragt, oder
dem Wunsch, der sich auf ihn richtet, identifizieren.366

364
Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 2.232; 4.016; 4.02-4.024.
365
Indirekt sprechen natürlich Urteile über die Sachen und Personen, die in die
Sachverhalte „eingehen“ bzw. in Bezug auf die Sachverhalte bestehen.
366
Man könnte freilich noch verschiedene Sachverhalte unterscheiden wie
‚Frageverhalte‘ oder Urteilsverhalte, je nachdem ob man auf sie in der Frage oder
dem Urteil abzielt. Vgl. Kevin Mulligan /Karl Schuhmann / Barry Smith,

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 391

Erst recht ist natürlich ein Sachverhalt, wie daß Napoleon gegen
Rußland in den Krieg zog, kein Satz im sprachlichen Sinne. Denn während
dieser aus Worten zusammengesetzt ist, die ihrerseits aus Silben, Vokalen
und Konsonanten bestehen und bestimmten Sprachen angehören, trifft
schon nichts von alledem auf die im Satz ausgedrückten Urteile als
Bedeutungseinheiten zu,367 die in der deutschen oder französischen
Sprache ausgedrückt werden, aber jeweils dieselben sind, und erst recht
nicht auf Sachverhalte, die offenkundig nicht verschiedenen Sprachen
angehören können wie Sätze.
Auf die erörterte Gegebenheit des Sachverhalts in seiner eigentümlichen
ontischen Struktur zielen wir in vielen Redeweisen ab, etwa wenn wir
sagen, daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so oder daß es nicht so ist
oder daß es sich so oder anders verhält.368
Daraus ergibt sich unmittelbar eine Fülle von psychologisch und
anthropologisch relevanten Beziehungen zwischen Sachverhalten und
bestimmten Akten der Person. So ist es klar, daß nicht nur das objektive
logische Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde des Urteils sich nur auf
Sachverhalte beziehen kann oder muß, sondern ebenso der personale
Urteilsakt, nicht nur viele Fragen, die sich in ganz anderer, die Antwort
offen lassender Weise auf Sachverhalte beziehen als das Urteil, sondern
auch der Akt des Fragens, nicht nur der Überzeugungsinhalt, sondern auch
der Akt der Überzeugung, des Glaubens usf.
Bei jedem Urteil müssen wir nicht nur den sprachlichen Satz, sondern
auch den bewußten personalen Akt des Urteilens vom Urteil selbst
unterscheiden. Dieses ist nämlich kein personaler Akt, kein bewußtes
Etwas, sondern ein logisches Gebilde besonderer Art, das aus Begriffen

“Question: An Essay in Daubertian Phenomenology,” in: Philosophy and


Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384.
367
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, II, 1,1, „Ausdruck und
Bedeutung“.
368
Auch Ausdrücke wie „Tatsachen“, „Begebenheiten“, „Begebnisse“, „Ereignisse“,
„Fälle“, „Geschehen“ oder „Geschehnisse“, „Fakten“ usf. zielen gewöhnlich auf
(real) bestehende Sachverhalte ab. Ähnliches gilt für Redeweisen wie „es gibt X“,
„es gibt X nicht“, „es ist der Fall, daß...“, usf. Dasselbe gilt für das englische
„there is..“, das italienische „ci sono...“ und „c’è...“, das französische „il-y-a....“,
das spanische „habe...“ und viele andere.

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392 KAPITEL 9

bzw. Bedeutungseinheiten gebildet ist und aus ihnen besteht. Der personale
Akt des Behauptens, Urteilens oder Glaubens ist jeweils ein individuell
einmaliger, wenn auch das Glauben, wie Wittgenstein sagt, nicht ein
einzelner zeitlich punktueller Akt der Person, wie das Behaupten, sondern
ein dispositioneller oder überaktueller Akt, eine überaktuelle theoretische
Antwort ist.369 Das Urteil hingegen als logisches Gebilde ist nicht
individuell in mir und Dir verschieden, sondern allgemein in dem Sinne,
daß es von vielen Personen als dasselbe Urteil gefällt werden kann. Der
Urteilsakt besteht nicht aus Begriffen, sondern ist ein je individuelles
Erlebnis, ein Akt.
Das logische Urteilsgebilde ist also kein Akt, sondern eine Entität sui
generis, die aus Begriffsbedeutungen besteht. Im Urteil als logischem
Gebilde finden wir mindestens drei Begriffe, den Subjektsbegriff, den
Prädikatsbegriff und die Kopula, die beide verbindet und zugleich die
Behauptungsfunktion bzw. die Urteilsfunktion, ausübt.
Der positive oder negative Sachverhalt wird Gegenstand von Urteilen
dann, wenn sein Bestehen behauptet wird. Mit der Behauptung gelangen
wir zum Wesen des Urteils. Dabei zeigt es sich, daß die Kopula des
Urteils, wie Pfänder sieht, zwei sehr verschiedene Funktionen ausübt und,
wie Hedwig Conrad-Martius mit Recht hinzufügt, auch eine ontologische
Bedeutung hat.370 Das gilt auch für religiöse Urteile. Im Urteil ‚Gott ist
Mensch geworden‘ besitzt der im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückte Begriff
einmal jene Funktion, die Pfänder als die Hinbeziehungsfunktion
bezeichnet, sodann aber auch jene, die er Behauptungsfunktion nennt und
die den gemeinten Sachverhalt als solchen setzt, sein Bestehen
behauptet.371 Drittens liegt in der Kopula ein ganz allgemeiner
ontologischer Sinn, den Pfänder nicht bemerkt, ja implizite leugnet, wenn
er der Kopula ausschließlich zwei Funktionen zuspricht und von den ‚rein

369
Dieser letztere Begriff stammt von Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von
Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 17-
25; ders., Das Wesen der Liebe, Kap. 1-2.
370
Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel Verlag, 1957), S. 19-42.
371
Pfänder, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963), S. 42 ff. Die
Funktionen der Kopula brauchen freilich nicht im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückt zu
werden, sondern können sprachlich auch im Verb mit ausgedrückt sein. Vgl. auch
(Mariano Crespo, Hrsg.), Logik.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 393

funktionierenden Begriffen‘ redet:372 die Kopula aber sagt in Wirklichkeit


über ihre beiden reinen Funktionen hinaus auch das Sachverhaltssein aus.
Dies geschieht nicht nur in abstraktester Weise (als Aussagen des
‚Sachverhaltsseins‘ überhaupt), sondern das Urteil weist dem Sachverhalt
die ihm jeweils eigene Seinsweise zu, bevor es ihn behaupten kann. Es
kann sich dabei sowohl um das reale wie um das rein ideelle Bestehen von
Sachverhalten handeln, die als solche zuerst ontologisch gekennzeichnet
werden müssen, bevor sie behauptet werden können.
All dies gilt auch für religiöse Urteile. Im Urteil „Gott ist Mensch
geworden“ schreiben Kopula und der verbale Sinn des Wortes „geworden
ist“ dem Sachverhalt voll realen Charakter, voll wirkliches Sachverhaltsein
zu, das sich etwa radikal von den fiktiven Sachverhalten unterscheidet, auf
die sich die quasi-Urteile im literarischen Kunstwerk beziehen.373
Von diesen Bedeutungsmomenten und Funktionen der Kopula im Urteil
sind für die Wahrheitsfrage der ontologische Sinn der Kopula als den
Sachverhalt meinend und die Behauptungsfunktion als ihn setzend am
entscheidendsten. Das Urteil setzt einen Sachverhalt, nicht so als ob es ihn
schüfe oder hervorbrächte, sondern in der Form ‚behauptender Setzung‘.
Die scharfe Abgrenzung der behauptenden Setzung von jeder schöpfe-
rischen Setzung gehört zu den schönsten Teilen der Logik Pfänders:
Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der
Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit
einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein
Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider,
dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas
zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst
völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich
aus seinen Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der
sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und
sich ihm in jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede
leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde

372
Pfänder, ebd., S. 42-44, 156-162.
373
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Vgl. auch Josef Seifert,
“Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit., und Josef Seifert, (with Barry
Smith) The Truth about Fiction, zit.

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394 KAPITEL 9

wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle


Gewissen...374

... Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der


Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem
Sinne absolut objektiv sein zu wollen.375

Das Urteil, und zwar genauso das religiöse wie das naturwissen-
schaftliche oder historische, besagt, meint, behauptet, daß ein Sachverhalt
besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus seinem
Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem
Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst
wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil „S ist P“ als Behauptung
verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet
werden: „Dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser
Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils
verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt
sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Auch Wittgenstein definiert das
Urteil, das er als Satz bezeichnet, in den Philosophischen Untersuchungen
dadurch, daß es wahr oder falsch sein kann.376 Und die Wahrheit des
Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart
der behauptenden Funktion des Urteils, und andererseits das Verstehen der
eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen
Bestehen die Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das
Urteil wahr ist.377

374
Alexander Pfänder, Logik, 3. Aufl. (München: A. Barth/M. Niemeyer, 1963), S. 43
f.
375
Vgl. ebd., S. 81.
376
Etwa in Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136:
„Im Grunde ist die Angabe von ‚Es verhält sich so und so‘ als allgemeine Form des Satzes
die gleiche, wie die Erklärung: ein Satz sei alles, was wahr und falsch sein könne.“ (136, S.
52). Vgl. auch ebd., 225, S. 86; 554 f., S. 146.
...und man könnte ein Kind lehren, Sätze von anderen Ausdrücken zu unterscheiden, indem
man ihm sagt: „Frag dich, ob du danach sagen kannst, ‚ist wahr‘. Wenn diese Worte passen,
so ist es ein Satz.“ (137, S. 53).
377
Vgl. Pfänder, Logik, S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit
des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 395

So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit kommt


einem Urteil kraft jenes Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht,
daß ein Urteil in seiner Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als
solchen intendierten Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen
zusammentrifft, daß sich also die Sachen wirklich so verhalten, wie das
Urteil dies behauptet. Bei aller Infragestellung dieser klassischen, doch
stets neu phänomenologisch zu durchdringenden Lehre von der Urteils-
wahrheit durch Wittgenstein finden wir viele Texte, die einer solchen
Wahrheitsauffassung verpflichtet sind, besonders im Tractatus.378
Die Wahrheit des Urteils, als sein Zusammentreffen in der behaup-
tenden Setzung mit dem Selbstverhalten der Dinge, ist immer objektiv und
kann niemals nur für jemanden oder eine Gruppe bestehen. Die Wahrheit
eines Urteils selbst aber unterscheidet sich selbstverständlich von dessen
Wahrheitsanspruch, der jedem, wahren und falschen, Urteil anhaftet. Ja es
ist evident, daß ein Urteil nur deshalb falsch sein kann, weil es einen
Wahrheitsanspruch macht. Eine Frage, die keinen Wahrheitsanspruch
macht, kann gerade deshalb niemals falsch sein. Die Wahrheit des Urteils
unterscheidet sich also evidenterweise vom Wahrheitsanspruch. Wahrheit
des Urteils besteht nur dann wirklich, wenn sein Wahrheitsanspruch, den
auch das falsche Urteil macht, erfüllt ist, wenn also das Urteil nicht bloß
den Anspruch auf Wahrheit erhebt, sondern wenn es tatsächlich mit der
Wirklichkeit übereinstimmt. Das Urteil „Der Schnee ist weiß“ ist dann nur
dann wahr, wenn der Schnee tatsächlich weiß ist, wenn der Sachverhalt

378
Allerdings ist die Fassung der Wahrheit von Aussagen im Traktatus oft unklar,
indem der Sinn der adaequatio verkannt und eine Art Gleichheit der Form
zwischen Sachverhalt und Satz postuliert wird. Vgl. Hermann Oetjens,
„Wittgensteins Regeldiktum als Selbstkritik seiner Wahrheitstheorie im
„Tractatus“, Grazer Phil Stud (1980), 10, 53-64. Der Autor argumentiert, daß
Wittgenstein im Traktatus die Wahrheit als eine Relation zwischen Zeichen und
bezeichnetem Gegenstand auffaßt, die durch die Identität ihrer logischen Form
miteinander verknüpft sind, wobei Wittgenstein diese logische Form für intuitiv
einsehbar hält: sie zeige sich, sei jedoch nicht sagbar. Nach Philosophische
Untersuchungen hingegen sei der Appell an die Intuition eine „unnötige Ausrede“.
Die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit werde in dieser Spätphiloso-
phie Wittgensteins aber überhaupt nicht mehr erklärt.

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396 KAPITEL 9

besteht, daß er weiß ist. Gleichermaßen ist das Urteil „Gott existiert”
wahr, wenn Gott wirklich existiert.

3. Wahrheit im Bereich von Weltbild und Religion und Kritik an


Wittgensteins Ausschaltung religiöser Wahrheitsansprüche

Wenden wir die Ergebnisse unserer allgemeinen Untersuchung über


Wahrheit auf die Religion an. All das Gesagte gilt, wie für jedes Urteil und
seinen Gegenstand, auch für das Glaubensurteil, das immer in jedem
Glauben, daß enthalten ist.379 Dabei gilt es nur für den Glauben, daß, daß
er sich direkt nur auf Sachverhalte und nur indirekt auf Gegenstände und
Personen beziehen kann, nicht für den Glauben an eine Person, der nur
Personen gelten kann und eher ein Akt des Vertrauens auf eine Person
sowie darauf, daß sie mir die Wahrheit sagt, ist. Im religiösen Glaubensakt
haben wir also sowohl, als Adressaten des Glaubens an eine Person, eine
Person vor uns, wie wir andererseits notwendig im ‚Glauben, daß‘ uns auf
Sachverhalte beziehen. Und wenn wir im religiösen Urteil überzeugt sind
und aussagen: „Gott ist Mensch geworden“, so behaupten wir diesen
Sachverhalt genauso urteilsmäßig wie irgendeinen anderen Sachverhalt.
Auch wenn wir nicht ein religiöses Urteil fällen wie „Christus ist
auferstanden“, sondern vielmehr unseren Glauben bekennen, so bringen
wir zwar den personalen Akt des Glaubens, das credo, zum Ausdruck bzw.
geben diesen Akt kund, aber wir schließen doch notwendig in das
Bekenntnis dessen, daß und was wir glauben, das Urteil ein, daß sich das
Geglaubte so verhält wie wir im Glauben bekennen, ansonsten wir ja das,
was zu glauben wir bekennen, nicht glauben würden. Wenn wir unseren
Glauben an den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde
bekennen, bringen wir zugleich unsere Glaubensüberzeugung von der
Richtigkeit dieses Glaubens zum Ausdruck und welchen Glauben immer
wir haben, bekennen eben dies: Allah wird unser Richter sein; Gott ist
unser aller Schöpfer; Jesus Christus ist von den Toten auferstanden, usf. Im

379
Zum Unterschied zwischen Glauben an und Glauben, daß sowie ihrer Beziehung
vgl. Dietrich von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes
(Regensburg, 1968); 4., unveränderte Aufl. (St, Ottilien, 41992), S. 236-245.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 397

Glauben, daß etwas ist, halten wir ferner ein Urteil für wahr. Mein Urteil
„Es gibt keinen Gott“ oder „Gott hat alles Sichtbare und Unsichtbare
geschaffen“ erhebt unweigerlich den Anspruch darauf, wahr zu sein. Und
das Urteil ist nur wahr, wie Aristoteles einsah, wenn es behauptet, daß das
ist, was wirklich der Fall ist, oder daß das nicht ist, was wirklich nicht der
Fall ist. Das erste der von uns als Beispiele gewählten Urteile ist also nur
dann wahr, wenn es wirklich keinen Gott gibt, wie der prae-Vaticanum II-
Atheist (wie sich Hans Albert witzig bezeichnete) behauptet;380 das zweite
ausschließlich dann, wenn es einen lebendigen Gott, Schöpfer aller
sichtbaren und unsichtbaren realen Seienden, gibt.
Im Lichte des Gesagten ist Wahrheit auch immer objektive Wahrheit
und nicht etwa auf eine kulturell bestimmte Sprachgruppe relativ, wie
Wittgenstein meint, wenn er sagt, daß „die Wahrheit...“ und das Weltbild
„zu unserem Bezugssystem gehören“,381 oder daß ein Weltbild eine „Art
von Mythologie“ sei, deren Sätze eine ähnliche Funktion wie Spielregeln
hätten.382 Spielregeln machen keinen Wahrheitsanspruch und urteilen nicht
über die wirkliche Welt, ebensowenig wie kulturell bedingte Sitten. In
seiner Reduktion der religiösen Glaubensaussagen auf kulturell bedingte
Sprachspiele383 verfehlt Wittgenstein den gewaltigen Unterschied zwischen
einer Religion und einem Theater oder Sprachspiel, in dem kein
Wahrheitsanspruch vorliegt. Den auf Grund der Unbegrenztheit seiner
Anwendung allzu konfusen und vagen Charakter des Begriffs
„Sprachspiel“ sieht Wittgenstein selbst, ja er stellt sogar zu Recht die

380
Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft.
381
Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und
G.H. von Wright (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969), 83, S. 29.
382
Barrett versucht, Wittgenstein weitgehend vom Einwand, er sei relativistisch
gewesen, zu befreien. Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious
Belief, Kap. 7, „Relativism“, ebd., S. 145 ff.
383
Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“ ist alles andere als präzise und schließt
neben vielen Satz- und Sprachformen auch alle möglichen Funktionen der
Sprache, aber auch die verschiedenen in der Sprache ausgedrückten Gedanken ein.
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 23, 27. Eine sehr
gründliche Untersuchung dieses Begriffs bietet Cyril Barrett, Wittgenstein on
Ethics and Religious Belief, S. 112-144.

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398 KAPITEL 9

Frage, ob ein so vager Begriff überhaupt ein Begriff sei.384 In der


Reduktion religiösen Glaubens auf kulturell bestimmte Weltbilder und
Sprachspiele ist Wittgensteins Religionsphilosophie auch Feuerbachs
atheistischer Religionsdeutung eng verwandt.385
G. Elizabeth M. Anscombe bemerkt in einem Aufsatz: „Wittgenstein
selbst schrieb in einem seiner vielen Notizbücher in dem Sinn einer
Verneinung bzw. Frage, ob es für die christliche Religion etwas ausmachen
würde, ob ‚Christus irgendeine der von ihm berichteten Dinge tatsächlich
vollbracht oder sogar überhaupt existiert habe.‘“386 G. Elizabeth M.
Anscombe bringt gewisse Zweifel daran zum Ausdruck, ob Wittgenstein
selber diese Äußerung ernst gemeint habe, aber sieht sie in vielen seiner
Anhänger deutlich präsent. Sie charakterisiert diese Auffassung so:
(1) „Es gibt nichts wie das Wahrsein einer Religion. Dies wird etwa
angedeutet, wenn man sagt: ‚dieser religiöse Satz gleicht nicht einem Satz
der Naturwissenschaft.‘“
(2) „Religiöser Glaube läßt sich eher der Verliebtheit eines Menschen
als seiner Überzeugung vergleichen, etwas sei wahr oder falsch.“
Anscombe drückt diese Überzeugung Wittgensteins und seiner
Anhänger, eine Überzeugung, die sie verwirft, auch so aus: ”Alle
Religionen sind wirklich einerlei: sie sind nur viele verschiedene Wege
zum gleichen Ziel.“ Sie urteilt sehr mit Recht, daß eine solche Auffassung
gedankenlos ist oder, wenn sie nicht einfach hingesagt ist, sondern
ernsthaftem Nachdenken entspringt und seriös ist, sei sie „ein schlechter
Ausdruck ... des Kernes des alten und neuen Heidentums: nämlich das
Abhalten verschiedener Gottesdienste und die Verehrung verschiedener

384
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Sprachspiele und Lebensformen, in: Thomas H. Macho
(ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 236-267, bes. S. 254 ff. (Nr. 68 ff.).
385
Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Feuerbach arbeitet Stephen P. Thornton in
seinem Aufsatz Facing up to Feuerbach, in: Int J Phil Relig. (April 96), 39 (2), S.
103-120, heraus.
386
Die deutsche Übersetzung dieser und der folgenden Stellen des Textes Prof.
Anscombes stammen von mir. Die wahrscheinlich gemeinte Stelle wurde
publiziert in Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value,
S. 32. Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition and Philosophy
(by Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik, S. 93-105.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 399

Götter sowie der Haß der Ausschließlichkeit der wahren Religion.“387


Diese Idee, daß jedes Volk seine Götter habe und was zähle, nur „die Tiefe
(der Religion) im menschlichen Herzen sei“, verfehlt, so Anscombe, das
Wesen der Religion und ihres Wahrheitsanspruchs.
Man könnte hier eine Parallele zu Bultmann ziehen, der behauptet, „an
einen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde“ zu glauben, bedeute
nicht, daß man glaube, Gott habe wirklich Himmel und Erde geschaffen,
sondern nur, daß man sich selbst als Geschöpf verstehe und dadurch ein
sinnvolleres Leben lebe. In dieser Heideggerschen Interpretation der
Religion mit ihrem existentialistischen Wahrheitsbegriff388 könnte
Bultmann wie Wittgenstein gesagt haben, daß es für den christlichen
Glauben wenig oder keine Bedeutung habe, ob Christus überhaupt gelebt
habe oder für uns gestorben sei. Einen ähnlichen Immanentismus und
Relativismus finden wir auch in gewissen Formen eines christlichen
Traditionalismus im Sinne von Charles Maurras und L.G.A. de Bonald und
auch bei Spengler.389
Der Grund für diese Thesen Wittgensteins liegt wohl weniger in Kant,
dessen Denken auch viele Spuren in Wittgenstein hinterließ, als im
Empirismus und Neopositivismus des Wiener Kreises, der Wittgenstein
stark beeinflußte und wahre, ja sogar sinnvolle Sätze nur in solchen Sätzen
erblickte, die eine empirische Bestätigung oder Verifikation durch
Sinneswahrnehmungen zuließen. Auch in Poppers negativer Version dieses
Kriteriums durch Falsifizierbarkeit wird diese Art der Erkenntnistheorie
ebenfalls nicht grundsätzlich überwunden. Und von ihr aus sind an sich
religiöse Aussagen, zumindest im gegenwärtigen Leben, nicht wahrheits-
fähig, weil sie nicht einmal sinnvolle Aussagen sind, da ihre empirische

387
Anscombe, ebd.
388
Hans Jonas warnte protestantische und katholische Theologen, daß Heideggers
Philosophie und durch sie inspirierte Theologien absolut mit dem christlichen
Glauben unverträglich sind. Vgl. Hans Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a
Philosophical Biology (New York: Harper & Row, 1966).
389
Vgl. dazu Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration. Studien über L.G.A. de Bonald, bes. S. 115 ff.; 181-211. Zu dem
Einfluß Spenglers auf Wittgensteins Kulturbegriff und seine Idee der „Familie-
nähnlichkeiten“ vgl. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and
Value, S. 14 f.

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400 KAPITEL 9

Verifizierbarkeit (nach Carnap) oder wenigstens ihre empirische


Falsifizierbarkeit (nach Popper) Bedingung ihres Sinnes und Charakters als
Urteil sei. Auch der evangelische Theologe Pannenberg meint, der Glaube
könne nur sinnvolle Wahrheitsansprüche stellen, weil prinzipiell die
leibliche Auferstehung durch Wahrnehmungen der Knochen Christi
widerlegt werden könnte.
Es ist hier nicht der Ort, die Gleichsetzung des Glaubens mit
wahrnehmungsmäßig verifizierbaren oder bloß ‚falsifizierungsfähigen‘
empirischen Hypothesen à la Popper, kritisch zu untersuchen.390
Hinsichtlich Wittgensteins Ausschaltung der Wahrheitsfrage aus dem
Reich religiöser Aussagen zitiert Elizabeth Anscombe ein sehr interessan-
tes Gespräch, das sie mit Wittgenstein über diese Frage führte:
Speaking of such matters I once asked him whether, if he had a friend, an
African whose plan or possibility after being in England for a bit, was to go
back home and take a training and then practise as a witch doctor, whether
he, Wittgenstein, would want to stop him from doing this. We walked in
silence for a space and then he said: “I would, but I don’t know why.” We
talked of it no more. I incline to think that a vestige of the true religion
spoke in him then;....391

Wittgenstein verkennt die Absurdität der Idee einer relativen Wahrheit


eines Weltbilds nur „für mich“, wenn er sagt:

Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit
überzeugt habe; auch nicht weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin.

390
Vgl. Josef Seifert, „A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy“ (by
Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde:
Metaphysik und Ethik, S. 107-117. Vgl. auch Rudolf Otto, Das Heilige. Über das
Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen,
Sonderauflage (München: Verlag C.H. Beck, 1962). Vgl. auch Max Scheler,
„Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 101-354;
Vgl. auch Josef Seifert, “The Uninventable Glory of God as the Deepest Reason
for Our Faith in Jesus Christ”, in: Roy Varghese (Ed.), Theos (1999).
391
G. Elizabeth M. Anscombe , ebd., S. 102.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 401

Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen


wahr und falsch unterscheide.392

Die Idee eines „für mich wahren“ Urteils und gar die eines
Glaubensurteils, das gar keinen Anspruch auf Wahrheit machen würde,
wie eine Spielregel des Schachspiels, ist absurd. Denn ein religiöses Urteil
ist genausowenig eine Spielregel oder auch ein Spiel wie ein anderes
Urteil. Als Urteil aber kann es nur objektiv wahr oder falsch, nicht „wahr
für mich“ sein. Denn eine Wahrheit des von mir gefällten Urteils „für
mich“, aber „nicht für Dich“, oder „für den Christen“, nicht aber „für den
Moslem“, mit anderen Worten, die „Subjektivität der Wahrheit“ des
Glaubens und des Wissens, die Wittgenstein behauptet,393 ist schlechthin
sinnlos, wenn es um Aussagen über Gott und die Welt geht. Daß etwas nur
für einen Spielenden „wahr sein“ kann, gilt in gewissem Sinne für
subjektiv konstituierte und etwa in Spielen geschaffene Objekte. Selbst bei
Spielobjekten wie der Dame im Schach im Unterschied zur Dame im
Damespiel, ist diese „Relativität“ und „Subjektivität“ nicht eine der
Wahrheit, sondern bloß des (auf ein Regelsystem ‚relativen‘) Seins der
Spielwelt und der Sprache. Auch diese letztere gilt nur dann, wenn wir mit
denselben sprachlichen Ausdrücken wie „Dame“ verschiedene Gegen-
stände und Regeln meinen. Dann gilt etwa „die Königin kann sich gerade
und diagonal von einem Ende des Spielbretts zum andern bewegen“ und ist
für das Schachspiel in diesem Sinne wahr, nicht aber für die Dame im
Damespiel. Sobald aber der Sachverhalt eindeutig bestimmt ist, selbst
wenn er wie im Schachspiel durch Spielregeln konstituiert wird (wie die

392
Wittgenstein, Über Gewißheit, 94, S. 33. Vgl. ebd., 93-95. Ähnlich auch ebd., 108,
S. 37; 138, S. 44. Habermas übt Kritik an diesen Anschauungen Wittgensteins in
seinen Vorstudien zur Theorie kommunikativen Handelns (FfM 1984, S. 60 ff.),
und auch in seinem Aufsatz „Sprachspiel, Intention und Bedeutung“, in:
Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie (Frankfurt a.M., 1975), S. 319-
340. Fergus Kerr, Theology after Wittgenstein (Oxford, 1986) und Cyril Barrett,
Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, sowie Hordern, Hudson und D.Z.
Phillips liefern weitere Beispiele einer Wittgensteinrezeption auf dem Gebiet der
Religionsphilosophie.
393
Wittgenstein, Über Gewißheit, 179, S. 54.

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402 KAPITEL 9

Schachsachverhalte),394 kann es nur objektive und absolute Wahrheit


geben. Denn sowohl die Urteile über die Regeln des Schachspiels als auch,
und erst recht, jene über die in diesem königlichen Spiel geschaffene
Spielwelt, und erst recht Urteile über die notwendigen Sachverhalte, die in
der Endspieltheorie des Schachspiels ihren Ausdruck finden und ewige
Wahrheiten darstellen, sind keineswegs nur für Schachspiele, sondern
absolut wahr.395 Die Wahrheit solcher Aussagen besteht eben in ihrer
Übereinstimmung mit den wirklichen Sachverhalten (in diesem Falle den
wirklich in einem Spiel geltenden Regeln und ‚Figuren‘, sowie den darauf
aufbauenden bzw. darauf bezüglich Gesetzen), eine Idee der Wahrheit als
adaequatio, die auch Wittgenstein mitunter – wenn auch oft in sehr
zweifelhafter Weise, in der er sie zugleich „irreführend“ nennt oder auch
behauptet, „Der Satz sagt ... seinen Wortlaut!“ und die Wahrheit von
Vorhersagen von deren künftigem Geschehen loslösen will396 –
anzuerkennen scheint.397 Das gilt erst recht für die geglaubten Inhalte.
Natürlich enthält auch die relativistische Religionsphilosophie, wie sie
John Hick im Anschluß an Wittgenstein entwickelt, sowie die darauf

394
Vgl. dazu auch Wittgensteins Gedanken in: Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Grammatik, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 5 (Wien/New York:
Springer-Verlag, 1996), S. 156, Nr. 5 (wo Wittgenstein eine Art von platonischer
ewiger Idee des Schachspiels erwägt); S. 157, Nr. 4. Vgl. auch Josef Seifert,
Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), wo
vier grundsätzlich verschiedene Arten von „Gesetzen“, die das Schachspiel
beherrschen, unterschieden werden, von denen nur die erste Konventionen sind.
395
Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2-3.
396
Etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, S. 3, Nr. 5.
397
Etwa Wittgenstein, Über Gewißheit, S. 57. Zum Wahrheitsbegriff Wittgensteins vgl.
auch ebd., 200, 205f, 222, 514f, 549, 607. Die klarste Aussage Wittgensteins
zugunsten der Korrespondenz (Adäquations-)theorie der Wahrheit bei
Wittgenstein sehe ich in Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkun-
gen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 3 (Wien/New York: Springer-
Verlag, 1995), S. 294, Nr. 6, und ebd., S. 295, 4, scheint Wittgenstein auch eine
Adäquationstheorie negativer Urteile über negative Sachverhalte zu verteidigen.
Vgl. auch ebd., S. 304, 253/1 ff., Nr. 1-7, wo auch so etwas wie ein
Sachverhaltsbegriff angedeutet ist.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 403

aufbauende sogenannte Theologie der Religionen etwas Wahres:398 Ein


Bekenntnis des Glaubens als solches, wenn es nur den eigenen Glaubensakt
bekennt und nichts weiter sagt als „Ich glaube an Gott den Allmächtigen“,
während der Atheist sagt: „Ich hingegen glaube an keinen Gott“, kann
nicht einem anderen widersprechen. Denn es kann ja wirklich ein Mensch
ein A, ein anderer, ein ‚Nicht-A‘ glauben.
Wittgenstein und Hick hingegen beziehen dies auch auf die
Gegenstände und Urteile des Gläubigen. Auch diese könnten einander
nicht widersprechen, sondern ihr Pluralismus wäre der Verschiedenheit
vieler Spiele gleich, die zwar auch verschiedenen Regeln gehorchen, aber
einander nicht widersprechen. Der Glaubensinhalt des Theisten und
Atheisten wäre dann nicht wahr oder falsch, sondern nur ein „Leben in
einer anderen Welt“, das „Teilen einer anderen Lebensform“, oder das
Spielen eines anderen Spiels, wie Wittgenstein in seinen letzten Gedanken
über Religion kurz vor seinem Tod behauptet.399 Für Wittgenstein leben
der religiöse Mensch und der nicht-religiöse gleichsam in zwei Spielwelten
und bewegen sich auf verschiedenen Ebenen, ohne einander zu
widersprechen, ein Gedanke, der aus Wittgensteins allzu konfuser und
vager Sprachspielidee stammt und eng mit seiner Idee, daß alles Sehen
letztlich ein „Sehen als“ von einer bestimmten Perspektive aus darstellt,

398
Vgl. nur eines von vielen Werken Hicks, die die Quelle der total relativistischen
wittgensteinianischen „Theologie der Religionen“ bilden: John Hick, A
Concluding Comment On Religious Pluralism, in: Faith Phil (October 1988), 5,
449-455.
399
Vgl. Wilhelm Lütterfelds, „Weltbild-Glaube. Ein vorrationales Fundament unserer
Lebensform?“, in: J.P. Galvez/R.D. Baldrich (Hg), Wittgenstein und der Wiener
Kreis (Cuenca, 1998), 115-153; S. 144. Vgl. Karl Brose, „Religion und Ethik
beim späten Wittgenstein: Zu Themen in Über Gewißheit“, in: Wittgenstein Stud
(1994), wo Wittgensteins Religionsphilosophie bis zu seinen letzten Aufzeich-
nungen in Über Gewißheit bis unmittelbar vor seinem Tod am 29. April 1951, von
den frühen Tagebuch-Notizen der Jahre 1914-1916 und dem ETHIK-Vortrag von
1929 über die Vorlesungen über den religiösen Glauben von 1938 bis zu den
Philosophischen Untersuchungen (1947-1949) sowie den Aufzeichnungen in Über
Gewißheit verfolgt werden. Zur scharfen Kritik an der These, daß Religion nur
eine kulturell relativierbare „Lebensform“ oder ein aus dieser stammendes
Sprachspiel sei, vgl. Patrick Sherry, “Is Religion A ‘Form Of Life’?”, in:
American Philosophical Quarterly (April 1972), 9, 159-167.

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404 KAPITEL 9

ausdrückt.400 Aber sobald wir an das im Glauben gefällte Urteil denken, ist
jeder derartige an Wittgenstein anschließende Relativismus absurd, ja
uroborisch und hebt sich selber auf. Denn der Begriff einer „relativen
Wahrheit“ ist überhaupt ein Unbegriff und zielt auf etwas Absurdes ab;
zugleich setzt er notwendig eine objektive und absolute Wahrheit im Sinne
der Adäquationstheorie für die eigenen Urteile voraus und hebt sich
deshalb selber auf.401 Den Wahrheitsanspruch des Urteils und sein
Abzielen auf ihm selber transzendente Sachverhalte zu leugnen ist
geradeso absurd im Bereich der Religion wie irgendwo sonst. Das Urteil:
‚Es gibt einen lebendigen Gott, der von der Welt verschieden ist, ihr ewig
vorhergeht und sie geschaffen hat‘ kann nur entweder wahr oder falsch
sein; wenn es wahr ist, ist es in sich und deshalb auch für jedermann wahr,
ganz gleichgültig, ob er dies glaubt oder nicht; ist es falsch, ist es in sich
falsch und für niemanden wahr. Es kann nur fälschlicherweise für wahr
gehalten werden, nicht aber nur für jemanden wahr sein. Denn wahr ist
meine Aussage über das Dasein Gottes nur dann, wenn Gott wirklich ist,
und dann ist sie objektiv und auch dann wahr, wenn die ganze Welt
leugnet, daß Gott sei.
In diesem Zusammenhang ist die von Wittgenstein abweichende
Deutung interessant, die G. Elizabeth M. Anscombe dieser Lehre eines
religiösen Pluralismus während ihrer Liechtenstein-Vorlesungen gab. Sie
betonte dort, daß die Verehrung verschiedener Götter im Heidentum
durchaus akzeptabel war und daß erst im Judentum und Christentum jener
absolute Wahrheitsanspruch der Religion auftritt, der keine anderen Götter
außer dem einen, wahren Gott duldet. Dabei müssen wir aber, wie ich in
meinen Kommentaren zu G. Elizabeth M. Anscombes Ausführungen
betonte, zwischen dem jedem Wahrheitsanspruch eigenen Ausschließen
des Gegenteils und dem neuen Anspruch des Eingottglaubens unterschei-
den. Denn auch das Urteil „Zeus und Aphrodite sind Götter“ erhebt einen
Wahrheitsanspruch und schließt die gleichzeitige Wahrheit der Leugnung
dieser Aussage aus, auch wenn er die Existenz vieler anderer Götter
400
Vgl. etwa H. R. T. Roberts, “The Concept Of ‘Seeing-As’ In Wittgenstein’s
Philosophy of Religion”, Indian Phil Quart (Oktober 1979), 7, 71-82.
401
Zur Idee „uroborischer“, d.h. „sich selbst verschlingender“ oder „sich selbst
auffressender“, Philosophien vgl. John Visvader, “The Use of Paradox in Uroboric
Philosophies”, in: Phil East West (Oktober 1978), 28, 455-467.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 405

keineswegs leugnet; der Eingottglaube erhebt – zu dem Wahrheitsanspruch


des Urteils „Es gibt einen Gott“ den zusätzlichen Anspruch, daß es nur
einen einzigen Gott gibt.402
Wittgensteins Ansichten über Religion liegt nicht nur ein Relativismus,
sondern auch eine Konsenstheorie der Wahrheit nicht fern. Nach der
Konsenstheorie der Wahrheit wäre z.B. die Wahrheit der Aussage „Gott
existiert“ nichts anderes als daß viele oder alle oder wenigstens zwei
Menschen darüber übereinstimmten, daß Gott existiert oder daß sie alle
dasselbe religiöse Sprachspiel, das von ihrem weltanschaulichen
Hintergrund her bestimmt ist, spielen. Denn jedes Spiel baut auf einem
Konsens hinsichtlich der positiv bestimmten Spielregeln auf. Dasselbe
gälte für Recht oder Unrecht, ja für alle Dinge.
Aber sehen wir nicht sofort ein, daß die These, auch ethische und
religiöse Urteile seien nichts als derartige Sprachspiele ohne Wahrheitsan-
sprüche falsch ist? Dies tritt am klarsten hervor, wenn wir an Ideologien
denken, die ja unter Wittgensteins allgemeinen Religions- und Welt-
anschauungsbegriff fallen und von denen er von seiner Religions- und
Weltanschauungslehre her kein Recht hat zu behaupten, daß sie objektiv
wahr oder falsch sein könnten. Wurde etwa dadurch, daß viele Nazis
glaubten, die Juden seien Untermenschen, ihr Urteil wahr?
Und widerspricht sich ferner nicht die Konsenstheorie der Wahrheit
selbst, da sie ja behauptet, daß es wirklich so ist, daß Wahrheit nur im
Konsens besteht? Also erhebt sie für sich unweigerlich den Anspruch auf
objektive Wahrheit im Sinne ihrer Übereinstimmung mit dem Wesen von
Wahrheit.

4. Kritik einer schlechten Phänomenologie religiöser Akte als Quelle der


Wittgensteinschen These der Unsinnigkeit der Religion

Wittgensteins Phänomenologie religiöser Akte als „absurde Wider-


sprüche zur Eigenart solcher Akte wie Staunen“ haben wir als weitere
402
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, “Paganism, Superstition and Philosophy”, in:
Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik , S. 93-105. Vgl.
dazu auch Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy”,
in: ebd., S. 107-117.

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406 KAPITEL 9

Quelle der Thesen Wittgensteins über die Unsinnigkeit der Religion


erkannt. So staune man in der Religion über etwas (die Existenz der Welt),
wovon wir uns nicht einmal vorstellen könnten, es sei nicht der Fall.
Deshalb verdiene die nüchtern betrachtete Existenz der Welt keinerlei
sinnvolles Staunen, ja könne ein solches gar nicht erwecken, wenn man nur
denke. An anderer Stelle behauptet Wittgenstein nicht nur eine notwendige
Existenz der Welt, die ja keine Tautologie sein müßte,403 sondern nennt die
Existenz der Welt „eine absolute Tautologie“, welche, weil sie eine
Tautologie sei, kein sinnvolles Staunen begründen könne.404 Aus einer
ähnlichen religionsphänomenologischen Erwägung heraus begründet
Wittgenstein seine These, daß Religion wesenhaft unsinnig sei, damit, daß
es ein Mißbrauch der Sprache sei zu behaupten, man fühle sich religiös
„sicher, egal was passiert“, weil sicher zu sein gerade heiße, „es sei
physisch ausgeschlossen, daß mir bestimmte Dinge passieren, und deshalb
ist es Unsinn zu behaupten, ich sei sicher, egal, was passiert.“405 Also
handle es sich bei religiösen Gefühlen um absurde und sinnlose Gefühle.406
Auch G. Elizabeth M. Anscombe weist auf diese Stelle hin.407
In Wirklichkeit ist Wittgensteins Argument für die Unsinnigkeit der
Religion aus einer Aktphänomenologie unhaltbar und überdies unglaublich
oberflächlich. Das Gefühl metaphysischen Staunens über das Dasein der
Welt ist nämlich keineswegs sinnlos. Und zwar ist dies erstens deshalb der
Fall, weil wir sehr wohl über etwas staunen können, dessen Nichtsein
unmöglich ist. In diesem Sinne können wir über die unerhörte Komplexität
der Zahlen und ihrer Gesetze oder der logischen und mathematischen
Prinzipien der Endspieltheorie des Schachspiels staunen, obwohl diese

403
Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische
Neubegründung des ontologischen Arguments, Kap. 2
404
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 15.
405
Ludwig Wittgenstein, ebd., S. 16.
406
Ebd., S. 15-16.
407
“Wittgenstein’s own example was about feeling oneself to be absolutely safe.” In
der Anmerkung fügt sie hinzu: “In his’Lecture on Ethics’, published in The
Philosophical Review, 1965.” G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition
and Philosophy, S. 93-105, S. 104. Auf deutsch erschien der von Anscombe
zitierte Wittgenstein-Text in Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere
kleine Schriften, hrsg.v. Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 15-16.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 407

absolut notwendig sind. Wittgensteins Beispiele, etwa das, wir könnten


über die Größe eines Hundes nur staunen, weil es kleinere Hunde gibt,
bezieht sich nur auf einen winzigen Ausschnitt im Reich des Staunens und
auf einen ganz bestimmten engen Sinn von Staunen, wird aber von ihm
fälschlich als Wesensaussage über alles Staunen genommen. Wir können
aber in jenem Sinn, der nach Platon der Anfang der Philosophie ist, sehr
wohl über notwendig Seiendes staunen. Erst recht gilt dies von Gott, dem
unendlichen Quell alles Seins und Verstehens und dem Inbegriff aller
Heiligkeit, sowie dem einzigen Wesen, das realiter notwendig existiert,
daß wir über Gott anbetend staunen können, ohne daß wir deshalb
anzunehmen brauchten, es könne ihn auch nicht geben. Ganz im Gegenteil
gilt hier gerade unser Staunen der Tatsache, die der frühere Findlay als
Beweis für die Nichtexistenz Gottes annahm, daß zwar für alle (sonstigen)
realen Seienden gilt, daß sie auch nicht existieren können, nicht aber für
Gott.
Außerdem aber können wir über die Existenz der Welt (Wittgensteins
Beispiel) auch aus dem zweiten Grunde staunen, daß für sie gilt, was
Wittgenstein für den einzigen Gegenstand des Staunens hält: nämlich daß
das Dasein der Welt, zumindest der real existierenden Welt, aus
verschiedenen strikten Beweisen heraus als kontingent erkannt wird und
also gerade nicht notwendig ist, weshalb wir uns sehr wohl das Nichtsein
der Welt vorstellen und daher darüber staunen können, „daß überhaupt
etwas ist und nicht vielmehr nichts.“408 Denn die Welt, über deren Existenz
wir hier staunen, ist nicht die Totalität alles dessen, was der Fall oder nicht
der Fall ist, sondern die reale, lebendige, wirkliche Welt. Tatsachen, wie
daß wir nicht ewig gelebt haben, einmal nicht existierten und deshalb im
Licht der Wahrheit ab esse ad posse valet illatio auch nicht hätten sein
können und daß andere existierende Individuen derselben menschlichen
Natur möglich sind, beweisen hinreichend die Nichtnotwendigkeit unserer
Existenz; und was für den Menschen, die höchste Kreatur auf Erden, gilt,
gilt ebenso für alle anderen realen Seienden in der Welt. Deshalb existiert
diese kontingent, ist nicht notwendig, weshalb wir uns mit Leibniz sehr

408
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11.

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408 KAPITEL 9

wohl darüber wundern dürfen, daß die Welt ist und nicht vielmehr nicht
ist.409
Auch jenes Gefühl religiöser Geborgenheit, auf das Wittgenstein sich
als weiteres Beispiel bezieht, ist keineswegs das absurde innerweltliche
Gefühl, als das Wittgenstein es beschreibt. Ein solches Gefühl empirischer
Sicherheit vor Unfällen „egal was passiert“ wäre wirklich ein Unsinn, wie
Wittgenstein erkennt. Das Gefühl religiöser Geborgenheit hingegen bezieht
sich auf die absolute göttliche Liebe und unerschütterliche Hoffnung auf
Gott, die auch dann nicht zuschanden wird, wenn wir in unserem irdischen
Leben Tod, Unglücksfälle aller Art oder das Martyrium erleiden müssen.
Diese Geborgenheit bezieht sich auf die ewige göttliche Liebe und unser
ewiges Heil, worin nichts Absurdes liegt, und keineswegs auf eine absurde
„irdische Sicherheit vor Unglücksfällen, egal welche Unglücksfälle wir
erleiden“. Daher bringt Wittgenstein in den hier erörterten Ausführungen
absolut nichts über die Natur der Gefühle des Staunens und der Sicherheit
vor, was beweisen könnte, daß religiöse Gefühle und Wahrheitsansprüche
‚unsinnig‘ seien.

5. Wahrheit und Wahrheitserkenntnis im religiösen Glauben und Kritik


der Elemente existentialistischer, konsensualistischer und
sprachpragmatistischer Wahrheitstheorien bei Wittgenstein

Die Wahrheit (wie auch die Falschheit) einer Glaubensaussage kann


auch nicht in einer existentialistischen Erklärung gesucht werden, der
gemäß das Urteil ein bloßer Ausdruck von Akten oder Gefühlen des
Subjekts wäre, was Wittgenstein an manchen Stellen behauptet, wodurch
er jede adaequatio-Theorie der Wahrheit aufhebt, auch wenn manche
Interpreten dies bestreiten.410 Daß das Urteil einen Sachverhalt behauptet,

409
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11; vgl. auch ders., Gott als
Gottesbeweis, Kap. 10-11. Selbst wenn „Welt“ den notwendigen Sachverhalt
meint, daß irgend etwas der Fall oder nicht der Fall ist (Tractatus, 1; 1.12),
können wir staunen, daß überhaupt notwendig etwas der Fall und wahr ist und
doch nicht nichts der Fall oder nichts mehr sein kann.
410
Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 19. Vgl.
zur These, daß Wittgenstein nicht jede Korrespondenztheorie der Wahrheit im

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 409

gilt auch für das Urteil des gläubig das Credo betenden Menschen, der
bekennt: „Gott existiert“, „Gott ist der Schöpfer aller sichtbaren und
unsichtbaren Dinge“, oder „Er ist auferstanden von den Toten am Dritten
Tage“.411 Auch in diesen auf der Grundlage des christlichen Glaubens
gefällten Urteilen liegt die These, ja die in einem unbedingt als wahr
behaupteten Urteil ausdrückbare Aussage, „Christus ist auferstanden, er ist
wahrhaft auferstanden“. Einen Wahrheitsanspruch finden wir ebenfalls in
den Urteilen der Gläubigen jeder anderen Religion, ganz gleich ob dieser
Wahrheitsanspruch erfüllt ist oder nicht.
Wittgensteins Idee, daß es sich hier gar nicht um Sätze, die wahr oder
falsch sein könnten, handle, sondern um Spiele bzw. Sprachspiele, die
bestimmten Regeln unterstünden, ohne Wahrheitsansprüche zu erheben,
kann verschieden gedeutet werden: man könnte sagen, die hier von
Wittgenstein implizierte Theorie der Wahrheit sei letzten Endes sprach-
behavioristisch und beinhalte eine Sprachtheorie, die – wenn sie auf
religiöse Aussagen angewendet werde – ein Mißverständnis derselben als
„bloßes Sprachverhalten“ darstelle, analog zu Gilbert Ryles Theorie des
Geistes.412 Man kann Wittgensteins Theorie aber auch im Sinne eines

Reich der Religion aufhebt, etwa Hilary Putnam, Wittgenstein on Religious Belief,
in: Rouner, Leroy S (Hrsg.), On Community, (Notre Dame, Ind.: Univ Notre
Dame Pr, 1992). Zu einer scharfen Kritik dieser Wittgenstein vom Autor
zugeschriebenen Auffassung vgl. Michael Martin, Wittgenstein’s Lectures on
Religious Belief, in: Heythrop J (July 91), 369-382.
411
Es wäre ein interessanter Gegenstand einer Untersuchung über das Verhältnis
zwischen Erkenntnis, Logik und Religion festzustellen, ob es neben dem
apodiktischen Urteil oder innerhalb desselben noch verschiedene logische
Gewichte und Phänomene gibt, die es uns erlauben, die evidenter rationaler
Einsicht entsprechende Apodiktizität von Urteilen auch in rein logischer Hinsicht
von einer Art ‚rein moralischer Apodiktizität‘ und diese noch einmal von einer
‚Apodiktizität‘ jener Urteile, die auf vernünftig begründete Glaubensansprüche
oder spezifisch religiös fundierte Überzeugungen zurückgehen, zu unterscheiden.
So wäre der Begriff der apodiktischen ‚Modalität‘ des Urteils noch ein sehr
abzustufender Begriff, der von der bisherigen Logik nur sehr grob gefaßt wird,
abgesehen davon daß die Modalität von Sachverhalten und von Erkenntnis-
gewißheiten häufig mit der rein logischen Modalität verwechselt werden.
412
Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind (London, 1949). Vgl. auch meine Kritik an
dieser Auffassung in J. Seifert, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige

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410 KAPITEL 9

Relativismus und eines gewissen an William James gemahnenden


pragmatistischen Wahrheitsbegriffs deuten.413 Dabei könnte man in
Wittgensteins Idee der Religion noch einen individuellen subjektiven und
einen sozio-kulturellen Relativismus unterscheiden, wobei der erstere in
seiner Wittgensteinschen Version existentialistische Elemente enthält.414
Solange man nun innerhalb der relativistischen Position verbleibt, kann
man höchstens einen Gott anerkennen, der Objekt unserer Setzung ist,
Objekt unseres Bewußtseins, abhängig von den Menschen, die ihn
annehmen. Vielleicht nimmt ein Relativist nicht an, daß alle Wahrheit
unmöglich ist, sondern daß sie sich bloß auf Objekte unseres Bewußtseins
bezieht. Dann handelt es sich nicht um einen Wahrheitsrelativismus,
sondern um einen ontologischen Relativismus bzw. Seinsrelativismus oder
Daseinsrelativismus. Gott wird dann wie in Kants Kritik der reinen
Vernunft als bloße, von unserer Vernunft erzeugte „transzendentale Idee“
angesehen. Daß ein solcher Gott, der nur als Objekt menschlichen
Bewußtseins, zur Befriedigung seiner Interessen und Bedürfnisse oder als
Erfüllung einer Funktion der Kontingenzbewältigung – oder auch als
Postulat der sittlichen Vernunft – existiert, kein Gott ist, geht aus der
folgenden Überlegung hervor. Wenn Gott als das erkannt wird, „worüber
hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, dann kann ein solcher Gott
nur entweder gar nicht sein oder er muß unabhängig vom menschlichen
Denken und Bewußtsein existieren. Denn der Mensch, der real lebt und
denkt und bewußt erkennt, und der diese Gottesidee überhaupt erst
hervorbrächte, wäre, wie Anselm im Proslogion sagt, größer als eine
solche von ihm abhängige Idee. Ein Gott, der nicht uns geschaffen hätte,
sondern den wir geschaffen hätten, der von unseren subjektiven Akten
konstituiert würde, wäre kein Gott; er wäre nicht das Wesen, über dessen

philosophische Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,


1989), S. 15-24.
413
Auch John W. Cook argumentiert so in seinem Aufsatz Wittgenstein and Religious
Belief, in: Philosophy (1988), 63, 427-452. Zu den Parallelen zwischen Ludwig
Wittgenstein und William James vgl. Graham Bird, William James (London:
Routledge & K Paul, 1987).
414
Vgl. etwa Jens Glebe- Moeller, Two Views of Religion in Wittgenstein, in Richard
H. Bell, (ed.), The Grammar of the Heart (San Francisco: Harper & Row, 1998),
S. 98-111.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 411

Vollkommenheit hinaus nichts Größeres gedacht werden könnte. Im


Gegenteil, er wäre sogar dem überaus endlichen Menschen, der lebt,
erkennt, will und liebt – und Gott erfunden hätte, unterlegen.415
Dasselbe gilt von jedem religionsphilosophischen Relativismus: Er
zersetzt die Gottesidee und richtet sich somit gegen den Kern der Religion.
Wenn man den Glauben an Gott ohne seine objektive Wahrheit festhalten
möchte, wenn man das subjektive Bekenntnis des Glaubens bewahren will,
aber die Objektivität der Wahrheit leugnet, bleibt vom Glauben und der
Religion nichts übrig. Denken wir an die funktionalistische Wahrheits- und
Religionstheorie. Dieser Theorie zufolge dürften wir den Aussagen des
Credo oder der Metaphysik nicht objektive Wahrheit im Sinne ihrer
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zusprechen. Vielmehr bedeute ihre
Wahrheit nur, daß dieser Glaube eine politische Funktion der Befreiung
oder, nach anderen Autoren wie Lübbe, existentielle Funktionen der
Kontingenzbewältigung erfülle416 oder von einer Bedrohung durch die
totale Sinnlosigkeit des Lebens retten könne. Was immer aber die Funktion
religiöser Aussagen über Gott sein mag, ihre Funktion ist evidenterweise
nicht mit ihrer Wahrheit zu verwechseln. Auch Illusionen können uns
trösten und zur Bewältigung von Tragödien führen. Sind sie deshalb wahr?
Gewiß nicht. Sind sie wertvoll? Nicht dann, wenn sie falsch sind. Denn es
entspricht der Würde menschlicher Existenz, daß sie Trost nur in der
Wahrheit, nicht in irrigen, aber funktionierenden Glaubensinhalten suchen
soll. Außerdem setzt jede funktionalistische Wahrheitstheorie notwendig
die Adäquationslehre voraus; zumindest setzt sie voraus, daß Wahrheit
wirklich nur in ihrer Funktionalität liegt – und diese angebliche Wahrheit
ließe sich nicht durch die Funktionstheorie selber erklären, wie wir
gesehen haben.

415
Vgl. dazu die ausgezeichneten Ausführungen von R. Spaemann, „Funktionale
Religionsbegründung und Religion“, in: Die religiöse Dimension der Gesellschaft,
hrsg. P. Koslowski (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1985), S. 9-25.
416
Ich denke hier an H. Lübbes Religion nach der Aufklärung und seine Diskussion
mit R. Spaemann über die funktionalistische Religionsbegründung. Bei Lübbe
selbst bleibt es übrigens unklar, ob er wirklich die Religion selber und ihre
„Wahrheit“ auf ihre Funktionen reduzieren will.

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412 KAPITEL 9

6. Kritik von Wittgensteins Meinung, daß alles Reden über Gott rein
„anthropomorph“ und deshalb der Gegenstand der Religion
„wahrheitsunfähig“ und total unerkennbar sei: Zur Überwindung von
Wittgensteins ‚ontologischem‘ Relativismus und Agnostizismus

Wir haben einen weiteren besonderen Grund kurz gestreift, aus dem
Wittgenstein objektive Wahrheit über ökonomische, naturwissenschaft-
liche oder medizinische Sachverhalte zugibt, aber über Gott leugnet: wie
wir gesehen haben, meint er, die Religion verwende Gleichnisse und
Bilder, hinter denen „nichts liege“.417 Daher sei Religion sinnloser
Anthropomorphismus. Um daher Wahrheitsansprüche und zumindest um
die mögliche Erfüllung solcher religiöser Urteile zu rechtfertigen, setzt
man gewisse metaphysische und epistemologische Sachverhalte voraus,
auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte.
Wittgenstein will mit der eben zitierten Aussage nicht nur manche,
sondern alle religiösen Aussagen als unsinnig anthropomorph verstanden
wissen. Daher haben nach ihm religiöse Ideen, wie die der Personalität
Gottes oder Gottes als Adressat des Gebetes, nur eine mythologische
Bedeutung in dem Sinne, daß „Sprachspiele wie Gebete gespielt
werden“.418 Sie können uns nichts über die jenseits der Erfahrung liegende
Wirklichkeit lehren und nichts Sinnvolles über sie aussagen. Wittgenstein
leugnet hier das, was wir als reine Vollkommenheiten bezeichnen können.
Er wendet hier zunächst Erkenntnisse des Vorsokratikers Xenophanes an:
Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen
könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden
die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen
und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.419

Dabei deutet Xenophanes selbst diese Aussage nicht im Sinn des


Agnostizismus oder Atheismus, sondern will im Gegenteil von solchen

417
Diese These findet sich in besonders unklarer, aber deutlich ausgesprochener Form
in Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversa-
tions on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, S. 53-72, bes. S. 70-72.
418
Vgl. D. Z. Phillips, The Concept of Prayer (London, Routledge & K Paul, 1965).
419
Fr. 15. Vgl. H. Diels-W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. (Berlin,
1951-52), 3 Bde Bd. I.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 413

anthropomorphen Aussagen wesenhaft begrenzter Vollkommenheiten die


Aussagen über reine Vollkommenheiten abgrenzen und schreibt Gott daher
selber Einzigkeit, Geist, Allwissen, alles erhaltende Macht und Herrschaft
zu. Wittgenstein hingegen übersieht gerade diese gewaltige Einsicht, die
wir Xenophanes, Anselm von Canterbury, Duns Scotus und anderen
großen Philosophen verdanken. Worin besteht diese Einsicht?
Darin, daß wir (1) im Falle aller transzendentalen Seinsbestimmungen
(wie Sein, Wesen, Etwassein, Wert/gut, etc.), aber auch (2) hinsichtlich
gewisser Vollkommenheiten, die nicht alle, sondern nur manche Seiende
in der Welt besitzen (wie Substantialität, Leben, Erkenntnis, Freiheit,
Gerechtigkeit, Weisheit), wie auch (3) hinsichtlich exklusiv göttlicher
Attribute wie notwendige reale Existenz, anfanglose und immer
gegenwärtige Ewigkeit, Allwissen usf. mehrere entscheidend wichtige
Einsichten gewinnen können: (1) Der Besitz all dieser reinen Voll-
kommenheiten ist schlechthin besser als ihr Nichtbesitz oder als was
immer mit ihnen unverträglich ist. (2) Diese reinen Vollkommenheiten
sind alle mit einander verträglich und schließen einander niemals aus, was
schon aus logischen Gründen aus dem ersten Wesensmerkmal reiner
Vollkommenheiten hervorgeht: wenn A und B reine Vollkommenheiten
wären, aber einander ausschlössen, könnte der Besitz von A nicht absolut
besser sein ihr Nichtbesitz, wenn B auch eine reine Vollkommenheit ist,
die zu besitzen absolut besser ist als ihr Nichtbesitz, dabei aber A
ausschlösse. (3) Die reinen Vollkommenheiten erlauben Unendlichkeit, ja
sie sind immer nur uneigentlich sie selber, wenn sie begrenzt sind.
Begrenztes Sein ist nicht das Sein selbst, endliche Liebe nicht die Liebe
selbst, endliche Gerechtigkeit nicht die Gerechtigkeit selber, begrenzte
Erkenntnis ist nicht voll Erkenntnis, sondern teils Ignoranz, und endliche
Weisheit ist nicht volle Weisheit, nicht die Weisheit selbst.420

420
Vgl. zu diesem auf Gedanken von Xenophanes bis Anselms Monologion und Duns
Scotus zurückgehenden Begriff der „reinen Vollkommenheit“ und der Analyse
des hier Gemeinten Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Wittgenstein ist hier
auch der Theologie von Josef Fuchs und anderen verwandt, die Ideen Gottes wie
Gesetzgeber, Schöpfer und Richter für Anthropomorphismen halten. Vgl. Josef
Seifert, „Gott und die Sittlichkeit innerweltlichen Handelns. Kritische philoso-
phische Reflexionen über den Einfluß anthropomorphen und agnostischer

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414 KAPITEL 9

Der katholische Moraltheologe Josef Fuchs, der, wie Wittgenstein,


solche reinen Vollkommenheiten leugnet und alle inhaltlichen religiösen
Aussagen für anthropomorph und daher in letzter Konsequenz für unsinnig
hält, schließt daraus, daß man Gott nicht als Herrn über Leben und Tod
oder als Gebieter und als Schöpfer, der die Seele unmittelbar schaffe oder
auch als Richter, deuten dürfe, ohne in Anthropomorphismus zu fallen und
menschlich-allzumenschliche Vorstellungen auf Gott zu übertragen. Diese
Auffassung nähert sich jener Konzeption der Religion, die wir bei
Wittgenstein finden und die Religion und Aussagen über Gott als Mythen
deutet, durch die der Mensch seine Phantasievorstellungen auf einen
unbekannten Gott überträgt, von dem er nichts weiß, weshalb religiöse
Bilder unsinnige Bilder wären, „hinter denen nichts liegt“.
Ein derartiger Subjektivismus, wie er etwa auch Bultmanns Entmytholo-
gisierungsprogramm zugrundeliegt, kann nur überwunden werden, wenn
dem Menschen eine ungeheuerliche Erkenntnis möglich ist, die (nach
Xenophanes) Anselm von Canterbury zu philosophischer prise de
conscience brachte. In der Tat können wir diesen tiefsten Grund, aus dem
Wittgenstein Religion Unsinn nennt, nur überwinden, wenn wir einsehen
können, daß das Sein und das Leben und Geist, daß die Erkenntnis und die
Freiheit nicht ihrer Natur nach begrenzt sind wie Ochsen und Pferde und
Menschen. Nur dann dürfen wir einen objektiven Wahrheitsanspruch für
die Aussagen erheben: Gott IST, Gott ist das Leben selbst, das Sein selbst,
höchste Einheit und Macht und Güte, allwissend und allgerecht, und im
höchsten und realsten Sinne Person.
In jeder dieser Aussagen setzen wir die Einsicht voraus, daß diese
Attribute schlechthin gut sind, daß es schlechthin besser ist, sie zu besitzen
als sie aus irgendeinem Grunde nicht zu besitzen. Nur weil diese
sogenannten reinen Vollkommenheiten ein Tor zum Unendlichen sind und
in ihrer schrankenlosen und Unendlichkeit erlaubenden Eigenart erkannt
werden, dürfen wir diese reinen Vollkommenheiten Gott zuschreiben und
können also überhaupt nicht-mythologische, sondern objektiv wahre
Aussagen über Gott machen.421 Diese Möglichkeit wird einerseits von

Gottesvorstellungen auf Ethik und Moraltheologie“, in: Forum Katholische


Theologie I, 1 (1985).
421
Siehe dazu J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 5.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 415

Wittgenstein bestritten, wird aber andererseits von Wittgenstein nicht


radikal ausgeschlossen. Ja dasjenige, wovon man nach dem Ende des
Tractatus nur schweigen soll, weil man von ihm nicht reden könne, muß
nicht als sinnloses Nichts gedeutet werden, sondern könnte bei
Wittgenstein, wie das Antlitz des Anderen bei Levinas, der Hinweis auf
etwas Wichtiges und positiv Transzendentes sein, von dem man nur nicht
reden kann, weil es unsagbar ist, wie Wuchterl Wittgenstein interpretiert.
Allerdings bleibt Wittgensteins Deutung der „reinen Vollkommenheiten“
auch in dieser Deutung extrem vage.422
Die Erkenntnis reiner Vollkommenheiten ist nicht nur für die philoso-
phische Gotteslehre grundlegend, sondern genauso für die Religion. Wenn
diese nämlich als Produkt subjektiver Vernunftschöpfungen oder kulturel-
ler Faktoren behauptet wird, wie bei Wittgenstein, ist sie eigentlich Atheis-
mus und nicht mehr Religion, so schöne religiöse Sprache sie auch noch
gebrauchen mag. Und wenn der Gottesbegriff und die Religion rein als
Funktionen von kulturabhängigen oder individuell bevorzugten Sprach-
spielen oder auch funktionalistisch im Hinblick auf irgendwelche
politische, psychologische, soziale, existentielle oder ähnliche „Zwecke“
gedeutet werden, so bleibt ebenso trotz allen höflichen Lobes der Religion
bei Wittgenstein von dieser selbst nichts übrig. Dasselbe gilt für die
Jungsche Deutung Gottes als immanentes Objekt archetypischer seelischer
Strukturen. Durch derartige subjektivistische Interpretationen der Gottes-
idee werden die objektiven Inhalte des Glaubens nur noch Mythen und
vom Wesen des Christentums bleibt nicht mehr erhalten als bei Feuerbach
und Marx-Engels. Nur auf der Grundlage objektiver Wahrheit haben Gott
und Religion ihre Bedeutung und deshalb fällt mit der Möglichkeit,

422
Vgl. dazu eine sehr freie, aber interessante Wittgenstein-Interpretation in ihren
Beziehungen zu Levinas: Kurt Wuchterl, Religion bei Wittgenstein und Lévinas,
in: Rudolf Haller und Johannes Brandl (Hrsg.), Wittgenstein. Eine Neubewertung.
Towards a Re-evaluation (Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1990) S. 313-
322. Nach dieser Interpretation wäre das Unsagbare weder das Nichts noch
Unsinn im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Transzendentes, das nicht mehr in
menschliche Sprache gefaßt werden kann und das der frühe Wittgenstein als
Mystik bezeichnete. Was dieses ‚Unsagbare‘ dann aber ist und ob es in
irgendeiner Weise erkennbar sei oder Gegenstand wahrer Aussagen sein könne,
darüber schweigen Wittgensteins eigene Texte und auch Wuchterl.

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416 KAPITEL 9

objektiv wahre oder sogar sinnvolle Aussagen über religiöse Gegenstände


zu machen, auch aller Sinn der Religion und werden deren Aussage Sätze
ohne Wahrheitsanspruch und folglich sinnlose Sätze.
Dies, und damit der Irrtum jedes metaphysisch-religiösen Seinsrelativis-
mus, besonders wenn dieser die in ihm liegende atheistische Zerstörung
der Religion nicht begreift, wird allerdings erst dann deutlich sichtbar,
wenn man den innersten Sinn der Religion nicht in der existentiellen
Tröstung des menschlichen Subjekts, sondern in Anbetung, Liebe und
Glaube sieht. Denn in der Liebe oder Anbetung wendet sich der Mensch
Gott nicht um des Menschen willen, sondern um seiner selbst willen zu
und antwortet auf ihn als den Urheiligen und Guten, er liebt ihn um seiner
selbst willen. Gerade in dieser ethischen Transzendenz liegt das innerste
sich selbst transzendierende Wesen der Person und der Religion. Und so
wie der Jüngling in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann verzweifelt, als
er seine geliebte Olympia als bloßen Trug, die in Wirklichkeit eine bloße
Puppe ist, erkennt, so bräche auch der Sinn der Gottesliebe und Anbetung,
und damit der Religion, vollends zusammen ohne das Fundament
objektiver Wahrheit. Ja ohne die objektive Wahrheit der Urteile des
Philosophen oder des Gläubigen über Gott sollte man lieber Atheist als ein
relativistischer Christ oder Anhänger einer anderen Religion sein. Positiv
ausgedrückt enthüllt sich im Lichte einer Analyse der Anbetung und Liebe
als religiöser Grundakte die objektive Wahrheit und ihre Erkenntnis als
Fundament jedes sinnvollen religiösen Aktes.
Wie schon erwähnt liegt in jedem Glauben religiöser Art, etwa daran,
daß Gott existiert oder daß Christus zugleich Gott und Mensch ist, der
Charakter des Urteils und damit des Wahrheitsanspruchs, d.h. der Gläubige
ist überzeugt – wenn er überhaupt glaubt –, daß sein Urteil wahr ist, weil es
mit den wirklichen Sachverhalten übereinstimmt.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 417

7. Kritik an Wittgensteins theologischem Agnostizismus und seiner


Leugnung jedes vernünftigen Glaubensgrundes und
Erkenntnischarakters des religiösen Aktes und an den sich daraus
ergebenden Folgen für seine Philosophie der Wahrheit und seinem
Ausschließen der Möglichkeit einer neben der Erkenntniswahrheit im
strengen Sinn bestehenden Glaubenswahrheit

Es gibt noch einen rein erkenntnistheoretischen Grund für Wittgensteins


Lehre von der Unsinnigkeit der Religion. Wittgenstein leugnet jeden
Erkenntniswert und jedes Erkenntnisfundament der Religion. Es gibt für
ihn keinerlei Kriterien der Wahrheit des Glaubens und der Glaubwürdig-
keit seiner Zeugen, und überhaupt kein positives Verhältnis zwischen
Vernunft und Glauben. Es fragt sich natürlich, ob Wittgenstein darin nicht
recht hat, oder was ein Glaubensurteil und sein Wahrheitsanspruch mit
einem Erkennen und Kriterien zu tun haben könnte, und hier berühren wir
eine andere Wurzel der Ideen Wittgensteins über Religion: die Idee ihrer
radikalen Unerkennbarkeit und Unverifizierbarkeit, die sie zu sinnlosen
Sätzen mache, wie Wittgenstein im Unterschied zu Kierkegaard, von dem
er allerdings viele seiner Ideen über Religion übernimmt,423 meint. Bei
Wittgenstein erscheint der Glaube zunächst als Gegensatz zum Erkennen,
und dafür gibt es auch gewissen Anlaß in der Wirklichkeit. Wir glauben
das, was wir nicht erkennen. Wenn wir’s erkennten, bräuchten wir es nicht
mehr zu glauben. Auch erscheinen die Glaubensinhalte, vor allem des
christlichen Glaubens, so paradox, wie die Gottheit eines Menschen, daß
jedes Wissen über etwas, was allem unserem Wissen zu widersprechen
scheint, daß nämlich ein historisch geborener Mensch anfanglose göttliche
Person sein könnte, eine groteske Absurdität darzustellen scheint. Wenn
wir die Frage stellen, wie sich Wissen und Glauben oder Wahrheits-
erkenntnis und Glauben an Wahrheit zueinander verhalten, sollten jedoch
drei Dinge betont werden. Erstens, daß es gewisse Gegenstände des
Glaubens gibt, wie etwa, daß wir frei sind, daß es absolute Werte, daß es
Schuld gibt, daß es eine Seele gibt, daß es Gott gibt, die auch Gegenstand

423
Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S.
31 ff.

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418 KAPITEL 9

philosophischer Erkenntnisse sein können.424 Also gibt es Dinge, wie


Thomas von Aquin sagt, die zugleich Gegenstände des Glaubens und der
vernünftigen Erkenntnis sein können, wo also die vernünftige Erkenntnis
den Wahrheitsanspruch des Glaubens im Prinzip rational bestätigen kann.
Daher liegt hier eine partielle Bestätigung der Inhalte des Glaubens
durch Philosophie, nämlich all jener Inhalte wie objektiver Werte,
absoluter sittlicher Imperative, der Freiheit, der Seele und Unsterblichkeit
und Gottes, die wir auch philosophisch erkennen können.425 Religionen,
die diese Inhalte leugnen, sind deshalb auch aus rein philosophischen
Gründen falsch und nur die wenigen Religionen, die alle diese erkennbaren
Wahrheiten anerkennen, können wahr sein. Ihre tatsächliche Anerkennung
im Glauben ist aber nicht hinreichend durch die schwierige Erfüllung
dieser „Minimalbedingung“ gewährleistet, die ja auch irgendein Prophet,
der Unsinn redet, aber keine philosophisch einsehbare Wahrheit leugnet,
erfüllen würde. Dies führt uns zu einer ganz anderen Beziehung zwischen
Glauben und Erkenntnis.
Zweitens stehen Erkennen und Glauben in engem Verhältnis zuein-
ander, weil die Grundlage eines rationalen, vernünftigen Glaubens immer
ein bestimmtes Erkennen sein muß. Denn wenn wir annehmen, daß
keinerlei Erkenntnis die Fundierung des Glaubens der Wahrheit von
Aussagen ist, dann stellen wir ja Glauben und Religion auf dieselbe Stufe
wie Aberglauben oder willkürlichste Meinung. Aber auch Wittgenstein
unterscheidet zwischen Aberglauben und Religion. Dann muß er aber auch
die Konsequenz aus dieser Unterscheidung ziehen und zugeben, daß es so
etwas wie vernünftige Gründe des Glaubens gibt. Deshalb ist etwa für den
christlichen Glauben im Sinne des Paulus-Wortes „Scio cui credidi“ („Ich
weiß, wem ich geglaubt habe“) vorausgesetzt: daß eine Glaubwürdigkeit,

424
Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis; sowie ders., Essere e persona, cit., Kap.
9-15.
425
Die Gründe, aus denen ich diese Inhalte auch heute philosophisch begründbar
halte, habe ich verschiedentlich dargelegt, etwa in Josef Seifert, Leib und Seele.
Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973); ders.,
Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine
kritisch-systematische Analyse; ders., Was ist und was motiviert eine sittliche
Handlung? (What Is and What Motivates a Moral Action?), (Salzburg:
Universitätsverlag A. Pustet, 1976); ders., Gott als Gottesbeweis.

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 419

die etwa in der inneren Herrlichkeit und in der unerfindbaren inneren


Gutheit der Liebe oder Barmherzigkeit Gottes, wie sie durch die
Gleichnisse oder Taten Christi uns vor Augen geführt wird, bestehen kann.
Auch Wunder oder andere Ereignisse, die auf die Wahrheit der religiösen
Offenbarung hindeuten, können diese innere Glaubwürdigkeit begründen.
Und auf diese Weise ist Erkennen zwar nicht eine hinreichende
Begründung des Glaubens, wohl aber dessen unerläßliche Voraussetzung
und in diesem Sinn glaubensbegründend. Das Erkennen von Wahrheit
unterscheidet sich dennoch dadurch vom Glauben selbst, daß der Glaube
über alles rein vernunftmäßig Gewußte hinausgeht, und den „Sprung ins
Dunkel des Glaubens“ wagt, indem der Gläubige eine über all das Licht
der Vernunft hinausgehende Wahrheit glaubend annimmt.
Drittens können wir vom Glaubenserkennen selbst sprechen, d.h. wir
können davon ausgehen, daß der Gläubige selbst nicht aufgrund rein
rationaler Argumente oder Erkenntnisse, sondern aufgrund anderer Quellen
des Erkennens, nämlich des im begründeten Glauben an die Zeugen der
Wahrheit, ein Erkennen dessen besitzt, was er glaubt. Vielleicht ist ein
Erkennen aufgrund des Glaubens, dieses dritte Verhältnis zwischen
Erkennen und Glauben, nicht so erstaunlich, wenn man an die menschliche
Erfahrung denkt. Denn der Großteil unseres Erkennens oder dessen, was
wir als Erkennen bezeichnen, ist ja ein Erkennen aufgrund von
irgendeinem Glauben, z.B. wenn ich sage: Ich weiß, daß das und das
geschehen ist, was meine Freunde, meine Frau oder meine Kinder mir
erzählen, so ist dieses Erkennen nicht ein Erkennen, das ich aus eigener
Erkenntnis gewonnen habe, sondern etwas, was ich weiß – und von dem
ich sinnvollerweise sage „ich weiß das“ – weil ich in diejenigen Personen,
durch die diese Information zu mir gelangt ist, Vertrauen setze, an ihr Wort
glaube. Ganze Wissenschaften, wie die Geschichtswissenschaft, beruhen
auf einem solchen Erkennen aufgrund des Glaubens. Wenn wir es aber als
ein universales Phänomen begreifen, daß aufgrund der Erkenntnis der
Glaubwürdigkeit einer Person das, was uns durch diese Person als wahr
mitgeteilt wird, aufgrund des Aktes des Glaubens gewußt wird, dann ist es
vielleicht weniger erstaunlich, daß ein höheres und ähnliches Verhältnis
zwischen Wissen und Glauben auch im Bereich der Religion denkbar ist,
und daß deshalb der Gläubige „das was er glaubt“ nicht einfach als
Gegensatz zum Erkennen, sondern mit Recht als ein Erkennen durch

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420 KAPITEL 9

Glauben betrachten kann. Freilich sind die Ansprüche des religiösen


Glaubens an unser Glauben an so viel höher als im normalen Leben, daß
hier sowohl eine unvergleichliche Glaubwürdigkeit gegeben sein muß, als
auch diese nicht einfach erkannt wird, sondern ihre Annahme selbst ein
Moment des Glaubens enthält. Allerdings ist dies analog auch schon für
den Glauben im außerreligiösen Sinne, den wir auf das Wort eines
Menschen setzen, wahr.
Aus diesen drei Gründen bzw. dem recht verstandenen dreifachen
Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft fallen also Wittgensteins
Thesen über die Unsinnigkeit der Religion wegen der radikalen
Unmöglichkeit, deren Wahrheit zu erkennen, bzw. wegen der radikalen
Irrationalität des Glaubensaktes, dahin.
So können wir an dem tiefen Verhältnis zwischen Person, Wahrheit,
Erkenntnis und Religion festhalten, ohne daß wir Wittgenstein die Religion
auf die Sphäre des Unsinns herabrücken zu lassen brauchten. Ja kraft des
innerlichen Verhältnisses zwischen Vernunft und Glauben können wir den
Glauben sogar als Erfüllung und Krönung der Vernunft ansehen. Der
Glaube wird im Licht dieser Analyse als vernünftige Unterwerfung des
eigenen Urteils bzw. als vernünftige Annahme eines Urteils einer fremden
Person erkannt. Wir haben auch erkannt: der Glaube, daß, der sich auf die
Wahrheit von Sätzen bezieht, ist nur durch das Vertrauen auf Personen und
den Glauben an sie möglich. Die Glaubwürdigkeit derjenigen Person, der
wir glauben, erkennen wir zwar, doch nicht vollständig, sondern wir
müssen sie auch in jenem Vertrauen und jener Liebe als glaubwürdig
anerkennen, die auch Wittgenstein, wie erwähnt, in diesem Kontext als
tiefsten Grund religiösen Glaubens nennt. Für den Glauben gilt daher:
intelligere ad credendum necesse est. Dies läßt sich auch mit Augustinus
formulieren: intelligo ut credam (ich erkenne, um zu glauben und kann nur
sinnvoll glauben, wenn meinem Glauben vernünftige Erkenntnis
vorhergeht); aber es gilt zugleich auch für den Glauben, daß ebenso wie
für den Glauben an: credo et amo, ut intelligam (es gibt auch eine
Erkenntnis, die ohne Glauben und die ihn begründende Liebe unmöglich
ist, im Sinne der dritten genannten Beziehung zwischen Glauben und
Erkenntnis). So können wir unsere Ausführungen mit der vielleicht tiefsten
Einsicht Wittgensteins, dessen allgemeine Anschauungen über Religion
und dessen Wahrheitstheorie wir hier so hart zu kritisieren hatten, und mit

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Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“ 421

seinem zentralen Gedanken schließen, daß die Liebe die höchste Quelle
des Glaubens ist:
Dieser Text führt zum neuen Thema Liebe und Erkenntnis, welches wir
hier nicht behandeln können.426
Was neigt auch mich zu dem Gedanken an die Auferstehung Christi hin?
Ich spiele gleichsam mit dem Gedanken. – Ist er nicht auferstanden, so ist er
im Grab verwest, wie jeder Mensch. Er ist tot und verwest. Dann ist er ein
Lehrer wie jeder andere und kann nicht mehr helfen; wir sind wieder
verwaist und allein. Und können uns mit der Weisheit und Spekulation
begnügen. Wir sind gleichsam in einer Hölle, wo wir nur träumen können,
und vom Himmel, durch eine Decke gleichsam, abgeschlossen. Wenn ich
aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht
Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und
der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht
mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften,
gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut, muß erlöst werden, nicht mein
abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: nur die Liebe kann die
Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.
Man kann sagen: Die erlösende Liebe glaubt, auch an die Auferstehung;
hält auch an der Auferstehung fest. Was den Zweifel bekämpft, ist
gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an
diesem Glauben sein. Es heißt also: sei erst erlöst und halte an Deiner
Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, daß Du an
diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du Dich
nicht mehr auf die Erde stützst, sondern am Himmel hängst. Dann ist alles
anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht
kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende, aber das
Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes und er kann daher ganz anderes
tun, als der Stehende.)427

Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Wahrheits-


theorien schien es unerläßlich, auch die im Rahmen seiner Ethik und
Religionsphilosophie liegende Wahrheitstheorie Wittgensteins, die viele

426
Vgl. Max Scheler, Liebe und Erkenntnis (1916), in: ders., Schriften zur Soziologie
und Weltanschauungslehre (Gesammelte Werke), Bd. 6. 3e. Aufl. (Bonn: Bouvier
Verlag, 1987).
427
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 33.

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422 KAPITEL 9

Ähnlichkeiten zu existentialistischen Wahrheitsbegriffen aufweist und sich


sonst kaum einordnen läßt, kritisch zu untersuchen.

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KAPITEL 10

ALFRED TARSKIS PHILOSOPHIE DER WAHRHEIT UND VERWANDTE


WAHRHEITSTHEORIEN UND MIT IHNEN VERBUNDENE THEORIEN DER
VERMEIDUNG LOGISCHER ANTINOMIEN (BEI GÖDEL, RUSSELL, MEINONG
UND ANDEREN AUTOREN) – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG

1. Tarski’s ‚semantische Wahrheitstheorien‘ und ihre Kritik

Eine der einflußreichsten Wahrheitstheorien der zeitgenössischen Philo-


sophie ist die Wahrheitskonzeption Alfred Tarskis, der sich in seinem
berühmtesten und einflußreichsten Werk über den Gegenstand428 der
klassischen Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit
verpflichtet weiß, ja diese neu und besser zu formulieren versucht, zugleich
aber eine ganz andere, semantische, und wie wir sehen werden, auch eine

428
Vergleiche Alfred Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“,
deutsche Originalausgabe in: Studia filosofica comentarii societatis filosoficae
polonorum societatis 1, Lemberg, 1935, s. 264-405 (mit dem Nachwort von 1935);
Der Text ist wiederabgedruckt in Francesca Rivetti Barbò, L’antinomia del
mentitore nel pensiero contemporaneo da Peirce a Tarski (Milano: Vita e
Pensiero, 1964), S. 265:
Ich möchte nur erwähnen, daß es sich in der ganzen Arbeit ausschliesslich darum handelt,
die Intentionen zu erfassen, welche in der sog. ‚klassischen‘ Auffassung der Wahrheit
enthalten sind (‚wahr – mit der Wirklichkeit übereinstimmend‘) im Gegensatz z.B. zu der
‚utilitaristischen‘ Auffassung (‘wahr – in gewisser Hinsicht nützlich‘).
Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, „Tarskian Truth and the Correspondence
Theory“, Synthese, (2001) January; 126 (1-2): 123-147. Der Autor geht dort auf
die Frage ein, in welchem Ausmaß Tarski eine Korrespondenztheorie der
Wahrheit vetritt. Er faßt seinen Artikel im Philosopher’s Index 2002 so
zusammen: “Tarski’s theory of truth brings out the question of whether he
intended his theory to be a correspondence theory of truth and whether, whatever
his intentions, his theory is, in fact, a correspondence theory. The aim of this paper
is to answer both questions. The answer to the first question depends on Tarski’s
relevant assertions on semantics and his conception of truth. In order to answer the
second question Popper’s and Davidson’s interpretations of Tarski’s truth theory
are examined; to this end both Tarski’s definition of truth in terms of satisfaction
and the T-sentences are taken into account.”

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426 KAPITEL 10

strukturell-linguistische, nicht-semantische Wahrheitstheorie einführt. Man


kann bei ihm neben diesen drei Wahrheitstheorien auch noch Spuren einer
Kohärenztheorie der Wahrheit entdecken.429
Wir werden uns im Folgenden jedoch hauptsächlich mit Tarskis
Korrespondenztheorie der Wahrheit, die er gerade als Stärkung oder sogar
als einzig haltbare Version der Korrespondenztheorie auffaßt, und mit
seinen semantischen und strukturell-linguistischen Wahrheitstheorien, die
er als Alternativen zur Korrespondenztheorie darstellt und zu denen er in
wachsendem Maß neigt, beschäftigen.
Tarski meint in seinem berühmten Aufsatz, nur durch seine neue
semantische Fassung der Korrespondenztheorie der Wahrheit könnten die
sonst unvermeidbaren Antinomien, wie die des Lügners, vermieden
werden.430 Zwar gesteht er selber zu, daß sich für diese Paradoxien schon
vor Einführung seiner eigenen Theorie eine mehr oder minder befriedi-
gende Lösung habe finden lassen, aber der Grundtenor seiner Ausführun-
gen ist der, daß eine wirklich solide Lösung erst unter Voraussetzung
seiner semantischen Wahrheitstheorie möglich sei, zumindest in überzeu-
gender Weise. Daher müssen wir im zweiten Teil dieser Ausführungen zu
Tarskis Lösungsversuch logischer Antinomien Stellung beziehen, weil die
Meinung, dieser Versuch sei gelungen und sogar der einzig haltbare
Versuch einer Lösung der Antinomien sein Hauptargument für die
Einführung seiner von ihm selber in ihrer Radikalität kaum begriffenen
Umgestaltung der Korrespondenztheorie der Wahrheit ist. Wie erwähnt,
findet sich bei Tarski auch eine andere strukturell-syntaktische Wahrheits-
theorie.
Diese Wahrheitstheorien, die Alfred Tarski auch in anderen Werken
weiterentwickelt hat, sollen im Folgenden einer eingehenden Kritik
unterzogen werden.431 Wo nicht anders vermerkt, werde ich mich dabei auf

429
Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“,
Zeitschrift für philosophische Forschung, (1995); 49 (4): 529-552.
430
Vgl. Tarski, ebd. S. 264 f.
431
Vgl. auch Alfred Tarski, „Die semantische Konzeption der Wahrheit“ in Sinnreich,
J. (Hrsg.), Zur Philosophie der idealen Sprache (München 1972), S. 53-100
(englische Originalausgabe 1944). Vgl. auch Tarski, „Grundlegung der
wissenschaftlichen Semantik“, in: Berka, K./Kreiser, L., Logik-Texte. Kommen-
tierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik (Berlin 1971), S. 350-356,

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 427

den wichtigsten Aufsatz A. Tarskis, „Der Wahrheitsbegriff in den formali-


sierten Sprachen“432, beziehen.
Trotz des kritischen Charakters meiner Ausführungen sollen weder die
großen Verdienste, die Alfred Tarskis Wahrheitsdefinitionen für die
Entwicklung der mathematischen symbolischen Logik und der Computer-
wissenschaften gespielt haben, geschmälert noch die Tatsache verkannt
werden, daß Tarski einen einflußreichen und bahnbrechenden Versuch
unternommen hat, die klassische Wahrheitstheorie zu retten und in einer
für die moderne philosophische Welt zugänglichen Weise neu zu formulie-
ren.
Ich kann allerdings meine Überzeugung nicht verhehlen, daß Tarski
dieser Versuch nicht gelungen ist, und zwar insbesondere deshalb nicht,
weil seine – weit von der vorbildlichen phänomenologisch-realistischen
Methode der Wahrheitstheorie eines Adolf Reinach433 oder Alexander
Pfänder434 entfernte – philosophische Methode es ihm nicht erlaubte, das
eigentliche Grundproblem seines Aufsatzes richtig zu fassen oder gar, es
zu beantworten. Worin besteht dieses Grundproblem? Darin, eine „sachlich
zutreffende und formal korrekte Definition des Terminus ‚wahre Aussage‘
zu konstruieren“.435

Originalausgabe 1936); ebenfalls Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den Sprachen


der deduktiven Disziplinen“, in: Berka-Kreiser, a.a.O., S. 356-359 (Original-
ausgabe 1932). Zu einer kurzen verhältnismässig klaren Darstellung vergleiche
auch L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, eine
kritisch-systematische Darstellung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft, 2. Aufl., 1983); S. 41-69.
432
a.a.O.
433
Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.
434
Alexander Pfänder, Logik, zit.
435
„Die semantische Konzeption der Wahrheit“ in: J. Sinnreich, (Hg), Zur Philosophie
der idealen Sprache (München 1972) S. 264.

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428 KAPITEL 10

1.1. Fehler der philosophischen Methode und unzureichende Gründe Tarskis für
die Verwerfung der bisherigen Versuche einer Definition von Wahrheit für
die normale Sprache (Umgangssprache)

Tarski geht von der lapidaren Behauptung aus, daß zwar die Bedeutung
des Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache436 und jeder
anderen „semantisch geschlossenen Sprache“ (in der nicht zwischen
Sprache L und Metasprache M unterschieden und eine Anwendung von
Urteilen der Sprache L auf metasprachliche Aussagen nicht ausgeschlossen
werde) recht klar und verständlich zu sein scheine, aber alle Versuche einer
genaueren Präzisierung dieser Bedeutung bis dahin erfolglos geblieben
seien. Das Hauptkennzeichen dieser Erfolglosigkeit sieht Tarski437 darin,
daß dieser traditionelle Wahrheitsbegriff, wenn er, zumindest ohne
Beachtung der von ihm eingeführten Sprachebenen, auf die Umgangs-
sprache angewendet werde, notwendigerweise zu Paradoxien und Antino-
mien führe.438 Puntel stellt diese Auffassung so dar:
Nach Tarski treten solche Antinomien in den semantisch-geschlossenen
Sprachen notwendigerweise auf. Eine semantisch-geschlossene Sprache ist
diejenige, die neben den Aussagen auch die Namen der Aussagen
(Anführungsnamen, deskriptiv-strukturelle Namen) und außerdem
semantische Terme wie ‚wahr‘ in bezug auf diese Sprache enthält. Eine
solche Sprache ist nach Tarski notwendig inkonsistent: indem sie nämlich
die angegebenen Sprachebenen in ihrer Unterschiedenheit nicht beachtet,
führt sie zu Antinomien. Eine solche Sprache ist die Umgangssprache:
Universalismus – d.h. alles und jedes ohne Berücksichtigung der

436
Dieser Ausdruck ist unglücklich gewählt, da er gewöhnlich auf weniger schöne,
weniger differenzierte oder auch auf besondere typische Ausdrucksweisen
hinweist, die man der korrekten, poetischen oder feineren Verwendung einer
Sprache gegenüberstellt. Wenn man den Terminus „Umgangssprache“ hingegen
durch „normale Sprache“ ersetzt, ist dieser Terminus nicht nur ungebräuchlich
und häßlich, sondern ebenfalls unklar, weil er ja nicht „abnormaler“ Sprache oder
der Sprache abnormaler Menschen gegenübergestellt werden soll, sondern den
„technischen“ und symbolischen formalisierten Sprachen. Wir verwenden den
Ausdruck „Umgangsprache“ daher wie Tarski als terminus technicus und als
reinen Gegenbegriff zu „formalisierter Sprache“.
437
Tarski, .a.O., S. 264 f.
438
Vgl. dazu auch L.B. Puntel, Wahrheitstheorien, a.a.O., S. 56.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 429

Unterschiede zwischen den Sprachstufen auszudrücken – ist ‚vermutlich die


wesentliche Quelle aller sog. semantischen Antinomien‘.439

Anstatt auf die nach Tarskis eigener Anschauung schon vor seiner
Theorie möglichen und sogar mehr oder minder befriedigenden Lösungen
einzugehen, oder zu zeigen, daß ohne seine neue Wahrheitstheorie eine
Lösung der Antinomienproblematik nicht denkbar sei, setzt Tarski dies
einfach voraus und schreitet dann zuerst zu seiner neuen semantischen und
dann linguistisch strukturellen, nicht-semantischen Wahrheitstheorie fort.
Darin allein schon liegt ein philosophischer bzw. methodologischer
Fehler. Denn vor der Entwicklung einer so weittragenden neuen Theorie
der Sprache und der Wahrheit sollte zuerst genau geklärt werden, ob ein
solches Vorgehen nötig ist.
Es verhält sich hier ähnlich wie bei Kants ‚Antinomie der reinen
Vernunft‘ in der Kritik der reinen Vernunft, wo viel zu schnell angenom-
men wird, daß unter der Voraussetzung einer realistischen Philosophie
Antinomien unvermeidbar sind. Und ohne genaue Analyse geht Kant dazu
über, eine radikal neue Erkenntnistheorie zu entwickeln, welche die
Existenz des Dings an sich und den rezeptiv-entdeckenden Charakter der
Erkenntnis bestreitet und damit nicht nur dem evidenten Wesen des
Erkennens, sondern auch sich selber widerspricht.440 Ähnlich wie Kant, auf
die erwähnte Voraussetzung aufbauend, mit seiner widerspruchsvollen
‚Lösung‘ der Antinomien und seiner widerspruchsvollen und dem
evidenten Wesen des Erkennens widersprechenden Deutung desselben in
der ‚kopernikanischen Wende‘ einen zweiten unberechtigten Schritt tut,441
geht Tarski viel zu leicht von der Voraussetzung aus, Antinomien und
logische Paradoxien ließen sich nicht lösen, wenn man die bisherige
klassische Theorie der Wahrheit als Adäquation auf nicht-formalisierte
Sprachen überhaupt anwende und für formalisierte Sprachen nicht präziser
439
Puntel, ebd., S. 56 f. Er bezieht sich dabei auf Tarskis Wahrheitstheorie, Tarski,
a.a.O., S. 278.
440
Vgl. meine Kritik der Kant’schen Darstellung und Lösung der Antinomien: Josef
Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit
der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundpro-
blem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.
441
Zum evidenten Widerspruch einer solchen Theorie zum Wesen des Erkennens und
ihrem Selbstwiderspruch vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit.

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430 KAPITEL 10

bestimme, und geht, von dieser Annahme ausgehend, dazu über, den
gigantischen Bereich aller in normaler Sprache gemachten Aussagen von
der Adäquationstheorie der Wahrheit auszuschließen und auch für die
formalisierten Sprachen eine radikal neue Auffassung der Anwendbarkeit
des Wahrheitsbegriffs einzuführen.
Die Unnötigkeit eines solchen weiteren Schritts kann man dadurch
aufzeigen, daß man eine Lösung für die Antinomien und logischen
Paradoxien bietet, die durchaus im Rahmen einer klassischen Wahrheits-
theorie als Theorie der Wahrheit von Aussagen im Rahmen dessen, was
Alfred Tarski ‚Umgangssprache‘ nennt, verbleibt. Doch unabhängig von
der Frage, ob Tarski oder wir in der Sicht dieser Frage recht behalten,
bleibt es ein gravierender methodologischer Fehler, durch eine allzu kurze
Erwähnung und ohne sorgfältige Untersuchung der Antinomienproblema-
tik eine so umwälzende und gefährliche These zu vertreten wie die der
Unhaltbarkeit eines Festhaltens am Adäquationsbegriff der Wahrheit in
den natürlichen Sprachen (ordinary language).
Eine weitere Problematik442 der Methode Tarskis ergibt sich daraus, daß
dieser von einer ‚Konstruktion‘ der Definition der Wahrheit spricht, anstatt
zu erkennen, daß eine Definition der Wahrheit nicht konstruiert werden
darf, sondern vom vorgegebenen Wesen der Wahrheit her abgelesen
werden muß. Wenn wir die rezeptive Struktur jeder und insbesondere jeder
philosophischen Erkenntnis verstehen, werden wir einsehen, daß eine
Darlegung dessen, was Wahrheit ist, welche zu den allergrundlegendsten
Gegebenheiten überhaupt gehört, unmöglich durch eine Konstruktion,
sondern vielmehr nur durch eine sorgfältige Untersuchung der intelligiblen
Gegebenheit, die wir Wahrheit nennen, erreicht werden kann. Wir müssen
das Wesen dieser einsichtigen Gegebenheit ‚Wahrheit‘ entdecken, zu
sehen lernen – und nicht konstruieren.
Auch der weitere methodologische Schritt Tarskis, „jedenfalls werde ich
mich bei dieser Konstruktion keines semantischen Begriffes bedienen,
wenn es mir nicht vorher gelingt, ihn auf andere Begriffe
zurückzuführen“,443 geht von einer unbegründeten und unbegründbaren
methodologischen Voraussetzung aus und enthält zwei fehlerhafte

442
Tarski, a.a.O., S. 265.
443
Tarski, a.a.O., S. 265.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 431

Annahmen bzw. Grundlagen. Erstens versäumt es Tarski, die Bedeutung


des keineswegs klaren Ausdrucks „semantischer Begriff“ zu klären.
Zweitens bedient Tarski sich von Anfang an einer reduktionistischen
Methode, die einen solchen „semantischen Begriff“ nicht annehmen will,
wenn es nicht vorher gelänge, ihn auf andere Begriffe zurückzuführen.
Wieso soll es aber nicht ursprüngliche und auf andere Begriffe
unzurückführbare ‚semantische Begriffe‘ geben?
Zunächst zum ersten Problem: Was heißt überhaupt ein ‘semantischer
Begriff’?
1) Aus einer der sehr verschiedenen Wahrheitsdefinitionen Tarskis, die
wir im folgenden eingehend erörtern werden, ergibt sich, daß mitunter
sprachliche Sätze in ihrer Bedeutungsfunktion und in ihrer Bezogenheit auf
die in ihnen ausgesagten Sachverhalte jene ‚semantischen Elemente‘ sind,
die Tarski meint und die er durch eine syntaktisch-strukturelle Definition
ersetzen möchte. Ist dann jeder Begriff, der die Bedeutungen sprachlicher
Zeichen und Zeichenfolgen ausmacht, ein ‚semantischer Begriff‘ wie dies
in der Idee „semantisch geschlossener Sprachen“ vorausgesetzt wird?
Offenbar kann dies in vielen Passagen seiner Beiträge zum Wahrheits-
problem nicht der Intention Tarskis entsprechen, weil diese Verwendung
des Ausdrucks „semantischer Begriff“ auf jede Wortbedeutung bzw. auf
jedes Wort, insofern es etwas meint, zutrifft und Tarski gerade semantische
Begriffe der Metasprache M von den Bedeutungen der Objektsprache L
und allgemein von nicht-semantischen Begriffen unterscheiden möchte.
2) Also muß Tarski eine zweite Bedeutung von ‚semantischen Begrif-
fen‘ zugrundelegen. Versteht er dann unter „semantischen Begriffen“
solche, die von der Sprache handeln? Semantische Begriffe wären dann
etwa Begriffe wie „Wort“, „Satz“, „Fragesatz“, „Behauptungssatz“, oder
noch konkreter Begriffe, welche die Sprachzugehörigkeit eines Satzes oder
seine Worte, Silben, grammatische Konstruktion, etc. betreffen. Da sich in
diesem Fall, wenn man Begriffe von rein sprachlichen Gegebenheiten
semantische Begriffe nennen wollte, Semantik nicht von Sprach-
wissenschaft oder orthographischem, lexikalischem oder grammatischem
Wissen unterschiede, wird offenbar auch dies von Tarski nicht unter
„semantischem Begriff“ gemeint oder entspricht jedenfalls nicht der
eigentlichsten Bedeutung dieses Ausdrucks bei Tarski.

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432 KAPITEL 10

3) Sind dann allein jene Begriffe „semantisch“ in Tarskis Sinn, die


nicht, oder jedenfalls nicht nur, die oben angegebenen rein sprachlichen
Gebilde und Formationen meinen, sondern die von jenen Bedeutungs-
einheiten, Fragen oder Urteilen handeln, die in der Sprache oder in Sätzen
ausgedrückt werden? So würden etwa Aussagen über „Wortbedeutungen“,
„Gedankenarten“, die in Sätzen ausgedrückt werden, wie „Fragen“,
„Befehlen“, „Urteilen“ usf., wie sie etwa Pfänder in seiner Lehre vom
Begriff oder auch in seiner Lehre von den Urteilsarten unterscheidet,
„semantische Begriffe“ verwenden. Semantische Begriffe dieser Art sind
etwa ‚Wortbedeutung‘, ‚gegenständliche Richtung‘ von Begriffen,
‘Hauptbegriff’ (wie er in Substantiven vorliegt), „Nebenbegriff“ usf.444
Meint Tarski dann mit ‚semantischen Begriffen‘ nur die der Semantik als
Lehre von den Bedeutungen sprachlicher Zeichen eigenen Meta-Begriffe,
die von Bedeutungen handeln? Semantik besteht dann gerade in der
Erforschung der sprachlicher Zeichen und Zeichenfolgen, die eine
Bedeutung haben, oder dieser Bedeutungen selbst. Spricht also Semantik
als „meta-sprachliche“ Disziplin über die Bedeutungen von Worten bzw.
über Worte, insofern sie Träger von Bedeutungen sind? Zweifellos
schwebt Tarski in der Idee der Metasprache, die über die Objektsprache
spricht, und deren Stufen M1, M2, etc., diese Idee von semantischem
Begriff öfters vor.
4) Ich bin jedoch der Ansicht, daß Tarski unter „semantischen
Begriffen“ noch andere Begriffe im Auge hat, die eigentlich „trans-
semantisch“ sind, weil sie nicht von den immanenten Bedeutungen
sprachlicher Gebilde handeln, sondern vielmehr von solchen Eigenschaften
in Sprache ausgedrückter Gedanken oder Urteile, die diesen nicht qua
Bedeutungseinheiten zukommen, sondern vielmehr nur aus ihrem
Gegenstandsbezug stammen können (wie Wahrheit oder Falschheit)? Ein
semantischer ‚Wahrheitsbegriff’ würde dann Eigenschaften von Urteilen445

444
Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik, „Die Lehre vom Begriff“,
ebd., S. 129-179; oder „Die Lehre vom Urteil“, ebd., S. 31-128.
445
Nicht von ‚Sätzen, obwohl Tarski in seiner doppeldeutigen Verwendung von
‚Satz‘ den sprachlichen Satz oft mit dem objektiv begrifflichen Urteilsgebilde zu
identifizieren scheint‘, und auch nicht von Urteilsakten, sondern von den
objektiven Urteilen (Urteilsinhalten), die aus Begriffen gebildet sind und etwas
behaupten.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 433

meinen, die diese nur aus einer Beziehung zu unabhängig von ihnen
bestehenden Sachverhalten besitzen.
5) Oder meint Tarski gar mit ‚semantischem Begriff‘ bzw. mit
‚semantischer Wahrheitsdefinition‘ eine solche (semantisch-)strukturelle
Wahrheitsdefinition, die – entgegen dem üblichen Begriff von ‚seman-
tisch‘ – von den Bedeutungselementen der Sprache ganz absieht und die
Wahrheit ganz immanent für sprachliche Zeichen als solche definieren
will, wie wenn man sagen will: „Eine Aussage ist wahr, wenn in ihr das
erste Wort ‚wenn‘, das dritte ‚so‘ und das zweite und vierte identisch
sind“?
Diese letzte Bedeutung von semantisch, die auch Tarski selbst meist
nicht „semantisch“ nennt, obwohl er sie in dem Aufsatz „Der Wahrheits-
begriff in den formalisierten Sprachen“, welcher der Verteidigung einer
semantischen Wahrheitsdefinition gewidmet ist, behandelt, ist eigentlich
das Gegenteil dessen, was ursprünglich mit dieser Bezeichnung gemeint
werden soll.
Versteht man eine „semantische Wahrheitstheorie“ in diesem Sinn, der
eigentlich das Gegenteil des Sinnes von ‚semantisch‘ darstellt, so führt dies
dazu, daß man nach Tarskis eigener Aussage alle semantischen Elemente
der Sprache in den vorherigen Bedeutungen von „semantisch“ durch nicht-
semantische strukturelle ersetzen will.
Beckermann liefert eine gute Erklärung der Wende Tarskis von einer
semantischen Wahrheitstheorie (in den Bedeutungen 2-3, die weder Tarski
noch Beckermann untereinander und von 4 differenziert) zu deren
Reduktion auf nicht-semantische Begriffe (ein Ausdruck der den verschie-
denen Bedeutungen von semantisch entsprechend wiederum ganz verschie-
dene Bedeutungen besitzen kann). Seine Hauptthese steht im Einklang mit
unseren Ergebnissen in diesem Kapitel: Beeinflußt von Neuraths
skeptischer Kritik, habe Tarski die (letztlich widersprüchliche) Theorie
vertreten, daß die von ihm vorerst mit Entschiedenheit verteidigte und
formulierte semantische Wahrheitstheorie nur dann aufrechterhalten
werden könne, wenn aus ihr alle semantischen Wortbedeutungen eliminiert
würden.446

446
Eine Tarski’sche Position, die schon die diversen Redundanztheorien der Wahrheit
vorwegnimmt. Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittenstein, Neurath, et Tarski sur la

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434 KAPITEL 10

Wie soll aber auch nur in Hinsicht auf die ersten drei, geschweige denn
auf die vierte Bedeutung von ‚semantisch‘ eine derartige Reduktion von
Wahrheit auf nicht-„semantisch-strukturelle“ und rein strukturell-
sprachliche Bestimmungen, denkbar sein oder begründet werden, wie
Tarski dies vorschlägt? Ja ist nicht der Wahrheitsbegriff nicht nur
unreduzierbar auf nicht-semantische oder rein strukturell linguistische
Momente, sondern ein semantische Begriffe in allen Bedeutungen zwar
voraussetzender, aber notwendigerweise trans-semantischer Begriff? Der
Wahrheitsbegriff kann nämlich als solcher niemals auf der bloßen Ebene
von Zeichen, aber ebensowenig auf der reiner sprachlicher Bedeutungen,
auch nicht der ‚Meta-Bedeutungen‘ von Metasprachen, deren Gegenstand
andere Bedeutungen von Objektsprachen niedrigerer Ordnung sind,
sondern nur auf jener des Verhältnisses zwischen in der Sprache ausge-
drückten Urteilen und von diesen Urteilen verschiedenen Sachverhalten
begriffen und definiert werden?
Und wieso soll dieses Verhältnis der Bedeutung umgangssprachlicher
oder metasprachlicher Aussagen zu den in ihnen behaupteten und jenseits
ihrer selbst liegenden Sachverhalten nicht der Aufklärung fähig sein? Etwa
wegen der Antinomien, von denen uns nicht weiter gezeigt wird, daß sie
aus der Anwendung der klassischen Wahrheitsdefinition auf die Umgangs-
sprache folgen oder deshalb, weil von Tarski auf das seit der Antike
wohlbekannte Lügner-Paradox verwiesen wird? Soll ein flüchtiger
Hinweis auf dieses Paradox hier genügen, wo es um präzise Unterschei-
dungen und Analysen geht, durch die allein nachgewiesen werden könnte,
daß das Antinomienproblem sich im Rahmen der auf Urteile, die in der
natürlichen Sprache (ordinary language) ausgedrückt werden, angewandten
klassischen Wahrheitsdefinition nicht lösen läßt?
In einer von Puntel zu Recht wiederholt bemängelten Ambiguität sagt
Tarski auf derselben Seite, er wolle eine präzise Wahrheitsdefinition geben

vérité“/„Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für


philosophische Forschung (Oktober-Dezember 1995), 49 (4), 529-552. Der Autor
versucht zu zeigen, daß die drei verschiedenen Wittgenstein, Neurath und Tarski
zugeschriebenen Wahrheitstheorien (die Korrespondenztheorie dem ersten, die
Kohärenztheorie dem zweiten und die semantische Wahrheitstheorie dem dritten)
nicht so säuberlich trennbar sind und auch Wittgenstein im Traktatus eine
semantische Wahrheitstheorie vertrete.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 435

und: er beabsichtige keine weitergehende Analyse der im täglichen Leben


geläufigen Bedeutung des Terminus wahr durchzuführen, von der jeder
Leser in höherem oder geringerem Grade eine intuitive Kenntnis besitze.
Wie kann er eine solche Untersuchung unterlassen wollen und zugleich
danach streben, jene Intentionen zu erfassen, welche in der sogenannten
klassischen Auffassung der Wahrheit enthalten sind, die sich auf jedes, in
gleich welcher Sprache ausgedrücktes, Urteil anwenden läßt? Wie kann er
unterlassen wollen, das zu klären, was wahr im Sinne des ‚mit der
Wirklichkeit übereinstimmend‘ sei?
Ferner ist an der Methode Tarskis auszusetzen, daß er die Frage des
Trägers der Wahrheit nicht weiter erörtert. Ohne weiteres nimmt er an, daß
Wahrheit sprachlichen Gebilden zukomme und deshalb im wesentlichen
von der Sprache abhänge, die Gegenstand seiner Erwägungen sei.447 Ja
derselbe Ausdruck könne in einer Sprache eine wahre, in einer anderen
eine falsche Aussage oder ein sinnloser Ausdruck sein, eine These, die
leicht zum Relativismus führt, weil sie Wahrheit letztlich auf die jeweilige
Sprache relativ setzt.448 Dabei scheint Tarski die Bedeutungseinheit, die die
Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ausmacht, d.h. das Urteil als
objektives Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde, das ausschließlich in
einem ‚absoluten Sinne‘ entweder wahr oder falsch sein kann, mit der
Relativität der Definition bestimmter sprachlicher Ausdrücke im Sprachge-
brauch zu verwechseln, die es möglich machen, daß derselbe sprachliche
Satz in verschiedenen Sprachen oder Fachsprachen ganz verschiedene
Bedeutungen zum Ausdruck bringt und deshalb in der einen wahr, in der
anderen falsch sein kann. Nur aufgrund dieser Relativität des sprachlichen
Ausdrucks bzw. des Verhältnisses, kraft dessen verschiedene Bedeutungen
(für deren Objekte verschiedene Definitionen gelten) in denselben
sprachlichen Ausdrücken wiedergegeben werden können, kann von einer
Relativität der Wahrheit auf die je verschiedene Sprache die Rede sein.
Besser wäre es freilich zu sagen, daß sprachliche Sätze nicht als solche
wahr oder falsch sind, sondern vielmehr nur im Hinblick auf die in ihnen
447
Zu einer in manchen Hinsichten analogen Kritik vgl. Jonathan Harrison, “The
Trouble with Tarski”, Philosophical Quarterly, (1998); 48 (190): 1-22.
448
Tarski, a.a.O., S. 265. Vgl. auch Wilhelm K. Essler, „Was ist Wahrheit?“, in:
Preyer, Gerhard (ed), Language, Mind, and Epistemology: On Donald Davidson’s
Philosophy (Dordrecht: Kluwer, 1994).

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436 KAPITEL 10

ausgedrückten Bedeutungen und Urteile und deren Wahrheit bzw.


Falschheit wahr oder falsch genannt werden. Hätte Tarski die Frage des
Trägers der Urteilswahrheit näher untersucht und mit Husserl ideale
logische Bedeutungseinheiten von schwankenden Wortbedeutungen
unterschieden,449 so hätte er die leicht einsehbare Tatsache gefunden, daß
Wahrheit keineswegs solchen sprachlichen Sätzen, sondern vielmehr den
in ihnen ausgedrückten Urteilen zukommt und hätte nicht – und erst recht
nicht mit solcher Leichtigkeit – eine Relativität der Wahrheit auf die
jeweilige (Umgangs-)Sprache L behaupten können.
Denn dann wäre es ihm zunächst als evidente Wahrheit einleuchtend
gewesen, daß und warum sprachlich gleiche Ausdrücke ganz verschiedene
Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen vermögen und nur deshalb einmal
‚wahr‘, ein anderes Mal ‚falsch‘ sein können, weil eben nicht die
sprachlichen Gewänder, sondern die in ihnen ausgedrückten Bedeutungs-
einheiten (Propositionen) wahr oder falsch sind. Die Relativität betrifft
nicht deren Wahrheit, sondern nur deren sprachliches Gewand bzw. deren
Relation zu ihrem sprachlichen Ausdruck. Sodann ist es, erkennt man die
Bedeutungseinheiten und nicht sprachliche Sätze als Wahrheitsträger an,
ebenso evident, daß gänzlich verschiedene sprachliche Sätze wie ‚der
Hund bellt‘ und ‘the dog is barking’ genau dieselbe Bedeutungseinheit
zum Ausdruck bringen und Träger genau derselben Wahrheit sein können.
Eine weitere These, die Tarski seinen Überlegungen voranstellt,
verdient schon von einem rein methodologischen Standpunkt aus kritische
Korrektur: Nämlich die These, daß das Schlußergebnis seiner Erwägungen
hinsichtlich der Wahrheit in der Umgangssprache gänzlich negativ sei, ja
daß in dieser weder eine Definition des Wahrheitsbegriffs noch ein
konsequenter und mit den Gesetzen der Logik übereinstimmender
Gebrauch des Wörtchens ‚wahr‘ möglich sei. Infolge dieser Annahme, die
später Davidson und andere Nachfolger Tarskis zu überwinden suchten,450
möchte Tarski die Problematik des Wahrheitsbegriffs nur auf die nach
wissenschaftlichen Methoden aufgebauten formalisierten Sprachen der
449
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen.
450
Vgl. Donald Davidson, “Radical Interpretation”, Dialectica, (1973); 27: 314-328.
Vgl. ferner David Larson, “Tarski, Davidson, and Theories of Truth”, Dialectica,
(1988); 42: 3-16. Vgl. auch James C. Klagge, “Convention T Regained”,
Philosophical Studies, (1977); 32: 377-381.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 437

deduktiven Wissenschaften beschränken. Was für eine Reduktion des


Wahrheitsproblems! Und wie schnell gelangt Tarski zu einer so gewaltigen
Konsequenz, die die Wahrheitsproblematik sowohl in allen philoso-
phischen Disziplinen (außer der formalisierten symbolischen Logik)
inklusive seines eigenen Aufsatzes, der ja nicht in formalisierter Sprache
dargelegt wird, als auch in zahlreichen anderen Wissenschaften als etwas
abstempelt, das nicht der Analyse oder des widerspruchsfreien Gebrauches
fähig sei? Soll damit behauptet werden, daß sämtliche inhaltliche
Wahrheiten, die wohl auch die Wahrheit der inhaltlichen logischen
Prinzipien, welche allen formalisierten Sprachen zugrunde liegen,
einschließen, als bloße Leerformeln aufgegeben werden müssen?
Nicht einmal auf alle formalisierten Sprachen ließe sich eine rigorose
Anwendung der Wahrheit als Korrespondenz durchführen. Innerhalb der
formalisierten Sprachen unterscheidet Tarski zunächst die ‚ärmeren‘, d.h.
jene, die keine Unendlichkeiten zulassen. Nur für sie gelte Tarski’s
Wahrheitstheorie bzw. lasse sich Wahrheit definieren; nicht für die
reicheren, die Unendlichkeiten zulassen.451 Für diese gelte seine Wahr-
heitsdefinition nicht; für sie könnten wir also niemals eine korrekte
Definition des Wahrheitsbegriffs ‚konstruieren‘, wie er sich ausdrückt.452
An diesem Vorgehen ist nicht nur dies auszusetzen, daß hier die weittra-
gendsten Konsequenzen ohne hinreichende philosophische Begründung
hingesetzt werden, sondern daß auch nicht genügend darauf reflektiert
wird, daß die wissenschaftlich aufgebauten formalisierten Sprachen auf
Aussagen der normalen Umgangssprache zurückgehen, in denen allein der
Sinn der formalisierten Sprachen erklärt sowie die Gründe für ihre
Einführung formuliert werden können, und in denen damit die Wurzel der
formalisierten Sprachen liegt. Soll also in dieser Sprache, ohne die und
ohne deren Wahrheit die formalisierten Sprachen überhaupt nicht denkbar
wären, der Wahrheitsbegriff keine Rolle spielen oder keiner Aufklärung

451
Vgl. dazu David DeVidi, Graham Solomon, “Tarski on ‚Essentially Richer’
Metalanguages”, Journal of Philosophical Logic, (1999); 28 (1): 1-28. Vgl. auch
Elke Brendel, in: Georg Meggle, (Hrsg.) „Was können wir über das Wissen
wissen? Erkenntnistheoretisches aus semantischer Perspektive“ in: Analyomen 2,
Vol. I: Logic, Epistemology, Philosophy of Science (Hawthorne: de Gruyter,
1997).
452
Tarski, a.a.O., S. 266.

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438 KAPITEL 10

fähig sein? Schon durch ein bloßes Aufwerfen dieser Frage hätte Tarski
einsehen können, wie wenig begründet seine diesbezüglichen Äußerungen
waren und daß sich seine Position selbst widerspricht. Denn der Sinn und
die Wahrheit seiner eigenen Darlegungen setzt notwendig voraus, daß
deren Wahrheit ein klar gegebenes und der Aufklärung fähiges Wesen
besitzt, das es erlaubt auch in der Objektsprache und Umgangssprache L
ausgedrückte Urteile, ja jedes Urteil überhaupt, als wahr oder falsch zu
erkennen.
Wir wollen uns also im Folgenden von solchen Voreiligkeiten und
methodologisch-reduktionistischen und dogmatischen Voraussetzungen
freihalten und das Problem, ob Tarskis Wahrheitsdefinition haltbar ist, mit
den Sachen selbst konfrontieren.

1.2. Die ‚semantische Wahrheitsdefinition‘ Tarskis in ihrem ersten Sinn: als


rein additiv-repetitive Fassung der klassischen Adäquationstheorie und ihre
Kritik

Tarski geht von der Meinung aus, daß von allen bisher gegebenen
Formulierungen der Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie der Wahr-
heit die semantische Definition die natürlichste sei: „Eine wahre Aussage
ist eine Aussage, welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten,
und die Sachen verhalten sich eben so und so.“ (268) Während ich dies den
additiv-repetitiven Charakter seiner Wahrheitstheorie nennen möchte,
reden manche andere Autoren vom enumerativen Charakter der
Tarski’schen Wahrheitstheorie453 und üben daran Kritik. Von dort gelangt
Tarski zu seinem berühmten allgemeinen Wahrheitsschema: „X ist eine
wahre Aussage dann und nur dann, wenn P“ (268), wobei X der Name für
irgendeine Aussage ist und P eben diese Aussage (sic!) sein soll. Als
Beispiel, das diese leere Formel inhaltlich füllt, bringt Tarski im selben
Aufsatz das berühmte Beispiel „‚es schneit‘ ist dann und nur dann wahr,
wenn es schneit.“ (269)

453
Vgl. Bo Mou, “The Enumerative Character of Tarski’s Definition of Truth and Its
General Character in a Tarskian System”, Synthèse, (2001) January; 126 (1-2): 91-
121. Vgl. auch Jaakko Hintikka, “Theories of Truth and Learnable Languages” in:
S. Kanger, (Ed), Philosophy and Grammar, (Boston: Reidel, 1981), S. 37-58.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 439

Abgesehen von der radikalen Unklarheit des ‚Anführungsnamens‘,


womit er nämlich „jeden Namen einer Aussage (oder eines beliebigen
anderen sogar sinnlosen Ausdrucks)“ (268) bezeichnet haben will, wobei
selbstverständlich sinnlose Namen oder vor allem nur aus sinnlosen
Begriffskombinationen bestehende Gedanken454 unmöglich wahr sein, ja
nicht einmal Wahrheitsansprüche erheben können, fragt es sich, was Tarski
damit meint, wenn er die erwähnte Definition der Wahrheit als semantisch
bezeichnet. Meint er damit, daß die Bedeutung der Worte in Rechnung
gesetzt werden soll? Daß er die Sprache also hinsichtlich ihrer Bedeutung
betrachte und nicht einfach hinsichtlich ihres syntaktischen oder
strukturellen Aufbaus? Legt er also die erste, oben erörterte Bedeutung von
‚semantisch‘ zugrunde, wenn er etwa ‚es schneit‘ als semantischen
Ausdruck faßt und den dritten und vierten, wenn er diesem Ausdruck das
Prädikat ‚wahr‘ zuweist?
Selbst wenn er ‚semantisch‘ in dem Sinn von Begriffen von
sprachlichen Ausdrücken oder von ihren Bedeutungen oder sonstigen
Eigenschaften (wie etwa Wahrheit) meint, was seine Theorie ganz nahe an
die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit heranrückt, so ist es
keineswegs klar, warum die gegebene Wahrheitsdefinition ‚semantisch‘
sein soll. Denn wenn auch in ihr zweifellos die Bedeutungsfunktion der
Sprache berücksichtigt wird, so liegt darin nicht das Entscheidende der
Wahrheitsproblematik noch das hauptsächliche bestimmende Merkmal in
Tarski’s eigener Wahrheitsdefinition. Denn er bezieht sich auf ein
Selbstverhalten der Sachen, also auf Tatsachen oder ontologische
Sachverhalte, die sich zweifellos außerhalb der Sprache und ihrer
semantischen Bedeutungen bzw. Funktionen befinden. Es handelt sich also
auch bei Tarski im Grunde um den Versuch, das zu definieren, was die
Wahrheit in ihrem objektiven logischen Sinne ist und nicht nur darum,
einen ‚rein semantischen Wahrheitsbegriff‘ zu entwickeln. Es geht ja
sichtlich bei dieser Wahrheitsdefinition nicht um Bedeutungen als solche,
und erst recht nicht um eine immanent-linguistische Wahrheitsdefinition,
sondern um das Verhältnis zwischen der Bedeutungseinheit des Urteils

454
Zur Idee einer rein logischen Grammatik vgl. neben Edmund Husserl, Logische
Untersuchungen II, I, 2, auch Josef Seifert, Wahrheit und Person..

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440 KAPITEL 10

bzw. des objektiven im Satz ausgedrückten Gedankens zu dem


Selbstverhalten der Sachen.455
Dabei ist allerdings selbst gegen diese Version der Korrespondenz-
theorie der Wahrheit (die ihm als plausibelste und natürlichste Definition
der Wahrheit erscheint) in ihrer Tarski’schen Formulierung vorzubringen,
daß sie eigentlich nicht zum Ausdruck zu bringen versucht, worin die
Wahrheit einer Aussage besteht, diese also in keinem Sinn dieses Wortes
definiert,456 sondern vielmehr eine additive Wahrheitsdefinition genannt
werden kann, indem sie einfach nach einem ‚und‘ einen Sachverhalt (den
er nicht von der Aussage selber unterscheidet) setzt „und die Sachen
verhalten sich eben so und so“ und betont, daß sowohl dieses
Selbstverhalten der Sachen als auch eine Aussage besteht, welche besagt,
daß die Sachen „sich so und so verhalten“; und daß ferner diese Aussage
nur dann wahr sei, wenn diese Addition einer Aussage und des
entsprechenden Verhaltens der Sachen bestehe. Damit wird jedoch weder
erklärt (sondern vielmehr vorausgesetzt), worin die Wahrheit der Aussage
besteht, noch wird die hier offenbar als notwendig und hinreichend
gemeinte Bedingung der Wahrheit im Selbstverhalten der Sachen von
anderen notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Wahrheit
unterschieden, durch die man die Wahrheit zu definieren versuchen könnte
und die gleichfalls eine Äquivalenz mit der Wahrheit von Aussagen
ergäben, aber offensichtlich von der Wahrheit selbst völlig verschieden
wären.
In diesem Zusammenhang könnten wir etwa Brentanos Versuch
anführen, die Wahrheit von Sätzen dadurch zu definieren, daß sie solche
Sätze bzw. Urteile seien, mit denen ein mit Evidenz urteilendes Subjekt
einverstanden wäre, bzw. denen ein allwissendes Subjekt seine
Zustimmung gäbe. Damit formuliert Brentano zweifellos eine notwendige
und hinreichende Bedingung, aus der die Wahrheit eines Urteils
entnommen werden kann, keinesfalls jedoch deren Wesen, wie wir früher
gezeigt haben. Tarski zeigt also nicht, wie dies etwa Alexander Pfänder tut,
455
Vgl. etwa den bereits zitierten Satz Tarskis: „Eine wahre Aussage ist eine Aussage,
welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten
sich eben so und so.“ (a.a.O., S. 268).
456
Darauf weisen eine Reihe anderer Autoren kritisch hin. Die Möglichkeiten einer
Definition der Wahrheit müßten eigens untersucht werden.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 441

worin denn tatsächlich die Wahrheit einer Aussage bestehe, sondern


begnügt sich damit, diese einfach durch eine nicht weiter erklärte und
offensichtlich für hinreichend und notwendig gehaltene Bedingung
aufzuklären.
Zu sagen, es schneie, sei eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn
es tatsächlich schneit, kommt zwar an die Idee der Wahrheit im Sinne der
Adäquation heran, und ist deshalb auch durchaus zu begrüßen, aber eine
solche Formulierung erklärt nichts von dem, was Wahrheit ist, bzw. worin
Wahrheit besteht. Z.B. könnte man genauso gut sagen: „Der Sachverhalt,
‚es schneit‘ besteht nur dann, wenn es schneit.“ Auch dieser Satz wäre
notwendig wahr. Jedoch bezieht er sich nicht auf die Wahrheit, sondern auf
eine Bedingung bzw. Implikation des Bestehens eines Sachverhalts. Der
Satz wiederholt nur denselben Sachverhalt, dessen Bestehen und dessen
Bedingung seines Bestehens zuerst geurteilt wurden.
Eine additiv-repetitive Wahrheitstheorie leistet deshalb der von Ramsey
und Ayer vertretenen Redundanztheorie der Wahrheit und ähnlichen
Wahrheitstheorien wie der Revisionstheorie der Wahrheit Vorschub, weil
Tarski die Wahrheit in einer Weise definiert, die sie im Verhältnis zum
einfachen Feststellen des Sachverhalts redundant und überflüssig
erscheinen läßt.457

457
Vgl. dazu Puntel, S. 70 ff. Vgl. auch Anil Gupta und Nuel Belnap, The Revision
Theory of Truth (Cambridge, MA: MIT Press, 1993). Gupta und Belnap beziehen
sich ausdrücklich und vollständig auf Tarskis semantische Wahrheitsdefinition
und sein Beispiel vom „Schnee“ (vgl.a.a.O., S. 3 ff.). Obwohl sie behaupten (S. 28
ff.), daß sie „disquotationalism“ und „deflationalism“ im Verhältnis zur Wahrheit
ablehnen, gelangen sie zu einer ähnlichen Auffassung des „Intensionalismus“,
dem zufolge die Satzpaare „Schnee ist weiß“ und „es ist wahr, daß Schnee weiß
ist“, „intensional äquivalent“ seien. (A.a.O., S. 28). So ist es schwer, ihre
Revisionstheorie der Wahrheit klar von der Redundance-Theory of Truth und von
einer deflationären Wahrheitstheorie zu unterscheiden. Auch was die Resentential-
theorie der Wahrheit, die von manchen Autoren als Alternative und Korrektur der
Redundanztheorie vorgeschlagen wird, sein soll, bleibt verworren. Vgl. Winfried
Franzen, „Zur neueren Wahrheitsdiskussion. Redundanztheorie versus Korrespon-
denztheorie der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Jänner-März
1981), 35, 73-89; ders., Zur Redundanztheorie der Wahrheit: Ein historischer und
systematischer Überblick“, Conceptus, Erster Teil 12 (1978), 54-69; Zweiter Teil
13 (1979), 47-62.

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442 KAPITEL 10

Schon aus der Möglichkeit, Brentanos definiens der Wahrheit, nämlich


die Übereinstimmung eines Urteils mit dem Urteil eines mit Evidenz
Urteilenden, anstatt des „und es schneit“ in der Äußerung Tarskis
einzusetzen: „‚es schneit‘ ist dann und nur dann eine wahre Aussage, wenn
[es schneit] diese Aussage mit dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden
übereinstimmt“, was eine gleichermaßen wahre Aussage ist wie: „es
schneit [ist nur] dann und nur dann [wahr], wenn es schneit“, zeigt, daß
Tarski den eigentlichen Sinn und das eigentliche Wesen dessen, was
Wahrheit ist, mit seinen rein additiven Formulierungen nicht trifft.458
Die Definition Tarskis, so können wir sagen, beschreibt nur bestimmte
Gruppen von wahren Aussagen oder die Umstände, unter denen Sätze
wahr sind, nicht aber worin tatsächlich ihre Wahrheit besteht. Sie sieht
gleichermaßen völlig von der Frage ab, ob Sätze oder Begriffe, oder ob
komplexe begriffliche Gebilde wie Urteile Träger der Wahrheit sind und
daher wahr sein können.
In diesem Punkte schließen wir uns der Kritik an, die Puntel, Black und
Tugendhat vorbringen.459

1.3. Tarskis rein immanent-linguistischen Wahrheitsdefinitionen bzw. die nicht-


semantische strukturelle Wahrheitstheorie Tarskis und ihre Kritik

In einer ganz anderen Richtung, nämlich der der fünften oben


unterschiedenen Bedeutung von ‚semantisch‘ bzw. des Übergangs von
Tarskis semantischer zu einer nicht-semantischen Wahrheitstheorie,
entwickelt Tarski seine Wahrheitstheorie, wenn er die sogenannten
strukturell-deskriptiven „Namen“ einführt, um das Wesen der Wahrheit
mit ihrer Hilfe zu bestimmen. ‚Strukturell-deskriptiv‘ möchte er solche

458
Black hat eine ähnliche Kritik vorgebracht. Nach seiner Meinung hat Tarski eine
Definition vorgelegt, die den Philosophen keineswegs befriedigen kann, indem sie
keinerlei allgemeine Definition oder Bestimmung des Wesens der Wahrheit
beinhalte, sondern nur eine Gruppe von Sätzen identifiziert, die wahr seien. Vgl.
M. Black, “The Semantic Definition of Truth”, Analysis (8/1948), 49-63. Vgl.
dazu auch Puntel, a.a.O. S. 65.
459
Vgl. Puntel, a.a.O. S. 47-69.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 443

Namen nennen, von denen sich aus dem Zusammenhang ergibt, daß sie
nach Tarskis Meinung drei Funktionen erfüllen sollen460:
(1) Einmal sollen sie eigentlich nicht bloße Namen, sondern Aussagen
oder zumindest zusammengesetzte Begriffe sein, die angeben, aus welchen
Buchstaben, Konsonanten oder Vokalen einzelne Worte bestehen. Tarski
selbst bringt das Beispiel461 „so entspricht z.B. dem Namen ‚Schnee‘ der
Name: ‚ein Wort, das aus den sechs aufeinanderfolgenden Buchstaben: ES,
C, HA, EN, E, E besteht‘“.462
(2) Zweitens sagt Tarski in anderem Zusammenhang, sie sollen ‚Namen
sein, die beschreiben‘, d.h. Aussagen oder zusammengesetzte Begriffe,
welche die Ordnung der Aufeinanderfolge von Worten beschreiben. Tarski
kommt in Hinsicht auf diese Art von ‚beschreibenden Aussagenamen‘
manchmal zu einer rein immanent linguistischen Wahrheitsdefinition, die
nur noch die Satzstrukturen und Aussagenamen in diesem Sinne bzw. die
Aussageformen betrachtet und von ihnen Wahrheit aussagt, etwa wenn er
sagt: „Eine Aussage ist wahr, wenn das erste Wort in ihr ‚wenn‘, das dritte
‚dann‘, und das zweite und vierte Wort identisch sind.“ Ein solcher
deskriptiver Name gibt die formal-linguistische Struktur eines Satzes und
das Vorkommen zweier inhaltlich bestimmter Worte und einer Variablen
in ihm an. Dabei wird – durch die Beschränkung Tarskis auf formalisierte
Sprachen – zunächst von der erwähnten Vieldeutigkeit der normalen
Sprache abgesehen, in der einerseits jedes Wort verschiedene Bedeutungen
haben und deshalb derselbe Satz in einer Sprache (bzw. in einem
Wortverständnis) wahr, in einer anderen nicht wahr sein kann, und in der
andererseits ganz verschiedene sprachliche Ausdrücke dieselbe Wahrheit
ausdrücken können. So drückt etwa der Ausdruck ‚der Hund bellt‘
denselben Gedanken wie ‘the dog is barking’ aus, einen Gedanken, der
gerade dann wahr ist, wenn der gemeinte Hund bellt bzw. weil der hier
behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht.
Schon aus diesem doppelten Grund der Möglichkeit, denselben
Gedanken in verschiedenem sprachlichen Gewand, und in derselben
sprachlichen Formulierung ganz verschiedene Gedanken, auszudrücken, ist

460
Tarski, a.a.O., S. 269 f.
461
Ebd., S. 270.
462
Ebd., S. 270.

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444 KAPITEL 10

eine rein linguistisch-strukturelle Wahrheitsdefinition für die normale oder


natürliche Sprache (Umgangssprache) unmöglich.463 Denn derselbe
Gedanke kann in vielen sprachlichen Ausdrücken und in vielen Sprachen
ausgedrückt werden und derselbe sprachliche Ausdruck kann ganz
verschiedene Gedanken ausdrücken, von denen einige wahr, andere falsch
sein können. Ja dieselben Behauptungssätze können nicht nur verschiedene
Urteile, sondern auch das ausdrücken, was Roman Ingarden Quasi-Urteile
nennt, nämlich in Behauptungssätzen ausgedrückte Gedanken in Romanen
und anderen literarischen Werken, die keine Behauptungen darstellen, die
wahr oder falsch sein können, sondern andersartige Gedanken, die
gleichsam Nachahmungen von Urteilen sind und auftreten als ob sie
Urteile wären, aber nur die Funktion haben, die Welt der literarischen
Kunstwerke aufbauen.464
Auf Grund der vielfältigen Bedeutungen fast aller Worte der
Umgangssprache ist es unmöglich, eine rein immanente semantisch-
strukturelle Wahrheitsdefinition oder Bestimmung der Wahrheit
irgendeines Satzes der normalen Sprache zu geben. Es ist deshalb – im
Kontext der rein linguistischen (und im dritten Sinn dieses Ausdrucks
‚semantischen‘) Wahrheitsdefinition – bei Tarski nur die Rede von der
formalisierten Sprache, innerhalb derer jedes Wort oder Symbol
hinreichend präzise definiert ist. Denn innerhalb der normalen Sprache
ließe sich die erwähnte Vieldeutigkeit nicht vermeiden und deshalb kein
immanent sprachliches Kriterium angeben, das zeigen könnte, daß eine
präzise bestimmte sprachliche Aussage ein wahres Urteil ausdrückt bzw.
wahr ist.

463
Ich halte mit anderen Autoren den von Tarski verwendeten Ausdruck ‚Umgangs-
sprache‘ hier für weniger glücklich, weil er mehr den Gegensatz zur Hochsprache
als den zu einer formalisierten und durchdefinierten Sprache, in welcher die
beiden erwähnten Eigenschaften der normalen Sprache wegfallen, zum Ausdruck
bringt und eher das heißt, was die englische Sprache ‚slang‘ nennt. Damit
verdeckt der Ausdruck aber, was Tarski beabsichtigt: nämlich von allen nicht
formalisierten Sprachen zu reden.
464
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.. Vgl. auch Josef Seifert,
“Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects
and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary
Work of Art”, in: Roman Ingarden a filozofia noszego czasu.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 445

Nur in formalisierten Sprachen kann man gewissermaßen rein


linguistische Beschreibungen von Sätzen zu einer scheinbar hinreichenden
Grundlage dafür machen, ihnen das Prädikat wahr zuzuweisen. Nur hier
kann man daher überhaupt sinnvollerweise jene Tarskische Wende zu
einem immanent linguistischem Wahrheitsbegriff, der sich ganz von dem
Sinn von Wahrheit und sogar von den eigentlichen Bedingungen für
Wahrheit loslöst, vollziehen.
In Wirklichkeit liegt es auch hier – genau wie in der Umgangssprache –
nicht an der linguistischen und im fünften Sinne strukturellen Form der
Aussagesätze, sondern an den in ihnen (ohne Doppeldeutigkeiten oder
Äquivokationen) ausgedrückten Gedanken und an deren Beziehung zum
ihnen je entsprechenden Sachverhalt, daß sie wahr oder falsch sind. Also
gibt es keine wirklich rein semantische noch eine strukturell-formale
Wahrheitsdefinition.
Das erkennt Tarski in gewisser Hinsicht dort an, wo er semantische
Beschreibungen der Aussagenamen mit seiner oben erwähnten additiven
Formulierung der Korrespondenztheorie der Wahrheitstheorie verbindet
und damit den Sachverhalt als trans-semantischen Faktor einführt.465
Auf diese Weise gelangt er zu seiner für philosophische Zwecke
wahrhaftig unnötig komplizierten Definition bzw. Angabe der Bedingun-
gen der Wahrheit konkreter Sätze, die aber im wesentlichen wieder zu
einer ähnlichen Neufassung der Korrespondenztheorie der Wahrheit führt,
wie sie oben als ‚additive‘ Wahrheitstheorie erörtert und für unsere
Zwecke hinreichend kritisiert wurde. So schreibt Tarski:
ein Ausdruck, der aus zwei Worten gebildet ist, von denen das erste aus den
zwei aufeinanderfolgenden Buchstaben: E, ES, das zweite aus den sieben
aufeinanderfolgenden Buchstaben: ES, CE, HA, EN, EI, TE, ist eine wahre
Aussage dann und nur dann, wenn es schneit.466

In Wirklichkeit handelt es sich hier um zwei ganz verschiedene Gesetze


über Sätze:

465
Hier werden von ihm die Sachverhalte als ‘truth-makers’ begriffen. Vgl. Peter
Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
466
Tarski, ebd., S. 270.

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446 KAPITEL 10

(1) Das erste Gesetz besagt, daß jede Aussage wahr sei, die aus vier
Teilen bestehe: nämlich aus (a) dem Wort wenn, (b) einer Aussage X, (c)
dem Wort dann, (d) derselben Aussage wie b: X.
Dieses Gesetz sieht ganz davon ab, daß hier erstens vorausgesetzt wird,
daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der Worte handelt, daß
zweitens dieses Gesetz viele andere Voraussetzungen hat und außerdem
nicht absolut gilt, und daß drittens ein solches oder ähnliches ‚Gesetz‘
keineswegs die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher Gesetze
besteht und worin sie gründet. Es ist aus Tarskis eigener Bemerkung, daß
dieselbe linguistische Einheit in einer Sprache ein wahres Urteil, in einer
anderen ein falsches ausdrücken und in einer dritten eine sinnlose
Aneinanderreihung von Lauten sein kann, klar, daß dieses Gesetz nicht von
den Sätzen im Sinne linguistischer Einheiten als solchen gilt, sondern nur
von ihren jeweiligen Bedeutungen und ganz bestimmten Bedeutungen der
Begriffe, die die Aussage X ausmachen. Zweitens ist die Wahrheit dieses
Gesetzes dadurch bedingt, daß es sich nicht um in sich widersprüchliche
und unmögliche Aussagen handelt, die gar keinen Bezug zur Wirklichkeit
bzw. zu tatsächlich bestehenden Sachverhalten haben können. Drittens
beantwortet dieses Gesetz gar nicht die Frage, worin diese Wahrheit
besteht bzw. worin sie gründet. Es würde sich zeigen, daß diese Wahrheit
ähnliche Grundlagen hat wie die notwendige Wahrheit analytischer und
anderer nicht-informativer Sätze, wie sie Fritz Wenisch und andere
Philosophen eingehend untersucht haben.467
(2) Tarski formuliert im zitierten Satz auch ein zweites Gesetz, das nicht
von Aussagen als solchen spricht, sondern von einer Aussage einer
bestimmten Struktur mit „wenn“ und „dann“, die zugleich zwei identische
(gleichlautende) Aussagen in sich enthält, von denen die erste im „wenn-
Satz“ als wahr behauptet wird. Daraus folgt logisch die Wahrheit der
Aussage als ganzer, wie Tarski sie charakterisiert. Auch hier führt Tarski
den Grund für die Wahrheit dieser Aussage nicht an; noch viel weniger
erklärt er ihre Wahrheit.

467
Vgl. Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the
Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily
True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107-197.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 447

Diese Wahrheit gründet objektiv eben darin, daß die Wahrheit einer
genau (auch zeitlich und hinsichtlich aller Umstände) bestimmten Aussage
notwendig die Wahrheit jeder genau gleichen Aussage (Proposition)
impliziert. Deshalb ist es auch wahr, daß wenn X (eine bestimmte
Aussage) wahr ist, dann auch X (dieselbe bestimmte Aussage) wahr ist.
Deshalb ist auch die allgemeine Aussage, die den von Tarski gemeinten
logischen, aber von ihm unzureichend und rein linguistisch beschriebenen
Charakter hat und von allen wahren Aussagen X, die mit wahren Aussagen
X identisch sind, Wahrheit aussagt, ebenfalls wahr. All diese nicht-
informativen Aussagen (wenn es wahr ist, daß es schneit, ist es wahr, daß
es schneit, etc.) sind, allerdings nur unter der stillschweigenden
Voraussetzung, daß es sich bei ‚X‘ um eine sinnvolle (im Gegensatz zu
‚gibberisch‘) und nicht-widersprüchliche Aussage handelt, notwendig wahr
und stimmen notwendig mit Sachverhalten überein – auf Grund ihrer
Struktur einerseits und aufgrund der Wahrheit des Identitäts- und
Widerspruchsprinzips, andererseits.
Wiederum zeigt sich, wie negativ es sich philosophisch auswirkt, wenn
Bedingungen der Wahrheit, wie z.B. die strukturelle analytisch-
tautologische Natur eines Satzes, mit einer Beschreibung der Natur der
Wahrheit verwechselt werden. Denn solche ‚Sätze‘ sind genauso wie alle
anderen Urteile eben nur deshalb wahr, weil die in ihnen gesetzten
Sachverhalte notwendig bestehen – was in ihrem Fall durch ihre
strukturelle Natur (als Urteile, nicht als Sätze) gewährleistet ist.468
Alexander Pfänder hat in seiner Logik469 gerade diesen Punkt geklärt
und die hier liegenden Sachverhalte einer ungleich genaueren philoso-
phischen Klärung unterzogen als Tarski. So formuliert Tarski das Gesetz:
jeder Ausdruck, der aus vier Teilen besteht, von denen den ersten das Wort
„wenn“, den dritten das Wort „so“, den zweiten und den vierten dieselbe
Aussage bildet, ist eine wahre Aussage;

468
Wie wir gleich sehen werden, gilt dies nicht absolut, da auch analytische Urteile
noch weitere Wahrheitsbedingungen außer ihrer Form haben: z.B. die nicht-
widersprüchliche Natur des Subjektsbegriffs und des Verhältnisses zwischen
Subjekt und Prädikat.
469
Pfänder, Logik, S. 31 ff.; 69 ff.

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448 KAPITEL 10

Dieses Gesetz über Sätze sieht ganz davon ab, daß hier erstens
vorausgesetzt wird, daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der
Worte handelt und nicht um verschiedene Bedeutungen, die nur in
denselben sprachlichen Ausdrücken gemeint werden, was Tarski ja zugibt,
indem er sein Gesetz nur für formale Sprachen mit präzise definierten
Symbolen behauptet; und daß zweitens ein solches ‚Gesetz‘ keineswegs
die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher analytischer Aussagen
besteht. Diese Wahrheit besteht eben darin, daß solche Aussagen, die den
von Tarski gemeinten logischen, aber von ihm unzureichend und rein
linguistisch beschriebenen konditional-analytischen Charakter haben, unter
den oben genannten Voraussetzungen notwendig mit Sachverhalten
übereinstimmen – auf Grund ihrer Struktur einerseits und aufgrund des
Identitäts- und Widerspruchsprinzips andererseits.
Drittens wird von Tarski‘s angeblichem ‚Gesetz‘ übersehen, daß solche
von ihm beschriebenen Sätze und auch die in diesen ausgedrückten Urteile
keineswegs notwendig wahr sind, was anzunehmen allerdings zu
Antinomien führen würde, auch in den formalisierten Sprachen, sondern
daß sie vielmehr ausschließlich dann wahr sind, wenn die betreffenden
Sachverhalte, die den „gleichen Aussagen“ (welche den zweiten und
vierten Teil dieser Gesamtaussagen bilden) entsprechen, selbst möglich
sind und keinen notwendigen Sachverhalten widersprechen, und wenn sie
insbesondere nicht in sich selber widersprüchlich sind oder
widersprüchliche Begriffe enthalten, wie etwa der Satz „wenn jemand, der
immer lügt, die Wahrheit sagt, so sagt jemand, der immer lügt, die
Wahrheit“. In dieser Variante des Lügner-Paradoxes, wenn sie in Tarskis
Form angeblich immer wahrer Sätze gegossen wird, ist die Gesamtaussage
keineswegs wahr, weil die beiden Aussageteile (der zweite und vierte Teil)
gar nicht wahr sein können und im Sinne einer logischen Paradoxie gerade
dann falsch wären, wenn sie wahr wären. Denn auch die notwendige
Wahrheit analytischer oder hypothetischer Urteile der angegebenen Sorte
ist nicht unabhängig von bestimmten ontologischen Voraussetzungen wie
der Möglichkeit (Nichtwidersprüchlichkeit) der von solchen analytischen
Urteilen gesetzten Sachverhalte und der in ihnen enthaltenen Begriffe. So
sind die analytischen Sätze ‚Alle existierenden viereckigen Kreise
existieren‘ oder ‚alle viereckigen Kreise sind viereckig‘ falsch, weil die in
solchen Urteilen entworfenen Sachverhalte unmöglich sind und die

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 449

entsprechenden Gegenstände gar nicht existieren können, so wie Kreise


nicht viereckig sein können und außerdem keine Kreise wären, wenn sie
viereckig wären.
An allen diesen philosophischen Problemen geht Tarski vorbei, wenn er
von einer ‚strukturellen Wahrheitsdefinition‘ spricht, die im Grunde
überhaupt keine Wahrheitsdefinition ist, sondern nur die Angabe der
sprachlichen Form, in der normalerweise wahre analytische oder andere
nicht-informative hypothetische Urteile ausgedrückt werden.470

1.4. Die philosophischen Mängel der semantischen und der nicht-semantisch


strukturellen Neufassung der Adäquationstheorie durch Tarski

Auch die langen Ausführungen Tarskis darüber, wie man vom Beispiel
„es schneit“ und von den Umständen, unter denen diese Aussage wahr ist,
aus über eine Aussagenvariable zu einer allgemeinen Wahrheitstheorie
kommen könne (272), zeichnen sich mehr durch unnötige Komplikationen
als durch philosophische Klärung des Sinnes von Wahrheit aus. Es zeigt
sich im Verlauf seiner Untersuchungen immer deutlicher,471 daß Tarski
nicht zu einer philosophischen Untersuchung der Natur der Wahrheit
vordringt und insbesondere nicht nach deren Wesen und Träger fragt.
Offenbar hält er Worte oder auch strukturell-deskriptive Namen für die
Träger von Wahrheit, was offensichtlich nicht stimmt, da dieselben
Bedeutungen in zahllosen verschiedenen Sprachen und Namen ausge-
drückt werden können und – ebenso evidenterweise – niemals sprachliche
Sätze, sondern nur die in ihnen ausgedrückten komplexen Bedeutungs-
einheiten (die Urteile) wahr sein können. Auch unterscheidet Tarski nicht
zwischen der Angabe strukturell-deskriptiver Namen bzw. Aussagen, die
(als analytische oder andere nicht-informative Urteile) wahr sein müssen,
und einer Definition der Wahrheit. Angesichts dieser philosophischen
Unklarheiten ist es schwer zu verstehen, wie Tarskis Auffassung der
Wahrheit zu solchem Ruhm gelangte. Denn weder die logischen Gesetze
und Träger, noch das Wesen der Wahrheit werden von ihm einer Klärung

470
Tarski, a.a.O., S. 277 f.
471
Vgl. vor allem ebd., S. 273 f.

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450 KAPITEL 10

auch nur nähergebracht, geschweige denn daß er eine solche Klärung


leisten würde. Aufgrund seiner Erwägungen gelangt Alfred Tarski zur
Feststellung, „daß der Versuch, eine korrekte semantische Definition des
Ausdrucks ‚Wahrheit‘ aufzubauen, auf wesentliche Schwierigkeiten stößt.“
(276). Damit meint er im Grunde, daß sich für die Wahrheit umgangs-
sprachlicher Ausdrücke keine präzise Definition finden oder Wesens-
analyse geben läßt.
Eine solche Schlußfolgerung ist in keiner Weise durch seine vorherge-
henden Untersuchungen, die, wie erwähnt, die eigentlichen philoso-
phischen Fragen unberührt lassen, gerechtfertigt. Aufgrund seiner höchst
unvollständigen philosophischer Ausführungen zu behaupten, daß alle
bisherigen Versuche gescheitert seien, die Wahrheit von Urteilen, die in
der Umgangssprache ausgedrückt werden, in ihrem Wesen zu bestimmen,
kann nicht philosophisch ernstgenommen und erst recht nicht für ein
korrektes oder gar abschließendes Urteil in dieser Frage angesehen werden.
Sollen die philosophisch äußerst unbefriedigenden und an Differenzie-
rung mangelnden Ausführungen Tarskis eine solche weitreichende
Folgerung, die zu einer Neuformulierung der ganzen Erkenntnistheorie und
Logik führt, rechtfertigen? Viele andere mögliche Erklärungen des Wesens
der Wahrheit als Übereinstimmung – außer den wenigen, die Tarski
vorgebracht hat – werden hier außer acht gelassen und dann wird aufgrund
der unzureichenden Zurückweisung einiger weniger und sehr unvollkom-
mener Wahrheitsdefinitionen, die Tarski anführt, behauptet, alle entspre-
chenden Versuche seien gescheitert (278).
Die Logik dieser Folgerung ist wohl nicht besser als:
nicht A; nicht B; ergo nicht C, D, E, F, G....

1.5. Weitere Kritik von Tarskis nicht-semantischer und rein linguistisch-


struktureller (syntaktischer) Wahrheitstheorie der formalisierten Sprachen

Wenn nun Tarski in § 2 seines Aufsatzes dazu übergeht, den Wahrheits-


begriff nur noch für die formalisierten Sprachen, und zwar auch dort nur
für die ärmeren, zu rechtfertigen, müssen wir an seinem Vorgehen
zunächst aussetzen, daß er den Sinn dessen, was er unter formalisierter

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 451

Sprache und formalisierter deduktiver Wissenschaft meint, keineswegs


zureichend erklärt. Zu behaupten, daß in solchen Sprachen „der Sinn eines
Ausdrucks durch eine [Wort-]Gestalt eindeutig bestimmt sei“ (280), ist
schlechthin falsch. Der Sinn eines Ausdrucks ist nämlich wesenhaft
niemals durch seine Gestalt eindeutig bestimmt. Der Sinn kann ganz
allgemein gesprochen einem sprachlichen Ausdruck oder Symbol nur
durch bedeutungsverleihende Akte gegeben werden, nicht durch eine
Beschreibung seiner Gestalt. Nicht durch irgendeine physische oder
hörbare Gestaltqualitäten, sondern nur durch das Denken in der Form
bedeutungsverleihender Akte kann also auch in den formalisierten
Sprachen einem sprachlichen Ausdruck seine Bedeutung zugewiesen
werden.
Ganz anders verhielte es sich freilich, wenn unter dem ‚Sinn‘ eines
Ausdrucks einfach nur Formen bzw. Erklärungen eines Symbols durch
andere gemeint wären. Dann hätte man aber nicht nur eine rein
formalisierte, sondern eine von jeder Bedeutung der verwendeten Symbole
absehende Sprache, von denen jedoch Tarski selber sagt, daß er formale
Wissenschaften von Sprachen ohne Bedeutung nicht berücksichtige (280).

1.6. Tarski über wahre und beweisbare Sätze und seine Annäherung an den
Begriff der Wahrheit als Adäquation mithilfe seines Begriffs des
‚Erfülltseins‘ und Bedenken gegen diesen Ersatz der Idee der
Korrespondenz

Indem Tarski auf das Hauptproblem seines Aufsatzes, nämlich die


Definition der Wahrheit, zurückkommt, verwirft er zu Recht die
Identifizierung eines wahren mit einem beweisbaren Satz (303). Zwar kann
er durch seinen früher dargelegten Begriff der Beweise (304) die an sich
berechtigte Äußerung nicht begründen, alle beweisbaren Aussagen seien
wahr, wohl aber betont er mit Recht, daß nicht alle wahren Aussagen
beweisbar sind (304). Anschließend an diese trefflichen Ausführungen
macht Tarski jedoch Äußerungen, die am Wesen der Wahrheit
vorbeizugehen scheinen (305 ff.).
Am ehesten kommt er diesem noch nahe, wenn er den Begriff des
Erfülltseins an die Stelle des traditionellen Begriffs der Übereinstimmung

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452 KAPITEL 10

setzt (307 ff.). Was aber soll an diesem Begriff gegenüber jenem der
Übereinstimmung mit den Sachverhalten klarer oder deutlicher sein, was
soll durch ihn gewonnen werden? Schon daraus, daß Tarski den Fall im
Auge hat, in dem eine gegebene Aussagefunktion nur eine freie Variable
enthält und von jedem einzelnen Gegenstand, für den die Gleichung gilt,
sinnvoll behauptet werden kann, daß er die gegebene Funktion erfülle
(308), zeigt sich, daß das Erfülltsein in Tarskis Sinn in diesem Zusammen-
hang nicht Wahrheit zu definieren vermag. Denn Wahrheit ist erstens von
der Anwendbarkeit der Gleichung oder eines Axioms auf einen einzelnen
Fall verschieden. Zu sagen, daß die Lichtstrahlen unter die Postulate nicht-
euklidischer Geometrien fallen, daß es „zur Geraden gar keine oder
unendlich viele Parallelen gibt“, oder daß für sie die Formel gelte Xy (wo y
„gerade Linie“ bedeutet) = ’, ist keineswegs dasselbe wie zu sagen, „es ist
wahr, daß es zu einer gegebenen Geraden (oder zu einem Lichtstrahl)
unendliche viele (oder gar keine) Parallelen gibt“, oder zu sagen „die
Ausdehnung einer geraden Linie ist unendlich“. Dasselbe gilt erst recht,
wenn die Formel nicht mathematischer Natur ist, sondern sich etwa nur auf
konventionell festgelegte Dinge, wie Spiele, bezieht. Die Anwendbarkeit
einer Formel auf ein Endspiel eines Schachspiels bedeutet nicht, daß dieses
Spiel oder die in ihm konventionell festgelegten Regeln „wahr“ sind.
Wenn Erfüllung gar nur die Einsetzbarkeit eines Namens in eine Gleichung
mit einer Variablen bedeutet, so hat dies offenbar nichts mit Wahrheit zu
tun, bzw. unterscheidet sich radikal von der Übereinstimmung mit
bestehenden Sachverhalten, die allein die Wahrheit eines Urteils zu
begründen bzw. darzustellen vermag. Damit zeigt sich auch die Unklarheit
des Ausdrucks und Begriffes des ‚Erfülltseins‘ und wie wenig dieser
geeignet ist, den klassischen Adäquationsbegriff zu ersetzen.
Auch aus einem weiteren Umstand geht hervor, daß der Begriff des
Erfülltseins (334 ff.) ungleich unklarer als jener der Korrespondenz oder
Adäquatio ist, obwohl auch diese der Klärung bedürfen. Das ‚Erfülltsein‘
gibt es ja auch im Falle von Spielen, die nichts mit Wahrheit und
Übereinstimmung mit Sachverhalten zu tun haben, etwa bei Schachspielen,
in denen einzelne Partien die Regeln und andere schachliche Gesetze oder
Ratschläge eines Meisterspielers erfüllen.472 Erfüllen in dem weiten

472
Vgl. Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 453

Tarskischen Sinne hat also nichts mit Wahrheit zu tun und ist außerdem ein
viel allgemeinerer Begriff, von dem das Erfülltsein einer Aussage durch
den ihr entsprechenden Sachverhalt höchstens eine mögliche Form ist.
Also kann unmöglich die Erklärung von Wahrheit durch den Begriff des
Erfülltseins als Fortschritt in der Klärung des Wahrheitsbegriffes gelten.
Das Einfache, zu klären, was die Wahrheit eines Urteils ist, wird von
Tarski nicht vollbracht, sondern andere allgemeinere Dinge werden erklärt.
Er selbst gibt zu, daß der Begriff des Erfülltseins durchaus mehrdeutig
ist,473 bestimmt aber weder diese vielen Bedeutungen klar noch hält er sie
de facto für getrennt. Dabei zeigen sich rasch die Folgen dieser Verwirrung
für die Wahrheitstheorie (347 ff.).

1.7. Kritik der atomischen Theorie der Wahrheit von allgemeinsätzen

Noch an einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nehmen wir Anstoß,
an seiner atomistischen Erklärung von Allgemeinurteilen. Wenn er etwa
die Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von
endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine
gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann löst er den Wahr-
heitsanspruch eines Universalurteils in den aller einzelnen Aussagen, die
unter ihn fallen, auf. Ist dies jedoch haltbar? Spricht jedes Universalurteil,
auch wenn es nicht die Form eines Allsatzes, sondern scheinbar die eines
Singulärurteils annimmt, wie „der Mensch ist sterblich“ oder „die Gerade
ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten“, wirklich nur von den
konkreten einzelnen individuellen Fällen, auf die es hinweist? Hat es nicht
selbst einen allgemeinen Sachverhalt zum Gegenstand? Ist daher nicht
auch sein Wahrheitsanspruch ein einfacher und nicht einer, der sich in eine
potentiell unendliche Vielfalt individueller Urteile auflösen oder auf diese
reduzieren ließe, was vielleicht auf andere Universalurteile wie „jeder
Mensch in diesem Haus besitzt einen Paß“ zutrifft? Jedes singuläre Urteil,
indem es einen Namen oder ein Demonstrativpronomen verwenden muß,
um einen individuellen Sachverhalt, und jedes Partikularurteil, das
allgemeine Begriffe niedrigerer Ordnung, also spezifischerer Art, enthält,

473
Tarski, a.a.O., S. 346.

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454 KAPITEL 10

ist niemals selbst in dem ihm übergeordneten Universalsatz in solcher


Weise enthalten, daß seine Wahrheit einfach aus dem Universalurteil allein
folgen würde oder daß dessen Wahrheitsanspruch sich in die Wahrheits-
ansprüche aller unter ihn fallenden Singulärurteile und Arturteile auflösen
ließe. Umgekehrt ist ein echtes Universalurteil, das nicht über eine
bestimmte Anzahl von Individuen oder Unterarten, sondern über die Natur
oder Art von etwas urteilt, immer mehr als die Gesamtheit von Partikular-
oder Singulärurteilen. Seine Wahrheit ist nicht auf die Wahrheit der
Summe von Partikular- und Singulärsätzen reduzierbar, die unter ihn
fallen. Diese Unreduzierbarkeit gilt vor allem dort, wo die allgemeinen
Naturen, um die es sich handelt, schlechthin notwendig sind und deshalb
für alle wirklichen, künftigen, vergangenen und unendlich viele mögliche
Welten gelten.
Zwar folgt aus strikten Arturteilen oder universalen Urteilen (im
Unterschied zu solchen, die nur den Normalfall, den typischen Fall oder
den Idealfall meinen) die Wahrheit aller möglichen einzelnen Urteile, die
wirklich unter das allgemeine Urteil fallen, d.h. auf die dieses anwendbar
ist, in gewisser Weise aus diesem und ist in einem ganz bestimmten Sinn
‚in ihm enthalten‘, jedoch beinhalten Singuläraussagen und Partikularsätze
stets mehr als das ihnen übergeordnete Allgemeinurteil selbst (und
umgekehrt). Da diese Singulärurteile weitere Voraussetzungen wie etwa
die Existenz eines Individuums, auf das sie zutreffen, haben, folgen sie
nicht einfach aus dem Universalurteil. Die Unreduzierbarkeit von
Singulärurteilen auf Allgemeinurteile und umgekehrt geht also auch daraus
hervor, daß ein Universalurteil wie ‚alle Menschen sind sterblich‘ ganz
gleich wahr bleibt, auch wenn die unter es fallenden Partikular- oder
Singulärurteile nicht wahr wären, weil die über das Universalurteil
hinausgehenden Bedingungen von deren Wahrheit (etwa die Existenz von
bestimmten Individuen) nicht vorliegen. Denn die Wahrheit eines
Singularurteils hängt – außer von jener des übergeordneten Universal-
urteils – auch von dem Vorliegen weiterer Fakten ab. So ist der Satz ‚der
Pole Theobald Sigfridowid Tarskieowicz ist sterblich‘ nicht wahr, wenn
ein solcher Mensch gar nicht existiert, was die Bedingung seiner
Sterblichkeit ist, nicht mehr lebt, oder wenn er kein Pole ist. Also kann die
Wahrheit des Allgemeinurteils unmöglich auf jene von Einzelurteilen, die

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 455

in vielen Fällen Existenz, Leben usf. von Individuen voraussetzen, die


nicht im Universale als solchem gründen, reduziert oder gegründet werden.
Vor allem behauptet das Universalurteil (etwa „alle Menschen sind
sterblich“) oder das Arturteil (etwa „der Mensch ist ein leib-geistiges
Wesen“) einen bestimmten allgemeinen Sachverhalt, in Übereinstimmung
mit dem es wahr ist, und nicht eine Vielfalt atomistischer Sachverhalte, so
als ob es sich in eine Unzahl einzelner Aussagen auseinanderlegen ließe.
Eine ganz andere Frage ist die erkenntnistheoretische, ob im Falle
induktiver Allgemeinheiten die Wahrheit des nur durch Erkenntnisse aller
unter das Universale fallenden einzelnen Fälle und durch die Zuhilfenahme
der sogenannten „Regel der unendlichen Induktion“, oder auch durch eine
vollständige Induktion,474 erkenntnismäßig begründet werden kann. Auch
wenn wir dies bejahen, so läßt sich der Wahrheitsanspruch selbst nicht in
unendlich viele Wahrheitsansprüche atomistischer Einzelaussagen
auflösen.
Auch daß über unendliche Klassen keine Wahrheit aussagbar sei und
daß andererseits gelte „x ist eine w a h r e A u s s a g e – symbolisch xeWr
– dann und nur dann, wenn xe As und wenn jede unendliche Folge von
Klassen x erfüllt“ sei475, ist offensichtlich falsch (da es z.B. weder für
Singuläraussagen noch für umgangssprachliche Aussagen gilt) und läßt
sich durch Tarskis philosophische Ergebnisse ebenso wenig begründen wie
die Einführung einer Metametawissenschaft, die auf die voreilige
Ausschaltung des traditionellen Wahrheitsbegriffs zurückgeht476. Unzurei-
chend bleibt auch Tarskis Kritik des relativen Wahrheitsbegriffs bei
Hilbert (318 ff.). Und ebensowenig bringen die vielen Definitionen und
Sätze Tarskis (323 ff.) eine philosophische Klärung dessen, was Wahrheit
bzw. was deren Verhältnis zu den zugrundeliegenden Sachverhalten sei
oder begründen seine Forderung nach einer Einführung verschiedener
Axiome für jede metatheoretische Ebene (333 ff.).

474
Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, S. 383.
475
Tarski, a.a.O., S. 313, Definition 23.
476
Ebd., § 1; vgl. auch ebd., S. 314.

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456 KAPITEL 10

1.8. Kritik an Tarskis Verwechslung von Wesen und Kriterium der Wahrheit
und an der These, das Widerspruchsprinzip folge aus der
Wesensbestimmung der Wahrheit statt umgekehrt von dieser vorausgesetzt
zu sein, sowie an der These, die Klasse aller wahren Sätze bilde ein
widerspruchsfreies deduktives System

Auch verwechselt Tarski, so scheint es, Wesen und Kriterium der


Wahrheit, denn er erhebt den Anspruch (358 f.), daß seine Definition der
wahren Aussage auch ein allgemeines Kriterium der Wahrheit bieten solle.
An dieser Stelle könnte man eine enge Beziehung zwischen Tarskis und
Poppers Wahrheitstheorie feststellen, auf die wir gleich zurückkommen
werden.
Ferner ist die Idee Tarskis (346, 358 ff.), daß das Widerspruchsprinzip
aus dem Wahrheitsbegriff folge, unbegründet. Ganz im Gegenteil setzen
die in wahren Urteilen behaupteten Sachverhalte schon für ihr Bestehen
und ihren Sinn notwendig das Widerspruchsprinzip voraus, und zwar das
ontologische Widerspruchsprinzip, das besagt, daß dasselbe nicht zugleich
sein und nicht sein kann, bzw. daß nicht zwei kontradiktorische
Sachverhalte zusammen bestehen können. Auch setzt Wahrheit das
logische Widerspruchsprinzip voraus, daß von zwei kontradiktorisch
entgegengesetzten Urteilen nicht beide wahr sein können.
Die Widerspruchsfreiheit aller wahren Sätze folgt weiters aus dem Satz
vom Widerspruch, der gerade eine solche Widerspruchsfreiheit der
Wahrheit bzw. der Wirklichkeit behauptet, und nicht, wie Tarski annimmt,
aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der nur eine dritte
Möglichkeit außer Sein oder Nichtsein, wahr oder falsch ausschließt. Aus
dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten folgt daher, daß es keinen Zustand
jenseits von ontologischen oder urteilsmäßigen kontradiktorischen
Gegensatzpaaren gibt, was auch in einer widerspruchsfreien Welt möglich
wäre, wie es ja zu konträren Gegensätzen wie „Der Tisch X ist ganz
schwarz“ und „der Tisch X ist ganz weiß“, die nicht beide wahr sein
können, unendlich viele dritte Möglichkeiten gibt.
Ebenso unhaltbar ist Tarskis Behauptung, daß der Satz vom
Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, gemeinsam mit
dem schon erwähnten Satz über die Folgerungen aus den wahren
Aussagen, daß diese nämlich selbst wahr sein müssen, zeigen, daß die

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 457

Klasse aller wahren Aussagen ein widerspruchsfreies und vollständiges


deduktives System bilde.477
Daß die Klasse aller wahren Sätze ein vollständiges deduktives System
bilden solle, ist erstens nicht wahr, da es viele der Freiheit entspringende
und andere kontingente Sachverhalte gibt, die sich nicht aus anderen
Sachverhalten deduzieren lassen und folgt zweitens nicht im geringsten aus
den erwähnten Prinzipien. Solche leicht hingestreuten Aussagen gibt es in
Tarskis Aufsatz viele478.
Auch die Behauptung, daß die Klasse aller beweisbaren Sätze ebenfalls
ein widerspruchsfreies (obwohl nicht notwendig vollständiges) deduktives
System bilden müsse,479 ist unrichtig und setzt fälschlich voraus, daß nur
deduktive Beweise möglich seien. Es gibt aber auch andere Beweise, die
sich auf das Wesen bestimmter Wirklichkeitsbereiche stützen und
unmittelbare Schlüsse anwenden, ebenso wie es viele Arten induktiver
Beweise gibt, die Tarskis Äußerungen darüber, daß die Klasse aller
beweisbaren Sätze ein widerspruchsfreies deduktives System bilden müsse,
in keiner Weise entsprechen.
Wir haben auch schon auf die Künstlichkeit der Begriffe einer rein
semantischen ebenso wie einer nicht-semantischen, rein syntaktisch-
strukturellen, Wahrheitsdefinition hingewiesen. Es geht bei den rein
strukturell-wahren Sätzen in Wirklichkeit erstens nicht um rein sprachliche
Sätze, die gar nicht wahr sein könnten, sondern um wahre Urteile, die in
diesen Sätzen ausgedrückt sind; zweitens sind, selbst im abgeleiteten Sinn
von Wahrheit, den wir Sätzen (stellvertretend für die in ihnen ausgedrück-
ten Urteile) zuschreiben können, Sätze nicht aus rein strukturell-
linguistischen Gründen wahr, sondern weil sie Urteile ausdrücken, die
aufgrund ihrer Struktur (weil sie analytische oder andere nicht-informative
Urteile sind) wahr sind (vorausgesetzt, daß ihr Subjektsbegriff nicht selbst
widersprüchlich ist). Daraus folgt jedoch nicht im geringsten, daß ihre
Wahrheit, die in ihrer Übereinstimmung mit dem behaupteten Sachverhalt

477
Tarski, ebd., S. 359: „Diese beiden Sätze...zeigen, daß die Klasse aller wahren
Aussagen ein widerspruchsfreies und vollständiges deduktives System bildet.“
478
Vgl. Etwa Tarski, ebd., S. 359 ff.
479
Ebd., S. 359.

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458 KAPITEL 10

besteht, eine andere Wahrheit sei oder anders definiert werden müsse als
die von Tarski als semantische bezeichnete.480
Fassen wir noch einmal die Hauptpunkte unserer Kritik der Wahrheits-
theorie Tarskis zusammen:

1.9. Hauptpunkte der Kritik an Tarskis Wahrheitstheorie – eine


Zusammenfassung

1. Es scheint uns, daß in Tarskis semantischer Wahrheitsdefinition,


wenn diese auch – und das bildet ein Hauptverdienst dieses Philosophen –
eine Äquivalenz mit der Adäquationstheorie der Wahrheit anstrebt,
niemals das eigentliche Wesen der Wahrheit zum Ausdruck gebracht wird.
Das Selbstverhalten der Sachen, das Bestehen von Tatsachen oder
Sachverhalten, mit denen das wahre Urteil übereinstimmen soll, wird im
Sinne einer bloßen Addition mit bestimmten Sätzen, die als wahr
bezeichnet werden dürfen, dargestellt; durch die Konjunktion „und“
werden das Bestehen des Sachverhalts und der Satz, der das wahr zu
nennende Urteil zum Ausdruck bringt, verbunden. Das genügt aber nicht,
um das Wesen der Wahrheit zu klären, was schon daraus hervorgeht, daß
andere zureichende Bedingungen für Wahrheit statt des Sachverhalts, mit
dem ein wahres Urteil übereinstimmen muß, um wahr zu sein, gleich gut
mit dem Ausdruck ‚x ist wahr dann und nur dann, wenn...‘ verbunden
werden können.
Aus diesen Fehlern folgt die Schwäche der Wahrheitsdefinition Tarskis,
daß die bloß durch ein „und“ ausgedrückte Beziehung zwischen Satz bzw.
Urteil und Sachverhalt nicht genügt, um Wahrheit zu definieren oder zu
charakterisieren. Denn sowohl der Satz als auch das Urteil könnten in einer
solchen rein additiven Wahrheitsdefinition unter Umständen durch ganz
andere notwendige und hinreichende Bedingungen der Wahrheit
ausgetauscht werden (wie etwa durch die Übereinstimmung mit einem
allwissenden Wesen, mit einem ‚mit Evidenz urteilenden Subjekt‘, usf.),
ohne eine solche (sicher als Definition inkorrekte) formal-additive
„Definition“ der Wahrheit im Stile Tarskis falsch wäre. In diesen Fällen

480
A.a.O., S. 360.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 459

würde jedoch gerade nicht das zum Ausdruck gebracht, was Wahrheit ist,
sondern nur eine notwendige oder hinreichende Bedingung derselben, die
von ihrem Wesen zu unterscheiden ist, wie wir schon in früheren Kapiteln
über Brentano, die Kohärenz- und die Konsenstheorie der Wahrheit
gesehen haben.
Um zum Ausdruck zu bringen, worin Wahrheit besteht, muß auf die
spezifische Struktur des Urteils und auf jenes Zusammentreffen der
urteilenden Setzung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten dieses
Sachverhalts bzw. mit dem Verhalten der Sachen selbst, zum Ausdruck
gebracht werden.
2. Weil Tarski diese schlichte und evidente Tatsache, das Wesen der
Wahrheit, niemals zum Ausdruck bringt, sieht er sich gezwungen, eine
ungeheuer komplizierte Theorie der Wahrheit verschiedener Sprachen und
verschiedener Ansatzpunkte zu entwickeln und viele Wahrheitsdefini-
tionen (die ‚semantische‘ additiv-repetitive, die enumerative, die durch das
„Erfülltsein“, die strukturelle, usw.) zu entwerfen, anstatt in die schlichte
Gegebenheit dessen einzudringen, was Wahrheit ist und was, wie er selber
sagt, jedermann in seiner vorphilosophischen Erkenntnis bekannt ist.
Wahrheit in diesem Sinn ist letztlich eine schlichte Urgegebenheit, die
einfach zu fassen ist; und sie ist prinzipiell genau dasselbe in formalisierten
Sprachen, in der Umgangssprache und in Metasprachen jeder Ordnung.
3. Der eigentliche Träger der Wahrheit, die komplexe Bedeutungs-
einheit und jenes besondere objektive Gedankengebilde des Urteils, das
allein wahr und falsch sein kann, wird von Tarski nicht deutlich, wenn
überhaupt, als solches gefaßt. Das Urteil als Träger der Wahrheit wird mit
dem Satz, dem sprachlichen Gebilde, das nur der Leib des Urteils ist,
welches durch den Satz ausgedrückt wird, identifiziert.
4. Deshalb gelangt Tarski unserem Urteil nach zum Irrtum, daß die
Wahrheit eines Urteils bzw. eines Satzes nur relativ auf die jeweilige
Sprache sei, was eben nur von der Sprache, die von Wortdefinitionen und
vom Wortgebrauch abhängt, nicht von Urteilen und Bedeutungseinheiten
gilt. Tarski verkennt, daß die Wahrheit überhaupt nicht von Sätzen,
sondern von den in ihnen ausgedrückten Urteilen getragen wird. Diesen
kommt jedoch Wahrheit im absoluten und nicht in einem relativen Sinne
zu. Ein Urteil, d.h. ein ganz bestimmtes Bedeutungsgebilde, kann nur

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460 KAPITEL 10

entweder wahr oder falsch sein, und ist dies absolut nicht in Abhängigkeit
von irgendeiner Sprache oder einem Sprechenden.
5. Aus den erwähnten Schwächen ergibt sich ferner der monströse, die
ganze Philosophie und alle Wissenschaften, die sich nicht formalisierter
Sprachen bedienen, erschütternde Gedanke, daß Tarski glaubt, für die
Umgangssprache könne überhaupt keine klare und tragfähige Definition
der Wahrheit von Urteilen gegeben werden. Darin irrt er, weil für jedes
Urteil, ganz gleich, ob es in symbolischer oder formalisierter Sprache, oder
in der Umgangssprache (normalen bzw. einfach nicht-formalisierten
Sprache) formuliert wird, für jedes behauptende Gedankengebilde, das wir
als Urteil bezeichnen, in genau gleicher Weise die Definition bzw. das
Wesen von Wahrheit gilt: jedes solche Urteil, inklusive dieses, setzt bzw.
behauptet seiner Natur nach einen Sachverhalt und erhebt damit einen
Wahrheitsanspruch, d.h. erhebt den Anspruch, in seiner behauptenden
Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen übereinzustimmen bzw.
zusammenzutreffen.
6. Es zeigt sich der Irrtum in Tarskis These, für die in normaler Sprache
formulierten Aussagen lasse sich keine klare Wahrheitsdefinition geben,
ferner daraus, daß seine eigene Theorie völlig an die Anwendbarkeit und
das Verständnis von Wahrheit innerhalb nicht-formalisierter Sprachen
gebunden ist. Für seine eigenen Aussagen beansprucht Tarski, daß sie wahr
sind und zwar genau deshalb, weil seine in umgangssprachlichen Sätzen
ausgedrückten Gedanken mit dem Selbstverhalten der Sachen übereins-
timmen. Diese ganz besondere Form und dieser irreduzible Modus der
Übereinstimmung bzw. Korrespondenz macht Wahrheit aus. Indem aber
Tarski dies und die Wahrheit seiner umgangssprachlich ausgedrückten
Urteile, auf denen seine Theorie aufbaut, voraussetzt, widerspricht er sich
selbst.
7. Von daher ergibt sich die Kritik der Idee einer Konstruktion eines
Wahrheitsbegriffs, was dem Wesen der rezeptiven Erkenntnis widerstrei-
tet. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, worin Wahrheit objektiv
besteht.
8. Der sogenannte ‚semantische Wahrheitsbegriff‘ ist nicht semantisch
und eine semantische Wahrheitsdefinition ist unmöglich, weil Wahrheit –
welchen Begriff von ‚semantisch‘ man auch zugrundelegt – immer trans-

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 461

semantischer Natur ist und ein Verhältnis zwischen Urteile (Sprache in


Tarskis Sinn) und Sachverhalt impliziert.
9. Die Idee des Erfülltseins, die Tarski an die Stelle der Übereinstim-
mung setzen will, wenn er über die rein additive Wahrheitsdefinition
hinausgeht, erweist sich als unhaltbar, weil sie im Fall der Definition von
Wahrheit durch Erfülltsein einen viel allgemeineren Begriff, der meist mit
Wahrheit nichts zu tun hat, an Stelle der Korrespondenz (Adäquation)
setzt. Wir haben erkannt, daß der von Tarski an die Stelle der Wahrheit
gesetzte Begriff des Erfülltseins wesentlich künstlicher und vieldeutiger ist
als der der Übereinstimmung.481 Denn wie erwähnt, können Schemata in
ganz verschiedener Weise erfüllt werden, können Universalien, Spiele,
Spielregeln, Handlungen, Versprechungen usf. in Individuen oder indivi-
duellen Fällen erfüllt werden, ohne daß hier jene Relation der Adäquation
vorläge, wie sie die Wahrheit eines Urteils ausmacht. Und Tarski bezieht
sich bei seiner Erklärung der ‚Erfüllung‘ auch auf derartige Fälle.
10. Tarskis rein ‚strukturell-syntaktische Wahrheitsdefinition‘ bezieht
sich in Wirklichkeit nicht auf die sprachliche Struktur, sondern auf eine
bloß durch die Definition von Symbolen oder durch bedeutungsverleihende
Akte verliehene Bedeutung der Sprachstrukturen, welche im Falle
analytischer und ähnlicher nicht-informativer Urteile eine Garantie ihrer
Wahrheit darstellt (wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen wie
der Widerspruchsfreiheit der im Urteil erscheinenden Begriffe); daher ist
eine rein strukturell-linguistische Wahrheitsdefinition unhaltbar und
vergißt ihren Ursprung. Etwas, was weder eine notwendige Bedingung von
Wahrheit ist noch deren Wesen ausmacht, zum Ausgangspunkt der
Wahrheitsdefinition zu wählen, ist außerdem mehr als unphänomenolo-
gisch und geht an der Sache (Wahrheit) ganz vorbei. Dabei wird ein
linguistisch-struktureller und abgeleiteter Grund für die Wahrheit einer
Aussage mit dem Wesen dieser Wahrheit, die nicht in der strukturellen
Eigenart eines Satzes, sondern in dessen Übereinstimmung mit der
Wirklichkeit liegt, verwechselt.
11. Wir haben bereits gesehen, daß Tarski die Frage, welche Aussagen
wahr sind, mit einer Definition des Wesens von Wahrheit verwechselt.
Dies zeigt sich besonders deutlich in seiner Analyse strukturell-

481
Darauf weist Tarski selbst (a.a.O. S. 347) hin.

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462 KAPITEL 10

deskriptiver Namen von Aussagen und vor allem von jenen Aussagen, die
aufgrund ihrer formalen Struktur, als analytische oder andere nicht-
informative hypothetische Urteile, wahr sind. Die Angabe von
Bedingungen, unter denen Urteile einer bestimmten Art wahr sind, hat
nichts mit einer Bestimmung des Wesens bzw. mit einer Definition von
Wahrheit zu tun, sofern Wahrheit sich überhaupt durch Angabe ihrer
wesentlichen Merkmale (und nicht durch Erklärung anderswoher schon
verständlicher und erklärbarer Begriffe) definieren läßt.482
12. An einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nahmen wir Anstoß,
an seiner atomistischen Erklärung allgemeiner Urteile. Wenn er etwa die
Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von
endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine
gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann verquickt er Sinn
und Wahrheitsanspruch universaler, partikulärer und singulärer Urteile und
löst den Wahrheitsanspruch eines Universalurteils fälschlich in den aller
einzelnen Aussagen, die unter ihn fallen, auf, wie wir dargelegt haben.
13. Ebenso kritisierten wir seine Verwechslung zwischen der Frage
nach dem Wesen der Wahrheit mit der Feststellung hinreichender
Bedingungen für Wahrheit.
14. Dabei ist die noch grundsätzlichere Kritik angebracht, daß der
Versuch einer Wahrheitsdefinition selbst problematisch ist und eine
Tendenz zum Reduktionismus enthält. Im letzten, weil es sich bei der
Urteilswahrheit um ein irreduzibles Datum einer einzigartigen Form von
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit handelt, kann Wahrheit auch nicht
durch irgendetwas anderes oder als etwas anderes als sie selbst definiert
werden.483 Dennoch kann sie in einem Sinn ‚definiert‘ werden, den Tarski
gerade versäumt, indem nämlich in eindeutiger und unmißverständlicher
Weise auf jene besondere Form der Korrespondenz, das Zusammentreffen
zwischen behauptender Setzung eines Sachverhalts im Urteil und dem
Selbstverhalten dieses Sachverhalts, hingewiesen und in diesem Sinne die
Wahrheit als Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit oder mit
den von ihm selbst unabhängigen Sachverhalten, definiert wird. Und genau

482
Vgl. Tarski S. 270 ff.
483
Auch darauf weist Tarski selber an manchen Stellen hin.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 463

diese schlichte philosophische Erkenntnis und richtige ‚Definition‘ von


Wahrheit verfehlt Tarski.484
Dafür gibt es noch einen weiteren Grund, der uns schon zu einem
weiteren Thema führt, nämlich zu Tarskis versuchter Lösung des
Antinomienproblems, vor allem des Lügners.
Zur Diskussion dieses Hauptarguments Tarskis für die Einführung
seiner semantischen Wahrheitsdefinition und für deren Beschränkung auf
formalisierte Sprachen endlicher Ordnung, werden wir gleich nach einem
zusammenfassenden Urteil über seine Wahrheitstheorie übergehen.
15. Wenn Tarski deshalb die Frage aufwirft, ob sein Mißerfolg bei der
Suche nach einem für formalisierte Sprachen konsequent anwendbaren
Wahrheitsbegriff zufälligen Charakter habe und etwa nur an der
Unvollkommenheit der tatsächlich angewandten Methoden liege,485 so
müssen wir diese Frage insoferne bejahen, als Tarskis Ergebnis keineswegs
notwendig aus der Natur der Sache hervorgeht, insoferne aber verneinend
beantworten, als Tarskis Scheitern sich keineswegs zufällig aus seinem
methodologischen Ansatz ergibt. Die von ihm genannte Schwierigkeit, auf
die Tarski selbst stößt und die er in das Gebiet der Metawissenschaft
verweist,486 ergibt sich nämlich zwingend aus den erörterten Fehlern in
seiner Wahrheitsdefinition und aus seiner versuchten, aber inkorrekten
Lösung des Antinomienproblems, auf die wir gleich eingehen werden.
16. Also gelangen wir nicht nur zu einer Ablehnung der meisten
Elemente der Wahrheitstheorie Tarskis, sondern auch zu einer Ablehnung
seiner Idee, daß der Ausdruck „wahre Aussage“ nicht eindeutig sei, und –
zur Vermeidung seiner Mehrdeutigkeit – für nicht-formalisierte Sprachen
durch den relativen Terminus einer in bezug auf eine gegebene Sprache
„wahre Aussage“ ersetzt werden müsse (388) oder gar auf die normal-
sprachlichen Aussagen nicht mehr anwendbar sei.
17. Bei aller Schärfe unserer Kritik der rein semantischen und der
linguistisch-strukturellen (nicht-semantischen) Wahrheitstheorien Tarskis
halten wir fest, daß wir sein Ziel, nämlich die klassische Wahrheitstheorie

484
Vgl. Etwa Tarski, a.a.O. S. 265.
485
Tarski, a.a.O. S. 369.
486
Tarski, a.a.O. S. 369.

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464 KAPITEL 10

als Korrespondenz (Adäquation) neu zu begründen, und viele andere


Elemente seiner Einsichten durchaus teilen.

2. Kritik an Tarskis Objektsprache-Metasprache-Dichotomie und an


seinem Lösungsversuch der Antinomien durch seine Neufassung des
Wahrheitsbegriffs

2.1. Tarskis Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache und die


durch sein Verbot der Grenzüberschreitung geschaffene Dichotomie
zwischen beiden

R. Carnap und A. Tarski487 entwickelten hinsichtlich der logischen


Paradoxien, die in enger Beziehung zum Wahrheitsproblem stehen, einen
ähnlichen Lösungsversuch wie Russell in seiner ‚Typentheorie‘.488
Eine Auflösung der ‚logischen Paradoxien‘ sei nur mit Hilfe der
Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache zu erreichen. Die
Objektsprache mache Aussagen über bestimmte Gegenstandsbereiche, aber
nicht über die Sprache selbst. Die Metasprache hingegen sei jene Sprache,

487
Vgl. Alfred Tarski, Logic, Semantics, and Metamathematics (Oxford: Oxford
University Press, 1956).
488
Vgl. Donald Davidson, “The Emergence of Thought”, Erkenntnis (1999); 51 (1):
7-17. Vgl. auch Hannes Leitgeb, “Truth As Translation – Part A”, Journal of
Philosophical Logic, (2001), August; 30 (4): 281-307; ders., “Truth As
Translation – Part B”, Journal of Philosophical Logic, (2001), 2001 August; 30
(4): 309-328. Vgl. ebenfalls Wolfgang Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und
die Idee der Semantik. Eine Einführung in die Theorien von A. Tarski und R.
Carnap (Wien 1957; zweite unveränderte Aufl., 1977), S. 38 ff. Vgl. auch John F.
Crosby, “Refutation of Skepticism and General Relativism”, in: D. von
Hildebrand, (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 103-123; sowie Josef
Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit
der Wirklichkeit – trotz Kant; auch in einer vom Autor revidierten und korrigierten
Version auf Spanisch erschienen: Superación del escándalo de la razón pura. La
ausencia de contradicción de la realidad, a pesar de Kant. Biblioteca filosófica
“El Carro Alado”. Traducción Rogelio Rovira (Madrid: Ediciones Cristianidad,
2007); sowie ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller
Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 465

in der Sätze über die Sprache vorkämen, über die diversen Satzteile,
Strukturen etc. der Objektsprache. So gehöre insbesondere jeder Satz, in
dem die Ausdrücke ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ vorkommen, der Metasprache
an.489 Weiters unterscheidet man Metasprachen verschiedener Ordnung
(M1, M2, M3, etc.). In einer Metasprache zweiter Ordnung würden z.B.
Sätze über Sätze vorkommen, in denen die Wahrheit oder Falschheit
anderer Sätze der Objektsprache behauptet werden. Vermeide man strikte,
das, was in der Metasprache über die Objektsprache gesagt werde, auf die
Sätze der Metasprache selbst anzuwenden, so ließen sich die logischen
Paradoxien vermeiden. Gerade dieses Verbot, irgendeinen Satz der
Metasprache über ‚alle Sätze‘ oder ‚die Wahrheit aller Sätze‘ auf sich
selber oder auf andere Sätze der Metasprache anzuwenden, führt zu jener
im Titel dieses Abschnitts als Dichotomie bezeichneten Trennung beider,
die ich als unbegründet und falsch ablehne, was ich eingehend begründen
werde.
Wenn Tarski meint, seine Kritiker dadurch abtun zu können, daß die „in
ihrer alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit an die Anwendung deduktiver
Methoden nicht gewöhnten Philosophen geneigt seien“, „alle formalisier-
ten Sprachen mit einer gewissen Geringschätzung zu behandeln, indem sie
diesen ‚künstlichen‘ Gebilden die einzige natürliche Sprache – die
Umgangssprache gegenüberstellen“,490 dann irrt sich unser Autor wieder.
Zwar mag es Philosophen geben, die alle formalisierten Sprachen mit
Geringschätzung behandeln. Dies ist aber keineswegs für das Suchen nach
einer universalen Bedeutung von Wahrheit in allen formalisierten und
Umgangssprachen vorausgesetzt; erst recht nicht dafür, um die Existenz
einer einheitlichen Bedeutung von Wahrheit auf allen sprachlichen
Ebenen, und universaler logischer Gesetze, die für sie alle gleichermaßen
gelten, zu behaupten.
Wenn daher Tarski fordert, um eine auf seinem Weg aufgebaute Theorie
der Wahrheit als widerspruchsfrei zu erkennen, daß jeweils die
Metasprache höherer Ordnung widerspruchsfrei sei, auf deren Boden man
eine zutreffende Definition der Wahrheit aufstelle und aus ihr diejenigen
Sätze, welche in der Theorie der Wahrheit als Axiome angenommen

489
W. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39.
490
Tarski, a.a.O., S. 392.

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466 KAPITEL 10

werden, ableiten könne, befindet er sich wiederum im Irrtum bzw. kann


diese Forderung unmöglich von seinen Voraussetzungen her erfüllen.491 Im
übrigen zeigt sich hier492 eine von Tarski ausdrücklich erwähnte
Ähnlichkeit zu Gödel. Die Forderung Tarskis, aufgrund seiner Definition
der Wahrheit die Widerspruchsfreiheit einer deduktiven Wissenschaft nur
auf dem Boden einer Metawissenschaft beurteilen zu können, deren
Ordnung höher sei als jene der Wissenschaft selbst,493 und das Ergebnis der
Gödel‘schen Untersuchungen, „daß es im allgemeinen unmöglich ist, die
Widerspruchsfreiheit einer Wissenschaft zu beweisen, falls man den
Beweis auf dem Boden einer Metawissenschaft von gleicher oder
niedrigerer Ordnung durchzuführen versuche“,494 so gründen diese
Aussagen eben in dem Mißverständnis, es könne keine schlechthin
universal gültigen Evidenzen geben und in der Meinung, die Begründung
einer Erkenntnis müsse jeweils dadurch erreicht werden, daß diese
Erkenntnis selbst wieder zum Gegenstand einer Theorie höherer Ordnung
werden müsse. Dies würde nur dann gelten, wenn Tarski damit recht hätte,
daß es keine schlechthin allgemeinen und auf alle sprachlichen Ordnungen
anwendbaren Prinzipien geben könne, was wir widerlegen möchten, oder
wenn Gödel bewiesen hätte, daß alle Aussagen eines Systems innerhalb
desselben formal unentscheidbar sind, weil sie immer Gegenstand anderer
Beweise oder Begründungen sein müßten, deren Grundlagen in einem
System höherer Ordnung liegen müßten.
In Wirklichkeit können zwar wirklich nicht alle Aussagen innerhalb
eines deduktiven Systems bewiesen werden, aber nicht deshalb, weil wir in
einem unendlichen Regress immer weitere Metasprachen oder Meta-
wissenschaften höherer Ordnung aufsuchen müßten, und deshalb in jeder
Theorie innerhalb derselben unentscheidbare Aussagen hätten, wie Tarski
meint,495 sondern vielmehr deshalb weil es durch sich selbst evidente und
einsichtige Prinzipien gibt, die unmöglich begründbar wären, wenn sie
durch andere Prinzipien eines deduktiven Systems bewiesen werden
müßten und zu deren Einsichtigkeit vielmehr gerade dies gehört, daß sie
491
„Nachwort“, a.a.O., S. 399 f.
492
A.a.O., S. 400 ff.
493
Tarski, a.a.O. S. 400.
494
Tarski, ebd. S. 400.
495
Tarski, a.a.O. S. 401.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 467

keiner Begründung durch Beweis fähig und bedürftig sind und zugleich für
sämtliche mögliche Systeme jeder möglichen Ordnung gelten. Wenn man
einmal erkennt, daß aus dieser Annahme keineswegs die von R. Carnap,
Gödel und Tarski angenommenen Antinomien folgen,496 so haben wir die
Grundlagen für eine erforderliche post-gödelsche und post-tarskische
Wissenschaftstheorie und Auflösung der Antinomien gelegt. Sicher
müßten unsere Grundthesen und, wie wir meinen, Einsichten weiter
entfaltet, begründet und erforscht werden.497 Doch mag das hier Gesagte
zumindest dafür ausreichen, um zu erkennen, daß die von Gödel, Tarski
und anderen Autoren gewiesenen Wege nicht die einzig möglichen, ja
nicht einmal richtige Wege sind, um die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit bzw. nach ihrer Definition, oder um die großen Probleme der
logischen Antinomien zu lösen.
Erst recht ist die von Tarski vermutete Geringschätzung für
formalisierte Sprachen nicht erforderlich, um einzusehen, daß eine
Beschränkung der Wahrheitsdefinition auf formalisierte Sprachen, und ein
Aufgeben des Versuches als hoffnungslos, den ursprünglichen Sinn des
Wortes Wahrheit zu entdecken, wie er sowohl auf die nicht-formalisierte
Sprache und Umgangssprache als auch auf die formalisierten Sprachen
Anwendung findet, als völlig unberechtigten Reduktionismus der
Wahrheitstheorie zu erkennen. Ja, wie wir gesehen haben, setzen Tarskis
eigene Untersuchungen, die ebenfalls in der Umgangssprache geführt und
erklärt werden, ständig voraus, was er leugnet: nämlich ein Verständnis der
Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen und die Anwendbarkeit von
gewissen Sätzen über alle objektsprachlichen Aussagen auf diese selbst.
Ein solches Verständnis oder Vorverständnis muß sich aber auch
philosophisch aufklären lassen, was auch möglich ist, wie wir gesehen
haben. Ohne formalisierte Sprachen zu verachten oder ihren großen Wert

496
Vgl. dazu auch R. Karna, „Die Antinomien und die Unvollständigkeit der
Mathematik“, Monatshefte für Mathematik und Physik, Band 41 (Leipzig 1934, S.
263-284); und ders., „Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen
Mathematik“, ibid., Band 42 (Leipzig 1935, S. 163-140); ders., Logische Syntax
der Sprache, (Wien 1934).
497
Vgl. auch Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die
Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant. Ein Werk über logische und
mathematische Antinomien ist in Vorbereitung.

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468 KAPITEL 10

im Rahmen der mathematischen Logik, der Mathematik und anderer


Gebiete zu übersehen, können wir Tarskis Ansicht durchaus nicht teilen, er
habe in den Erörterungen des § 1 nachgewiesen, daß der Wahrheitsbegriff
und andere ‚semantische‘ Begriffe in ihrer Anwendung auf die
Umgangssprache – bei Verwendung der normalen Gesetze – „unbedingt zu
Verwicklungen und Widersprüchen führen“498. Diesbezüglich werden wir
erkennen, daß unsere Kritik der Tarski‘schen Theorie radikal verschiedene
philosophische Folgerungen und Schlüsse hinsichtlich der logischen
Paradoxien und Antinomien und ihres Verhältnisses zum Wahrheitsbegriff
als richtig erkennt als Tarski.
Ein erster Teil der A. Tarski‘schen Lösung des Antinomienproblems
liegt in seiner Wahrheitstheorie, deren einschlägige Teile wir deshalb im
Rahmen unserer kritischen Untersuchung teils wiederholen, teils im
folgenden auch in erweiterter Form darstellen und einer kritischen Prüfung
unterziehen müssen.

2.2. Allgemeine Kritik an Tarskis Konstruktion einer Dichotomie zwischen


Objektsprache und Metasprache und seinem Verbot der ‚Selbstanwendung‘

2.2.1. Führt die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit auf


Gedanken, die in der normalen Sprache ausgedrückt werden, wirklich zu
logischen Antinomien? Die Fragwürdigkeit dieser Thesen

Abgesehen von den schon vorgebrachten kritischen Überlegungen zu


Alfred Tarskis semantischem Wahrheitsbegriff müssen wir uns Tarskis
Meinung kritisch zuwenden, daß die Wahrheit im Sinne der Adäquation,
wie er sie durch seinen semantischen Wahrheitsbegriff besser fassen zu
können glaubt, sobald sie von der Umgangssprache prädiziert werde, zu
offenbaren Widersprüchen führe, insbesondere zur sogenannten Antinomie
des Lügners. Zumindest seien Situationen bekannt, in denen scheinbar
unproblematische oder sogar evidente Behauptungen von eben diesem
Typus der als wahr bezeichneten Ausdrücke der Umgangssprache zu
Widersprüchen führen. Also sei die scheinbar so einleuchtende Wahrheits-
definition, die Aristoteles gibt und die Alfred Tarski in ihrer objektiven
498
Tarski, a.a.O. S. 392-393.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 469

Einschränkung auf endliche nicht-formalisierte Sprachen erkannt habe,


sobald sie für umgangssprachliche Ausdrücke verwendet werde, aufgrund
der Antinomien fragwürdig.
Alfred Tarski unterläßt dabei jede ernsthafte Untersuchung der grundle-
genden Fragen, wie denn eine Wahrheitsdefinition, die auf formalisierte
Sprachen beschränkt sei, die Wahrheit von umgangssprachlichen Sätzen,
die es offenbar gibt und die Tarski voraussetzt, erklären soll, ebenso wie er
es unterläßt, die evidente Tatsache zu erklären, daß und warum die
Wahrheit der in formalisierten Sprachen oder in der Umgangssprache
ausgedrückten Urteile eine Übereinstimmung der Urteile mit Sachverhal-
ten und daher eben niemals eine rein semantische Eigenschaft sprachlicher
Gebilde ist, gleich welchen Begriff von ‚semantisch‘ man verwendet.
Gleichermaßen läßt er das Problem unbehandelt, ob es denn nicht evident
ist, daß wirklich bestehende Sachverhalte auf Grund der evidenten
Wahrheit des Widerspruchprinzips unmöglich einander widersprechen
können, und daß deshalb wahre Aussagen über sie, deren setzende
Behauptung von Sachverhalten mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst
übereinstimmt, niemals widersprüchlich sein können.
Von einer solchen Untersuchung her würde sich zweifellos die
Erkenntnis ergeben, daß die Lügnerantinomie nicht in der klassischen
Wahrheitsdefinition einerseits und in möglicherweise wahren Aussagen
andererseits ihre Ursache hat, sondern vielmehr in in sich widerspre-
chenden Annahmen, also in Sachverhalten, die es prinzipiell überhaupt
nicht geben kann. Sowohl die Darstellung des Lügnerparadoxes als auch
dessen Auflösung bleiben dementsprechend bei Alfred Tarski unbefriedi-
gend – ein formalistisches Spiel, in dem weder die Natur der Wahrheit
noch die von ihr vorausgesetzten Prinzipien oder Sachverhalte geklärt
werden.499
Viel eindrucksvoller sind diesbezüglich die von Charles Sanders Peirce
1868 vorgelegten Analysen des Lügners und der Gründe und Struktur der
widersprüchlichen Behauptung dieser logischen Paradoxie.500
Zu meinen, daß der ‚Universalismus‘ der Umgangssprache und ihre
‚universalistische Tendenz‘ der Grund für Antinomien wie die Lügner-

499
Tarski, a.a.O. S. 271.
500
Siehe Peirce, Collected Papers, 5, S. 340.

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470 KAPITEL 10

antinomie sei, läßt sich unschwer als falsch erkennen.501 So läßt sich auch
die Behauptung Tarskis keineswegs rechtfertigen, daß durch seine Unter-
suchungen die Möglichkeit eines konsequenten und dabei mit den Grund-
sätzen der Logik und dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden
Gebrauchs des Ausdrucks ‚wahre Aussage‘ und, was daraus folgen würde,
die Möglichkeit des Aufbaus irgendwelcher korrekter Definitionen dieses
Ausdrucks ‚wahr‘, in Frage gestellt seien. Keine dieser Behaup-
tungen.Tarskis502 läßt sich rechtfertigen, wie wir sehen werden.
Die Meinung Tarskis, daß nur durch die Einführung der Unterscheidung
zwischen Sprache und Metasprache503 Antinomien vermieden werden
könnten, und vor allem daß diese sich nur durch ein striktes Verbot der
Selbstanwendung von Sätzen der Metasprache ausschließen ließen504 –
eine Lösung, die der Russell‘schen Typentheorie ganz ähnlich ist – läßt
sich durch eine Reihe kritischer Überlegungen, die wir im folgenden
ausführen möchten, widerlegen.

2.2.2. Eine antizipatorische Kritik Tarskis durch Peirce und Schröder

Auch diesbezüglich scheint Charles Sanders Peirce in seinen Collected


Papers 5 viel richtiger identifiziert zu haben505, daß dem Lügner eine
widersprüchliche Annahme zugrunde liegt. Peirce arbeitet dabei506 eine
Weise heraus, in der die Aussage des Lügners sinnlos ist, was durchaus
damit verträglich ist, daß sie in anderer Hinsicht nicht jedes Sinnes beraubt
ist. Ausgezeichnet führt er aus, indem er Paulus Venetus507 folgt, daß nicht
kein Satz, wie Russell und Tarski meinen, sondern jeder Satz über sich

501
Tarski, a.a.O., S. 278.
502
Tarski, ebd., S. 279.
503
A.a.O., S. 282 f.
504
Vgl. Bertrand Russell/Whitehead, Principles of Mathematics, 2nd ed. (London,
1937).
505
A.a.O., S. 211 ff.
506
A.a.O., S. 34 f.
507
Sophisma der Aurea, Nr. 50. Vgl. auch Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48,
5. Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen
These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977),
38-52.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 471

selbst spricht, indem jeder Satz seine eigene Wahrheit mitbehauptet. Doch
gehen wir der Reihe nach diese Widerlegungen durch:

2.3. Kritik der Position Tarskis im Einzelnen

2.3.1. Einsichten Tarskis und Fälle unberechtigter ‚Selbstanwendung‘


metasprachlicher Aussagen auf sich selbst

Zweifellos gibt es eine Reihe berechtigter Anliegen und echter


Einsichten Tarskis in seiner Unterscheidung zwischen Objekt- und
Metasprache. So gibt es jenen Unterschied, welcher der Distinktion
zwischen Sprache und Metasprache entspricht, es gibt ein Reden über
Dinge und ein Sprechen über Sprache, und auch (was ganz verschieden ist)
ein Urteilen von Sachverhalten in der Welt außerhalb von Urteilen und ein
Urteilen über Urteile. Vor allem gibt es den Unterschied zwischen
Aussagen über nicht-sprachliche Dinge und über sprachliche Gebilde. Ob
für die Erfassung dieses Unterschiedes die Ausdrücke und die Kategorien
‚Objektsprache‘ und ‚Metasprache‘ glücklich gewählt sind oder schon ein
starres und unberechtigtes Auseinanderreißen verschiedener Ordnungen
nahelegen, bleibe dahingestellt.
Eine weitere Einsicht Tarskis betrifft die Tatsache, daß es eine Art von
über sich selber Sprechens metasprachlicher Aussagen gibt, die unsinnig
und logisch unzulässig ist. Mit anderen Worten ist unsere Kritik an dem
Verbot jeglicher Selbstanwendung von metasprachlichen Urteilen durchaus
mit der Meinung Ernst Schröders508 verträglich, daß es einen Sinn von
‚über sich selbst Sprechen‘ gibt, der bei bestimmten Aussagen unmöglich
bzw. logisch unzulässig ist; und darin sei die folgende Form des Lügner-
Paradoxes begründet: „ich sage hiermit eine Unwahrheit“, oder
„gegenwärtige Aussage ist unrichtig“, „die von jemand ohne allen Bezug
auf vorangegangene oder nachfolgende Aussagen für sich hingestellt“
ist.509 Diese Art der Selbstanwendung eines Reflexionsurteils ohne ein
anderes Urteil zu haben, auf das es sich bezöge, ist tatsächlich unzulässig,
aber nicht weil kein Urteil auf sich selbst bezogen sein kann oder weil kein
508
1891, in seinen Vorlesungen über die Algebra der Logik, S. 7-8.
509
a.a.O. S.7, a.a.O. S. 244.

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472 KAPITEL 10

Urteil einer Metasprache über sich selbst oder ein anderes Urteil der
Metasprache urteilen könnte, sondern vielmehr weil ein Wahrheitsurteil
immer ein anderes Urteil oder einen anderen Urteilsteil, der etwas anderes
als die eigene Wahrheit behauptet, voraussetzt.
Insofern erweist sich Tarskis Unterscheidung zwischen (Objekt)
Sprache und Metasprache als nützlich, um die Fassung des Lügner-
Paradoxes durch Lukasiewicz richtig zu fassen: „Der Satz erster Ordnung,
welcher in diesem Buch auf S. 107, Zeile 3, gedruckt steht, ist nicht wahr“.
Dort steht aber kein solcher Satz.510 Wenn Stegmüller diese Fassung des
Lügner-Paradoxes für besser hält als die antike, übersieht er, daß hier
überhaupt keine sinnvolle Aussage vorliegt, weil von einem nicht
existierenden Satz Falschheit ausgesagt wird. Wo soll da das Paradox
herkommen oder der paradoxe Widerspruch? Es handelt sich hier vielmehr
um einen sinnlosen Satz der Metasprache, der notwendig ein zweites Urteil
voraussetzt, ohne daß dieses vorhanden wäre. Nur wenn dieser Satz auf
sich angewendet wird, finden wir ein Paradox, das aber gleichfalls im
Gegensatz zum klassischen Lügner-Paradox ein uneigentliches Paradox ist,
wie wir anderswo ausführlich begründen möchten, und das eigentlich in
einem wegen seiner logischen Unvollständigkeit sinnleeren Satz besteht,
der die rein logisch-grammatischen Bedingungen des Sinnes von
Wahrheitsurteilen verletzt.511
Es ist wohl eine weitere Erkenntnis, die der Unterscheidung zwischen
Objektsprache und Metasprache zugrundeliegt, daß man niemals in einem
und demselben Urteil allein die Wahrheit eben dieses Urteils zum direkten
Gegenstand haben kann – ohne Bezug auf ein anderes Urteil, das nicht ein
Wahrheitsurteil ist; ich kann nicht sagen ‚dieses Urteil ist wahr‘ … und
sonst nichts.
Jedes Urteil als solches sagt einen Sachverhalt aus, der von ihm selbst
verschieden ist. Das Wahrheitsurteil, auch wenn es implizit in jedem Urteil
steckt, ist immer ein neues, zweites Urteil. Dies impliziert einen ganz
neuen Sinn der Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache:
kein Urteil kann unmittelbar die eigene Wahrheit zum Gegenstand haben,

510
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 40.
511
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen.
Vgl. auch Luis Flores, „Edmund Husserl’s Logische Untersuchungen“.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 473

ohne selbst zugleich etwas anderes als die eigene Wahrheit zu behaupten
oder ohne sich auf ein zweites Urteil zu beziehen.
Stegmüller geht aber viel weiter in seiner Anwendung der Unterschei-
dung und behauptet, kein Urteil könne über das allgemeine Wesen von
Urteilen so sprechen, daß diese Aussagen auf es selbst anwendbar seien.512
Und genau diese These ist radikal falsch. Denn ebensosehr wie es
unsinnige Formen der Selbstanwendung von Urteilen gibt, wie wir eben
gesehen haben, gibt es sinnvolle und notwendige, wie aus den oben
erwähnten Einsichten Peirce’s und Alexander Pfänders in den Wahrheits-
anspruch jeden Urteils, der in einem Wahrheitsurteil über sich selbst
entfaltet werden kann, hervorgeht.

2.3.2. Die Rechtfertigung der ‚universalistischen Tendenz‘ der natürlichen


Sprache und die Kritik am universalen Verbot der ‚Selbstanwendung‘
und ‚Grenzüberschreitung‘

2.3.2.1. Die ‚Selbstanwendung‘ des Wahrheitsurteils in jedem Urteil widerlegt das


universale Verbot der Selbstanwendung, wie Peirce mit Recht bemerkt

Wenn jeder Satz, genauer gesagt jedes Urteil, die eigene Wahrheit
mitbehauptet, und wenn ferner dieser Wahrheitsanspruch jedem Urteil
objektiv zukommt und thematisch von allen Urteilen aller Metasprachen
und Objektsprachen ausgesagt werden kann und muß, kann in einer
Anwendung dieses metasprachlichen Urteils auf sich selbst und alle
anderen metasprachlichen Urteile keinerlei Fehler gründen. Darin stimmt
Peirce auch, indem er sich scharf gegen Ockhams Vorwegnahme der
Typentheorie Russells wendet, mit Bonaventuras Analyse der wahren
Sätze bzw. des Wahrheitsanspruchs jedes Urteils, überein, ebenso wie mit
Pfänder.513 Statt daß kein Urteil über sich selbst sprechen kann, spricht also
jedes Urteil über sich selbst.514

512
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39. Vgl. den vollen Wortlaut weiter
unten.
513
Pfänder, a.a.O., S. 69 ff.
514
Rivetti-Barbo, S. 342.

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474 KAPITEL 10

Also liegt in keiner Weise in einem solchen universalen Anspruch


mancher Aussagen der natürlichen Sprache der Grund von Antinomien.

2.3.2.2. Urteile über das universale Wesen von Urteilen widerlegen das allgemeine
Verbot der ‚Selbstanwendung‘

Es läuft im Grunde die Tarski’sche Anwendung seiner Unterscheidung


zwischen Meta- und Objektsprache auf die Lösung der logischen
Paradoxien fast ganz auf das Russell‘sche ‚Zirkulus-Vitiosus-Prinzip‘
hinaus: man dürfe niemals ein Urteil über eine gegebene Klasse von
Urteilen auf sich selbst beziehen. Also seien Urteile über alle Urteile
sinnlos. Nie dürfe ein Glied einer Klasse, das über eine Klasse rede, dieser
Klasse, die sein Gegenstand ist, selber angehören. Stegmüller sagt dasselbe
von Tarskis Position:
Erst die totale Aufsplitterung der ursprünglich einheitlichen Sprache in zwei
Sprachstufen: Objekt- und Metasprache und die darin implizierte
Sinnloserklärung aller Ausdrücke, in denen sich semantische Prädikate auf
Sätze derselben Sprache, in der sie selbst vorkommen, beziehen, schafft
also eine Garantie dafür, daß Antinomien der geschilderten Art nicht mehr
aufzutreten vermögen. Denn wenn jetzt z.B. in einem Satz die Wahrheit
eines anderen behauptet wird, so gehört der erste zur Meta-, der zweite zur
Objektsprache und innerhalb der letzteren kann niemals ein Satz auftreten,
der über einen metasprachlichen Satz spricht, also auch nicht ein solcher,
der die Falschheit irgendeines Satzes der Metasprache behauptet.515

In Wolfgang Stegmüllers Ausführungen steckt zunächst die These, kein


Urteil könne sich auf so allgemeine Sachverhalte beziehen, daß es sowohl
der Objektsprache wie der Metasprache jedweder Ordnung angehöre, bzw.
über Sachverhalte oder Gesetze Aussagen mache, die sich auf alle
Sprachebenen beziehen oder sogar über alle Gegenstände überhaupt
gültige Aussagen machen. Dieser von Wolfgang Stegmüller ausgedrückten
Meinung müssen wir energisch entgegenhalten, daß offenkundig das
Widerspruchsprinzip im ontologischen Sinne, das das Sein und Nichtsein
derselben Sache zur selben Zeit und im selben Sinn verbietet, auf alle
Gegenstände überhaupt anwendbar ist. Und das logische Widerspruchs-

515
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 475

prinzip, das besagt, daß von zwei kontradiktorischen Urteilen nicht beide
wahr sein können, bezieht sich offenkundig sowohl auf sich selbst als auch
auf alle Sätze sämtlicher Metasprachen und sagt von ihnen Gültiges aus.
Damit wird der radikale Irrtum der totalen Aufsplitterung der beiden
Sprachen deutlich, vor allem wenn sie als strenge Disjunktion gedeutet und
die Behauptung aufgestellt wird, kein Satz überhaupt beziehe sich auf alle
Sprachebenen.
Diese Position läßt sich nicht halten.

2.3.2.3. Tarskis Verbot universaler Urteile über sich selbst als Quelle eines
Selbstwiderspruchs (als Quelle einer logischen Antinomie)

Der Satz Tarskis, kein Satz der Metasprache dürfe sich auf sich selbst
beziehen, enthält sogar auf Grund seiner notwendigen Falschheit selbst
eine logische Antinomie, denn er ist gerade ein Satz über sämtliche
Metasprachen und Sprachebenen und behauptet – fälschlicherweise -, ein
für alle diese gültiges Gesetz aufzustellen.

2.3.2.4. Die Universalität gewisser Urteile über alle Urteile verlangt notwendig, und
verbietet nicht, ihre Selbstanwendung

Abgesehen von seiner Widersprüchlichkeit steht ein universales Verbot


der Selbstanwendung von metasprachlichen Urteilen oder von Urteilen
über alle Ebenen der Objekt- und Metasprache auch im Gegensatz zum
Wesen vieler Urteile über das Urteil als solches und über alle Urteile. Ein
Urteil kann zwar evidentermaßen niemals selbst direkt (ohne eine andere
Aussage zu machen) Gegenstand seiner eigenen Wahrheitsaussage sein,
wie wir oben gesehen haben, wohl aber kann es so allgemeine Sachver-
halte zum Gegenstand haben, daß diese sich auf sämtliche Dinge
überhaupt, auf sämtliche Sätze überhaupt, ebenso wie, sei es explizit, sei es
per implicationem, auf diesen Satz selbst beziehen.
Sicher gilt in zahlreichen Fällen von einem Urteil über ein einzelnes
Urteil oder für die Eigenart bestimmter objektsprachlicher Aussagen, die
keine Wahrheitsurteile sind, daß ein solches Urteil weder sich selbst noch
einen allgemeinen Sachverhalt zum Gegenstand haben kann, der in ihm
selbst Verwirklichung findet.

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476 KAPITEL 10

Was kritisiert wird, ist vielmehr nur dies, daß Tarski keinerlei universale
Urteile oder logische Gesetze zulassen möchte, die sich auf Urteile oder
Aussagen, die auf allen unendlich vielen möglichen Ordnungen von
Sprachen liegen, beziehen. Tarskis These gilt nämlich z.B. nicht für
Urteile, die das allgemeine Wesen von Urteilen überhaupt aussagen, das
sich ja in allen Arten und individuellen Beispielen von Urteilen finden muß,
wie etwa alle obersten logischen Grundsätze: der logische Satz von der
Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten oder vom
zureichenden Grunde. Dasselbe gilt erst recht von Urteilen über
sprachliche Sätze, zum Beispiel für das vollkommen legitime und wahre
Urteil: „Jeder Satz inklusive dieses Satzes besteht aus Worten – wenigstens
aus einem Wort (wie der Rufsatz: Halt!), wobei mehr als ein Begriff in
diesem Wort ausgedrückt ist – und diese Worte können gesprochen,
geschrieben oder nur vorgestellt werden.“

2.3.2.5. Statt der versprochenen „Einfachheit“ Komplikationen über Komplikationen

Wenn Tarski der Meinung ist, daß die mit Hilfe seiner Unterscheidung
und Methode konstruierten Definitionen „sich durch ihre logische
Einfachheit vorteilhaft auszeichnen“,516 so bietet er dafür keinerlei Evidenz
an. Im Gegenteil, seine Theorie führt zu unendlichen Komplikationen und
außerdem selbst zu Widersprüchen bzw. zu einem radikalen Agnostizis-
mus, indem ja für die jeweils gebrauchte Sprache n’ter Ordnung selbst
keinerlei logische Gesetze und ihre Anwendung gerechtfertigt werden
könnten, ohne jeweils auf eine höhere und noch nicht verwendete
Sprachebene zu rekurrieren, was zu einem unendlichen Regreß und zur
Unmöglichkeit führen würde, jemals ein letztes logisches Fundament des
Sinnes und der Nichtwidersprüchlichkeit der eigenen Aussagen zu finden
oder zu behaupten517.
Im übrigen ist ein ‚Sich auf sich selbst Beziehen‘ durch eine
Allgemeinaussage hindurch ganz verschieden von einem direkten ‚sich
zum Gegenstand haben‘. Der Satz des Kreters ‚alle Kreter lügen immer‘
hat nicht die eigene Aussage oder deren Falschheit zum Gegenstand,

516
Tarski, S. 352.
517
S. 354 ff.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 477

sondern einen allgemeinen Sachverhalt, der alle Kreter einschließt. Nur


weil die eigene Aussage eine Aussage eines Kreters ist, folgt logisch, daß
sie auch auf sich selbst anwendbar ist. Man darf also daraus, daß eine
Aussage nicht die eigene Wahrheit oder Falschheit zum direkten und
einzigen Gegenstand haben kann, nicht folgern, daß ihre Wahrheit oder
Falschheit nicht aus ihr folgen und implizite in ihr ausgesagt werden
könnte. Dies sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Der Gegenstand des Urteils des Skeptikers oder auch des Lügners
Epimenides ist ein allgemeiner, vom Urteil selbst verschiedener
Sachverhalt. Dasselbe gilt vom Widerspruchsprinzip. Dieses bezieht sich
aber auf alle Gegenstände überhaupt und beherrscht diese, inklusive des
Urteils, in dem das Gesetz vom Widerspruch ausgesagt wird. Eine solche
Universalität wird von A. Tarski, R. Carnap und W. Stegmüller ganz zu
Unrecht und ohne jedes Argument ausgeschlossen. Während jedoch das
Widerspruchsprinzip sich ohne jeden Widerspruch auf sich selbst
zurückbezieht und sich selber unterworfen ist, führt die These des Kreters,
daß alle Kreter immer lügen, zu einem Selbstwiderspruch, aber nicht
wegen ihrer Selbstanwendung, sondern vielmehr wegen ihrem Wahrheits-
anspruch und ihrer gleichzeitigen These, sie sei falsch.
Gerade solche Urteile wie der Satz vom Widerspruch sprengen also
jegliche Aufsplitterung zwischen Objekt- und Metasprache.
Es ist also die These Tarskis zurückzuweisen, ein Urteil, das sich auf
alle Urteile oder auf das Urteil als solches bezieht, wie das logische Prinzip
vom Widerspruch, könne sich nicht auch auf sich selber beziehen, da es
selber der Metasprache angehöre und die von ihm betroffenen Objekte der
Objektsprache, oder besser, da es selber einer Metasprache zweiter
Ordnung angehöre, während die von ihm betroffenen Urteile einer
Metasprache niedrigerer Ordnung angehören würden. Nur ein Urteil der
Metasprache 2 (M2) könne sich ja auf ein Urteil der Metasprache 1 (M1)
beziehen.
Von Klassen, Metaklassen, Sprachen, Metasprachen, Metametasprachen
als Bedingungen jeder Lösung der logischen Grundprobleme usw. zu
sprechen518, läßt sich jedenfalls nicht dadurch rechtfertigen, daß
unbegründeterweise angenommen wird, daß die in Umgangssprachen

518
a.a.O. S. 284 ff.

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478 KAPITEL 10

ausgedrückten Gedanken und Prinzipien niemals die in diesen Sprachen


intendierten universalen Gültigkeiten erhalten können.
Ohne dies hier im einzelnen begründen zu können, ist die Vorausset-
zung Tarskis, die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit auf
normalsprachliche Sätze bzw. die in ihnen ausgedrückten Gedanken führe
zu Antinomien, unbegründet.

2.3.3. Es gibt auch individuelle, in einem Satz ausgedrückte Urteile über diesen
Satz selbst, die vollkommen berechtigt sind

Es gibt außerdem sogar empirische Prädikate eines Satzes, die direkt


von diesem ausgesagt werden können, wie: „dieser Satz besteht aus
Worten“; oder „das Urteil, das in diesem Satz ausgedrückt ist, enthält
Begriffe und der es ausdrückende Satz Worte, diese Laute usf.“, oder
„Dieser Satz ist deutsch“. Dies zu sagen ist keineswegs sinnlos wie die
Aussage, ‚der Satz, den ich jetzt (als einzigen) ausspreche, ist wahr.‘ Denn
die anderen genannten Aussagen über einen gegebenen Satz setzen nicht,
wie das Wahrheitsurteil, notwendig einen anderen Satz oder Satzteil
voraus, der ein Urteil ausdrückt, das vom Wahrheitsurteil verschieden ist
und auf das dieses sich bezieht.
Auch wenn aber ein Satz nicht derart allgemeine Sachverhalte über alle
Urteile aussagt, sondern sich auf kontingente, empirische Teilaspekte des
Satzes bezieht, kann er durchaus wahr und berechtigt sein, wie wenn ich
sage: „Die drei ersten Worte des Satzes, den ich eben ausspreche, sind ‚die
drei ersten‘“. Nichts daran ist widersinnig oder kann zu einer Antinomie
Anlaß geben. Tarski hat deren Quelle also ganz falsch diagnostiziert und
außerdem eine klar unhaltbare und in sich widersprüchliche Lösung
logischer Antinomien in Form seiner Wahrheitstheorie und Theorie des
Verhältnisses zwischen Objektsprachen und Metasprachen geboten.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 479

2.3.4. Die Falschheit der Tarskischen und anderer Identifizierungen der Quelle
von Antinomien in einer Verletzung des angeblichen Prinzips der
Abgetrenntheit einer gegebenen Metasprache von den ihr
untergeordneten Metasprachen und Objektsprachen

An dieser Stelle wird auch der allgemeinere Irrtum einer zu engen und
gegenseitig ausschließenden Disjunktion zwischen Metasprache 1 und
Metasprache 2 deutlich. Es liegt hier eine Verwirrung derjenigen Urteile,
die nicht über sich sprechen können, mit jenen vor, die dies durchaus tun
können, tatsächlich tun und auch tun sollen. Die Möglichkeit der letzteren
Urteile, vor allem wenn sie sich auf schlechthin allgemeine Sachverhalte
beziehen, die sie selbst betreffen und von ihnen selbst gelten, ist notwendig
für die Einheit des Seins in der Metaphysik gefordert, und ebenso für die
Einheit der Logik und Wahrheit. Alle Philosophie, Metaphysik und Logik
wären von Anfang an in Paradoxe verstrickt, wenn es diesen Typus von
Selbstanwendung nicht geben sollte. Die radikale Auseinanderreißung
zwischen beiden Sprachen scheint einer positivistischen Auffassung zu
entspringen, nach der es keine echten Universalien, sondern nur Klassen
empirischer Allgemeinheiten oder konkreter Einzeldinge geben kann.

2.3.5. Kritik der These, daß echte Widersprüche und logische Antinomien aus
wahren bzw. möglicherweise wahren Urteilen möglich sind

Beginnen wir mit einem Zitat:

Betrachten wir die folgende Variante des Lügner-Paradoxes:


„Epimenides sagte die Wahrheit, als er sagte, daß er lüge. Also log
Epimenides, als er sagte ‚ich lüge‘.“519
Wir können, wenn wir wollen, an der Überzeugung festhalten, daß ein
Argument nicht gültig sein kann, wenn die Konklusion der Prämisse
widerspricht; und, wenn wir das tun, sind wir gezwungen, einen Fehler im
Gedankengang in diesem Beispiel zu entdecken, indem wir z.B. behaupten,
daß ‚ich lüge‘ keine echte Aussage sei. Anstelle dieser starren Haltung wäre
es jedoch besser zuzugeben, daß es Umstände gibt, unter denen akzeptierte
Prozeduren des Schließens unannehmbare Schlußfolgerungen ergeben

519
Hamblin, Fallacies (London: Methuen & Co., 1970), S. 230 (eigene Übersetzung).

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480 KAPITEL 10

können and daß wir, wenn notwendig, mit dieser Situation zu leben
lernen...520

Hier wird ziemlich unkritisch angenommen, daß widersprüchliche


Konsequenzen aus möglicherweise oder wirklich wahren Urteilen folgen
können. Wie soll das aber möglich sein?
Nimmt man eine derartige Möglichkeit an, muß man zunächst die
absolute Gültigkeit des Widerspruchsprinzips in Frage stellen. Dieses
evidenteste Prinzip, wie Aristoteles es nennt, wird aber überall unweiger-
lich vorausgesetzt und seine Infragestellung kommt einer Infragestellung
der Vernunft überhaupt gleich.
Bei Tarski unterbleibt jeder Versuch, die Frage zu prüfen, ob die aufs
erste Hinsehen hin möglicherweise wahren Urteile, die den logischen
Paradoxien zugrundeliegen, bei näherem Zusehen widersinnig, äquivok
oder notwendig falsch sind, sodaß die paradoxen Konsequenzen derselben
sich verständlicherweise aus diesem Umstand ergeben, anstatt irgendeine
Ungereimtheit der Vernunft mit sich selbst (wie manche Skeptiker aus
scheinbaren Antinomien schließen), oder des Realismus (wie Kant)521 oder
des Begriffs der Urteilswahrheit als Korrespondenz (wie Tarski), etc.
vorauszusetzen.
Die Unterscheidung zwischen einem Beweis, der neben der gültigen
Schlußform auch wahre Prämissen voraussetzt, und einem logisch gültigen
Argument, das nichts beweist, weil seine Voraussetzungen nicht stimmen,
unterbleibt.522 Damit hat aber Tarski keine rational begründete Position
zum Antinomienproblem vorgelegt.
Gegen eine solche irrationalistische Position muß dasselbe eingewandt
werden wie gegen das wirkliche Bestehen von echten Antinomien
überhaupt. Logische Paradoxien, die in Wirklichkeit bloß aus in sich
widersprüchlichen Setzungen folgen, werden hier für wirkliche Antino-
mien gehalten, was wir als unhaltbar erkennen können.
Wie lösen aber wir das Problem der logischen Paradoxien? Wir
behaupten, daß alle logischen Paradoxien im engeren Sinne, die wir von
520
Hamblin, Fallacies, a.a.O., S. 231 (eigene Übersetzung).
521
Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die
Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
522
Hamblin, Fallacies, a.a.O., S. 232.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 481

(immer nur scheinbaren)523 Antinomien unterscheiden, aus falschen, ja


widersinnigen Thesen folgen. Wodurch entsteht dann der Schein logischer
Antinomien, der bei einfachen kontradiktorischen Urteilen wegfällt?
1. Der kontradiktorische, widersinnige Sachverhalt wird hier nicht offen
ausgesprochen, sondern bleibt verdeckt. Er ergibt sich oft erst aus einer
ursprünglich nicht intendierten logischen Radikalisierung der Ausgangs-
these.
2. Häufig liegt der logischen Paradoxie ein ursprünglich sinnvoller Satz
zugrunde, etwa die Aussage des lügenden Kreters. Diese vernünftige
Aussage führt erst dann bei einer ursprünglich nicht vorhergesehenen
Annahme (dem sprechenden Kreter selbst als Glied der Klasse, über die
die Rede ist) zum paradoxen Widerspruch.
3. Oft wird durch Äquivokationen von Begriffen wie ‚alle Männer‘,
durch abstrakte und widersprüchliche Ideen wie die des ‚sich als Glied
Enthaltens einer Menge‘, und andere Komplikationen der in solchen
Annahmen steckende Widersinn verdeckt.
4. Häufig handelt es sich auch um Positionen wie die Skepsis oder den
Relativismus, bei denen die in ihrer notwendigen Falschheit gründende
Quelle des Scheins von unausweichlichen Antinomien oder Widersprüchen
nicht ohne weiteres offen zutageliegt, sondern erst nach angestrengtem
Nachdenken entdeckt werden kann. Eine sorgfältige Analyse zeigt aber,
daß hier kein notwendiger Widerspruch einer vernünftigen Annahme oder
eines möglichen Sachverhalts vorliegt, sondern ein logischer Widerspruch,
der sich streng notwendig aus der in sich und notwendig falschen
zugrundeliegenden Annahme (wie „Es gibt keine Wahrheit“, „kein Mensch
kann Wahrheit erkennen“, „jemand kann durch eine Lüge das wahre Urteil
fällen, daß er lügt“. usf.) ergibt.

523
Vgl. zur Unterscheidung zwischen Aporien, Antinomien und logischen Paradoxen
und ihrer Verwendung als termini technici Josef Seifert, „Das Antinomienproblem
als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“;
sowie ders., “El problema de las antinomias considerado como un problema
fundamental de toda Metafisica: Critica de la ‘Critica de la Razón Pura’”, Revista
de Filosofía 3. epoca, vol 6 (1993); traducción de Rogelio Rovira, pp. 89-117,
sowie ders., Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchs-
freiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.

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482 KAPITEL 10

5. Nicht selten ist die Verteidigung logischer Antinomien auch von


irrationalen Motiven bestimmt wie dem Wunsch zu zeigen, daß es keine
objektive Erkenntnis gibt, was vielleicht aus moralischen Gründen
wünschenswert erscheint. Dann können auch die sachlichsten und
zwingendsten Aufklärungen gegen die Sophistik solcher Argumente nichts
ausrichten.524

2.4. Sprachtheorie und Logik der Antinomien jenseits von Tarski und Gödel

Im Licht der vorangegangenen Erkenntnisse erweisen sich die


Ausführungen Tarskis525 in ihrem Kern als unbegründet.526 Die Idee, daß
nur eine jeweils andere Sprache, d.h. eine Metasprache, über eine gegebene
Sprache, die Ausdrücke von allgemeinem logischen Charakter enthalte,
reden könne, und daß die beiden Sprachen nicht dieselben sein dürften,527
wird damit hinfällig, ebenso wie die Unterscheidung zwischen allgemein-
logischen Axiomen, die zur Grundlegung eines genügend umfangreichen
Systems der mathematischen Logik hinreichen, und spezifischen Axiomen
der Metasprache.528
Tarski entwickelt eine quasi-mathematische Methode, und zwar in einer
Form, die ohne jeden philosophischen Nachweis bleibt und außerdem
keinerlei Klärung der logischen Beziehungen zwischen Urteilen als Bedeu-
tungseinheiten und ihren Gegenständen bietet.529 Indem er eine Gödels
Lösung ähnliche Position über die Unentscheidbarkeit von Sätzen inner-
halb eines Systems entwickelt, ergeben sich Positionen hinsichtlich der
Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit deduktiver Systeme, auf die jene
Kritiken anzuwenden sind, die auch gegen Gödel gelten.530
Statt in der Metasprache das sogenannte Axiom der Unendlichkeit
anzunehmen und dann wieder Metaaxiome für die Meta-Metasprachen,

524
Vgl. dazu Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso.
525
Tarski, S. 278 ff.
526
Ebd., S. 283 ff.
527
A.a.O., S. 285 ff.
528
A.a.O., S. 289.
529
A.a.O., S. 289 ff.
530
A.a.O., S. 300 ff.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 483

genügt es, in wesensnotwendigen Sachverhalten lückenlose Allgemein-


heiten gründen zu sehen, die auf Urteilsgebilde in allen möglichen
Sprachen und Metasprachen, seien diese auch unendlich viele, zutreffen
müssen, um die Unrichtigkeit der von Tarski statuierten Dichotomie
zwischen Sprachen verschiedener Ordnung zu durchbrechen und zu
erkennen, daß eine ganz andere Lösung logischer Antinomien gesucht
werden muß als die Tarski’sche: 531 nämlich eine sorgfältige Prüfung aller
Urteile, aus denen die scheinbaren logischen Antinomien folgen und eine
Aufdeckung ihrer Irrigkeit und Widersprüchlichkeit, aus denen weitere
antinomische Widersprüche folgen.532

2.5. Kritik von Tarskis Verwerfung der Adäquationstheorie für Aussagen der
normalen Sprache, weil eine solche Theorie zu Antinomien führe

Wir haben gesehen, daß Tarski der Ansicht ist, daß die Bedeutung des
Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache zwar recht klar und
verständlich zu sein scheine, daß aber alle Versuche einer genauen
Präzisierung dieser Bedeutung bisher nicht nur erfolglos geblieben seien,
sondern daß das Ausgehen von scheinbar evidenten Prämissen bei der
Bestimmung des Sinnes von Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen oft
zu Paradoxien und Antinomien geführt habe.533 Wir haben auch gesehen,
daß Tarski die Vermutung aufstellt, der Universalismus der Umgangs-
sprache auf dem Gebiet der Semantik sei die Quelle aller sogenannten
semantischen Antinomien, wie der Antinomie des Lügners oder der
heterologischen Worte. Wir haben ferner festgestellt, daß Tarski annimmt,
diese Antinomien seien ein Beweis dafür, daß sich auf dem Boden jeder
531
A.a.O., S. 302 f.
532
Zum hier relevanten Unterschied zwischen Aporien (geheimnisvoll-undurch-
dringliche und anscheinend unverträgliche Zusammenhänge zwischen Leib und
Seele, absolutem Sein und Welt usf.), (immer nur) scheinbaren Antinomien, die
sich als im Wesen der Dinge und wahrer Urteile gründende Widersprüche
darstellen, und logischen Paradoxien, das sind Widersprüche, die sich aus
künstlichen und nur auf den ersten Blick sinnvollen, in Wirklichkeit falschen und
widersprüchlichen Annahmen und Äquivokationen ergeben, vgl. Josef Seifert,
Überwindung des Skandals der reinen Vernunft.
533
Tarski, S. 264 f.

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484 KAPITEL 10

Sprache, welche im obigen Sinne universal wäre und für welche hierbei die
normalen Gesetze der Logik gelten sollten, ein Widerspruch ergeben
müsse.534 Wir haben ferner ausgeführt, daß Tarski aus dieser Überlegung
heraus die weitestgehenden Konsequenzen zieht, indem er zur Überzeu-
gung gelangt, daß keine widerspruchfreie Sprache existieren könne, für
welche die gewöhnlichen Gesetze der Logik gelten und die zugleich
Aussagen über sich selbst machen könne. So gelangt Tarski zur weiteren
Konsequenz, daß durch seine angeblichen Entdeckungen die Möglichkeit
eines widerspruchsfreien und dabei mit den Grundsätzen der Logik und
dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden Gebrauchs des
Ausdrucks „wahre Aussage“ und die Möglichkeit des Aufbaus irgendeiner
korrekten Definition dieses Ausdrucks in Frage gestellt sei. In allen diesen
Punkten gelangten wir zu einem radikal verschiedenen Ergebnis. Das
Auftauchen der Lügnerantinomie hat demnach schlechthin nichts damit zu
tun, daß die Umgangssprache und die Grundgesetze der Logik nicht auch
zugleich Aussagen über diese Logik wären oder nicht auf sie angewendet
werden dürften, was evidenterweise der Fall ist, bzw. daß die Umgangs-
sprache keine Urteile kenne, die schlechthin universal und daher auch für
sie selbst gültig sind. Wir müssen vielmehr zwei völlig von Tarskis
angenommenen Wurzeln verschiedene Wurzeln der Lügnerantinomie
identifizieren. Denn:
1. Einmal sind Aussagen über Wahrheit oder Falschheit eines Urteils
wesensnotwendig in ganz bestimmtem Sinne sinnleer, wenn sie kein
zweites Urteil zum Gegenstand haben, von dem sie Wahrheit oder Falsch-
heit aussagen.
2. Zweitens erhebt sehr wohl jedes Urteil schlechthin einen Wahrheits-
anspruch und impliziert also ein zweites Urteil, das die Wahrheit des ersten
behauptet. In diesem Sinne spricht jedes Urteil über sich selbst, d.h. es
behauptet implizit seine eigene Wahrheit. Man könnte dies so zum
Ausdruck bringen, daß jedes Urteil aussagt „‚S ist P‘ (=x), und x ist wahr.“
3. Eine solche Wahrheitsaussage über sich selbst, wie sie in jedem
Urteil enthalten ist, führt zu keinerlei Widersprüchen, im Gegenteil: ein
Urteil, das seinen eigenen Wahrheitsanspruch suspendieren wollte, wäre

534
A.a.O., S. 278.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 485

widersinnig, es verlöre den Charakter eines Urteils, oder es würde zugleich


einen Sachverhalt behaupten und ihn auch wieder nicht behaupten.
4. Ebensowenig folgen die Antinomien wie jene des Lügners daraus,
daß die allgemeinen Gesetze der Logik, etwa der Satz vom Widerspruch,
auf das Urteil selbst anwendbar sind, das solche Gesetze zum Ausdruck
bringt, wie etwa daß der Satz vom Widerspruch von diesem selbst gilt.
Dies ist ganz im Gegenteil notwendig der Fall, da es sich hier um ein
wesensnotwendiges Gesetz aller Urteile überhaupt und damit auch des
eigenen handelt. Nichts davon gibt zu irgendeiner Antinomie Anlaß, wie
Tarski annimmt.
5. Wir können vielmehr erkennen, und diese Erkenntnis setzt sogar das
implizierte Wahrheitsurteil jedes Urteils und die Möglichkeit der An-
wendung universaler logischer Gesetze auf jedes Urteil voraus, daß ein
Urteil, das seine eigene Falschheit behauptet, in besonderem Sinne wider-
sprüchlich ist, und daß sich aus ihm antinomische Konsequenzen ableiten
lassen. Denn das Urteil des Kreters „alle Kreter lügen immer“, sagt durch
die Vermittlung eines allgemeinen Sachverhalts hindurch die Falschheit
des eigenen Urteils aus. Darin liegt jedoch notwendig der Widerspruch,
daß dieses Urteil als Urteil notwendig Wahrheit für sich beansprucht,
diesen Anspruch aber zugleich durch den Inhalt des Urteils wieder aufhebt.
Es behauptet deshalb zugleich, wahr und falsch zu sein, was absurd ist.
Deshalb können kontradiktorische Konsequenzen von ihm abgeleitet
werden, was keinerlei Antinomie darstellt, sondern eine vollkommen
einleuchtende Folge des notwendig falschen und widersprüchlichen Urteils
ist, aus dem die kontradiktorischen Folgerungen abgeleitet werden.
6. Die Quelle dieses Widerspruchs liegt in einer widersinnigen und
widersprüchlichen Annahme, die wesenhaft nicht wahr sein kann, sowie
im Wesen der Wahrheit bzw. der Falschheit. Es ist schlechthin wider-
sinnig, daß ein Urteil gefällt wird, in dem zugleich die eigene Falschheit
behauptet wird oder daß der Kreter, indem er lügt, die Wahrheit sagt. Die
hier liegende Antinomie des Lügners hat schlicht darin ihren Grund, daß in
der Aussage des Lügners eben dieser in sich unmögliche und widersprüch-
liche Sachverhalt gesetzt wird, der auf Grund seiner Widersprüchlichkeit
schlechthin nicht bestehen kann: nämlich die Wahrheit eines Urteils, in
dem die Falschheit dieses selben Urteils ausgesagt wird. Sicher kann der
Lügner von anderen Urteilen, die er gefällt hat, sinnvoll Falschheit

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486 KAPITEL 10

aussagen, aber unmöglich von jenem Urteil selbst, in dem er seine Lüge
zugesteht.
Daß die hier liegende Antinomie nicht darin ihren Grund haben kann,
daß kein Urteil über sich selbst eine Aussage implizieren könne, geht
schon aus dem nicht genug oft zu wiederholenden Sachverhalt hervor, daß
jedes Urteil notwendig ein Urteil über die eigene Wahrheit impliziert oder
daß für es das Widerspruchsprinzip Gültigkeit besitzt. Daraus ergibt sich
offenkundig schon deshalb kein Widerspruch und keine Antinomie, weil
sonst jedes Urteil überhaupt antinomisch sein müßte.
Das Lügner-Paradox und viele ähnliche Paradoxien ergeben sich, im
Gegensatz zu ihrer Tarski’schen Erklärung, aus der erwähnten und leicht
durchschaubaren, in sich absurden und unmöglichen Konstruktion der
wahren Aussage, die ihre eigene Falschheit mitteilt. Um dieses Paradox als
solches zu analysieren und zu vermeiden, muß also die besondere Natur
des Urteils einerseits, das notwendig Wahrheit für sich beansprucht, und
der Aussage der Falschheit andererseits, im Blick behalten werden, wobei
außerdem zu beachten ist, daß die einfache Feststellung „ich lüge“ nicht
einmal die prinzipiellen Bedingungen rein logischer Grammatik für
Aussagen über Falschheit des eigenen Urteils erfüllt.
Aufgrund unserer Ergebnisse hinsichtlich der Kritik der semantischen
Wahrheitsdefinition Tarskis und seiner versuchten Lösung des Antino-
mienproblems kommen wir auch zur Erkenntnis, daß Tarskis Meinung,
„die Sprache der allgemeinen Theorie der Wahrheit enthält genau aus
denselben Gründen wie die Umgangssprache einen Widerspruch“535 als
schlechthin unbegründete Folgerung bezeichnen müssen. Eine allgemeine
Theorie der Wahrheit und auch der Wahrheit aller Urteile, die auf allen
metasprachlichen Ebenen existieren, führt zu keinerlei Widerspruch. Zu
solchen Irrtümern gelangt Tarski aufgrund eines Mangels an sachlicher
phänomenologischer Untersuchung des Wesens der Wahrheit.

535
A.a.O., S. 389.

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Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien 487

3. Abschliessende Bemerkungen

Im Lichte der Kritik der semantischen Wahrheitsdefinition Tarskis und


seiner versuchten Lösung des Antinomienproblems müssen wir auch seine
radikale Auseinanderreißung von Sprache-Metasprache-Metametasprache,
usf. kritisieren. Zunächst einfach deshalb, weil die Wurzel dieser Theorie
bei Tarski, nämlich daß sich nur auf ihrem Wege die Antinomien und
logischen Paradoxien vermeiden ließen, sich als unbegründet bzw.
nichtbestehend erwiesen hat. Dabei wird selbstverständlich nicht die
bereits von Augustinus hervorgehobene Tatsache geleugnet, daß es
Aussagen, Aussagen über diese Aussagen, Aussagen über die Aussagen
über Aussagen, usf. und in diesem Sinn Sprachen zweiter, dritter oder n’ter
Ordnung geben kann.536
Insgesamt ergibt sich als Ergebnis unserer Untersuchung, daß der große
Erfolg der Wahrheitstheorie Tarskis nicht auf der Qualität seiner philoso-
phischen Aufklärung des Wesens der Wahrheit beruht, sondern eher
umgekehrt von einem zwar originellen und praktisch bedeutsamen, aber in
weiten Teilen vom tieferen Wesen der Dinge absehenden Verständnis der
Wahrheit, das zwar zu einem großen Aufschwung der Computer-
wissenschaften und anderer Anwendungsbereiche formalisierter Sprachen
geführt hat, aber weder eine fundierte philosophische Wahrheitstheorie
noch eine korrekte philosophische Lösung der Frage nach Ursprung und
Überwindung der Antinomien bietet. Gerade in der Auseinandersetzung
mit Tarskis Philosophie der Wahrheit aber zeigt sich uns aufs neue die
grundlegende und unentbehrliche Rolle der Urteilswahrheit als eines
Urphänomens, nämlich eines einmaligen Zusammentreffens der urteilsmä-
ßigen Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen und Sachverhalte.

536
A.a.O., S. 352 ff.

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KAPITEL 11

OBJEKTIVISMUS IN DER WISSENSCHAFT UND POPPERS THEORIE DER


WAHRHEIT UND PHILOSOPHISCHER RATIONALITÄT.537

Poppers Ausführungen über Wahrheit, und zwar nicht nur über


Erkenntniswahrheit, sondern auch über Urteilswahrheit, stehen in engstem
Zusammenhang mit seiner Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und
Logik. Im folgenden sollen deshalb – im Rahmen einer Darstellung und
kritischen Untersuchung von Hauptpunkten der ‚evolutionären Erkenntnis-
theorie‘ Poppers – einige Grundprobleme der Erkenntnis- und Wahrheits-
theorie entwickelt werden.538 Dabei werde ich Poppers Wissenschafts-
theorie nur im Hinblick auf deren allgemeinste erkenntnistheoretische
Grundlinien behandeln und von vielen anderen Aspekten seiner Philoso-
phie konkreter wissenschaftlich-philosophischer Probleme absehen. (Man
denke etwa an seine ausgezeichnete Kritik eines Dogmatismus und ideolo-
gischen Denkens, die sich von jeder Kritik abschirmen und den Gegner
verteufeln, ohne dessen Einwände ernstzunehmen, oder an seine mit Eccles
unternommene Kritik der kybernetischen Ideologie und des Materialismus
der psychophysischen Identitätstheorie. Auf diese bedeutsame ‚konkrete‘

537
Dieses Kapitel erwuchs aus Ausführungen, die ursprünglich im Rahmen eines von
der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und
vom unter der Leitung von N. Leser stehenden L. Boltzmann-Institut, Aussenstelle
Vorarlberg, gemeinsam veranstalteten Symposiums ‚Die Gedankenwelt Sir Karl
Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog‘ (26.-29.X. 1989) auf Schloß Hofen
gehalten wurden und inzwischen erschienen sind. Josef Seifert, „Objektivismus in
der Wissenschaft und Grundlagen philosophischer Rationalität. Kritische Überle-
gungen zu Karl Poppers Wissenschafts-, Erkenntnis- und Wahrheitstheorie“, in:
N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers:
Kritischer Rationalismus im Dialog, S. 31-74; und „Diskussion“, S. 75-82.
538
Vgl. Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach (Oxford,
Clarendon Press, 1972). Deutsche Übersetzung: Objektive Erkenntnis. Ein
evolutionärer Entwurf (Zürich: Buchclub ex Libris, 31985). Deutsche
Übersetzung (nach 4. verb. und erw. Aufl. des englischen Originals). Vgl. auch
Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers (Mohr-Siebeck: Tubingen, 2000).

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490 KAPITEL 11

Seite der Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie Poppers bin ich


andernorts eingegangen.)539

I. GRUNDLINIEN DER EPISTEMOLOGIE UND WAHRHEITSTHEORIE K. POPPERS

1. Kritik der Induktion und jeder Allgemeinerkenntnis – Ist Popper der


Befreier vom Positivismus des Wiener Kreises oder positivistischer als
die von ihm kritisierten Positivisten?

Mit D. Hume540 unterscheidet Popper zwischen einem logischen und


einem psychologischen Problem der Induktion. Hinsichtlich des logischen
Problems (d.h. der Berechtigung des erkenntnismäßigen Übergangs von
Erfahrung des Einzelnen zu begründeten Allgemeinaussagen) stimmt
Popper Hume zu, daß ein solcher Übergang nicht zu rechtfertigen sei, und
zwar weder in Form begründeter assertorischer oder apodiktischer
Aussagen über Universalien noch in Gestalt rational begründbarer
problematischer oder wahrscheinlicher Aussagen.541
Das psychologische Problem, das Hume durch ‚erfahrungsmäßige
Gewohnheit‘ (‘habit’ oder ‘custom’ of experience)542 lösen möchte, ist die
Frage nach dem Grund der für den Menschen unausweichlichen Annahme
allgemeiner Gesetze aufgrund der Erfahrung. Hinsichtlich dieses Punktes
ist es schwer, zu einer klaren Meinung über Poppers Position zu gelangen,
weil es dazu bei Popper sehr verschiedene Aussagen gibt. So zitiert er
Russell,543 der den radikalen Skeptizismus als Konsequenz des
Hume’schen Empirismus und die daraus resultierende Unmöglichkeit
hervorhebt, wahnsinnige Annahmen von normalen zu unterscheiden, bzw.

539
Vgl. J. C. Eccles und K. P. Popper, The Self and Its Brain
(Berlin/Heidelberg/London/New York: Springer-Verlag International, 1977/
corrected printing 1981). Vgl. auch Seifert, Das Leib-Seele Problem und die
gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine kritisch-systematische Analyse, S.
180-214.
540
Popper, Objective Knowledge, 3 ff.
541
Ebd., 7.
542
Ebd., 4.
543
Ebd., 5.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 491

an einem Kriterium vernünftiger Annahmen festzuhalten, wenn es keine


begründeten synthetischen544 Allgemeinurteile gibt. Popper lehnt diese von
Russell – wie ich meine mit vollem Recht – behaupteten Konsequenzen der
Hume’schen Induktionslehre ab,545 obwohl er mit Hume jedes positive,
durch Induktion oder Intuition gewonnene, Ergebnis über Universalien
verwirft. Wenn aber das Problem der logischen Rechtfertigung der
Induktion negativ beantwortet wird und doch ein unvermeidlicher Hang zu
Allgemeinurteilen im Menschen besteht, müssen dann nicht Psychologie
und Logik der Induktion radikal von einander abweichen?
Um diese logische Konsequenz aus seiner Position zu vermeiden,
behauptet Popper ein ‘principle of transference’, kraft dessen gelte: „Was
in der Logik gilt, gilt auch in der Psychologie.“546 Er erklärt dieses Prinzip
nicht weiter und sagt von ihm: „Ich gebe zu, daß dies auf dem Gebiet der
Psychologie des Denkens und der Denkprozesse eine etwas gewagte
Vermutung ist.“547 Da der Sinn dieses von Popper behaupteten Prinzips der
„Isomorphie zwischen Logik und Psychologie“ unklar bleibt, ist es auch
unmöglich, seinen Sinn klar darzulegen. Eine solche ‚Isomorphie‘ muß
aber wohl wenigstens implizieren, daß den logischen Gesetzen auch
psychologische exakt entsprechen und umgekehrt, daß die logischen
Gesetze die psychologischen beherrschen. Oder heißt dieses ‚Gesetz der
Isomorphie‘ sogar mehr, nämlich daß die logischen Gesetze – etwa die
Gesetze folgerichtiger Schlüsse – auch Gesetze des Denkens, Denknot-
wendigkeiten sind, wie sie die von Husserl kritisierte psychologistische
Logik auffaßte?

544
Dieser Terminus wird hier nicht im spezifisch kantischen Sinne gebraucht, sondern
meint einfach informative, d.h. nicht-analytische, nicht-tautologische Urteile
(Sätze), in denen der Prädikatbegriff des Urteils zur Definition des Subjektbegriffs
etwas hinzufügt. Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus
dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I
(Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); Che cos’è la filosofia?/What
Is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, ‘Insight and Objective Necessity. A
Demonstration of Propositions Which are Simultaneously Informative and
Necessarily True’, 107-197, Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil.
545
Popper, Objective Knowledge, 5.
546
Sir Karl Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6.
547
Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6.

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492 KAPITEL 11

Wie läßt sich diese von Popper behauptete ‚Isomorphie zwischen Logik
und Psychologie‘ in irgendeinem vernünftigen Sinn mit seiner Rede von
‚unlogischen‘ Gründen für psychologische Meinungen über allgemeine
Beschaffenheiten der Dinge vereinbaren? Zeigen nicht gerade psycholo-
gische Eigengesetze und unlogische Gründe psychischer Akte, daß keine
Isomorphie zwischen Logik und Psychologie herrscht?
Popper selbst führt insbesondere die folgenden irrationalen Gründe für
Allgemeinaussagen an:
1. Rein biologische Gründe und ‚ein-‚ bzw. ‚angeborene Disposi-
tionen‘548;
2. Rein kulturelle bzw. historische Gründe.549 Auch scheint Popper unter
die angeborenen und irrationalen psychologischen Gründe für Meinungen
über Universalien
3. einen irrationalen Hang zu dogmatischen Annahmen zu rechnen, den
er sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen gefunden habe.550
Darf Popper unter diesen Annahmen eine ‚Isomorphie zwischen Logik
und Psychologie‘, zwischen dem logischen und psychologischen Induk-
tionsproblem behaupten? Müßte er unter dieser Voraussetzung nicht folge-
richtig mit Hume eine skeptisch-irrationale Erklärung der Annahme des
Allgemeinen und eine Divergenz zwischen der Antwort auf das logische
und jener auf das psychologische Induktionsproblem vertreten, was er an
anderen Stellen auch tut, mit der Konsequenz, daß es innerhalb aller
induktiv erschlossenen Sachverhalte gar keine Wahrheit oder wenigstens
keinen berechtigten Wahrheitsanspruch gibt? Poppers Ansichten über das
Verhältnis zwischen Logik und Psychologie des Induktionsproblems
scheinen daher unklar und widersprüchlich zu sein.
Induktion als logisches Problem wird von Popper zunächst in zwei
Fragen aufgespalten, von denen er auf die erste (nach Verifizierbarkeit)
eine verneinende Antwort gibt, während er die zweite, die er in Form einer
disjunktiven Frage faßt, bejahend beantwortet:
Läßt sich die Behauptung, eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr, mit
„empirischen Gründen“ rechtfertigen, das heißt dadurch, daß man

548
Ebd., 67, 71 (Anm.), 72 f., etc.
549
Z.B. ebd., 126-144.
550
Ebd., 24.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 493

bestimmte Prüfaussagen oder Beobachtungssätze (die „auf der Erfahrung


beruhen“) als wahr annimmt?551

Diese Frage verneint Popper. Hingegen stellt er eine andere Frage:


Läßt sich die Behauptung, eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr oder
sei falsch, mit „empirischen Gründen“ rechtfertigen? Das heißt, kann die
Annahme, bestimmte Prüfaussagen seien wahr, entweder die Behauptung
rechtfertigen, eine allgemeine Theorie sei wahr, oder die Behauptung, sie
sei falsch?552

Auf diese Frage gibt Popper eine bejahende Antwort (obwohl er die
induktive Erkennbarkeit allgemeiner universaler Sachverhalte leugnet),
weil er die Falsifizierbarkeit allgemeiner erklärender Theorien lehrt553.
Also löst Popper die logische Frage der Induktion rein negativ, indem er
bloß die Falsifizierbarkeit allgemeiner Thesen durch Erfahrung, nicht aber
deren mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit erreichbare empirische
Verifizierbarkeit anerkennt.554 Auch hier legen allerdings seine Termini
einer ‚bewährten Hypothese‘ und der ‚verisimilitude‘ (dessen normale
lexikale Übersetzung Wahrscheinlichkeit ist) nahe, daß Popper dennoch so
etwas wie Wahrscheinlichkeit annimmt, wenn er auch diese Übersetzung
bzw. diese philosophische Deutung ablehnt.
Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß Poppers Idee der Falsifizie-
rung den klassischen Korrespondenzbegriff der Urteilswahrheit enthält.
Denn eine allgemeine Theorie oder Aussage zu falsifizieren, hat bei Popper
den Sinn, daß sie nicht mit den objektiv bestehenden Tatsachen über-
einstimmt, also im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht
wahr ist. Diese Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit
findet sich auch bei vielen seiner Anhänger, etwa den kritischen

551
Ebd., 7.
552
Ebd., 7 (Die Hervorhebung des entweder und des oder fügte ich der Klarheit
wegen hinzu.)
553
Ebd., 8 ff.
554
Zur radikal negativen Lösung des Induktionsproblems bei Popper und Hume und
der gleich negativen Lösung des Problems der Induktion und jeder wahrschein-
lichen oder gewissen Allgemeinerkenntnis vgl. insbesondere Popper, Objektive
Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsche Übersetzung (nach 4. verb. und
erw. Aufl. des englischen Originals), 86-92.

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494 KAPITEL 11

Rationalisten Hans Albert und anderen.555 Da Popper nicht zwischen den


von Pfänder unterschiedenen vier Arten von Allgemeinaussagen
unterscheidet:
a) Aussagen über alle Fälle, also strenge Art- und Gattungsurteile sowie
universale Urteil über alle Individuen einer bestimmten Gruppe oder
Art,
b) Aussagen über den Normalfall;
c) Aussagen über einen Durchschnittswert,
d) Aussagen über einen Idealfall,
sieht er auch nicht, daß die Wahrheit der Allgemeinurteile b-d keines-
wegs durch Feststellung eines abweichenden Einzelfalls widerlegt werden
kann: daß die menschlich Hand fünf Finger hat, wird nicht durch die
Entdeckung eines sechsfingrigen Menschen falsifiziert. Die Aussage über
die Durchschnittsgröße einer Frau im Verhältnis zum Mann wird nicht
durch eine Riesin widerlegt. Das Idealurteil, daß die ideale, reine Liebe
jene Merkmale hat, die Paulus ihr in seinem Hohenlied der Liebe (1 Kor.
13: 1-13) zuschreibt oder die wir einsichtig erkennen, wird nicht dadurch
falsifiziert, daß keines Menschen Liebe alle diese Merkmale in ihrer
Reinheit besitzt.
Popper scheint weder einsichtige Wahrheiten über strikt allgemeine und
notwendige Wesenheiten noch induktive Erkenntnisse über Arten und
Gattungen „im Normalfall“ als Fundament wahrer Allgemeinaussagen
anzuerkennen. Als Konsequenz seiner Behauptung der Unhaltbarkeit der
‚klassischen‘ Verifizierungstheorie des Wiener Kreises ist Popper in
diesem Punkt noch positivistischer als die Positivisten, weil er uns noch

555
Vgl. dazu N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl
Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog, sowie Hans Albert, Traktat über
kritische Vernunft. Vgl. auch Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers; sowie
Wikipedia, „Karl Popper“: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl Popper; und Hans
Albert, „Varianten des Kritischen Rationalismus“, in: Jan M. Böhm, Heiko
Holweg, Claudia Hoock (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus heute. Zur
Aktualität kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie (Tübingen: Mohr Siebeck,
2002), S. 3–22, sowie Bernwald Gesang, Wahrheitskriterien im Kritischen
Rationalismus. Ein Versuch zur Synthese analytischer, evolutionärer und kritisch-
rationaler Ansätze (Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi, 1995) Schriftenreihe zur
Philosophie Karl R. Poppers und des Kritischen Rationalismus (Series in the
Philosophy of Karl R. Popper and Critical Rationalism, Bd. 7.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 495

mehr als diese auf Einzelbeobachtungen zurückverweist und jede echte


Allgemeinerkenntnis ausschließt, selbst die durch Induktion. Denn Popper
lehnt nicht nur cartesische oder phänomenologische Evidenzen über
strenge Allgemeinheiten und notwendige Wesenheiten ab, sondern auch
jede empirische Allgemeinerkenntnis, die in irgendeinem Sinn verifizierbar
oder empirisch wahrscheinlich gemacht werden könnte. Er reduziert
Allgemeinerkenntnisse auf so etwas wie ‚noch nicht widerlegte Hypothe-
sen, die allen bisherigen Falsifizierungsversuchen standgehalten haben‘. Er
versteht sich jedoch als Nicht-Positivisten, paradoxerweise zum Teil eben
deshalb, weil er die im Positivismus in seinen früheren Formen noch
enthaltene positive Beziehung zu allgemeinen Aussagen verwirft. Man
könnte ihn aus dem nämlichen Grund als radikaleren Positivisten
bezeichnen.
Dabei ist hinsichtlich der Frage des Positivismusstreits556 selbstverständ-
lich entscheidend, was mit ‚Positivismus‘ gemeint wird. Wir unterscheiden
drei Bedeutungen dieses Terminus:
1. In einem ersten Sinn des Ausdrucks nimmt man als ‚Positivist‘ die
alleinige Rolle der Sinneswahrnehmung und psychologischen Individualer-
fahrung als ‚erkenntnisbegründend‘ an, sei es positiv (wie die Mitglieder
des Wiener Kreises, die an Induktion glaubten), sei es negativ im Sinne der
Basissätze und Beobachtungen, die dann nur als Widerlegungen hypothe-
tisch angesetzter Allgemeinheiten in Betracht kommen. In diesem Sinne ist
Popper gleichermaßen wie die Mitglieder des Wiener Kreises Positivist,
mit dem Unterschied, daß er einerseits die erkenntnisbegründende Rolle
der Beobachtung nur negativ im Sinn der Falsifizierung zuläßt und daß er
andererseits toleranter ist und nicht alle durch Beobachtung weder
verifizierbaren noch falsifizierbaren Theorien wie Metaphysik mit Carnap
für sinnlose Sätze, sondern nur für reine, aber zulässige Hypothesen hält.
Nimmt man also Carnaps und anderer Mitglieder des Wiener Kreises als
556
Vgl. Dazu Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen
Soziologie. 6. Aufl., (Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 1978; sowie: Frankfurt
am Main: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993); auch H.-J. Dahms, Positivismus-
streit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen
Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalis-
mus, (Frankfurt a.M. Suhrkamp, 1994): sowie Wikipedia, „The Positivism
Debate“: http://en.wikipedia.org/wiki/Positivism dispute; und
http://de.wikibooks.org/wiki/Studienf%C3%BChrer Hans Albert: Positivismus-
streit.

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496 KAPITEL 11

Position der „Positivisten“, ist Popper in dieser doppelten Hinsicht kein


Positivist. Besteht hingegen Positivismus (wie schon der Empirismus)
darin, daß das Erkenntnissubjekt ganz auf die Einzelbeobachtung und
Sinneswahrnehmung zurückgeworfen ist ohne eigentlichen erkenntnis-
mäßigen Zugang zu Universalien, es sei denn höchstens in Form reiner und
letztlich unverbindlicher Hypothesen, ist Popper ein radikalerer Positivist
als die Anhänger des Wiener Kreises und andere logische Positivisten.557
2. Wenn man den Positivismus hingegen nicht vom Standpunkt seiner
Einschränkung menschlicher Erkenntnis auf Sinnesdaten und Sinnesbeo-
bachtungen aus betrachtet, sondern vom Standpunkt seiner Ausdehnung
‚positiver‘ Erkenntnis auf induktive Allgemeinheiten, wenn man ihm also
die Meinung zuschreibt, das Allgemeine selbst lasse sich induktiv
verifizieren und sei gewissermaßen sinnlich gegeben, bzw. man könne auf
Grund einer Reihe individueller Wahrnehmungen und Tests zu positiven
Sätzen und Sicherheiten über das Allgemeine gelangen, gehört Popper
gerade nicht zu den Positivisten. Ja er kritisiert diese gleichsam noch als
‚Metaphysiker des Allgemeinen‘, die dem Mythos der induktiven Erkenn-
barkeit von Universalien erliegen.
3. Wenn man unter ‚Positivismus‘ schließlich den dogmatischen Kampf
gegen alle nicht durch Sinnesbeobachtung verifizierbaren Theorien und
Sätze meint, die als sinnlos abgetan werden sollen, ist Popper nicht
Positivist, da er ja gerade alle möglichen Arten von Theorien zuläßt, selbst
solche ohne empirischen Gehalt, die nicht einmal empirischer Falsifikation
gegenüber offenstehen. Ja er erkennt, daß Hume und die Positivisten unter
ihren intoleranten Voraussetzungen die eigenen Werke als sinnlos
erkennen oder gar verbrennen müßten, da in diesen viele Elemente wie
Theorien, logische Gesetze usf. vorkommen, die weder analytisch noch

557
Als positivistisch deuten seine Philosophie auch andere Autoren. Vgl. etwa G.H.
v. Wright, Erklären und Verstehen. Vgl. auch K.R. Popper, ‚Die Logik der
Sozialwissenschaften,‘ in: Th. Adorno/H. Albert u.a., hrsg., Der Positivismusstreit
in der deutschen Soziologie, S. 105. Der durch Positivismus geprägte
Methodenmonismus, demnach die Methode aller Wissenschaften darauf
hinausläuft, „Lösungsversuche für ihre Probleme kritisch auszuprobieren“ (siehe
Dragan Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen Dualismus der
Natur- und Sozialwissenschaften und der Standpunkt kritischer Rationalisten“,
111.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 497

empirisch-synthetisch sind, die also nicht ihrem Verifikations- und


Sinnkriterium unterliegen.
Die Komplexität seiner Position erkennt man wiederum daraus, daß
Popper die Gültigkeit allgemeiner Aussagen keineswegs völlig leugnet,
sondern diesen die folgenden verschiedenen positiven Momente zuerkennt:
1. Selbst empirisch nicht verifizierbare oder falsifizierbare allgemeine
Aussagen erfüllen die positive Rolle heuristischer Fiktionen bzw. Modelle,
die dem Finden, Inspirieren und der Voraussage empirischer Resultate
dienen. (Damit berühren wir wieder den dritten Grund, aus dem heraus
Popper sich nicht für einen Empiristen oder Positivisten hält.)
2. Allgemeine positive Aussagen haben eine weitere positive Funktion,
indem sie dem auf Widerlegung von Annahmen abzielenden Wissen-
schaftsbetrieb als Zielscheibe der Kritik und Ansporn zur Falsifizierung
dienen.
3. Im Gegensatz zu dem, was die Punkte 1 und 2 erwarten lassen, nimmt
Popper auch an, daß allgemeine Aussagen auf Wahrheit, auf Annäherung
an die Wahrheit abzielen und eine verisimilitude erreichen können, die sich
durch ‚logische Wahrscheinlichkeit‘ ausdrücken lasse.558 Auf den von
seinem eigenen Assistenten David Miller scharf kritisierten und von
Popper im Lichte dieser Kritik deutlich modifizierten, ja teilweise
aufgegebenen Begriff der Wahrheitsnähe werden wir zurückkommen.
Diesen für Poppers Gesamttheorie kaum völlig eliminierbaren und einfluß-
reichen Begriff der Wahrheitsnähe und der verisimilitude (approximation
to the truth)559 muß Popper mit seiner oben erwähnten Verwerfung der
Möglichkeit wahrscheinlicher Aussagen über Allgemeines und seiner
Zurückweisung positiver Induktion und rationaler Intuition in Einklang zu
bringen suchen.

558
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 58 ff. 44 ff.
559
In der deutschen Übersetzung (ebd., 58 ff., 44 ff.) wird der Ausdruck
‚Wahrheitsähnlichkeit‘ verwendet, der eigentlich eine andere Bedeutung hat und
überhaupt einen seltsamen Begriff zum Ausdruck bringt, der an sich nur von
Poppers gleich noch zu erörternder Deutung des Wahrheitsgehalts, der sich aus
der Zahl wahrer Urteile und Urteilsklassen (T1, T2, etc.), die aus einer Allgemein-
aussage logisch folgen, ergeben soll, verständlich wird. Wenn diese unendliche
‚Aufteilung‘ der Wahrheit als unangemessene Theorie verworfen wird, haben
auch die Ausdrücke der Wahrheitsähnlichkeit und der Annäherung an die
Wahrheit keinen Sinn mehr. Dann kann ein Urteil nur wahr oder falsch sein,
wenngleich auch falsche Urteile viele wahre implizieren mögen.

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498 KAPITEL 11

2. Poppers originelle Wahrheitstheorie als Verbindung der Tarski‘schen


Version der Adäquationstheorie mit einer neuen Theorie der Wahrheit
allgemeiner Aussagen

Popper versucht dies durch eine neuartige Theorie der Wahrheit


allgemeiner Aussagen in der folgenden originellen Weise.560 Er verbindet
zwei Tarskische Begriffe, den der Wahrheit eines Satzes (proposition) und
den des logischen ‚Gehalts‘ (content) eines Universalsatzes, den er
wiederum im Lichte des ebenfalls Tarski‘schen Begriffes der ‚Folgerungs-
menge‘ versteht.561 Wahrheit wird dabei im herkömmlichen Sinn der
Adäquationslehre gedeutet. Der Satz ‚die Sonne scheint‘ ist dann und nur
dann wahr, wenn die Sonne scheint, wenn die Aussage in Einklang mit den
Fakten steht.562 Unter dem Begriff des ‚Inhalts‘ (content) einer Aussage,
den man präziser bestimmen könnte, versteht Popper den logischen Gehalt
(Inhalt) der Aussage selbst plus denjenigen der in dieser logisch
enthaltenen Sätze.
Aus beiden Elementen der Tarski‘schen Urteils- und Wahrheitstheorie
bildet er den Begriff eines ‘truth-content’ und den eines ‘falsity-content’
allgemeiner Aussagen. Unter dem Wahrheitsgehalt einer allgemeinen
These versteht er dann nicht die Wahrheit dieser allgemeinen These als
solcher, also deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Vielmehr
interpretiert er die Wahrheitsannäherung von Allgemeinaussagen, ja deren
Wahrheit selbst nur im Hinblick auf die Gesamtheit der Singulärsätze, die
sich logisch aus dem Inhalt einer allgemeinen Theorie ergeben und deren
Wahrheit man prinzipiell feststellen kann. Ein allgemeines Urteil nähert
sich nach dieser Auffassung in dem Maße asymptotisch der Wahrheit an, in
dem die Klasse T1 aller wahren Urteile, die sich logisch aus dem
Allgemeinurteil T ergeben, die Klasse T2 der aus T folgenden falschen
Urteile und auch die wahren Urteile T3, die sich aus anderen allgemeinen

560
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis,, 47 ff., 52 ff.
561
Vgl. Karl R. Popper, “A Note on Tarski’s Definition of Truth”, Mind, (1955); 64:
388-391. Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, “Tarskian Truth and the
Correspondence Theory”, cit.
562
Vgl. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge
(London: Routledge and Kegan Paul, 1963), 27.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 499

Theorien X,Y über denselben Gegenstand ergeben, anzahlmäßig über-


trifft.563
Durch diesen Begriff des Wahrheitsgehaltes, der mit einer sehr
numerisch-quantitativ gedachten ‚Annäherung‘ an Wahrheit unzertrennlich
verknüpft ist,564 meint Popper etwa, zeigen zu können, daß Einsteins
Theorie der Wahrheit näher kommt als Newtons Physik, weil sie die
Vorhersage einer größeren Anzahl wahrer Einzelfakten erlaubt als die
‚klassische Physik‘. Eine Theorie ist umso kühner und damit auch umso
riskanter, je größer ihr Inhalt ist (d.h., je mehr einzelne Fakten und
Gesetzmäßigkeiten aus ihr folgen). Dann wird im Idealfall ihr Wahrheits-
gehalt ebenfalls größer sein, es kann aber auch sein, daß ihr Falschheits-
gehalt größer ist. Popper führt im Kontext dieser Theorie verschiedene
neue Ideen und Begriffe ein, wie den der ‚interessanteren‘ und ‚weniger
interessanten‘ Wahrheit,565 wobei hier auch ‚falsche Thesen‘ (wie Newtons
Physik, von der Popper dies annimmt) interessantere und ‚bessere
Wahrheiten‘ (d.h. Approximationen an Wahrheit) sein können als wahre
Aussagen, aus denen nichts Wichtiges folgt. Schon in Logik der Forschung
vertritt Popper eine ähnliche Position.566
Dahinter steht gewiß ein echtes Problem, das auch nicht ausschließlich
Popper zugeordnet werden darf, sondern das sich für jeden wissenschaft-
lichen Realismus stellt. Wenn man z.B. berechtigterweise mit Popper
annimmt, daß die Einstein‘sche Relativitätstheorie mit der Newton‘schen
Konzeption von Raum und Zeit schlechthin unvereinbar ist (schon wegen
der mit beiden Theorien verbundenen euklidischen und nicht-euklidischen
geometrischen Annahmen), und daß entweder Einsteins Theorie oder
Newtons wahr ist, dann muß die gegenteilige Auffassung falsch sein.
Wenn man ferner annimmt, wie Popper,567 daß Einsteins Theorie wahr ist,

563
Vgl. Auch Herbert Keuth, “Verisimilitude of the Approach to the Whole Truth,”
Philosophy of Science (1976); 43: 311-336.
564
Auf die Verschiedenheit und doch enge Verwobenheit der Begriffe der Wahrheit
und ‚Wahrheitsnähe‘ in Poppers Denken werden wir im Rahmen unserer
kritischen Ausführungen zurückkommen.
565
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 55.
566
Vgl. die durch Anmerkungen ergänzte englische Ausgabe: Karl R. Popper, The
Logic of Scientific Discovery, 268. Vgl. auch ders., Objektive Erkenntnis, 371 ff.
567
Ich selbst nehme umgekehrt mit Reinach an, daß die ‚Relativitätstheorie‘ als
philosophische These über das Wesen von Zeit und Raum schlechthin falsch, ja
unsinnig ist. Siehe Reinachs Schrift „Vom Wesen der Bewegung“, in: Adolf

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500 KAPITEL 11

muß man annehmen, daß Newtons widersprechende Annahmen falsch


sind. Andererseits scheint Newtons Theorie doch für viele Fälle eine
ausgezeichnete Approximation zu liefern, und man hat laut Popper allen
Anlaß, sie von beliebigen anderen falschen Theorien, aus denen nicht so
viele wahre Beobachtungen folgen, zu unterscheiden. Ja man könne sagen,
die Welt sei wirklich innerhalb unserer Erfahrung ‚ungefähr so‘, wie
Newton annimmt, auch wenn er strikte gesprochen nicht recht habe, wie
die Beobachtungen der makrokosmischen Verhältnisse und Einsteins
Theorie zeigen. Dennoch scheint Newtons Theorie der Wahrheit
näherzukommen als viele andere Theorien, obwohl sie nach der Annahme
der meisten Wissenschaftler und Philosophen heute streng genommen
falsch sei. Um solche und ähnliche Tatbestände, die in der Wissenschafts-
geschichte häufig vorkommen, zu erklären, hat Popper seine Theorie der
‚Wahrheitsnähe‘ entworfen, die es selbst bei falschen Theorien erlauben
soll, dieselben in Hinsicht auf ihre jeweilige Wahrheitsnähe zu unterschei-
den. Dieses selbe klassische Problem wurde übrigens von T. Kuhn, von
Oddie und anderen in teilweise radikal anderer Weise zu lösen versucht,
worauf ich im Rahmen dieser knappen Ausführungen über Popper nicht
eingehen kann.
Das alles klingt zunächst ganz plausibel, ja durchsichtig. Bei näherer
Analyse zeigt sich jedoch, daß nicht nur die konkreten Phänomene, die
Popper als ‚Wahrheitsnähe‘ bezeichnet, in Wirklichkeit äußerst verschie-
dene sind, sondern daß der Begriff der ‚Wahrheitsnähe‘ selbst alles andere
als klar ist. Soll damit einfach gemeint sein, daß ein Satz noch nicht als
falsch erwiesen ist, aber vielleicht als solcher erwiesen werden kann? Was
soll aber einer falschen Aussage den Titel ‚Wahrheitsnähe‘ verdienen? Soll
es einfach dies sein, daß aus ihrem logischen Gehalt bzw. aus ihrer
Folgerungsmenge wahre Aussagen folgen? Das gilt für jede auch noch so
falsche Aussage überhaupt. Aus der These ‚Es gibt Luftgeister‘ folgt z.B.,
daß es Luft gibt oder daß es überhaupt etwas gibt. Oder soll gemeint sein,
daß mehr Wahres als Falsches aus einer These folgt? Auch das kann nicht
dafür in Anspruch genommen werden, der falschen These selbst Wahr-
heitsnähe zuzuschreiben, sondern nur dazu, manchen der ihr zugrundelie-
genden Beobachtungen oder Annahmen nicht Wahrheitsnähe, sondern

Reinach, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I. Siehe auch
J. Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 501

Wahrheit zu bescheinigen. Auf die große Unklarheit des Begriffs der


Wahrheitsnähe, der auch eine Reihe von Poppers Anhängern wie D. Miller
und ihn selbst zur partiellen Aufgabe dieses Begriffs geführt haben, werden
wir noch ausführlicher zurückkommen.568
Wir werden ähnliche Unklarheiten in Poppers Begriffen des ‚Wahrheits-
gehaltes‘ und ‚Falschheitsgehaltes‘ sowie in jenem der Wahrheit
entdecken.

3. Induktion, Intuition, Wesenserkenntnis

Popper verwirft mit der Induktion auch jeden Versuch, durch Intuition,
Wesenseinsicht, Ideenschau etc. zur Erkenntnis positiv-gegebener allge-
meiner Sachverhalte und Wesenszusammenhänge zu gelangen. Erst recht
verwirft er jede Gewißheit über allgemeine Sachverhalte,569 zumindest als
Folge seiner Ablehnung der ‚Induktion‘, als welche er jedweden Übergang
von Einzelerfahrung (Erfahrung überhaupt) zu Universalien deutet.
Die Universalität seiner Ablehnung jedweder induktiver oder intuitiver
Allgemeinerkenntnis geht insbesondere aus zwei philosophischen Gedan-
ken hervor, die er Hume entnimmt:
„Möchten die Menschen doch eines Tages von folgenden zwei Prinzipien
völlig überzeugt sein: Kein Gegenstand hat, für sich selbst betrachtet, etwas,
was einen Schluß über ihn hinaus erlauben könnte;“ und: „Auch nach der
Beobachtung der häufigen oder ständigen Verbindung von Gegenständen ist
kein Schluß auf irgendeinen Gegenstand außerhalb unserer bisherigen
Erfahrung möglich...“570

Diese beiden radikal empiristischen, ja positivistischen Ideen Humes


preist Popper in Objektive Erkenntnis auf das höchste. Popper nennt dort

568
Vgl. David Miller, “Verisimilitude Redeflated”, British Journal for the Philosophy
of Science, (1976); 27: 363-38. Vgl. auch I. J. Good, “Comment on David Miller’s
Article in ‚Synthese’,” Synthese, (1975); 30: 205-206.
569
Siehe besonders Karl Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., VII: „Die absolute
Wahrheit wird manchmal erreicht; die Sicherheit nie: Die Suche nach Sicherheit
ist verfehlt...“; vgl. auch ebd., 47; 63 ff.; 68 ff., 134, 143 ff.
570
D. Hume, Treatise on Human Nature (Green and Grose, 1886), Treatise, Buch I,
Teil III, Abschnitt II; Selby-Bigge, 77.

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502 KAPITEL 11

diese „zwei Prinzipien“ „logische Perlen“ und „einen nahezu reinen


Edelstein“.571
Wieder bleibt die erkenntnistheoretische Position Poppers undurchsich-
tig – und damit greifen wir auf einige Punkte einer immanenten Kritik der
Popper’schen Erkenntnistheorie und insbesondere ihrer Anwendung auf
Probleme der Politik voraus. In manchen Passagen betrachtet er jede
Philosophie objektiver Sicherheiten als Weg in den Faschismus und den
rationalen Skeptizismus als Schutzwall gegen jede Art von Fanatismus und
Tyrrannei, ohne zu beachten, daß es offensichtlich vom Inhalt der
Überzeugungen, insbesondere jener über Freiheit und Wahrheit, abhängt,
ob sie zum Fanatismus führen oder nicht.572
In deutlichem Gegensatz zur Ableitung des Totalitarismus aus einem
Standpunkt, der an objektiven Evidenzen festhält und den er als Dogmatis-
mus abwertet, betont Popper in glänzenden Ausführungen die Tatsache,
daß gerade der Pessimismus gegenüber der Erkenntnis objektiver Wahrheit
(also Skepsis) und vor allem der Relativismus eine Hauptwurzel der
Tyranneien und Diktaturen war, was man an der Geschichte des National-
sozialismus und Kommunismus belegen kann. Damit setzt Popper den
Gegensatz zu Relativismus und Skeptizismus, also die Erkennbarkeit der
Wahrheit voraus, die ihrerseits stets auch auf der Erkennbarkeit von
Universalien beruht. Wenn er dies nicht voraussetzt, wie kann der
schlimmsten Ideologie, etwa der Ideologie Hitlers, solange sie nur als eine
Reihe von Hypothesen angesehen wird, der Wert als ‚Versuch und Irrtums-
Experiment‘ streitig gemacht werden? Also scheint Popper unausweichlich
vorauszusetzen, was er in Frage stellt: Erkenntnis objektiver und allgemei-
ner Wahrheit.
Auch setzt er außer der Wahrheit seiner eigenen (übrigens empirisch
weder positiv überprüfbaren noch falsifizierbaren) Aussagen die mit
Sicherheit erkennbare Wahrheit allgemeiner logischer Prinzipien, des
Widerspruchsprinzips und Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten, mathe-
matischer Sätze usf. voraus und kommt, wie jeder andere Mensch, keinen

571
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 90-91.
572
Vgl. Popper, The Logic of Scientific Discovery, 7-9.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 503

Gedanken lang ohne mit Gewißheit erkennbare allgemeine Prinzipien der


Logik, der Erkenntnistheorie, Wahrheit usf. aus.573
Daß auch eine relativistisch-utilitaristische Konzeption, die die Wahr-
heit mit dem identifiziert, was vom Führer als recht gesetzt wird oder was
‚der arischen Rasse nützt‘, mit einem dogmatischen Unfehlbarkeits-
anspruch einhergehen kann, ändert daran nichts, sondern zeigt nur einen
dem Willen zur Macht entspringenden Wunsch, für die eigenen Meinungen
einen absoluten Wert zu setzen, der ohne Bezug auf Wahrheit und
Unfehlbarkeit nicht zu rechtfertigen ist. Dabei kann ein Hitler durchaus
zugleich – in objektivem Widerspruch zu seinem Unfehlbarkeitsanspruch –
ein radikaler Relativist sein. Selbstverständlich sei nicht geleugnet, daß
auch ein dogmatisch für wahr gehaltener Rassismus zu totalitären
Verbrechen führen kann. Dies liegt aber nicht an der nicht-fallibilistisch
aufgefaßten These als solcher, sondern an deren falschem Inhalt oder an
der anti-freiheitlichen ‚Anwendung‘ der Theorie auf die Praxis. Gerade die
energischsten Gegner des Nationalsozialismus, wie etwa Dietrich von
Hildebrand, konnten ihren absoluten Widerstand gegen den Nationalsozia-
lismus nur deshalb rational begründen, weil sie ethische und andere
Evidenzen anerkannten.574
Nicht nur in der Meinung über den Ursprung des Totalitarismus aus
zwei entgegengesetzten Erkenntnistheorien (Relativismus und Objektivis-
mus) bleibt Poppers Gedankengang undurchsichtig. Die Problematik der
Erkenntnistheorie Poppers betrifft dessen erkenntnistheoretische Position
selbst. Denn trotz seines Skeptizismus verteidigt Popper mit seinen
Schülern bzw. Freunden wie Hans Albert energisch die Existenz einer
objektiven Wahrheit. Sie kritisieren etwa die Entthronung der Wahrheits-
frage in den Ideen Thomas Kuhns oder in Lübbes Philosophie über
Religion nach der Aufklärung als funktionalistische, relativistische oder

573
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55, 310. Zum Versuch des näheren
Nachweises dieser Behauptungen vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves.
574
Vgl. K. R. Popper, Conjectures and Refutations, S. 4 ff. Augusto del Noce in
seinen zahlreichen Studien zum Faschismus und Nationalsozialismus, D. von
Hildebrand und andere haben gezeigt, wie radikal skeptisch-relativistisch diese
totalitären Ideologien waren. Siehe etwa D.v. Hildebrand, „Die Entthronung der
Wahrheit“, S. 309-339; Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un
pensiero.

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504 KAPITEL 11

pragmatistische Mißachtung der Frage nach objektiver Wahrheit.575 Dies


setzt aber zahlreiche sichere Erkenntnisse über das Wesen der Wahrheit,
über die Gründe der Falschheit anderer Wahrheitstheorien als der eigenen,
usf. voraus und widerspricht, so meine ich, Poppers Kritik der Induktion
und vor allem jeglicher anderer Form ‚positiver‘ Allgemeinerkenntnis.
Eine ähnlich unauflösbare Spannung besteht zwischen Poppers Meinungen
über die Notwendigkeit der Suche nach objektiver Wahrheit sowie der
Rolle der Fakten als Autorität576 in Erkenntnisstreiten und der gleich-
zeitigen Meinung, ein Prinzip der Vernunft oder die dem Intellekt
vorgegebene Wahrheit sei nur eine neue Form irrationaler Autorität.577
Poppers zur Methodologie aller Wissenschaft erhobene Kritik der
Induktion und sein Fallibilismus (Versuch und Irrtum/trial and error-
Methode, Falsifikation statt Verifizierung) sind auch ein Grund für die
Bezeichnung seiner Epistemologie als ‚evolutionäre Erkenntnistheorie‘,
eine Bezeichnung, die Popper selbst im Untertitel von Objektive
Erkenntnis festhält.578 Wissenschaftliche Erkenntnis wächst nach seiner
Meinung durch einen Prozeß objektiver Kritik und Falsifizierung, die
sowohl Theorienbildung anrege als sie diese auch in Zaum halte.
Wissenschaftliche Erkenntnis mache Fortschritte durch ‚kritische Auswahl‘
und Erhaltung der ‚kräftigsten Exemplare‘ (wissenschaftlicher Hypothesen
und Theorien).

4. Auch über empirische (individuelle) Sachverhalte sei keine Gewißheit


möglich (Descartes‘ Kritik)

Mit Hinweis auf Routledge’s Buch Everest 1933, in dem „der arme alte
Kipa ...hartnäckig an dem Gedanken fest(hielt), er sei tot“,579 meint Popper,
Descartes‘ Gewißheit des ‘cogito‘ abtun zu können, das er außerdem

575
Darin fühle ich mich Popper sehr verbunden. Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver
Wahrheit.
576
Vgl. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., 27.
577
Vgl. Popper, Ebd., 16.
578
Ein anderer Grund für diese Bezeichnung liegt im spezifischen „Evolutionismus“
Poppers. Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 68 ff.
579
Ebd., 36.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 505

wegen seiner Begrenztheit kritisiert. Poppers These ist, daß es überhaupt


keine unmittelbare Gewißheit („no immediate certainty“) gebe und daß
deshalb das alte philosophische Streben nach unbezweifelbarer Erkenntnis-
gewißheit aufgegeben werden sollte. Popper schließt aus der Tatsache, daß
Selbsttäuschungen hinsichtlich bestimmter Bewußtseinsinhalte oder Irrtü-
mer darüber, ob das eigene Bewußtsein das eines Lebenden oder eines
‚Lebens nach dem Leben‘ ist, möglich sind, daß es keine unbezweifelbare
Evidenz über die eigene Existenz gäbe. Auf eine Kritik dieses Stand-
punktes werden wir zurückkommen.

5. Die ‚best bewährten‘ (nicht widerlegten) allgemeinen Theorien können


auch Grundlage für Handeln (Ethik etc.) bieten: Probabilismus und das
Problem des ‚Hypothetischen‘ im Bereich des Handelns

In den verschiedensten Zusammenhängen argumentiert Popper,580 daß


wir auf Grund unserer Glaubensüberzeugungen und Meinungen handelten
(„Wir handeln gemäß unserem Glauben“581) und gewisse Tatsachen – in je
nach Situation variierendem Grad – für ‚gewiß‘ hielten.
Wie läßt sich jedoch diese These einer Art von ‚praktischer (sittlicher)
Gewißheit des Annehmens und Glaubens‘ mit der von Popper vertretenen
Erkenntnistheorie, die ausschließlich rational nicht begründbare Vermu-
tungen zuläßt (dem ‘conjecturalism’) vereinbaren? Man erinnere sich
daran, daß Poppers Erkenntnistheorie, was die Nichtanerkennung von
Gewißheiten betrifft, über jeden Probabilismus, eine Position, die ja schon
vom Namen her gerade die von Popper abgelehnte induktive Wahrschein-
lichkeit anerkennen müßte, hinausgeht. Popper scheint beim Versuch,
seinen ‚neo-karneadäischen hyperfallibilistischen Hypothetismus‘ mit einer
Theorie praktischer Gewißheit zu versöhnen, über dogmatisch klingende
Aussagen und über seine Auffassung der Wahrheitsnähe (verisimilitude)
nicht hinauszugehen.
Die einfach klingende Lösung, daß praktische Gewißheit des Glaubens
nur hypothetisch angenommene Sicherheit sei, löst das Problem auch nicht.
Denn in Wirklichkeit müßte aus Poppers Position ein radikaler ‚praktischer
Fallibilismus‘ und irrationalistischer Dezisionismus folgen. Wenn ethische

580
Ebd., 24 f., 80 ff., 100-103, und an anderen Stellen.
581
Ebd., 80.

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506 KAPITEL 11

Annahmen überhaupt kognitivistisch gedeutet werden sollten, müßten sie


als rein hypothetische Ansetzungen gedeutet werden, die überdies prinzi-
piell nicht durch Tatsachenbeobachtungen falsifizierbar wären, ja nicht
einmal einen empirischen Gehalt hätten, sodaß sie letzten Endes den sinn-
losen Sätzen des Wiener Kreises nahekommen müßten. Poppers Bemer-
kungen über einen rational scheinenden praktischen Glauben müßten daher
im Sinne seiner erkenntnistheoretischen Grundposition radikalisiert bzw.
revidiert werden.
Dieser Punkt wird von manchen Autoren m.E. zu recht kritisiert582 und
ist natürlich besonders für Ethik und Rechtswissenschaft ein entschei-
dender. Doch greifen wir damit auf die Kritik voraus und entfernen uns
überdies vom Thema dieser Untersuchung.
Hans Albert wendet Poppers rein ‚hypothetische‘ Erkenntnistheorie (die
den radikalen Fallibilismus und die Revidierbarkeit jeder Annahme
einschließt)583 besonders auf die Bereiche der ‚praktischen Philosophie‘
(der Ethik und Politik) an.

6. Die 3 Weltentheorie

Neben Materie einerseits (Welt 1) und Psyche (seelisch-Bewußtem)


andererseits (Welt 2) wird von Popper eine Welt 3 angenommen. An
diesem Begriff ist hervorzuheben, daß er eine gewisse Verwandtschaft mit
Platons Ideenlehre und mit der Psychologismuskritik Husserls und anderer
Autoren besitzt. Wie diese bemerkt Popper, daß Gedankeninhalte,
Argumente, etc. nicht einfach auf psychische Inhalte reduziert werden
können.
Sowohl was den Inhalt der Welt 3 als auch was die allgemeinen
Aussagen über sie betrifft, besticht der Begriff der Welt 3 jedoch nicht
durch Klarheit. Was ihre Bewohner betrifft, wird sie fast wie ein philoso-
phischer Papierkorb gefaßt, in den Geschichte, Kultur, Sprache, Bibliothe-
ken, Gedankeninhalte, Argumente, Sprachen, Kunstwerke, mathematische

582
Siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376 ff.
583
Vgl. dazu etwa Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, sowie auch die
zutreffende Kritik von Henke.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 507

Gesetze ebenso wie konventionelle Regeln von Spielen usf. geworfen


werden.
Nicht klarer und differenzierter ist Poppers Antwort auf die Frage,
welches Verhältnis die Welt 3 eigentlich zu den psychischen Akten hat.
Von ihr wird einerseits geleugnet, daß sie rein willkürlich entworfen
werde.584 Andererseits behauptet Popper, die ‚Welt 3‘ sei vom Menschen
hervorgebracht,585 ja sie sei ausschließlich eine empfehlenswerte Hypothe-
se, „a convenient assumption,“ (und schließe keinerlei — platonisierende
— Metaphysik ein).

II. KRITIK VON POPPERS WISSENSCHAFTS-, WAHRHEITS- UND


ERKENNTNISTHEORIE

1. Zu Induktion, Positivismus, Fallibilismus etc.

Wegen der Bedeutung der Auffassungen Poppers über Induktion und


Fallibilität aller Erkenntnisansprüche soll mit unserer kritischen Untersu-
chung zunächst hier angesetzt werden:

1.1. Zur versteckten Herrschaft des Positivismus in Poppers Fragestellungen:

Poppers Fragestellungen hinsichtlich der Induktion und sein Ideal der


Wissenschaftlichkeit stehen noch weitgehend unter dem Banne des
Positivismus. Denn das Problem der Wissenschaftlichkeit und dasjenige
der Induktion (bzw. der dieselbe ersetzenden rationalen Verfahren) stehen
sosehr im Zentrum seines Interesses, daß Induktion für ihn der einzig
ernstzunehmende Kandidat zu sein scheint, der überhaupt sinnvoll
Allgemeinerkenntnis für sich beanspruchen kann, wenn dieser ihr
Anspruch auch seiner Meinung nach durch kritische Rationalität als
gleichfalls hohl entlarvt wird. Probleme wie die der Intuition, Wesens-
einsicht, Einsichten anderer Art wie sie in Geschichtswissenschaften,
584
Siehe z.B. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 132-144, wo der mathematische
Formalismus-Konstruktivismus verworfen wird.
585
Vgl. dazu die eindeutigen Aussagen in K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O.,
164-167.

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508 KAPITEL 11

Mathematik, Jurisprudenz, Kunstkritik und Historie wichtig sind, usf.


finden nur wenig Beachtung. Unsere Kritik an dieser Einschränkung des
Erkenntnisproblems auf Induktion bzw. auf deren Kritik einerseits und auf
die logische Ableitungsproblematik andererseits, wird aus den Überlegun-
gen zu den folgenden Punkten deutlicher hervortreten.

1.2. Übereinstimmung mit Poppers Kritik der (unvollständigen) Induktion als


formallogischer Schlußform

Betreffs des logischen Problems der Induktion dürfen wir mit Hume,
Popper und auch Pfänder586 darin übereinstimmen, daß, wenn unvollstän-
dige induktive Schlüsse als rein ‚formal-logisches‘ Verfahren angenommen
werden, die sogenannte ‚unvollständige Induktion‘ nicht zu rechtfertigen
ist; aus der Tatsache, daß viele beobachtete Exemplare einer Spezies oder
einer gewissen Eigenschaft sich in einem bestimmten Sinne verhalten,
kann über nichtbeobachtete Fälle derselben Art nichts gültig geschlossen
werden. Die bereits von Pascal schärfstens gerügte logische Ungültigkeit
eines formallogischen induktiven Schlusses wird nicht bloß durch die
Poppersche Bezugnahme auf das Überleben einer Spezies widerlegt
(falsifiziert), auf die weder daraus gültig geschlossen werden kann, daß sie
bisher immer überlebt hat, noch daraus, daß viele ähnliche Spezies überlebt
hätten. Vielmehr läßt sich auch die allgemeine Erkenntnis gewinnen, daß
auch für einen wiederholt beobachteten und konkret in Wahrnehmungen
gegebenen Sachverhalt zufällige Gründe verantwortlich sein können.
Deshalb waren auch in der Vergangenheit ‚klassische‘ weitere Bedin-
gungen für eine Induktion (Variation der Bedingungen, etc.) eingeführt
worden. Auch vor Popper war anerkannt worden, daß die Beobachtung
einer Eigenschaft in einer begrenzten Anzahl von Individuen als solche
nicht ausreicht, um etwas über alle übrigen Exemplare der gleichen Art zu
schließen. Dies weist auch Pfänder in seiner Logik stringent nach. Paul
Feyerabend hat sich nicht ohne Recht sehr kritisch zur Frage von Poppers
Originalität in diesem Punkte geäußert.587

586
A. Pfänder, Logik, 341 ff.
587
Der Autor kritisiert Poppers Anspruch auf Originalität in diesem Punkt sowie in
jenen Fragen, für die Popper absolute Originalität beansprucht: ob nämlich die

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 509

1.3. Poppers echte Einsichten in die Möglichkeit der Falsifizierung universaler


Aussagen durch Einzelbeobachtungen und Pascals Vorwegnahme der
Popperschen Kritik der Induktion.

Man muß Popper ebenfalls darin recht geben, daß die Möglichkeit der
‚Falsifizierung‘ einer allgemeinen These durch Beobachtung möglich ist,
wenn die letztere entweder dieser Aussage selbst oder wenn sie einer mit
einwandfreiem logischem Verfahren aus ihr abgeleiteten Folge
widerspricht. So widerspricht die Beobachtung eines einzigen Weißen der
Meinung, daß buchstäblich alle Menschen schwarz seien.
Dieses Prinzip der Popperschen Philosophie, ja die ganze Poppersche
Kritik der Induktion wurde übrigens von Pascal glasklar formuliert. Er
betont, daß im Bereich der Erfahrungserkenntnis ein einziges Gegen-
beispiel zur Falsifizierung genügt und auch keine noch so große Zahl von
Beobachtungen genügt, um eine Allgemeinaussage zu begründen.588 Er
nimmt die inzwischen ohnehin durch Uran widerlegte These, daß Gold das
schwerste Metall und die bis heute nicht falsifizierte These, daß Diamant

„erfahrenen Fakten wirklich den Theorien vorausliegen. Für diese Ideen finden
sich von Aristoteles bis Goethe und Mach viele Vorläufer Poppers.“ Wir werden
gleich auf einen von Feyerabend nicht erwähnten Denker, nämlich Pascal,
hinweisen. Vgl. P. Hans Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle: Comments on the
Condition of Content Increase’, in: G Radnitzky und G. Andersson, Hrsg.,
Progress and Rationality in Science (Dordrecht: Reidel, 1978), 143-180, bes. 174-
175, Anm. 8.
588
Er bezieht sich auf die Frage, ob es einen leeren Raum gäbe, was die Alten
geleugnet haben, und betont, daß ein einziges Experiment, das einen leeren Raum
zeigen würde, genügt, um die noch so verehrungswürdigen Meinungen der Alten
zu widerlegen und formuliert dann:
Puisque, pour le dire généralement, ce ne serait assez de l’avoir vu constamment en cent
rencontres, ni en mille, ni en tout autre nombre, quelque grand qu’il soit; puisque s’il restait
un seul cas à examiner, ce seul suffirait pour empêcher la définition générale,...Car dans
toutes les matières dont la preuve consiste en expériences et non en démonstrations, on ne
peut faire aucune assertion universelle que par la générale énumération des toutes les parties
ou de tous les cas différents.
Bl. Pascal, Préface sur le Traité du Vide, in: Blaise Pascal, Œuvres complètes.
Hrsg. v. Louis Lafuma, (Éditions du Seuil) Paris 1963; Blaise Pascal, S. 232b.

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510 KAPITEL 11

die härteste Materieart sei, als Beispiele bisher nicht falsifizierter, aber
prinzipiell falsifizierbarer Allgemeinaussagen.589

1.4. Nicht alle Universalurteile lassen sich durch (empirische)


Einzelbeobachtungen falsifizieren. Kritische Überlegungen zu
Einschränkungen und Bedingungen der Anwendbarkeit des
Falsifizierbarkeitsprinzips

Dabei müssen noch viele Arten von Allgemeinurteilen unterschieden


werden und sind auch dementsprechend viele Arten von Falsifizierung
allgemeiner Thesen durch Einzelbeobachtungen denkbar.
Es kann sich etwa um Allgemeinaussagen handeln, die nicht strikte und
absolute Universalität behaupten, sondern nur einen ‚im allgemeinen‘
bestehenden Sachverhalt (ut in pluribus, wie die Scholastiker sagten),
entweder im Sinne eines Normalfalls oder in jenem eines Durchschnitts-
wertes. Solche Allgemeinheiten lassen von vornherein Ausnahmen zu, wie
daß der Mensch nur ein Herz oder zwei Nieren besitzt, was durch einen
Menschen, der mit zwei Herzen oder mit bloß einer Niere geboren wird,
nicht widerlegt werden kann, weil dieser eben dann eine ‚Ausnahme‘ ist,
die als Ausnahme ‚die Regel bestätigt‘, wie man sagt.590
Davon ist der Fall ganz verschieden, in dem durch die Entdeckung
vieler Rassen und Hautfarben unter Menschen die allgemeine These
widerlegt wird, daß der Mensch weiße Hautfarbe besitze. Denn durch diese
Beobachtung wird auch die ‚lockere Allgemeinheit‘ der empirischen
Aussage falsifiziert, ‚der Mensch besitze weiße Hautfarbe‘.
Wieder anders steht der Fall mit Urteilen, die mit absoluter Allgemein-
heit (und manchmal auch mit apodiktischer Gewißheit) behauptet werden,
etwa vielen philosophischen und mathematischen, aber auch physika-
lischen wie dem von Pascal erwähnten Satz, daß es in der ganzen Natur

589
In vorphilosophischer Weise kann jedes Kind diese Einsicht gewinnen: In
brillantem Natur-Popperianismus wurde z.B. von einem mir bekannten Kind als
Widerlegung der These seiner Mutter, alle Menschen seien mit ihrem Gesicht
unzufrieden, seine eigene vollendete Zufriedenheit mit dem eigenen Gesicht
festgestellt. Jede derartige Ausnahme von einer allgemeinen Aussage widerlegt
zumindest die Wahrheit der strikten Allgemeinheit einer Theorie.
590
Vgl. dazu P. Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle,’ a.a.O.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 511

keinen leeren Raum gäbe. Diese würden durch einen einzigen Gegen-Fall
falsifiziert, weil sie Wahrheit für ein Universalurteil im strikten Sinne
beanspruchen. Wenn etwa ein Philosoph behauptet, Erkenntnis irgendeiner
Wahrheit sei schlechthin unmöglich oder es gäbe keine Freiheit, würde
auch ein einziger Fall, in dem die geleugneten Dinge sich evidenter
Erkenntnis darbieten, genügen, um eine solche Allgemeinaussage zu
widerlegen. Auch eine einzige von einem Skeptiker vorausgesetzte
Erkenntnis würde die radikale Skepsis und jeder einzelne freie Akt in der
Welt würden die These des Determinismus widerlegen. Ebenso läßt sich
die hedonistische Identifizierung des Guten mit der Lust durch eine einzige
Erkenntnis eines Gutes, das nicht mit Lust identisch ist, oder einer Lust, die
böse ist, falsifizieren. Sobald man mit Augustinus, Descartes und vielen
anderen Autoren evidente Erkenntnis über die Tatsache, daß wir in diesem
oder jenem Fall Erkenntnis oder Freiheit besitzen, anerkennt, ergibt sich
die Möglichkeit der Falsifizierungen gegenteiliger philosophischer Thesen.
Viele philosophische Widerlegungsversuche und Falsifizierungen setzen
dies voraus.
Doch liegen echte allgemeine philosophische Erkenntnisse jenseits jeder
empirischen Verifizierungsnotwendigkeit und zugleich jenseits der
Falsifizierungsmöglichkeit, die Popper als Bedingung des sinnvollen
Charakters einer allgmeinen Aussage fordert.591 Der Grund für die
Unmöglichkeit, diese Einsichten in Wesensnotwendiges empirisch zu
flsifizieren, liegt nicht in der Form ihrer Allgemeinheit und erst recht nicht
in ihrer Sinnlosigkeit, sondern vielmehr in der absoluten Notwendigkeit
ihres Gegenstands einerseits und in der evidenten einsichtigen Selbstge-
gebenheit des Wesens andererseits, welche jede empirische Widerlegung
prinzipiell ausschließt. Aus diesem Grund können Sätze wie „Das
Farbquale ‚Orange‘ liegt der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen gelb und
rot“ oder „sittliche Verantwortung setzt Freiheit voraus“ oder das
Widerspruchsprinzip nicht falsifiziert werden, weil sie notwendig wahr
sind und ihre Erkenntnis daher nicht von Daseins-Erfahrung nicht-
notwendiger Tatsachen abhängt und ihre evidente Wahrheit unwiderlegbar
ist. Keiner dieser Sätze ist dabei übrigens analytisch-tautologisch. Nicht
nur wird diesen Sätzen oft widersprochen (z.B. von Calvin hinsichtlich der
für Schuld und Verantwortung vorausgesetzten Freiheit oder von Hegel mit
591
Vgl. Poppers eigene kritischen Aussagen zu diesem Punkt in Conjectures and
Refutations.

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512 KAPITEL 11

der Behauptung, im Bereich der höheren Vernunft gelte das Widerspruchs-


prinzip nicht). Vielmehr setzt die Erkenntnis dieser Wahrheiten eindeutig
den Bezug zu den sachlichen Wesen der Dinge voraus, in denen sie
gründen und genügt für ihre Erkenntnis keineswegs eine Analyse der
Definitionen der Subjektbegriffe.592
Daß wahre Erkenntnisse wesensnotwendiger Sachverhalte, vor allem
jener, die überall vorausgesetzt sind, nicht falsifizierbar sind, schließt nicht
aus, daß falsche synthetisch-apriorische Urteile durch entsprechende
Beobachtungen, Einsichten und Beweise falsifiziert werden können. Wenn
ich etwa mit Augustinus einem aboluten Skeptiker und Zweifler an aller
Wahrheitserkenntnis zeige, daß er in jedem Fall seines Zweifels
wesensnotwendig Erkenntnisse besitzt und voraussetzt, genügt eine einzige
davon, seine falsche Allgemeinaussage zu widerlegen. Diese Falsifizie-
rungsmöglichkeit falscher Allgemeinaussagen gilt aber nicht nur für
Urteile über wesensnotwendige allgemeine Sachverhalte, die durch
Einsichten widerlegt werden, sondern auch für Allgemeinaussagen über
empirische und kontingente Sachverhalte, etwa der Art, „Es gibt kein
....X,” wie „Es gibt keine Außerirdischen (im Sinne menschenähnlicher
intelligenter Bewohner anderer Planeten oder Sonnensysteme).“ Alle
solchen negativen Universalurteile können durch einen einzigen
kontradiktorischen Fall bzw. seine Beobachtung falsifiziert werden.
Mit dem eben erörterten Typus von Allgemeinurteil und dessen Falsifi-
zierung durch Einzelerkenntnisse wird häufig ein radikal verschiedener
verwechselt, nämlich derjenige bloß scheinbarer ‚Ausnahmen‘, die als
solche nur im Licht einer Fehldeutung des Allgemeinurteils zu bestehen
scheinen. Während gewiß Popper darin übereinstimmen würde, daß
Beobachtung von Tatsachen keine Sollenssätze falsifizieren können, hält
etwa Wolfgang Wickler bloß faktische Verstöße gegen Sollensgesetze
(sogar ‚Verstöße‘ von Tieren gegen auf Menschen bezogene Sollensgeset-
ze) für Widerlegungen derselben.593 Dieses radikale Mißverständnis, das
eine arge ‘naturalistic fallacy’ im Sinne G.E. Moore’s enthält, verwechselt

592
Zu diesem entscheidenden Punkt der hier implizierten Erkenntnistheorie vgl. Adolf
Reinach, „Über Phänomenologie“; ders., „Die apriorischen Grundlagen des
bürgerlichen Rechtes“; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?; J. Seifert,
Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves.
593
Vgl. Wolfgang Wickler, Sind wir Sünder?, 83 ff., 222 ff.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 513

eine absolut universale Aussage über Sollen (ought) mit einer absolut
universalen Aussage über faktisches Verhalten. Daß die meisten Menschen
oder gar Tiere einander töten, kann etwa nicht als Einwand gegen die
Absolutheit des Gebotes gegen Mord angeführt werden.
Noch einmal anders ist der Fall bloß scheinbarer Ausnahmen, wenn ein
allgemein behauptetes Sollen einer bestimmten Handlungsart (etwa
Versprechen zu halten) in einem bestimmten Fall als Sollen nicht besteht
(so sollen unsittliche Versprechen nicht gehalten werden). Hier sind wir
mit allgemeinen Regeln konfrontiert, die im Fall gewisser ‚Kollisionen‘
mit anderen höheren Forderungen nicht jene Anwendung finden, die sie
normalerweise fänden. (Dies gilt etwa für den von Ross als ‘prima facie
obligations’ gemeinten Sachverhalt der Suspendierung gewisser sittlicher
Forderungen durch höhere. Ross universalisiert diesen besonderen Fall zu
sehr, als gälte er von allen Sollensforderungen, was einen verhängnisvollen
Irrtum darstellt).
Diese Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Art des Allgemeinurteils
und der seinem jeweils verschiedenen Sinn entsprechenden Falsifizierung
durch Einzelbeobachtungen müssen im Auge behalten werden, wenn man
Russells Typentheorie, die in Wirklichkeit nur für solche Allgemeinheiten
gilt, die Ausnahmen für die Metasprache oder den Sprechenden zulassen,
oder Poppers Falsifizierungstheorie, die nur auf strikte allgemein gemeinte
Urteile zutrifft, anwenden will. Denn im Falle solcher „vager und nicht
strikte definierte Allgemeinheiten, wie des Barbiers von Sevilla, der alle
Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren, aber auch nur diese,“ ist es
sinngemäß möglich und notwendig, ihn selber auszunehmen und Russells
Typentheorie anzuwenden. Hingegen im Falle strikt allgemein gemeinter
Thesen würde deren Wahrheit auch durch ein einziges Gegenbeispiel
widerlegt.
Selbstverständlich hat Popper auch damit recht, daß die Widerlegung
einer allgemeinen These oder erklärenden Theorie (explanatory theory)
noch nicht eine alternative allgemeine Theorie darstellt und daß
Widerlegung allgemeiner Ansprüche (ihre Falsifizierung) ‚leichter‘ ist als
deren Begründung.

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514 KAPITEL 11

1.5. Zur Rettung empirischer Wissenschaft: die Popper’sche Mißdeutung der


Induktion, die als Formalschluß ungültig ist, aber als Materialschluß unter
bestimmten philosophischen und methodologischen Voraussetzungen
gültig sein kann

An Poppers Kritik der Induktion ist auch dies kritisch zu bemängeln,


daß sie gar nicht zwischen Induktion als Formalschluß und als
Materialschluß unterscheidet und sich ausschließlich gegen die als
formallogischen Schluß aufgefaßte Induktion richtet, die sie mit Recht
verwirft, nicht aber gegen die materiale Schlußart, als welche z.B. Pfänder
die Induktion erwiesen hat.594 Popper setzt eine Art Hume‘scher Welt
bloßer Sequenzen von Sinneseindrücken voraus, bzw. unterscheidet nicht
eine bloße gewohnheitsmäßige Wiederholung unter einander ähnlicher
Kombinationen verschiedener Fakten, die tatsächlich Induktion niemals
rechtfertigen könnte, von der wiederholten Beobachtung artspezifischer
Eigenschaften. Unter Poppers empiristischen Voraussetzungen läßt sich die
empirische Wissenschaft jedoch schlechthin überhaupt nicht verstehen
noch ließe sich unter Poppers Annahme, daß die Induktion ein formallo-
gisches Verfahren sei, das unter Absehung der material-inhaltlichen Natur
der beobachteten Spezies und Sachverhalte vorginge, das Vertrauen
rechtfertigen, das wir alle den Resultaten empirischer Wissenschaft und
Technik entgegenbringen, wenn wir uns in ein Auto oder Flugzeug setzen.
Läßt sich hingegen evident machen, daß die Natur Arten und Gattungen
aufweist, dann erlaubt eine solche platonische Philosophie einer nach Eide
strukturierten Welt oder eine aristotelische Formmetaphysik, die der
Erfahrung und Evidenz tausendmal besser entspricht als der Empirismus,
eine volle Rechtfertigung der Induktion. Diese erweist sich dann als eine
Methode, die wahrscheinliche, ja praktisch sichere Ergebnisse erreichen
kann. Induktion schließt dann nicht rein formal-logisch aus wiederholten
Beobachtungen auf allgemeine Gesetze, was ein schlechthinniger Unsinn
wäre, sondern setzt die Erkenntnis oder zumindest die begründete
Überzeugung voraus, daß die Welt nicht eine Sammlung zufälliger
Sinnesdaten, sondern eine nach Formen und Arten stukturierte und
gestalthafte Wirklichkeit ist, in der es außer individuellen Sinngestalten
wie Kunstwerken auch allgemeine Spezies gibt.

594
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, a.a.O.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 515

Die Erkenntnis, daß es sich mit der Welt so verhält, ist schlechthin
evident im Falle notwendiger Wesenheiten wie denen der Farbe, des
Versprechens, des Seins als solchen, der Freiheit etc. Sie ist aber auch
hinsichtlich der Natur der Materiearten, der Pflanzen- und Tierarten oder
der Organe des menschlichen Körpers usf. mehr als wahrscheinlich, ja
praktisch so sicher, daß kein Mensch ernsthaft daran zweifelt, daß auch die
ganze Natur nach allgemeinen Spezies und Gattungen gestaltet ist. Der
eigentliche und gültige induktive Schluß setzt eben die begründete
Überzeugung voraus, daß die in einzelnen beobachteten Fällen
beobachteten Merkmale ihre Ursache darin haben, daß das P-Sein einer
Reihe von A’s in deren Eigenart S (Art) begründet ist. Die Verwerfung
jeder ‘what is question’ und jedes ‚Essentialismus‘ – zumindest beim
früheren Popper595 – macht ihn m.E. unkritisch gegenüber der sowohl
ontologischen als auch erkenntnistheoretisch-logisch relevanten Frage der
Universalien (Genus, Spezies) sowie gegenüber deren grundlegender
Bedeutung für das Induktionsproblem. So fragt Popper nicht nach den
erkenntnismäßigen und ontologischen Gründen, aus denen wir allgemeine
Wesen (Naturen) erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit annehmen können.
Während Popper selbst sieht, daß eine rein statistische Auffassung der
‚Regeln‘ nicht genügt, um diese zu erklären, setzt er sich weder mit der
Möglichkeit einer strikten Einsicht in notwendige und allgemeine
Sachverhalte (diese ist mehr und unvergleichlich gewisser als Induktion),
noch auch mit der Vernünftigkeit der Annahme empirisch allgemeiner
Naturen ernsthaft auseinander.
Allgemeine Naturen (genus, species) kommen ja nicht nur in Form
apriorisch-notwendiger Wesenheiten, wie etwa Philosophie und Mathema-
tik (ebenso wie die apriorische Rechtswissenschaft, Farbwissenschaft,
Naturrechtslehre etc.) sie zum Gegenstand haben, vor. Sie treten uns
nämlich schon in den von jedem Kind erfaßten Formprinzipien (der Katze,
des Hundes, Pferdes usf.) entgegen. Sie werden auch von den
Wissenschaften der Chemie, Physik, Medizin, Botanik, Zoologie usf.
angenommen, bzw. erkannt.

595
Mit der Einführung der ‚Dritten Welt‘ und der Bezeichnung der drittweltlichen
Strukturen als ‘Intelligibilia’ bewegt sich Popper immer mehr weg von seinem
früheren radikal anti-platonischen und anti-essentialistischen Standpunkt. Vgl.
dazu auch D. Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen
Dualismus“, a.a.O., 116-117.

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516 KAPITEL 11

Daß es allgemeine Arten und Artcharakteristiken gibt, kann wohl


ernsthaft von niemandem bezweifelt werden. In Medizin, Physik, Chemie
und anderen Wissenschaften werden zahllose ‚sichere Allgemein-
erkenntnisse‘ gewonnen, die zwar nicht den Rang philosophischer
Wesenseinsichten haben und deren Gegenstände nicht von absoluter, selbst
von Gott nicht suspendierbarer Notwendigkeit sind, an denen zu zweifeln
aber Wahnsinn wäre. Tagtäglich vertrauen wir unser Leben unzählige Male
der Überzeugung an, daß diese Naturgesetze und Artmerkmale materieller
und lebendiger Wesen allgemeine Gültigkeit haben. Die Art der Gewißheit
solcher Erkenntnisse läßt sich unmöglich durch eine als formal-logischen
Schluß aufgefaßte Induktion, sondern nur durch die begründete Erkenntnis
erklären, daß die methodisch beobachteten Merkmale verschiedener
Naturwesen in sinnvoll geeinten und allgemeinen Wesensformen der Dinge
gründen. Da diese Überzeugung wohl begründet und die Welt kein Chaos
ist, läßt sich von dieser ontologischen Grundlage her auch die empirische
Naturwissenschaft gegen Poppers Verwandlung derselben in bloße – noch
nicht falsifizierte – Hypothesen überwinden.
Und von diesen platonischen oder aristotelischen Fundamenten einer
rationalen Lehre der Naturwissenschaften her muß auch die Rechtfertigung
des induktiven Schlußverfahrens gewonnen werden. Mit einem solchen
induktiven Materialschluß, der auf der Erkenntnis der Arten und
allgemeinen Spezies beruht, setzt Popper sich aber gerade deshalb nicht
einmal auseinander, weil er die elementarste Struktur der Induktion
mißversteht und sich deshalb zu Unrecht als derjenige ansieht, der dieselbe
zum ersten Mal verstanden und widerlegt hätte.
Hier muß auch die oben (im Zusammenhang der Diskussion der Falsifi-
zierung verschiedener Typen von Allgemeinaussagen) erwähnte Tatsache
noch einmal angemerkt werden, daß Poppers Falsifizierungstheorie zwar
auf philosophische oder mathematische, d.h. strikt universale falsche
Urteile und Wahrheitsansprüche (wie Poppers eigene philosophische
Wissenschaftstheorie), aber auf die Induktion nur in eingeschränktem Maß
anwendbar ist. Diese bezieht sich ja – im Gegensatz zur von Popper
vorausgesetzten, theoretisch aber nicht zugelassenen Wesenseinsicht –
gerade auf jene Allgemeinheiten, die zwar bestehen, aber nur den
Normalfall betreffen und deshalb häufig keine absolut lückenlose
Allgemeinheit besitzen, welche keinerlei Ausnahme zuließe. Weil sie

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 517

keinen derartigen Anspruch erheben, lassen sie sich auch nicht durch die
Beobachtung von der Norm abweichender Einzelfälle falsifizieren.
Nur eine Art von ‚absolutem (positivem oder negativem) Universale‘
läßt sich durch einen einzigen Gegenfall widerlegen. Deshalb ist die
Widerlegung aus einer einzigen Gegeninstanz eine beliebte Form
philosophischer Kritik seit Sokrates‘ Zeiten. Man denke etwa an Platons
Gorgias, in dem Sokrates Kallikles’ Identifizierung des Guten mit der Lust
allein durch das Beispiel der Lust des Knabenschänders, von der Kallikles
zugibt, daß sie Lust, aber nicht gut sei, widerlegt.596
Wird hingegen die Natur bloß empirisch-induktiver Allgemeinheiten
durchdacht, zeigt es sich, daß die meisten der von Popper erwähnten
Beispiele von Falsifizierungen (hinsichtlich eines von ihm nicht weiter
geschilderten schlecht zubereiteten Brotes in Frankreich, an dessen Genuß
Menschen starben, des schweren Wassers usf.) keine wirklichen
Falsifizierungen darstellen.597 Denn die Artbeschaffenheit von Wasser,
Gewicht von Sauerstoff und Wasserstoff, Nährwert des Brotes etc. wird
nicht davon angetastet, daß es ‚Ausnahmen‘, sonderbare Reaktionen usf.
gibt, eben weil die hier bestehende und durch eine (recht verstandene)
materiale Induktion erschlossene Allgemeinheit keine strikte ausnahmslose
ist. Außerdem bestand wohl in Poppers Beispiel der Nährwert des Brotes
weiter, den er durch den Tod vieler Franzosen als allgemeinen Anspruch
für falsifiziert hält. Der Tod vieler nach Genuß eines schlechten Brotes war
anderen Ursachen zuzuschreiben als dem Nichtbestehen des Nährwertes
des Brotes, nämlich dem Brot beigemischter Gifte, einer schlechten Form,
es zu backen etc.

1.6. Lassen sich durch die Verschiebung von Verifizierung auf Falsifizierung
empiristische Erkenntnistheorie und Skepsis vermeiden?

Höchst problematisch ist Poppers Meinung, mit der von ihm


vorgeschlagenen Verschiebung vom Verifizierbarkeitsprinzip zum Falsifi-
zierbarkeitsprinzip ließe sich radikale Skepsis,598 und die aus einem

596
Er führt auch das Beispiel einer neutralen Lust, die ebenfalls nicht mit dem Guten
identifizierbar sei, etwa wenn jemand sich kratzt, weil es ihn juckt, an.
597
Vgl. dazu auch Aristoteles, EN I,1; 1094 d 23 ff.
598
Im Sinne der Russell‘schen Analyse, siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 5.

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518 KAPITEL 11

wissenschaftlichen Skeptizismus folgende Notwendigkeit, in der


Wissenschaft alle logisch allgemeinen positiven Annahmen zu unterlassen,
vermeiden. Popper meint, die von ihm propagierte These des
‘truth-content’ und ‘falsity-content’ allgemeiner Thesen und deren Falsifi-
zierung anstatt ihrer Verifikation vermeide die Notwendigkeit strikt allge-
meiner wissenschaftlicher Aussagen und die aus deren Unbegründbarkeit
folgende Skepsis. Ist dieser Anspruch haltbar?
Aus Poppers Position, wenn sie streng durchdacht wird, folgt, daß es
Gewißheit ausschließlich über die Falschheit allgemeiner Aussagen geben
könnte, niemals über allgemeine Wahrheit als solche. Ja es gäbe, wie
Popper richtig mit Hume schließt, auch keine Wahrscheinlichkeit, die für
die Wahrheit allgemeiner Urteile spräche, wenn es keine ‚Verifikation‘
oder ein anderes Verfahren (etwa Einsicht) gäbe, die Wahrheit strikt
universaler Urteile festzustellen.599 Denn, wie insbesondere Fritz Wenisch
in Die Philosophie und ihre Methode600 gezeigt hat, setzt jedes
Wahrscheinlichkeitsurteil mit Gewißheit erkennbare Urteile voraus. Wenn
es aber weder gewisse noch wahrscheinliche Erkenntnis der Wahrheit
allgemeiner Urteile gibt, ließe sich erstens der radikale Skeptizismus
bezüglich allgemeiner Urteile nicht vermeiden, der nach Russell dazu
führt, daß hinsichtlich ihrer radikalen Bezweifelbarkeit die wahnsinnigsten
positiven Annahmen über allgemeine Sachverhalte, wenigstens solange sie
noch nicht widerlegt wurden, nicht von positiven und vernünftigen, die
sorgfältigst erhärteten nicht von den willkürlichsten unterschieden werden
könnten. Zwar könnten wahnsinnige allgemeine Behauptungen, die
empirisch widerlegt wurden, von Popper von vernünftigen (und zwar im
Sinne von immer noch nicht widerlegten) abgegrenzt werden. Nicht aber
könnten die unwiderlegten wahnsinnigen von den unwiderlegten vernünfti-
gen Annahmen oder sogar evidenten Erkenntnissen abgegrenzt werden und
beide müßten absolut zweifelhaft (nicht einmal wahrscheinlich) bleiben.
Wenn jedoch alle allgemeinen Urteile über die Dinge weder gewiß noch
wahrscheinlich wahr sind, folgt ein radikaler Skeptizismus, da – wie schon
Aristoteles nachweist – ohne allgemeine Prinzipien wie das Widerspruchs-

599
Vgl. Popper, ebd., 86 ff.
600
Siehe F. Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; ders., “Insight and Objective
Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are
Simultaneously Informative and Necessarily True?”, S. 107-197.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 519

prinzip und viele andere überhaupt kein vernünftiger, sich selbst nicht
vernichtender Gedanke möglich ist (wie übrigens auch Stegmüller in
seinem Buch Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft betont).601
Zweitens kann auch Poppers eigene These über das Falsifizierungs-
prinzip gar nicht gedacht und erst recht nicht als wahr oder wahrscheinlich
wahr hingestellt werden, ohne einige für unbestreitbar wahr angenommene
allgemeine Behauptungen anzunehmen, z.B. ‚Induktion als formallogischer
Schluß aus wiederholter Beobachtung von Einzelnem auf Allgemeines ist
ungültig‘; ‚Falsifizierung allgemeiner erklärender Theorien hingegen ist
möglich‘. Auch das Widerspruchsprinzip und Prinzip vom ausgeschlos-
senen Dritten wird nicht nur, wie Aristoteles im Buch Gamma der
Metaphysik nachweist, von jedem Menschen, sondern auch – wie Popper
selbst impliziert602 – von Poppers eigener Wissenschaftstheorie im
besonderen, ja auch von jeder Wissenschaft im Popperschen Sinn
vorausgesetzt. Und zwar setzt Popper offensichtlich diese durch Basissätze
weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Prinzipien nicht als völlig
unbegründbare Hypothesen voraus, was sie seiner Theorie zufolge sein
müßten, sondern als begründete, ja dogmatisch vorgetragene Behaup-
tungen, oder als evidente Gesetze, was sie auch tatsächlich sind. Das
geschieht nicht nur ausdrücklich in den eben angegebenen Texten
Poppers,603 sondern als notwendige logische Implikation seiner vielen
dogmatischen und apodiktischen Zurückweisungen des ‚Dogmatismus‘
und anderer Standpunkte, die alle das ebenso fraglos-dogmatisch
angenommene Widerspruchsprinzip voraussetzen. Also folgt aus der
Popperschen Theorie notwendig ein innerer Widerspruch. Dieser Wider-
spruch zwischen den Thesen der Popperschen Wissenschaftstheorie und
ihren eigenen Ansprüchen erweist sich als wesentlich universaler Wider-
spruch. Denn keine empirische Wissenschaft (wie aus der folgenden Kritik
an Poppers Wahrheitsannäherungsthese hervorgeht) kann ohne jede
positive Annahme über wahrscheinlich (und auch sicher) wahre allgemeine
Sachverhalte bestehen. Ja ohne die Annahme wenigstens wahrscheinlich
bestehender positiver und allgemeiner Sachverhalte wird auch die raison
d’être für die Falsifizierungsbestrebungen Poppers aufgehoben und
erhalten diese, wie Henke in seiner Kritik nachweist, einen perversen

601
Vgl. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft.
602
Z.B. Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13.
603
Siehe ebenfalls Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13.

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520 KAPITEL 11

Charakter. Denn wenn die ausschließliche Leistung der Wissenschaft im


Testen von Annahmen oder im Erweis von deren Irrigkeit bestünde, bzw.
wenn der Falsifizierungsversuch den alleinigen Zweck der Wissenschaft
bildete, ohne daß jemals die Wahrheit der so getesteten Thesen auch nur
wahrscheinlich würde, dann verlöre diese Prozedur ihren ernsthaften Sinn
als Wissenschaft, d.h. als Wissen. Das Beibehalten der ‚rein abstrakten
Möglichkeit des Wahrseins‘ träte an die Stelle des Wahrseins selbst. Im
Hinblick auf diesen Wahrheitsersatz bzw. auf diesen Ersatz der Erkenntnis
von Wahrheit durch ‚unwiderlegten Wahrheitsanschein‘ aber bleiben
Poppers Pathos des Wahrheitsstrebens als solches, die Rolle der Wahrheit
als heuristischer Idee der Wissenschaft und die Idee der Annäherung an
Wahrheit (verisimilitudo) letztlich unverständlich bzw. müßten dahin
umgedeutet werden, daß das positivste Ziel der Wissenschaft dieses sei:
daß der Anschein der Wahrheit einer These noch nicht widerlegt wurde.
Die aus Poppers Anschauung folgende radikale Suspendierung jedes
Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsanspruchs in bezug auf allgemeine
Aussagen widerspricht also erstens dem Wesen der Wissenschaft
überhaupt (auch der empirischen), zweitens Poppers philosophischer
Wissenschaftstheorie, insbesondere seiner Lehre von ‚Annäherung an die
Wahrheit‘ (verisimilitudo), ‚Wahrheitsbemühung‘ und dem Wesen der
Wahrheit als Übereinstimmung im Sinne Tarskis (und Aristoteles’). Denn
auch die Wahrheit all dieser Elemente der Popperschen Theorie wären
nicht einmal – in irgendeinem objektiven Sinne des Wortes, der eine
begründete Annahme rechtfertigt – wahrscheinlich, wenn er in seiner
Erkenntnistheorie recht hätte.

1.7. Die Unhaltbarkeit der von Popper anerkannten positiven Rolle allgemeiner
wissenschaftlichen Hypothesen ohne Erkenntnisgewißheit

Die Rolle der allgemeinen Hypothesen und daher nicht selbst verifizier-
baren Annahmen im Vorhersagen empirischer Resultate (durch deren
‚Erlaubnis‘ Popper sich ebenfalls vom älteren Positivismus des Wiener
Kreises unterscheidet) ließe sich gewiß an sich erklären, ohne die Wahrheit
dieser allgemeinen Auffassungen vorauszusetzen, zumindest in jenen
Fällen (wie der Einsteinschen Relativitätstheorie), in denen keine direkte
Wirklichkeitsbezogenheit nötig ist, um den pragmatischen ‚Erfolg‘ einer

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 521

Theorie zu begründen. Dennoch bleibt diese heuristische Rolle wissen-


schaftlicher Theorien m.E. unerklärt und irrational, wenn in ihnen nicht
wenigstens eine Implikation steckt, die sich in allgemeine Aussagen über
Wirklichkeit verwandeln läßt. Diesen Punkt können wir hier nicht näher
verfolgen.
Wie das cogito und die Erkenntnis allgemeiner Prinzipien sich als
Bedingung der Möglichkeit auch empirischer Gewißheit erweisen läßt, so
setzen auch alle Vorhersagen über Einzelereignisse, wie Popper sie
annimmt, solche Gewißheiten voraus und lassen sich ohne dieselben nicht
rechtfertigen. Denn ohne manche unbezweifelbare Evidenzen kann es
prinzipiell überhaupt keine Erkenntnis, ja nicht einmal eine begründete
Meinung geben.604

2. Zur Verisimilitude (Wahrheitsnähe, Annäherung an die Wahrheit) und


deren Widerspruch zur These Poppers, daß Verifizierung allgemeiner
Aussagen unmöglich sei

Es scheint unmöglich, die Betonung der Wahrheit als Übereinstimmung


und vor allem die These von der Annäherung wissenschaftlicher Ergeb-
nisse an Wahrheit mit der Behauptung in Einklang zu bringen, daß alle
Verifizierung und positive Erhärtung allgemeiner Urteile unmöglich sei,
womit Poppers kritischer Rationalismus steht und fällt.

2.1. Vieldeutigkeit und selbst-kritische oder widerspruchsvolle Diskussion des


Begriffs Wahrheitsnähe bei Popper

Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude) bei Popper? Bevor


wir uns auf eine kritische Analyse der bekannten Lehre Poppers einlassen,
sei besonders hervorgehoben, daß Popper im 2. Anhang zur vierten
Auflage von Objektive Erkenntnis auf Grund verschiedener Kritiken von

604
Siehe dazu neben den Ausführungen Aristoteles‘ über das Widerspruchsprinzip in
Metaphysik IV und der Zweiten Annalytik, sowie E. Husserl‘s ‘Prolegomena’ zu
den Logischen Untersuchungen auch F. Wenisch, Die Philosophie und ihre
Methode; ders., “Insight and Objective Necessity”, Aletheia IV (1988), 107-197; J.
Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit;Back to Things in Themselves. A
Phenomenological Foundation for Classical Realism.

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522 KAPITEL 11

W.V.Quine, P. Tichy, D. Miller u.a. gewisse Unklarheiten anerkannt hat,


die sich in seinem Begriff der Wahrheitsnähe verbergen.605 Popper deutet
auf Grund dieser Kritiken die Wahrheitsnähe als diejenige Eigenschaft
einer Theorie t1, „empirischen Prüfungen in jenen Punkten stand(zuhalten),
in denen sie sich von t0 unterscheidet.“ Popper fährt fort: „solange kann t1
als bessere Annäherung an die Wahrheit angesehen und beurteilt
werden.“606 Man kann nicht sagen, daß der Begriff der Wahrheitsnähe
durch diesen 1980 verfaßten Artikel und die vorhergehende oder
darauffolgende Diskussion von Popper ganz aufgegeben oder entscheidend
geklärt wurde. Vielmehr schwankt der Sinn der Annäherung an Wahrheit
von der einfachen Unwiderlegtheit einer ‚kühnen These‘ in dem Sinne, daß
dieselbe bisherigen Widerlegungsversuchen standgehalten habe, bis zur
Wahrscheinlichkeit, von der a.a.O. in einem Sinn die Rede ist, der sich von
„wahrscheinlich im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ unterschei-
de.607 Selbst wenn Popper in jüngster Zeit seine bekannte Theorie ganz
aufgegeben haben sollte, müssen wir sie als Bestandteil der gegenwärtigen
kritischen Diskussion in ihrer Fassung bis 1985 einer Kritik unterziehen.
In der englischen Version von Objektive Erkenntnis werden zur
Bestimmung der Wahrheitsnähe die Begriffe des ‘logical content’ und der
‘consequence class’ benützt.608 Unter dem logischen Gehalt einer These
wird dann verstanden, daß eine These ‚inhaltsreich‘ im logischen Sinne ist,
wenn viele andere Thesen aus ihr folgen. Unter Wahrheitsnähe wird dann
etwas ganz verschiedenes gemeint, nämlich daß aus einer Theorie mehr
wahre (und weniger falsche oder keine falschen?) Theorien folgen als aus
einer anderen Theorie.609 Tarskis Version der Adäquationstheorie der
Wahrheit wird also von Popper mit dem (mit Hilfe von Wahrheitsimplika-
tionen einer Theorie T) neu definierten Begriff des logischen Inhalts einer
Theorie verknüpft und gefragt, ob und in welchem Ausmaß der ‚größere
Wahrheits-Gehalt‘ einer These oder Theorie zukommt (im Sinne, daß mehr

605
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376-382.
606
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 378.
607
A.a.O. 380.
608
Vgl. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, a.a.O. 47 ff., 52 ff.
Vgl. auch Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, a.a.O., 17 ff.,
52 ff., 376 ff.
609
Objective Knowledge, 52.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 523

wahre Sätze aus ihr folgen als aus einer anderen Theorie, und/oder weniger
falsche).610 Dabei bleibt es ganz unklar, welche von den folgenden
Begriffen der Terminus ‚Annäherung an Wahrheit‘ ausdrücken soll.

2.1.1. Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude)? Sechs ganz


verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks bei Popper – ohne die nötigen
Unterscheidungen

2.1.1.1. Wahrheitsnähe als Unwiderlegtheit oder Nichtfalsifiziertheit einer Hypothese


oder Theorie oder als Unwiderlegtheit ihres empirischen ‚Wahrheitsgehaltes‘ –
Weitere Vieldeutigkeiten der Ausdrücke „Wahrheitsnähe“ und „Annäherung
an die Wahrheit“

Gelegentlich versteht Popper unter Wahrheitsnähe einfach eine Annah-


me oder auch die Tatsache, daß eine Theorie t1 (noch) nicht falsifiziert ist,
weil sie logisch viele Einzelurteile einschließt, die wahr sein können, weil
keines von ihnen Erfahrungsdaten widerspricht und weil keines von ihnen
falsifiziert worden ist.
Was aber heißt hier Unwiderlegtheit und Unfalsifiziertheit? Genauer
betrachtet, verbergen sich hinter diesem ersten Sinn der Wahrheitsnähe
bereits fünf ganz verschiedene Dinge:
Heißt dies ‚Unwiderlegbarkeit‘ in dem Sinne, in dem analytische
(tautologische) Urteile unwiderlegbar sind? Offenbar nicht, weil diese
Urteile, auch wenn etwa aus dem analytischen Urteil „Der Mensch ist der
Mensch“ unendlich viele unwiderlegte und unwiderlegbare wahre Urteile
folgen, die jeden einzelnen wirklichen und möglichen Menschen umfassen,
keine inhaltlich neue Erkenntnis, die über das Identitätsprinzip und die
Begriffsbestimmung hinausginge, enthalten.
Heißt diese Wahrheitsnähe vielleicht die Unwiderlegtheit ideologischer
Konstruktionen und Systeme, denen und deren logischen Implikationen
keine Tatsachenbeobachtung widersprechen kann? Offenbar nicht. Denn
Popper meint bekanntlich, daß Unwiderlegbarkeit synthetischer (inhaltli-
cher) Urteile, denen kein Erfahrungsinhalt widersprechen kann, kein
Vorzug, sondern ein Nachteil einer Theorie ist, ja daß es Unwiderleg-
barkeit inhaltlicher Aussagen (synthetischer Urteile) – außer bei tautolo-

610
Ebd., 53.

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524 KAPITEL 11

gischen und inhaltsleeren Aussagen – nur bei ideologischen und willkürli-


chen Thesen wie dem Marxismus, Freudianismus, bei der Evolutions-
theorie und ähnlichen Theorien gibt, die man nur wegen ihrer Willkürlich-
keit und Unwissenschaftlichkeit gar nicht empirisch widerlegen könne, was
jedoch nicht die Wahrheitsnähe, sondern die Bedeutungslosigkeit solcher
Urteile zur Folge habe. Unwiderleglichkeit und unendlich viele unfalsifi-
zierbare Implikationen zu haben kann dann, wie nach Poppers Meinung
beim Idealismus oder Realismus, einfach in der prinzipiellen empirischen
Unwiderlegbarkeit einer These wegen deren Unwissenschaftlichkeit seine
Wurzel haben. Inhaltliche Thesen, die prinzipiell durch keine Erfahrung
falsifizierbar sind, seien wertlos. Diese Meinung Poppers ist dort berech-
tigt, wo es wirklich um unerkennbare inhaltliche Aussagen geht, die prinzi-
piell keine Erkenntnisbasis besitzen, aber zugleich keiner empirischen
Beobachtung widersprechen können. Fichtes im Rahmen der Kohärenz-
theorie der Wahrheit diskutiertes Beispiel eines elaborierten Systems von
Luftgeistern, dessen höchst ausgefeiltem Inhalt keine Wahrnehmung
widersprechen kann, ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Popper allerdings
Wahrheitsnähe als einfache faktische Unwiderlegtheit einer These und
ihrer logischen Folgen bestimmt, müßten diese ideologischen und nicht
falsifizierten Hypothesen die größte Wahrheitsnähe besitzen, was Popper
bestreiten würde.
Deshalb können wir folgern, daß Popper diesen ersten Sinn von Wahr-
heitsnähe nur solchen Theorien zuschreibt, aus denen nicht nur logisch
zahlreiche unwiderlegte, sondern prinzipiell empirisch widerlegbare (falsi-
fizierbare), wenngleich de facto unwiderlegte, Urteile folgen. Diese Urteile
sind wohl der Kern dessen, was Popper mit Wahrheitsnähe einer Theorie
im Auge hat. Denn es kann großer (oder größtmöglicher) Wahrheitsgehalt
(truth content) einer These zukommen, die empirisch allgemein ist oder
jedenfalls unzählige empirische Urteile logisch einschließt, die falsifizier-
bar sind und nur ‘halt noch nicht widerlegt wurden’.
Es kann aber „Unwiderlegtheit“ einer These auch Unwiderlegbarkeit in
dem weiteren Sinne der Transzendentalphilosophie oder auch in jenem
Stegmüllers meinen, daß es Annahmen und Voraussetzungen gibt (wie
nach Stegmüller die Grundvoraussetzung aller Wissenschaft, daß es neben
Beweisen auch unmittelbare Einsichten gibt), die notwendig für jedes
Denken vorausgesetzt und deshalb unwiderlegbar sind, weil ihre Leugnung

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 525

sich selbst widerspricht, die aber total unbegründbar sind, weil jedes
Argument für sie sie bereits voraussetzt und deshalb zirkulär wäre.
Unwiderlegbarkeit in diesem Sinne ist daher das Gegenteil willkürlicher
Ideologien: es handelt sich vielmehr um unvermeidbare Voraussetzungen
allen Wahrnehmens und Denkens überhaupt, die Annahmen und Bedin-
gungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken darstellen, deren
inhaltliche Wahrheit aber nicht feststellbar ist, die also den Charakter
denknotwendiger subjektiver Voraussetzungen haben.
Nicht Falsifiziertheit kann aber auch Unwiderlegbarkeit in dem
klassischen und normalen Sinne meinen: daß eine These nicht eine ideolo-
gische Annahme oder nur eine subjektive notwendige Denkvoraussetzung
ohne jede Erfahrungsbasis ist, sondern in ihrer Wahrheit mit Gewißheit
und unzweifelhaft erkannt wird und deshalb unwiderlegt und unwiderleg-
lich ist.611 Dies wäre natürlich ein immenser Vorteil einer These, allerdings
ein Vorteil, den Popper leugnet (wenn er auch wenigstens im Falle
empirischer Einzelbeobachtungen und Basissätze, sowie im Falsifizie-
rungsgedanken selbst solche unwiderleglich wahren Basissätze ebenso wie
universale evidente Sachverhalte teils explizit, teils implizite voraussetzt).
Freilich müßte Popper in ihrer Wahrheit erkennbaren und einsichtigen
unwiderleglichen synthetischen Urteilen, würde er sie anerkennen, höchste
Wahrheitsnähe zusprechen. Denn wenn eine jede unwiderlegliche Theorie
oder Aussage logisch unendlich viele niemals von Beobachtungen falsifi-
zierte Thesen enthält, müßte sie nach der obigen Definition den größtmö-
glichen ‚Wahrheitsgehalt‘ haben (weil sie nicht nur noch nicht als falsch
erwiesen worden wäre, sondern gar nicht als falsch erwiesen werden
könnte). Freilich handelt es sich hier nicht mehr bloß um Wahrheitsnähe,
sondern um einsichtige Wahrheit.
Wie wir sehen, ist auch der erste Sinn der Popperschen „Wahrheitsnähe“
(die Unwiderlegtheit einer These) noch ein äquivoker Ausdruck.
Erst recht gilt dies von dem Popperschen Ausdruck „Annäherung an die
Wahrheit“. (1) Einmal könnte sich dieser Ausdruck (gegen die Intentionen,
aber als logische Folge aus den allgemeinen Behauptungen Poppers) auf
unkontrollierbare Sätze in drei der unterschiedenen Bedeutungen von nicht
falsifizierten Theorien (a-b; d) beziehen. (2) Andererseits könnte Popper
mit der Annäherung an die Wahrheit ein Prädikat allgemeiner Theorien mit

611
Vgl. D.C. Stove, “How Popper’s Philosophy began”, S. 381-387.

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526 KAPITEL 11

empirischen (und daher falsifizierbaren) logischen Implikationen meinen


(c), je nachdem wie lange Zeit und in vielen Experimenten und Tests diese
nicht widerlegt wurden. In diesem Zusammenhang könnte Popper auch
falschen Sätzen größten Wahrheitsgehalt und Annäherung an die Wahrheit
zuschreiben, wie wir gesehen haben, nämlich wenn sie noch nicht
tatsächlich widerlegt wurden und wenn ihnen viele empirisch feststellbare
wahre Einzelbeobachtungen entsprechen. (3) Schließlich könnte Popper
unter Annäherung an die Wahrheit empirische Basissätze oder auch
allgemeine Urteile, wie er sie in seiner Falsifikationstheorie massenhaft
voraussetzt, ohne dies zu bemerken, verstehen, die mit Gewißheit als wahr
erkannt werden können. Dann hätte zwar noch der Begriff der Nichtfalsifi-
ziertheit, nicht aber der Begriff der ‚Annäherung an Wahrheit‘ einen Sinn;
denn hier fänden wir mehr: tatsächliche Wahrheit. Allerdings könnte man
auch hier in einem ganz neuen Sinn von Wahrheitsnähe und Annäherung
an die Wahrheit reden, wenn wir die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit
der Wahrheit im Auge hätten, welche der Mensch niemals vollständig
erkennen, sondern der er sich nur annähern kann, weil jedes wahre Urteil
und jede wahre Erkenntnis zahllose weitere erlaubt, die wir noch nicht
gewonnen bzw. erkannt haben.

2.1.1.2. Wahrheitsnähe als Wahrscheinlichkeit oder als ‚begründete‘ Hypothese

Meint Annäherung an die Wahrheit letzten Endes – trotz allen gegentei-


ligen Beteuerungen Poppers – nicht doch die alte (von Popper ausgeschlos-
sene) Wahrscheinlichkeit (im Sinne einer objektiven erkenntnis-
theoretischen Begründetheit der Meinung, ein bestimmtes Naturgesetz
gelte bzw. ein bestimmtes Ereignis werde eintreten oder sei eingetreten),
oder vielleicht anstelle irgendeiner objektiven Wahrscheinlichkeit nur noch
die abstrakte Möglichkeit, daß eine noch unwiderlegte und doch schon
vielfach getestete These ‚vielleicht wahr‘ ist? Dann wäre verisimilitudo
‚unwiderlegter Anschein‘ von Wahrheit oder sogar mehr: Wahrscheinlich-
keit, daß die These ‚wirklich wahr sei‘. Der von Popper, Albert und
anderen kritischen Rationalisten gebrauchte Ausdruck Plausibilität legt
dies nahe. Denn dies heißt gewiß mehr als einfache Unwiderlegtheit.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 527

2.1.1.3. Wahrheitsnähe als mathematische Proportion zwischen Wahrheitsgehalt und


Falschheitsgehalt einer Theorie oder als anzahlenmäßiges Überwiegen des
‚Wahrheitsgehaltes‘ einer Theorie gegenüber deren ‚Falschheitsgehalt‘

Oder meint ‚Annäherung an Wahrheit‘ vielleicht etwas ganz vom


Adäquationsbegriff der Wahrheit Verschiedenes, nämlich eine Eigenschaft
einer These, die total unabhängig davon ist, ob sie selbst wahr oder falsch
ist und die ihr zukommen könnte, auch wenn sie ganz gewiß falsch wäre?
D.h. Wahrheitsnähe im Sinne eines quasi-mathematisch bestimmten
Begriffs der Proportion zwischen Wahrheitsgehalt und Falschheitsgehalt,
die mit den beiden ersten Bedeutungen dieses Ausdrucks kaum etwas
gemein hat? Dann wäre Annäherung an die Wahrheit dann gegeben, wenn
die wahre oder falsche Theorie viele empirische Thesen einschließt, die
sich als wahr bewähren. Dies würde eine bestimmte Abwandlung des
pragmatischen (pragmatizistischen) Wahrheitsbegriffes im Sinne von
Peirce oder auch James darstellen. Eine These würde sich der Wahrheit in
dem Maß annähern, als sie vieles erklärt, vorherzusagen oder zu berechnen
erlaubt usf., was sich dann empirisch beobachten läßt. Wenn die Anzahl
der aus einer Theorie folgenden wahren Aussagen oder Voraussagen die
Anzahl der aus dieser Theorie folgenden falschen Aussagen übertrifft,
würde sich die Theorie der Wahrheit annähern. Dieser noch vieldeutige
Begriff von ‚Wahrheitsannäherung‘ ersetzt Wahrheit im Sinn der
‚Adäquatio‘ durch ‚Praktikabilität‘, auch wenn dabei von Popper im
Gegensatz zum Pragmatismus für die auf Einzeltatsachen bezogenen
Basissätze Wahrheit im Sinne der adaequatio vorausgesetzt bleibt. Dieser
Wahrheitsannäherungskonzeption liegt eine Auflösung der Allgemein-
urteile auf viele logisch folgende Einzelurteile und ein quantitatives
Bestimmen der Wahrheitsannäherung durch die Zahl wahrer logischer
Implikationen (gegenüber der Zahl falscher empirischer Folgesätze einer
Theorie) zugrunde.
In Wirklichkeit, so versuchten wir im Anhang zur zweiten Auflage von
Erkenntnis objektiver Wahrheit zu zeigen, ist eine derartige Wahrheits-
konzeption unhaltbar, weil sie dem objektiven Wesen der Wahrheit als
Übereinstimmung widerspricht, das auch von einer solchen Theorie an
anderer Stelle notwendig vorausgesetzt wird, und weil evidenterweise eine
in sich falsche These nicht durch ihren Erfolg oder dadurch ‚wahr‘ wird,
daß aus ihr mehr wahre als falsche Urteile folgen, was in fast allen Fällen
falscher Urteile vorkommt. Evidentermaßen ist dieser ‚Erfolg‘ (sei es im

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528 KAPITEL 11

empiristischen Sinn, der heute moderner Mathematik und Physik weitge-


hend zugrundeliegt, der Vorausberechenbarkeit von Tatsachen, sei es in
Form des geistigen oder militärischen ‚Sieges einer Ideologie‘) kein
Wahrheitsbeweis, wie wir dies bereits im Zusammenhang der Diskussion
einer der pragmatistischen und Erfolgstheorien der Wahrheit zeigen
konnten.

2.1.1.4. Wahrheitsnähe als Reinheit des empirischen Wahrheitsgehalts

Oder soll Wahrheitsannäherung vielleicht mit der ‚Reinheit‘ – statt mit


der bloßen quantitativen ‚Überzahl‘ – von ‚lauter empirisch nachprüfbaren
wahren Sätzen‘, die aus einer Theorie folgen, identifiziert werden? Eine
Theorie würde dann verisimile genannt, wenn nicht nur viele, sondern
sogar alle bisher festgestellten ihrer logischen Konsequenzen sich als wahr
erwiesen. Da aber jeder Logiker weiß, daß aus falschen Thesen Wahres
folgen kann und da außerdem, wie Pfänders logische Analyse des Urteils
und seines Wahrheitsanspruchs in seiner Logik ausführlich gezeigt hat, die
Wahrheit von partiellen Teilinhalten einer These in keiner Weise einen
zureichenden Grund für die Wahrheit einer allgemeinen These darstellt,
erweist sich, daß auch dieser Begriff von Wahrheitsnähe nicht eigentlich
diese bezeichnet, sondern sogar das Gegenteil von Wahrheit, nämlich
Falschheit, diesem künstlichen Begriff von Wahrheitsnähe entsprechen
kann. Der Begriff eines solchen ‘truth content’ mag brauchbar für empi-
rische Wissenschaften sein oder auch nicht. Mit einem philosophisch
haltbaren Wahrheitsbegriff und einer vertretbaren Theorie der ‚Annähe-
rung‘ an Wahrheit hat er nichts zu tun.

2.1.1.5. Wahrheitsnähe als ‚ungefähre Entsprechung‘ mit der Wirklichkeit

In einem ganz anderen Sinn spricht Popper von Wahrheitsnähe dann,


wenn er damit so etwas ‚eine grobe Entsprechung der Newton’schen oder
ähnlicher Theorien an die Wirklichkeit‘ meint: d.h. für die normale
Erfahrungswelt und die Makrowelt, soweit wir sie im täglichen Leben und
in den meisten wissenschaftlichen Experimenten erfahren, ist die gegebene
Theorie wirklich und vielleicht sogar überall adäquat, auch wenn sie für
das ferne All oder die Mikrowelt nur noch annähernd (ungefähr) gilt.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 529

2.1.1.6. Wahrheitsnähe als Annäherung an die ‚ganze Wahrheit‘?

Ein fünfter Begriff der Wahrheitsnähe wurde bereits erwähnt, der sehr
sinnvoll ist und manchmal bei Popper durchklingt. Wenn man im
klassischen Sinne wahre Erkenntnisse oder besser wahre Sätze (Urteile)
voraussetzt, so ist doch klar, daß keines dieser wahren Urteile alle
Wahrheit über einen Gegenstand und erst nicht über die Gesamtheit der
Dinge erschöpft. Der Gegensatz zwischen unvollständiger Erkenntnis und
unvollständig in Sätzen ausgedrückter Wahrheit und der ‚ganzen Wahrheit‘
könnte auch mit dem Begriff der Wahrheitsnähe in einem klassischen, von
Platons Worten über den Philosophen in Politeia 6 und 7 und vom Phaidon
bis G. Marcel anerkannten Sinn, identifiziert werden. Man könnte darauf
hinweisen, daß sämtliche unvollständigen Erkenntnisse und die wahren
Urteile, in denen diese ihren Ausdruck finden, nicht das Ganze der
Wahrheit in ihrer inneren Einheit und Gesamtheit zu fassen vermögen. In
diesem Sinne können sie sich nur der Wahrheit annähern, diese aber nicht
erreichen. Auch jeder der Erkenntnis beigemischte Irrtum wäre selbst-
verständlich ein Hindernis zur volleren Wahrheitsannäherung in diesem
Sinn. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, um zu sehen, daß hier ein völlig
neuer Sinn von Wahrheitsnähe vorliegt.

2.1.2. Zum Widerspruch zwischen Poppers objektivistischem Wahrheitsbegriff


und seiner im Begriff der Wahrheitsnähe (vor allem in der 3. und 4.
Bedeutung) implizierten neuen Wahrheitstheorie

Popper setzt den objektivistischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit


im Sinne Tarskis voraus. Es geht Popper nicht sosehr oder nicht primär um
‚praktischen Erfolg‘. Vielmehr geht es ihm darum, die Annahme der
sicheren oder wahrscheinlichen Erkenntnis der Wahrheit einer Theorie
durch den Begriff zu ersetzen, daß sie sich gegenüber Kritik bewährt, d.h.
gegen sie standhält. Dieser Erfolg ist dabei nur der negative des ‚(noch)
nicht Widerlegtseins.‘ Dieselben Thesen, von denen Popper sagt, daß wir
absolut nichts über ihre Wahrheit wissen und dieselbe nicht einmal
hypothetisch als wahrscheinlich wahr ansetzen können, werden als ‚wahr‘
oder ‚wahrheitsnah‘ bezeichnet, wenn sie erfolgreich der Kritik Widerstand
geleistet haben (und zwar nach den bloß von ihm behaupteten Kriterien).
Andere der oben erwähnten möglichen Bedeutungen von ‚Wahrheits-

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530 KAPITEL 11

approximation‘ mischen sich mit Poppers These über weder mit Sicherheit
noch mit Wahrscheinlichkeit erreichbare Erkennbarkeit der Wahrheit.
Daraus ergibt sich aber letzten Endes eine Krise, ja eine folgerichtige
Infragestellung des Wahrheitsbegriffs als Adäquation (mit dessen Anerken-
nung Popper übrigens wieder eine Evidenz über das Wesen der Wahrheit
und nicht eine unbegründbare Hypothese voraussetzt).
Im Grund geht es bei Popper um einen m.E. tragischen Widerspruch
zwischen philosophischer Intention und deren Realisierung. Popper hat ein
hohes Wahrheitspathos. Er sieht die ganze Wissenschaft auf deren Prüfung
ausgerichtet und versteht seine Theorie der Wahrheitsnähe als menschliche
Form dieses Bemühens. Im Laufe seiner Versuche, die nicht positiv
erkennbare und niemals sichere Wahrheit zu testen, gerät Popper jedoch in
eine unklare Theorie der Wahrheitsnähe, des Wahrheits- und Falschheits-
gehalts usf., infolge deren in seiner Philosophie eine bestimmte neue
‚Entthronung der Wahrheit‘ eintritt. Diese ähnelt der bei den Pragmatisten
vorfindlichen, weicht aber zugleich davon ab bzw. ersetzt deren Idee der
Wahrheit als praktischer Erfolg von Theorien durch eine Idee der Wahrheit
als ‚theoretischen Erfolg‘ von Theorien im Standhalten gegenüber
Falsifikationsversuchen und ihrem Erklärenkönnen vieler empirischer
Einzelbeobachtungen bzw. ihrer Kohärenz mit diesen.

2.2. Kritik der implizierten ‚neuen Wahrheitstheorie‘ Poppers

Durch all dies wird der Wahrheitsbegriff Poppers äußerst problematisch.


Zunächst scheint dieser, in Anwendung auf Einzelurteile, nur in der
Wiederholung der klassischen Adäquationstheorie durch Tarski zu
bestehen.612 Auch wenn Popper von Falsifizierung allgemeiner Aussagen
durch Beobachtung redet, setzt er diesen Begriff der Wahrheit als

612
Tarskis Theorie läßt sich in Poppers Worten zusammenfassen: „Die Aussage P der
Objektsprache stimmt genau dann mit den Tatsachen überein, wenn p“. Man kann
kaum behaupten, daß diese berühmte Aussage besonders philosophisch ist.
Während also Tarski die Adäquationstheorie eher wiederholt als den Sinn der als
Wahrheit bezeichneten ‚Übereinstimmung‘ philosophisch verdeutlicht hat, hat
etwa A. Pfänder den Sinn der Übereinstimmung philosophisch genau herausgear-
beitet. Vgl. A. Tarski, Logic, Semantics, Metamathematics, 152-278. Vgl. auch A.
Pfänder, Logik, a.a.O.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 531

adaequatio voraus. Popper nimmt gleichfalls in seiner These der Unverifi-


zierbarkeit der Allgemeinurteile als solcher ihre mögliche Falschheit an
und identifiziert diese mit der Eigenschaft von Sätzen, nicht mit den
Tatsachen übereinzustimmen, also keinem Sachverhalt zu entsprechen. In
einer solchen ‚Korrespondenz‘ bestünde ihre Wahrheit.
Bei genauerer Analyse zeigt es sich jedoch, daß Poppers bereits erörterte
Theorie der Wahrheit allgemeiner Urteile und insbesondere seine Theorie
von deren ‚Annäherung an die Wahrheit‘ Rückwirkungen auf sein
Wahrheitsverständnis hat und einen neuen Wahrheitsbegriff impliziert, der
sich dem pragmatischen und pragmatizistischen nähert. Die Neuheit dieser
impliziten Popper’schen Wahrheitsheorie erkennt man vor allem aus
folgendem:
1. Popper setzt gewiß bei seiner Bestimmung der ‚Annäherung‘ an
Wahrheit zunächst Wahrheit im Sinne der Adäquation voraus. Er erkennt
einer allgemeinen These T nur deshalb einen Wahrheitswert zu, weil eine
große Klasse von wahren Aussagen T1 logisch aus ihr folgen. Diese
Aussagen stimmen mit den Tatsachen überein.
2. Wie wir gesehen haben, führt aber sein Begriff des Wahrheitsgehaltes
und Falschheitsgehaltes allgemeiner Thesen Popper dazu, auch radikal
falschen Thesen einen hohen Wahrheitswert zuzuschreiben, ja sie als
‚Wahrheiten‘ gelten zu lassen, wenn mehr der aus ihnen als der aus
anderen Theorien folgenden empirischen Aussagen wahr sind.
3. Testen wir jedoch Poppers Theorie mit den Mitteln vernünftiger
Einsicht. Nehmen wir die Frage, ob es Freiheit in der Welt gibt. Antwortet
man auf diese Frage mit einem ‚Nein‘, und sind dennoch alle Menschen
frei, so ist diese Aussage falsch und wird nicht partiell wahr dadurch, daß
unendliche Klassen von Steinen, Tieren und Pflanzen tatsächlich nicht frei
sind, daß also die Klasse der im Urteil ‚Es gibt keine Freiheit‘ implizierten
wahren Sätze T1 größer als die der falschen T2 ist. Das besagte Urteil als
solches ist entweder wahr, und zwar genau dann, wenn es in seinem
behauptenden Bedeutungsgehalt mit dem Selbstverhalten der behaupteten
Sachverhalte zusammentrifft, wenn es also wirklich keine Freiheit in der
Welt gibt. Oder aber es ist falsch, und zwar dann, wenn es auch nur ein
einziges freies Wesen auf der Welt gibt. Wenn ein Allgemeinurteil als
solches falsch ist, hilft es zum Ziel seiner ‚Annäherung an Wahrheit
nichts‘, wenn man auch noch so viele wahre Teilaussagen aus dem
falschen Allgemeinurteil ableiten kann. Man darf selbstredend feststellen,

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532 KAPITEL 11

daß die wahren Implikationen auch einer falschen Theorie wissenschaftlich


von hoher Bedeutung sind. Aber zu behaupten, ein solches falsches Urteil
habe einen hohen ‚Wahrheitsgehalt‘ und nähere sich der Wahrheit an,
impliziert hinsichtlich der Allgemeinaussagen einen ganz anderen Wahr-
heitsbegriff als den Tarskischen und den klassischen Adäquationsbegriff
und verwechselt jedenfalls die Wahrheit der im Universalurteil implizierten
Urteile mit der eigenen (nicht bestehenden) Wahrheit des universalen
Allgemeinurteils selbst.
4. Eine solche Wahrheitskonzeption muß, wenn sie logisch durchdacht
wird, dazu führen, daß das Prinzip vom Ausgeschlossenen Dritten nicht
mehr auf Allgemeinaussagen zutrifft, sondern es unendlich viele Wahr-
heitsgrade und ‚Zwischenwerte‘ zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ gibt.
Schon daraus läßt sich erkennen, daß es hier um die Einführung einer
neuen ‚Wahrheitsdefinition‘ geht, selbst wenn diese nichts wesentlich
Neues bietet, insoferne sie einfach aus der Kombination des Adäquations-
begriffs und des logischen Gehalts von Aussagen hervorgeht.

3. Zu Conjecturalism und Wesenseinsicht: Der Widerspruch zwischen


bescheidenem wissenschaftstheoretischem Ziel und ‚Anspruch‘ des
kritischen Rationalismus

Wie läßt sich übrigens der radikalste Skeptizismus vermeiden, wenn


alles, was wir betreffs unserer Allgemeinaussagen erkennen können, dies
ist: daß aus ihnen eine Reihe wahrer Urteile folgen, daß aber deren
sogenannte „Annäherung an die Wahrheit“ genausogut in ihrer Falschheit
gründen kann wie in ihrer Wahrheit?
Noch weniger läßt sich radikaler Skeptizismus dann vermeiden und
noch eindeutiger ergeben sich Widersprüche für Popper, wenn nicht bloß
jede Gewißheit und Wahrscheinlichkeit allgemeiner Urteile und Theorien
geleugnet wird, sondern auch die Gewißheit jener Einzelbeobachtungen,
durch die allein ja die Falsifizierung allgemeiner Ansprüche erfolgen soll.
Nun bezweifelt Popper auch den gewissesten Fall einer Einzelbeobach-
tung, nämlich jene Gewißheit, die Descartes im Cogito fand, also die
Gewißheit über unsere eigene Existenz, von der jede andere Gewißheit
unsererseits abhängt, da ein nichtexistierendes Wesen geradeso wie eines,
das nicht weiß, daß es existiert, nichts erkennen kann. Ebenso ist keine

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 533

Gewißheit über von unserer eigenen Existenz verschiedene Sachverhalte


möglich, wenn unsere eigenen Wahrnehmungen, die ihrerseits unsere Exis-
tenz und die Erkenntnis des Selbst voraussetzen, ungewiß bleiben. Mit
seinem Zweifel am Cogito stellt Popper auch die empirischsten Gewißhei-
ten und Falsifizierungen allgemeiner wissenschaftlicher Aussagen skep-
tisch radikal in Frage. Aus der aus dieser Auffassung folgenden Infra-
gestellung auch jeder endgültigen empirischen Erkenntnis und Falsifizie-
rung folgt also ein radikaler Skeptizismus der Popperschen Wissenschafts-
konzeption.
Dazu kommt, daß – wie von mir nachzuweisen versucht wurde613 – jede
empirische Gewißheit, und insbesondere auch die empirische Urgewißheit
des cogito, notwendig Gewißheit über allgemeine Sachverhalte, wie das
Widerspruchsprinzip und viele andere, voraussetzt, in deren Licht allein
die empirisch-faktische Gewißheit über Existenz zu gewinnen ist. So ergibt
sich Poppers Skeptizismus in bezug auf empirisch-faktische Gewißheit der
Falsifizierung nicht bloß aus seinen ausdrücklichen eigenen Thesen über
das cogito, sondern auch aus seiner Nichtannahme irgendeiner Gewißheit
über universal-allgemeine Urteile.
Wie Henke (mit anderen Kritikern) bemerkt, müßten die kritischen
Rationalisten ihre eigene Theorie nur äußerst tentativ und zögernd als
Hypothesen vortragen. In Wirklichkeit werden die eigenen Theorien vieler
kritischer Rationalisten mit einem scheinbar grenzenlosen Vertrauen auf
ihre Wahrheit und Gewißheit oder zumindest auf ihre Überlegenheit, die
ebenfalls kritisch in Frage zu stellen wäre, vorgetragen. Es besteht ein
erstaunlicher Unterschied zwischen dem oft ‚dogmatischen‘, ja
aggressiv-intoleranten Ton, in dem die kritisch-rationalistischen Theorien
wie selbstverständliche Wahrheiten vorgetragen und die widersprechenden
Theorien der „dogmatischen“ Philosophen oder die Dogmen der
katholischen Kirche schärfstens kritisiert werden – und der logischen
Konsequenz aus der eigenen Theorie des kritischen Rationalismus, der
gemäß derselbe nicht einmal als tentativ wahr, sondern höchstens als
‚möglicherweise wahr‘ bzw. als ‚vielleicht nicht falsch‘ auftreten dürfte.
Also sollte der kritische Rationalismus die eigene Theorie bloß zum Zweck
ihres ‚Getestetwerdens‘ mit größter ‚Bescheidenheit‘ in das wissenschaft-
liche Gespräch werfen, ohne den geringsten Anspruch auf ihre Wahrheit

613
Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves.

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534 KAPITEL 11

oder Wahrscheinlichkeit zu erheben, ja in der Hoffnung, daß sie bald


einmal falsifiziert werde.614
Ja eigentlich würde auch eine solche Bescheidenheit nicht genügen, weil
aus der Theorie des kritischen Rationalismus keine empirisch testbaren
logisch abgeleiteten Folgesätze sich ergeben und es deshalb gar keine
empirische Beobachtung gibt, durch die die Theorie Poppers widerlegt
werden könnte. Daher würde sich der kritische Rationalismus aus dem
eigenen Mund richten und hätte in Poppers Augen seine eigene
Wissenschafts- und Wahrheitstheorie bei Anwendung ihrer selbst auf sie
selbst den Charakter einer bloßen Ideologie ähnlich dem Marxismus und
Freudianismus.
Popper selbst hat zwar die Falsifizierbarkeit nicht als Sinn-Kriterium
von Sätzen, sondern nur als Kriterium des empirischen Gehalts von Sätzen
verstanden. Da es für ihn aber keine apriorische und nicht-empirische
Erkenntnis gibt, kann sich der Sinn von empirisch nicht falsifizierbaren
Aussagen wohl gar nicht denken und jedenfalls nicht erklären lassen.
Wenn man daher annimmt, daß Popper das Carnapsche Kriterium für
‚sinnlose (irrelevante) Sätze‘ dahingehend verschoben habe, daß ein nicht-
tautologischer Satz, um sinnvoll zu sein, zwar nicht empirisch verifizierbar,
wohl aber für Falsifizierung durch Sinnesbeobachtung offen sein müßte,
dann wäre sowohl die Theorie des kritischen Rationalismus selbst als auch
die von Popper vorgetragene Theorie des ‚Realismus‘, von der er zugibt,
daß sie weder verifiziert noch auch empirisch falsifiziert werden könne,
schlechthin ‚sinnlos‘. Selbst wenn sie nicht sinnlos, sondern nur
schlechthin unerkennbar wäre, was sicher aus Poppers Position folgt,
beraubt sich Poppers ‚Kritischer Rationalismus‘ – bei Anwendung seiner
Theorie auf die eigene Position – jeder Möglichkeit einer kritischen oder
überhaupt irgendeiner erkenntnistheoretischen Begründung.
Geht man dem Grund für diesen merkwürdigen und dem aufmerksamen
Leser leicht in die Augen springenden Widerspruch bzw. für diese
Inkonsistenz nach, so wird man finden, daß es sich dabei nicht um zufällige
Charakterfehler, sondern eben darum handelt, daß Popper die Wahrheit
seiner Theorie (wie die vielen – nach Poppers Theorie unhaltbaren –
Ausdrücke wie ‘obvious’, ‘evidently absurd’, etc. beweisen) für rational

614
Diese Hoffnung eines konsequenten kritischen Rationalisten versucht der
vorliegende Beitrag zu erfüllen.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 535

einsichtig hält. Also die verworfene Einsicht in allgemeingültige und


universale Sachverhalte wird von ihm selbst vorausgesetzt, und zwar
notwendig, wenn er seine Theorie nicht auf die Ebene völlig unverbind-
licher Hypothesen oder gar ‚sinnloser Sätze‘ absinken lassen will und wenn
ihr Wahrheitspathos gerechtfertigt sein soll.
Doch ist die Einsicht auch positiv gegeben, was uns zu einer
‚transzendenten Kritik‘ an Popper führt. Popper scheint vor allem zu
übersehen, daß von der Erfahrung des Einzeldinges aus ein anderer Weg
zur Allgemeinerkenntnis führen könne außer Induktion. Obwohl seit Platon
und Aristoteles (mit den Begriffen nóesis, nous, aisthesis, etc). immer
wieder auf die unmittelbare Erkenntnis (nicht nur der Sinne, sondern auch
auf die unmittelbare geistige Einsicht in die allgemeinsten und
grundlegendsten Prinzipien) hingewiesen wurde, scheint Popper dem nicht
nur nicht zuzustimmen, sondern dieses Problem kaum ernstzunehmen. So
müssen die flüchtigen Bemerkungen Poppers gegen Kants These der
apriorischen Voraussetzungen der Erfahrung und gegen die Existenz von
Einsicht als ein Außerachtlassen dieses philosophischen Grundproblems
(und als ein Vorbeireden daran) angesehen werden.615
Wenn sich jedoch im Einzelseienden eine notwendige Wesensstruktur
von Sein überhaupt, Wert, Gerechtigkeit, Recht, Wahrheit usf. erschließt,
dann ist natürlich dieser ‚Übergang‘ von Erfahrung zur Allgemeiner-
kenntnis ein ganz andersartiger als bei der Induktion im Sinne einer
empirischen Methode. Abgesehen davon, daß Popper diese Tatsache selbst
voraussetzt – außer in bezug auf seine eigenen wissenschaftsphiloso-
phischen Thesen und allgemeinen logischen Prinzipien auch dann, wenn er
synthetisch apriorische Wahrheiten nur für ‚nicht interessant‘, wenngleich
für wahr erklärt616 – ist sie auch an sich eindeutig gegeben und wird von
Poppers Kritik an der Induktion gar nicht getroffen, da hier ja alle von
seinen Theorien aufgeworfenen Probleme des Induktionsschlusses
wegfallen und eine direkte Gegebenheit des Allgemeinen als Wesensnot-
wendiges – im Einzelnen – vorliegt.617 Man kann bei Popper, wie gesagt,

615
Siehe besonders Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 31 ff.; 46-47; 56-57; 63-64;
68; 136.
616
Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55.
617
Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, Die
Philosophie und ihre Methode.

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536 KAPITEL 11

gar nicht von einem Eingehen auf dieses philosophische Grundproblem der
Einsicht sprechen, soweit ich sehe.618

4. Zur Ablehnung des Cogito und empirischer Evidenz und


Wahrheitsansprüche und deren Folgen für die Aufgabe der von Popper
verteidigten Korrespondenztheorie der Wahrheit

Poppers Kritik619 am Cogito geht m.E. nirgends über ähnliche Kritiken


hinaus, die andernorts ausführlich durch den Nachweis widerlegt wurden,
daß das Cogito keineswegs inhaltsleer ist, sondern eine Fülle inhaltlicher
Existenzerkenntnisse und allgemeiner Wesenserkenntnisse in sich enthält.
Die Evidenz des Cogito wird natürlich keineswegs dadurch angetastet, daß
jemand verrückt ist und glaubt, er sei tot. Dieser Glaube Kipas setzt dessen
Bewußtsein ebenso wie dessen Existenz und seine Erkenntnis beider
voraus und bekräftigt daher nur das Cogito-Argument sowie die Erkenn-
barkeit der Wahrheit unbestreitbar gewisser Urteile.620
Auch die schwerwiegende Folge der Erkenntnis- und Wissenschafts-
theorie Poppers für den Wahrheitsbegriff selber fällt dahin, sobald man die
Falschheit und Unbegründetheit seiner Kritik des Cogito erkennt. Denn
wenn Popper darin Recht behielte, daß wir nicht nur niemals die Wahrheit
allgemeiner Urteile, sondern auch niemals jene der individuellen Existenz-
urteile über die eigene Existenz und damit letzten Endes die Wahrheit
jedweden Basissatzes und Beobachtungssatzes, dessen berechtigte Behaup-
tung ja eine Erkenntnis der eigenen Existenz und Beobachtungsakte
voraussetzt, nicht positiv behaupten dürften, würde sich daraus nicht bloß
die unmittelbare Folge ergeben, daß wir rechtmäßiger Weise nur
Falschheit, nie Wahrheit von Urteilen behaupten dürften – was sich selbst
widerspricht und was wir deshalb auch nicht mehr könnten, da jedem
Urteil über die Falschheit eines Urteils („‚S ist P‘ ist falsch“) ein negatives
Urteil über einen Sachverhalt entspricht, dessen Wahrheit behauptet wird

618
Wolfgang Stegmüller hingegen diskutiert trotz seiner die Skepsis als mögliche
Option offenhaltenden Position die Einsicht als wissensschaftstheoretisches Zen-
tralproblem in Wissenschaft, Skepsis, Wahrheit.
619
Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 35-37.
620
Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Leib und Seele, S. 55 ff.

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Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 537

(„S ist nicht P“), ebenso wie auch jedem negativen Wahrheitsurteil „‚S ist
P‘ ist falsch“ ein wahres affirmatives Wahrheitsurteil entspricht, nämlich:
„Das Urteil ‚S ist nicht P‘ ist wahr“). Vielmehr ergibt sich aus Poppers
negativistischer Wissenschaftstheorie, sobald jemand die radikale Skepsis
und epoché jedes Wahrheitsanspruchs, die aus dieser Position logisch
folgen muß, nicht akzeptiert, daß der Wahrheitsbegriff selber ausgehöhlt
wird, indem an Stelle der Wahrheit eines Urteils als seiner Übereinstim-
mung mit einem Sachverhalt letztlich ein ganz anderer, evolutionär
pragmatischer Wahrheitsbegriff träte, infolgedessen Popper letzten Endes
die Wahrheit im Stile seines erkenntnistheoretischen Evolutionismus
folgendermaßen definieren müßte: „Wahrheit eines Urteils heißt nichts
anderes als: ‚Bisheriges Überleben des stärkeren Urteils im Feuer der
Kritik, ohne bis dato falsifiziert worden zu sein‘“, oder: „Wahr ist ein
Urteil solange es nicht der Falsifizierung, welche jedes Urteil treffen kann,
zum Opfer fällt.“
Damit würden aber nicht nur wahre Urteile für den menschlichen Geist
unerreichbar sein und sogar die von jedem Menschen unvermeidlich
erhobenen Wahrheitsansprüche ganz und gar unbegründbar werden.
Vielmehr, wollte man der destruktiven und radikal skeptischen Folge
dieser Ideen über die Wahrheit entfliehen, müßte man einen anderen,
konsensualistischen oder pragmatischen Wahrheitsbegriff einführen.
Popper scheint also nur der Intention nach am Charakter der Urteilswahr-
heit als Korrespondenz mit Sachverhalten festhalten zu können, in
Wirklichkeit aber deren Idee so weit zu unterhöhlen und von der
Erkenntniswahrheit loszulösen, daß ein Popperianer oder kritischer
Rationalist letzten Endes gezwungen ist, die von ihm ursprünglich als
adaequatio verstandene Urteilswahrheit, deren korrespondenztheoretische
Interpretation der Falsifizierungsidee zugrundeliegt, durch einen ganz
anderen Begriff der Urteilswahrheit zu ersetzen, der sich nur noch nach
Kriterien des rein intersubjektiv-konsensualistisch verstandenen „Überle-
bens“ von Ideen zu orientieren vermöchte. Von einer solchen Position aus
scheint sich, ganz abgesehen von den erwähnten Widersprüchen einer
ausschließlich die Möglichkeit der Falsifizierung (ohne Evidenz für
Wahrheit) zulassenden Theorie, unausweichlich ein Übergang zu einem
konsensualistischen oder pragmatischen oder ähnlichen Wahrheitsbegriff
zu ergeben. Warum?

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538 KAPITEL 11

All diese Folgen ergeben sich erstens dann, wenn man die Popper’sche
Skepsis nicht ausschließlich auf Allgemeinurteile, sondern auch auf das
Cogito ausdehnt, wie Popper dies an den zitierten Stellen tut; denn damit
müssen auch alle Erkenntnisse der Basissätze inklusive des von diesen
vorausgesetzten Urteils des Cogito und der Erkenntnis der eigenen
Beobachtungsakte bezweifelt werden, da die Evidenz des Cogito jener aller
anderen Erkenntnisse (in denen mir ja immer die eigenen Erkenntnisakte
mitgegeben sind) und damit auch jener der Basissätze zugrundeliegt.
Zweitens aber setzt jede Position und jedes Argument oberste logische
und ontologische Evidenzen über universale epistemologische, ontolo-
gische und logische Prinzipien voraus, ohne deren Erkenntnis überhaupt
nichts anderes erkannt werden kann, wie es ist, weshalb aus de folgenden
Skepsis die Flucht in eine andere Wahrheitstheorie wie den Pragmatismus,
Pragmatizismus, oder eine verwandte Wahrheitstheorie sich aufdrängt.
Allerdings hilft auch eine derartige Flucht nicht weiter. Denn sowohl die
Feststellung des Konsenses oder des Erfolges als auch die Falsifizierung
einer Theorie setzt wiederum notwendig im korrespondenztheoretischen
Sinne wahre Urteile sowie Erkenntniswahrheit voraus, in der die
Urteilswahrheit auch von der Person erkannt wird.

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KAPITEL 12

DER KAMPF GEGEN DIE UNGESCHICHTLICHKEIT DER WAHRHEIT UND DIE


GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN ZUR WAHRHEITSTHEORIE HANS-
GEORG GADAMERS621

I. DIE HERAUSFORDERUNG DER PHILOSOPHIE DURCH HISTORISMUS UND


HERMENEUTIK

Der Gedanke, daß Philosophie, die nach Platons Beschreibung des


Philosophen im Staat (VI) mit dem Ewigen, mit jener Wahrheit zu tun hat,
die niemals wechselt, eine Geschichte haben soll, erregt im Philosophen
Bestürzung. Sollte denn das, was er für das Wichtigste an der Philosophie
hält, ihr Eindringen in Wirklichkeit, Wahrheit, Prinzipien, Zusammen-
hänge, Wesen, Ursachen, die zeitlos gültig sind, selbst wenn sie Zeitliches
betreffen, umsonst sein? Sollte es sich bei jedem philosophischen
Wahrheitsanspruch bloß um Illusion handeln? Und dies wäre unausweich-
lich der Fall, wenn Philosophie und ihr Inhalt durch und durch historisch
bestimmt wären.
Denn jedes Urteil erhebt ja einen Wahrheitsanspruch und impliziert
schon deshalb zeitlose Gültigkeit. Denn was mit einem Sachverhalt
übereinstimmt, ein urteilsmässiges „So ist es“ oder „A ist b“, das dem
tatsächlichen Selbstverhalten der Sachen entspricht, ist kraft dieses
Zusammentreffens seiner urteilsmässigen Setzung mit dem Selbstverhalten
seines Gegenstandes (des unabhängig vom Urteil selbst bestehenden
Sachverhaltes) wahr. Und als wahres Urteil kann es niemals falsch werden:
“Semel verum, semper verum” (was einmal wahr ist, bleibt immer wahr),
wie die Lateiner sagen.

621
Dieses Kapitel ging aus einem Vortrag hervor, gehalten am 29.X.1986 nach einem
Vortrag Hans-Georg Gadamers, im Rahmen des Symposiums „Philosophie
heute“. Der hier wesentlich erweiterte Text bildete den 2. Teil eines Dialogs mit
Gadamer im Rahmen er Eröffnungsfeierlichkeiten der Internationalen Akademie
für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Der Beitrag sollte mit einer weiteren
Antwort Gadamers und zweier Rückantworten als echter Dialog bzw. Steit-
gespräch im Druck erscheinen, wozu es aber nicht kam.

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540 KAPITEL 12

Doch tritt bei philosophischen Aussagen noch ein weiteres Moment


hinzu. Die Philosophie erhebt den Anspruch, unveränderliche Wahrheit
nicht nur über zeitliches Sein, sondern auch über zeitlose Prinzipien, über
ewig Gültiges, wie Gott, Seele, oder auch über das zeitlose Wesen der Zeit
und Geschichte überhaupt zu erkennen. Also ist Philosophie nicht nur
wegen der Unveränderlichkeit jeder, auch der historischen, Wahrheit,
sondern gleichermaßen von ihrem Objekt her, auf zeitlos Gültiges
gerichtet.
Wohl deshalb finden wir ja den platonischen Sokrates im Phaidon
behaupten, daß der auf das ewige Wesen der Dinge gerichtete Philosoph
auch Unsterblichkeit ersehne, ja unsterblich sein müsse, da er sich in seiner
Erkenntnis als dem verwandt erweise, was er erkennt, dem Ewigen.
Und erfüllt nicht die Idee einer theistischen Philosophie über Gott
diesen Anspruch auf noch vollendetere Weise, da sie dasjenige SEIN
SELBST und den Geist erkennt, von dem (dem Geist, der das reine SEIN
ist)622 schon Parmenides sagt, daß er „nicht war und nicht sein wird, da er
ganz IST – jetzt, vollkommen, eines, ununterbrochen“?623
Kann es eine Geschichte der Beschäftigung mit dem Ewigen geben?
Und wenn es auch nicht weiter befremdet zuzugestehen, daß die
menschliche Beschäftigung mit Zeitlosem doch in der Zeit erfolgt und
deshalb eine Geschichte hat, so muß doch jede Geschichtlichkeit des
Objekts und der inhaltlichen Bestimmtheit der Philosophie ausgeschlossen
werden, wenn die Wesensordnung der Dinge zeitlos und ewig ist.
Aus diesen Gründen wird nicht sosehr die Entdeckung der Geschicht-
lichkeit der Philosophie als Geschichtlichkeit eines menschlichen Bemü-
hens,624 als vielmehr die bei Hegel und in seiner Folge auftretende These

622
Parmenides sagt ja, daß der nous (Geist) und das Sein (tò einai bzw. tò éstin)
dasselbe sind.
623
Siehe Parmenides, fr. 8: 4 ff.
624
Diese Entdeckung der Geschichtlichkeit der Philosophie als eines menschlichen
Bemühens lässt sich gewiss bis auf die pyrrhonische Skepsis und Autoren wie
Sextus Empiricus zurückverfolgen. Doch hat Hegel in völlig neuer Weise diese
Historizität der Philosophie hervorgehoben, wobei das Moment einer echten
philosophischen Bewußtwerdung dem konstruktiven Moment der Übertreibung
und Entstellung dieser „Geschichtlichkeit“, wie sie im folgenden kritisiert werden
soll, die Waage hält. Siehe dazu insbesondere G.F.W. Hegel, Geschichte der

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 541

der Geschichtlichkeit des Inhalts der Philosophie, ja sogar des Seins und
der Wahrheit selber, den Anspruch der Philosophie auf Erkenntnis des
Zeitlosen zuinnerst treffen, ja Philosophie negieren. Die Philosophie würde
durch ihre totale Kettung an wandelbare historische Ursachen ihrer
geistigen Abhängigkeit vom Sein des in ihr Erkannten vollkommen
verlustig gehen, obwohl Friedrich Dilthey meint, gerade durch die
Erkenntnis der Geschichtlichkeit erfahre die Philosophie Befreiung.
Friedrich Nietzsche schildert in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung
den radikalen Relativismus als die größte Bedrohung für Schopenhauers
und, wie wir aus Briefen wissen, sein eigenes Denken, in so
eindrucksvollen Worten, daß es gut ist, sie sich immer wieder vor Augen
zu halten:
Das war die erste Gefahr in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs;
Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese
Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus
seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch
in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und
Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit
dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint
mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig
eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man
überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen
Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht
glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor
allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete
es sein könnten... Sobald aber ... Kant anfangen sollte eine populäre
Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden
und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden, und
nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel
ausgehalten haben,... würde an seiner Stelle jene Erschütterung und
Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich
von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem“,
schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen
Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken
mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzlich
erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir
Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s

Philosophie, hrsg. H. Glockner, Jubiläumsausgabe XVIII, S. 115 – 121. Siehe


auch Hegel, Philosophie der Geschichte, Jub. XI, 41-120.

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542 KAPITEL 12

das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode
nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch
noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens
dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in
seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.“ Ja, wann werden
wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann
lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem „heiligsten
Innern“ messen?625

Nietzsche und Kleist machen mit diesen Worten die zentrale anthropolo-
gische Aussage, daß das „heiligste Innere“ des Menschen, seine Erkennt-
nisbemühung, Recht und Gerechtigkeit, Moral und Liebe, eigentliches
Glück und damit auch Sinn und Wert des menschlichen Lebens überhaupt,
nur dann bestehen können, wenn es Wahrheit gibt, die objektiv und in sich
wahr ist und deshalb „uns auch noch in das Grab folgt“. Nur unter der
vorausgesetzten Gültigkeit dieser anthropologischen Aussage kann durch
einen „zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus“ das „höchste Ziel“
getroffen und das „heiligste Innere“ verwundet werden.
Radikalste Skepsis und Verzweiflung an der Erkenntnis einer
nicht-relativen und ungeschichtlichen Wahrheit, die in sich und nicht bloß
für uns als historische oder individuelle Subjekte Bestand hat, bedrohten
jedoch auch fünfzehnhundert Jahre vor Nietzsche einen genialen Geist im
Raum abendländischen Denkens, von dem viele dies kaum vermuten
möchten Augustinus. Die großen Schulen der antiken Skepsis, die in der
späten Akademie eines Arkesilas und Karneades kulminierten, hatten ein
eindrucksvolles Arsenal von skeptischen Argumenten angehäuft, die den
dreißigjährigen Augustinus zutiefst beunruhigten. Da war einmal die
pyrrhonische Skepsis, die auf der Unzuverlässigkeit der Sinne beruhte und
einem Ideal von Glück (Atharaxie) ohne Wahrheitsfundament, auf dem
Boden einer skeptischen epoché (Urteilsenthaltung), nachstrebte.626
Auch spielte in der pyrrhonischen Skepsis die Tatsache der entgegen-
gesetzten Meinungen der bedeutendsten Philosophen eine große Rolle, also
eine ähnliche Tatsache wie jene, die Kant als „Skandal der Vernunft“

625
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 302.
626
Siehe Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. 1 (Brescia: La
Scuola, 1985).

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 543

bezeichnete.627 Daß etwa Parmenides die Unmöglichkeit des Werdens und


die Existenz eines reinen, ewigen Seins behauptet und der nicht weniger
gewaltige Denker Heraklit einzig und allein das Werden angenommen und
jedes bleibende Sein abgelehnt hatte, daß ferner etwa ein Philosoph die
Existenz des Geistes anerkennt, während ein anderer ausschließlich Atome
annimmt, und viele andere Widersprüche stellen in der Tat einen Grund
größter Verunsicherung für jeden denkenden Menschen dar. Dazu käme, so
argumentierte die pyrrhonische Skepsis, daß sich für jede von zwei
entgegengesetzten Positionen, wie sie sich auf praktisch alle bedeutsamen
Gegenstände der Philosophie beziehen, zahlreiche und einander ebenbürti-
ge, gleich starke (isostheneia) Argumente fänden (Îsosj®neia tvn
lógwn), sodass im Widerstreit und der Dialektik dieser Argumente keine
Seite in solcher Weise siegen könne, daß sie nicht ebenso auch wiederum
zu Fall gebracht zu werden vermöchte. Wie sollten da, so können wir mit
Leo Strauss, der im zwanzigsten Jahrhundert dieselbe Problematik zum
Grundansatzpunkt seines Great Book-Erziehungsprogramms machte,
fragen, wie sollten da wir kleinen oder mittelmäßigen Geister uns
anmaßen, wahre Antworten auf Fragen zu finden, in Bezug auf die bei den
größten Denkern aller Zeiten keinerlei einhellige Antwort zu finden ist?
Andere Skeptiker brachten andere eindrucksvolle Argumente vor, so
etwa jenes von der Unmöglichkeit eines objektiven Kriteriums, kraft
627
Frederick Copleston erörtert insbesondere das Motiv zur Skepsis Pyrrhos, das in
der Îsosj®neia tvn lógwn, in den gleich starken Gründen für entgegen-
gesetzte Positionen liegt. Siehe F Copleston, A History of Philosophy, Vol I, Part
II, 8th edn. (Westminster/Md, 1960), S. 157 ff. Vgl. auch die gründliche
Darstellung des Pyrrhonismus bei Giovanni Reale, Storia della Filosofia Antica,
III, 3. Aufl. (Mailand: Vita e Pensiero, 1980), S. 465 ff.
Zur Rolle des Arguments aus den Widersprüchen vgl. Augustinus, Contra
Academicos, II, v, 11. Kant bezeichnete in erster Linie die seiner Meinung nach
unvermeidlichen antinomischen Widersprüche als „Skandal der reinen Vernunft“.
Jedoch gleichen diese den von der antiken Skepsis betrachteten, da sowohl Kant
als auch die Skeptiker der Antike annahmen, widersprüchliche Thesen (Thesen
und Antithesen) ließen sich mit gleich starken Argumenten verteidigen. Siehe
dazu Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die
Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; Superación del escándalo de
la razón pura. La ausencia de contradicción de la realidad, a pesar de Kant.
Biblioteca filosófica “El Carro Alado”.
Zum allgemeinen Einfluß der Skepsis der Neuen Akademie auf Augustinus
siehe auch Augustinus, Confessiones, VI, v, 8; VII, xvii; VIII v, 11.

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544 KAPITEL 12

dessen das denkende Subjekt die Wahrheit, d.h. die Wirklichkeitsgemäß-


heit der eigenen Meinungen, zu erkennen vermöchte. Denn wenn ein
solches Kriterium in den Dingen selbst beruhte, wie könnte es dann der
denkende Geist des Subjekts zum Maßstab nehmen? Wenn ein solches
Kriterium jedoch im Subjekt selbst in Form seiner subjektiven Gewißheit
vorhanden wäre, wie sollte ein solches subjektives Kriterium ihm die
Behauptung erlauben, daß seine subjektiv gewisse Meinung mit der
objektiven Wirklichkeit zusammenfalle? Und wenn das Kriterium schließ-
lich zwischen Subjekt und Objekt läge, so könnte es weder dem Subjekt
Gewißheit verschaffen noch den Bezug des Subjekts zur objektiven
Wirklichkeit, in welcher ein solches Kriterium ja ebensowenig wie im
Subiekt zu finden wäre, vermitteln.628
Andere Gründe für die Skepsis von Protagoras bis Karneades liegen in
den zahllosen falschen Meinungen, Träumen, Sinnestäuschungen und
sonstigen Irrtümern, aufgrund deren der Mensch die naive Gewißheit
seiner sinnlichen und menschlichen Erfahrungen sowie seines Denkens
verlieren müsse, wenn er nur ehrlich und ohne Vermessenheit über die
Dinge und die menschlichen Meinungen nachdenke. Solche und vielerlei
andere Argumente der Skeptiker erschütterten gewiß Denker vieler
Epochen bis zum heutigen Tag und führen sie auch heute zur skeptischen
Überzeugung, daß es Wahrheits- und Erkenntnisgewißheit nicht gibt,
sodass schließlich die radikale Meinung, die Gorgias in einem verscholle-
nen Buch niederlegte, plausibel erscheint:
„erstens daß Nichts (seiend) ist, zweitens daß, auch wenn etwas ist, es doch
dem Menschen unfaßbar ist, drittens aber, wenn es faßbar ist, daß es dann
den Mitmenschen nicht übermittelbar und bezeichenbar ist.”629

Solche und ähnliche Argumente brachten Augustinus der Position der


Skepsis nahe, aus der ihn schließlich der geniale Gedanke befreite, den erst
dreizehnhundert Jahre später Descartes als eigentlichen Beginn und

628
Siehe Augustinus, Contra Academicos, II und III; Confessiones, V, xiv, 3 und die
in Anm. 3 angeführten. Zu den 11 (Aenesidemus von Knossos) bzw. 5 (Agrippa)
Hauptargumenten der pyrrhonischen Skepsis siehe Copleston, a. a. O., S. 186-189.
629
Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 124.
Siehe dazu Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. I, a.a.O.,
S 55.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 545

Ansatzpunkt der neueren Philosophie formulierte, den jedoch Augustinus


schon, und zwar in wesentlich entfalteterer Form, ausgesprochen und damit
die Epoche der mittelalterlichen Philosophiegeschichte eingeleitet und das
erste rein philosophische Werk eines christlichen Philosophen geschaffen
hatte. Von Contra Academicos bis hin zu seinen Spätwerken fand dieser
Gedanke vielfältige Formulierungen, von denen wir hier nur eine einzige
betrachten wollen:
Wer könnte jedoch daran zweifeln, daß er lebt, sich erinnert, einsieht, will,
denkt, weiß und urteilt? Denn auch wenn jemand zweifelt, lebt er, wenn er
zweifelt, erinnert er sich, woran er zweifelt; wenn er zweifelt, sieht er ein,
daß er zweifelt, wenn er zweifelt, will er sicher sein; wenn er zweifelt,
denkt er; wenn er zweifelt, weiß er daß er (etwas) nicht weiß; wenn er
zweifelt, urteilt er, daß er seine Zustimmung nicht blind (ohne genügende
Erkenntnis) geben solle. Wenn deshalb jemand auch an allem andern
zweifelt, so darf er doch an all diesem nicht zweifeln. Denn wenn (all)
dieses nicht wäre, könnte er überhaupt an nichts zweifeln.630

Die Einsicht, daß objektive Wirklichkeit und notwendige Wesenssach-


verhalte, die Zweifel, Erkennen, Urteilen, Existenz, Wahrheit und andere
Gegenstände betreffen, selbst vom Zweifel an aller Wahrheit als ein
unerschütterliches Fundament der Wirklichkeit menschlichen Denkens und
Seins vorausgesetzt sind, ließ Augustinus dem nihilistischen radikalen
skeptischen Zweifel entrinnen. Mit diesem Gedanken und dem philoso-
phisch-theologischen Werk von Augustinus beginnt eine Epoche mittelal-
terlicher Philosophie, die in radikalem Gegensatz zur Skepsis und dem ihr
verwandten abendländischen Relativismus steht, dessen Grundthese
Protagoras formulierte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden,
daß sie sind und der nicht-seienden, daß sie nicht sind“.631 Die
mittelalterliche und die frühe neuzeitliche Philosophie bis zu einem
Descartes oder Leibniz beruht auf der von Augustinus neu begründeten
Überzeugung, daß das menschliche Bewußtsein und Denken einer dem
Menschen selbst vorgegebenen Wirklichkeit begegnet, diese entdeckt und
vorfindet, und sich im Denken und Leben in eine Seins- und Güterordnung
einzufügen hat, die nicht der Willkür preisgegeben ist und nicht der
Subjektivität des Menschen entspringt.

630
Siehe Augustinus, De Trinitate, X, x, 14.
631
Siehe Platon, Theaitetos, 160 d-e; 161 c.

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546 KAPITEL 12

Doch schienen auch die augustinischen und zu Beginn der Neuzeit die
ähnlichen cartesischen Gedanken zur Begründung dieser objektivistischen
Weltsicht und zur Widerlegung des Subjektivismus und der Skepsis nur
relativen Wert zu haben. Wie Nietzsche formuliert, hat die Philosophie
nach Descartes – „und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines
Vorgangs“632 – versucht zu zeigen, daß selbst das Ich, das Augustinus und
Descartes als unbezweifelbare Realität ansahen, in Zweifel gezogen
werden kann, daß es vielleicht selbst nur ein Produkt des Denkens, nicht
dessen Bedingung sei. So gelangen wir über die Skepsis Humes am Ich zu
jener Kants, der annahm, daß alle notwendigen Prinzipien der Philosophie
und der Mathematik oder reinen Naturwissenschaften, und selbst das
erfahrene Subjekt, vom transzendentalen Subjekt, ja letztlich von einer
„transzendentalen synthetischen Apperzeption“ eines anonymen Denkens
her als reine Bewußtseinsobjekte erzeugt werden und keine objektive
transzendente Geltung und Wahrheit beanspruchen dürfen.
Die Überzeugung von der Unerreichbarkeit und Unerkennbarkeit des
Seins an sich wandte sich von seiner immer noch streng im transzenden-
talen Subjekt gegründeten Kantischen Form ab und wurde immer
empirischer und uneinheitlicher. So erschien in der neueren Philosophie in
zunehmendem Maß eine durch verschiedene innerweltliche Phänomene
(wie Bewußtsein, Gesellschaft, Sprache, Geschichte) oder auch durch reine
Chiffren (wie „transzendentales ego“, „reines Bewußtsein“) angezielte und
letzten Endes anonym-unerkennbare Subjektivität als absoluter Ursprung
aller Dinge, die nur als Gegenstand menschlichen Bewußtseins zu denken
wären.
Diese Position ist nach seiner anfänglichen radikalen Neubegründung
einer realistischen und objektivistischen Philosophie in den Logischen
Untersuchungen633 wiederum beim späten Husserl zu finden, der in den
Cartesianischen Meditationen schreibt, daß die Welt „ihren ganzen, ihren
632
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Das religiöse Wesen“, 54.
Nietzsche, Werke Bd. II (München, 1965).
633
Vgl. Josef Seifert, “The Significance of Husserl’s Logical Investigations for Realist
Phenomenology and a Critique of Several ‘Husserlian Theses’ on Phenomeno-
logy. In Commemoration of the 100th Anniversary of the Publication of Edmund
Husserl’s Logical Investigations (1901/01-2001/2)”, in: Instituto de Filosofía,
Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago, Seminarios de Filosofía,
Vols. 17-18 (Santiago de Chile: Instituto de Filosofía, 2004-2005), pp. 133-190.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 547

universalen und spezialen Sinn und ihre Seinsgeltung“ „ausschließlich aus


solchen cogitationes“ habe und vom menschlichen Bewußtsein konstituiert
und von ihm abhängig sei.634 In der Krisis635 betrachtet Husserl die radikale
Skepsis David Humes als einen Durchgangspunkt zu seiner eigenen
Philosophie.
Eine ähnliche radikal subjektivistische und transzendentalrelativistische
Position motivierte einen Jacques Maritain, zur Zeit seines Studiums den
Beschluß zu fassen, mit seiner Verlobten Raissa Selbstmord zu begehen, da
ihm auch zu Beginn dieses Jahrhunderts bei seinem Studium an der
Sorbonne keine Philosophie erreichbar schien, die uns eine Wahrheit er-
schließt, die „uns auch noch in das Grab folgt“. Von der Ausführung dieses
Entschlusses hielten die jungen Maritains Vorträge Henri Bergsons am
College de France zurück. Diese machten auf Jacques und Raïssa einen
tiefen Eindruck und überzeugten sie, daß Wahrheit auch über metaphy-
sische Sachverhalte erkennbar ist.
Der transzendentale Subjektivismus trat bei Kant noch mit jenem
Anspruch transhistorischer Objektivität auf, daß dem Subjekt eine feste, zu
allen Zeiten gültige Denkstruktur innewohne, die ein gewisses Ordnungs-
element und einen gewissen Gegensatz zur radikalen Skepsis darstelle. So
nahm Kant an, jeder Mensch sei an dieselben nachweisbaren Bedingungen
der Möglichkeit menschlichen Erfahrens und Denkens gebunden. Diese
seien ihm vorgegeben und also, selbst wenn das Ding an sich selbst, die
objektive und vom menschlichen Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit
radikal unerkennbar sei, hätte der Mensch doch ein fixes Ordnungselement
in der immanenten Struktur menschlicher Subjektivität selbst.
Doch geriet auch dieser Rest von Objektivismus ins Wanken. Von
Nietzsche an wandten sich viele Philosophen gegen die kantische
Annahme, daß Kategorien und Prinzipien uns in universaler Weise die
Gegenstände subjektiver Erfahrung erkennen und interpretieren ließen;
vielmehr seien alle Begriffe und Grundsätze historischem Wechsel
unterworfen. So tritt die Skepsis in eine neue und zugleich alte
protagoräische Phase ein, die weit über Kants und Husserls transzenden-

634
Siehe Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 8.
635
Siehe E. Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzenden-
tale Phänomenologie (Den Haag, 1954).

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548 KAPITEL 12

talen Relativismus636 hinausgeht und etwa den Historismus eines Dilthey


beherrscht, der meint, nichts, überhaupt nichts Festes und für alle Epochen
Gültiges sei in der Wirklichkeit selbst oder auch nur im menschlichen
Subjekt und menschlicher Subjektivität zu finden, vielmehr gäbe es
ausschließlich historisch wandelbare Objekte und Bewußtseinsinhalte.
Seinen radikal historistischen Relativismus und Skeptizismus bezüglich
jedes Wertes und Seins, die nicht historisch relativ wären, hält Dilthey
jedoch für eine Befreiung:
Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen
Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der
Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des
Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis
seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als
wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden
könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; ... der Geist
wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber. Jede
Schönheit, jede Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet
Perspektiven, die eine Realität aufschließen. Und ebenso nehmen wir dann
das Schlechte, das Furchtbare, das Häßliche in uns auf als eine Stelle
einnehmend in der Welt, als eine Realität in sich schließend, die im
Weltzusammenhang gerechtfertigt sein muß. Etwas, was nicht wegge-
täuscht werden kann. Und der Relativität gegenüber macht sich die
Kontinuität der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache
geltend.637

Dennoch nahm Dilthey mit seiner Ablehnung der Skepsis betreffend die
Historie selbst an, es gäbe noch etwas Fixes, nämlich die wissenschaftliche
Objektivität des Historikers in Hinsicht auf etwas in historischen Subjekten
und Epochen selbst Bestehendes. Der Historiker vermöge sich in die
vergangenen Zeiten hineinzuleben, das Denken und Leben anderer
Kulturen und Epochen zu rekonstruieren und fände damit eine neue Basis

636
Dieser treffende Ausdruck stammt von Walter Hoeres, vgl. seine Kritik der
transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, sowie seinen Aufsatz “Critique
of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and Neo-
Scholastic Transcendental Philosophy” S. 353-69.
637
Siehe Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den
Geisteswissenschaften, 7. unveränd. Aufl., Gesammelte Schriften VII
(Stuttgart/Göttingen: Teubner/Vandenhöck und Ruprecht, 1979), S. 290-291.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 549

für das Erkenntnisleben des Menschen, indem er an allen Abenteuern des


Geistes, wie Nietzsche sich ausgedrückt hat, teilnehmen und jede Form des
Lebens, des kulturellen Erlebens und Denkens nachvollziehen und
rekonstruieren könne, so „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke) und von
den Menschen anderer Epochen und Kulturen gelebt und gewirkt wurde.
Hier nun setzt die hermeneutische Schule um Heidegger und Gadamer
ihre Kritik an und stellt auch jenen von Dilthey und E. Betti betonten Rest
scheinbar transhistorisch gültiger Wahrheit des historischen Wissens und
Erlebens selbst in Frage. Dabei macht die hermeneutische Schule mit
Recht geltend, daß wir nicht schlechthin mit suspendiertem Urteil und ohne
eigene Begriffe vergangene Kulturen nachvollziehen oder rekonstruieren,
sondern daß wir vielmehr in jedem hermeneutischen Prozeß des Verste-
hens bereits Kategorien und Urteile ins Spiel bringen, die zu unserem
eigenen Verstehenshorizont gehören. Wenn wir etwa die Menschenopfer
vergangener wilder Stämme untersuchen, so werden wir uns wohl nicht des
Urteils enthalten, daß es sich dabei um primitive Formen des menschlichen
Lebens handelte, und selbst wenn wir uns jedes Werturteils enthielten, so
werden wir doch in dieser historistischen Skepsis und epoché allen eigenen
Wertens einen anderen Standpunkt einnehmen als jene wilden Völker
selbst, für die die Menschenopfer die einzig richtige und von den Göttern
geforderte Sittlichkeit darstellten. Also ist es unmöglich, von einem stand-
punktlosen historischen Ort aus objektive Historie erkennen oder nachle-
ben zu wollen.
Wenn aber dieser unser eigener Verstehenshorizont, was der naive
Historismus von Dilthey und Droysen übersah, gleichsam eine Fülle von
stets wechselnden Spiel- und Verstehensregeln darstellt, in deren Licht uns
die Vergangenheit zum jeweils jetzigen Zeitpunkt erscheinen muß, so geht
damit auch noch die letzte Dimension transhistorischer Objektivität
verloren: die des Historikers selbst und jene Möglichkeit objektiver Rekon-
struktion der Vergangenheit, die ein Dilthey oder Betti, wenn auch nur mit
Einschränkungen, behaupteten. Und damit geht nach einem Wort
Gadamers „eine monumentale Grenzbastion der ‚objektiven‘ Wissen-
schaft“ verloren.638 Eine neue Skepsis setzt ein, die nicht nur mit Dilthey

638
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2, Hermeneutik II,
„Hermeneutik und Historismus“, S. 389.
Zur zunehmenden Abkehr Diltheys und Bettis von einem „naiven historischen
Objektivismus“ siehe ebd., bes. S. 393 f., S. 398 ff.

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550 KAPITEL 12

Erkenntnis zeitloser inhaltlicher Wahrheit, sondern auch die Objektivität


und Übergeschichtlichkeit der Erkenntnis über die Geschichte selbst in
Zweifel zieht. Die daraus resultierende Skepsis stellt selbst jene letzte Insel
der Objektivität des Historikers als naiv in Frage, die Dilthey noch retten
zu können glaubte. Die hermeneutische Schule geht dabei davon aus, „daß
der Historiker selbst ein Teil des geschichtlichen Ablaufs ist, den er
erforscht und den er nur von dem Standpunkt beobachten kann, den er
selber im Augenblick in ihm einnimmt.“639
Auch Husserl denkt in zunehmendem Maß die transzendentale Subjekti-
vität als radikale Historizität und rückt damit, wie Hans-Georg Gadamer
zeigt, in die Nähe Diltheys und vor allem Heideggers.640
Der Autor verfolgt in diesem Anhang zu Wahrheit und Methode die
Entwicklung, die von Dilthey über Husserl und Heidegger zur Auffassung
führte, es gebe keine ewigen Wahrheiten, Wahrheit sei „eine mit der
Geschichtlichkeit des Daseins mitgegebene Erschlossenheit des Daseins.“
Gadamer faßt diesen subtileren Historismus so zusammen:
Es ist sozusagen ein Historismus zweiten Grades, der nicht nur die
geschichtliche Relativität aller Erkenntnis dem absoluten Wahrheits-
anspruch entgegenstellt, sondern ihren Grund, die Geschichtlichkeit des
erkennenden Subjektes, denkt und deshalb geschichtliche Relativität nicht
mehr als Einschränkung der Wahrheit ansehen kann. (ibid, S. 411-412).

Gadamer selbst formuliert den Historismus seiner eigenen Position,


wenn er schreibt:
Die Anwendung der überlegenen Perspektive der Gegenwart auf alle
Vergangenheit scheint mir gar nicht das Wesen des wahren historischen
Denkens, sondern bezeichnet die hartnäckige Positivität eines ‘naiven’
Historismus. Seine Würde und seinen Wahrheitswert hat das historische
Denken in dem Eingeständnis, daß es ‚die Gegenwart‘ gar nicht gibt,
sondern stets wechselnde Horizonte von Zukunft und Vergangenheit. Es ist
gar nicht ausgemacht (und nie auszumachen), daß irgendeine Perspektive,
in der sich überlieferte Gedanken zeigen, die richtige sei. Das ‚historische‘

639
Siehe Gadamer, ebd., S. 397.
Vgl. auch R.G. Collingwood, Philosophie der Geschichte, eingel. v. H.-G.
Gadamer (Stuttgart, 1955), S. 260.
640
Siehe Hans-Georg Gadamer, „Hermeneutik und Historismus“, in: Gadamer,
Gesammelte Werke, Bd. II, Hermeneutik II, S. 411-412.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 551

Verständnis hat da keinerlei Privileg, weder das heutige noch das morgige.
Es wird selbst von den wechselnden Horizonten umfaßt und mit ihnen
mitbewegt. (Ibid., S. 416-417).

Auch in bezug auf die Ethik wendet Gadamer mit Theodor Litt densel-
ben Historismus an, indem er den Versuch von Leo Strauss, trotz seines
Skeptizismus allgemein verbindliche übergeschichtliche naturrechtliche
Normen zu vertreten, historisch-psychologisch erklärt. Nach bestimmten
sittlich-politischen Verirrungen des Urteils (im Nazideutschland, aus dem
Strauss entkommen war) entstünde das „Verlangen nach einem festen, sich
gleichbleibenden Maßstab, ‚der dem zum Handeln Aufgerufenen die
Richtung weist‘“ (ibid., S. 423). Gadamer tritt dieser Auffassung, in der er
mit Litt die „Gefahr eines neuen Dogmatismus“ erblickt, entgegen: Litt
zeigt, daß damit keine allgemeine Norm gemeint sein kann, unter die der
zu beurteilende Fall praktisch-politischen Handelns subsumiert werden
könnte. (Ibid., S. 423)
Es wird nicht ersichtlich, wie Gadamer, der sich unter (m.E. einseitiger)
Berufung auf Aristoteles ausschließlich auf geschichtlich-wandelbare
Regeln der phronesis (praktischen Klugheit) beziehen will, um etwa dem
Terror eines Hitler zu widerstehen, die Konsequenz vermeiden kann, daß
nach solchen Voraussetzungen auch die Greueltaten totalitärer Regimes
unter bestimmten historischen Umständen gerechtfertigt sein könnten, was
nur derjenige ausschließen kann, der eben annimmt, daß konkrete histo-
rische Taten unter universal und ewig gültige Wahrheiten bzw. axiolo-
gische Wertgesetze fallen.
Um den Gedanken der Historizität der Wahrheit noch tiefer zu prüfen
und „die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit“ zu verteidigen, und
bevor wir uns noch mit Gadamers spezieller Position eingehend ausein-
andersetzen, wenden wir uns einer allgemeineren Analyse des Verhältnis-
ses zwischen Wahrheit, Philosophie und Geschichte zu.

II. RELATIVIERENDE UND NICHT-RELATIVIERENDE DIMENSIONEN DER


GESCHICHTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE

Zunächst sei darauf hingewiesen, daß keineswegs alle Abhängigkeiten


philosophischen Erkennens von der Geschichte Relativismus bzw. die
Relativität der Philosophie in jenem Sinne einschließen, daß das vom

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552 KAPITEL 12

Philosophen Erkannte nicht in sich bestünde oder von überhistorischer


Gültigkeit wäre.
Um diese sehr allgemein gehaltene Erkenntnis zu begründen und näher
zu verstehen, wenden wir uns nun den grundverschiedenen Abhängigkeiten
philosophischer Erkenntnisse und philosophischer Irrtümer von der
Geschichte zu.

1. Geschichte als Vermittlerin philosophischer Erkenntnis zeitloser


Wahrheit

Ähnlich wie die Erkenntnisse der euklidischen Geometrie oder der


Arithmetik durch Jahrhunderte vorhergehender Forschungen gewonnen
wurden und dennoch inhaltlich keineswegs Projektionen der Geschichte
sind, sondern objektive Gesetzmäßigkeiten betreffen, oder wie die
geographische Erforschung des relativen Anteils der Land- und der
Wasserflächen an der Gesamtoberfläche der Erde erst durch subtile
geographische und mathematische Methoden möglich wurde, die sich über
Jahrhunderte entwickelten, und doch die tatsächliche und schon vor ihrer
Messung bestehende Aufteilung von Land, Seen und Meeren an der
Erdoberfläche aufgezeigt hat, folgt auch nicht die Relativität des historisch
gewachsenen Philosophierens und seines Gegenstands daraus, daß dieses
Philosophieren nicht in einem luftleeren geschichtslosen Raum erfolgte,
sondern geschichtliche Wurzeln hat.
Genauso wie jedermann die Tatsache kennt, daß er das 1 x 1 nicht selber
erfunden und nicht einmal ganz alleine gefunden hat, sondern der
Vermittlung von Eltern und Volksschullehrern verdankt, und wie er aber
deswegen nicht die Gesetze, die er so gelernt hat oder die Redeteile, die
ihm der Grammatiker beibrachte, für menschliche Erfindungen anstatt für
wirklich bestehende Gesetze halten wird, kennt der Philosoph die Tatsache
und braucht sich ihrer nicht zu schämen, daß er nicht wie Thales zu
philosophieren begann, sondern auf den Schultern großer Vorgänger steht,
denen er die meisten seiner Entdeckungen verdankt. Genausowenig wie der
Botaniker oder Mathematiker braucht sich der Philosoph angesichts dieser
historischen Wissensvermittlung zu sagen, daß der Inhalt und Gegenstand
der von seinen geschichtlichen Vorgängern erworbenen Erkenntnisse bloß
von der Geschichte abhängig sein müsse.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 553

Dabei geht es bei solchen philosophischen Evidenzen und bei


Wahrheiten, die durch die Geschichte nur vermittelt werden können,
keineswegs nur um formale Elemente wie das Widerspruchsprinzip oder
die logischen Prinzipien oder auch die formalen Widersprüche, die sich in
der skeptischen, relativistischen oder historistischen Position verbergen.
Übrigens handelt es sich bei solchen formalen Voraussetzungen und
abstrakten Prinzipien um überaus wichtige Probleme und erst recht darf die
Erkenntnis der inneren Widersprüche einer Position nicht auf Grund von
metasprachlichen und ähnlichen Theorien, oder gar als bloßer Überrumpe-
lungsversuch, bagatellisiert werden, handelt es sich beim Nachweis innerer
Widersprüche doch um eine vernichtende Kritik einer Gesamtposition,
auch wenn wertvolle Teile derselben durch einen Nachweis ihrer inneren
Widersprüchlichkeit nicht getroffen sein mögen.641
Bei einer genaueren Betrachtung läßt sich gegen den Einwand, daß
ausschließlich rein „formale“ und völlig inhaltsarme abstrakte Prinzipien
übergeschichtliche Wahrheit besäßen und deshalb von der Geschichte bloß
vermittelt, und nicht vom historischen Bewußtsein als je relative
konstituiert würden, vielerlei einwenden:

641
Russell hat in den Principia Mathematica versucht zu zeigen, daß es zu logischen
Paradoxien in der Gruppentheorie und auf anderen Gebieten kommt, wenn man
die „Selbstanwendung“ eines Satzes oder einer Theorie auf sie selber zuläßt. Er
hat deshalb die „Typentheorie“ entwickelt, um die Legitimität eines solchen
Vorgehens zu bestreiten.
In anderer Weise versucht Heidegger (und Gadamer mit ihm) die Hinweise auf
innere Widersprüche der eigenen Position als blosse Überrumpelungsversuche
abzutun. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, daß man unmöglich
allgemein die Selbstanwendung ausschließen kann, schon weil damit die obersten
logischen und ontologischen Prinzipien, die notwendig auch für sie selber gelten,
ausgeschlossen werden müssten.
Auch kann man eine so elementare Wahrheitsbedingung wie Widerspruchs-
freiheit nicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, daß man den Hinweis auf sie
als Ueberrumpelungsversuch bezeichnet. Platon im Theaitetos, Aristoteles, und
andere klassische Denker erkannten mit Recht, daß innere Widersprüchlichkeit
schlechthin mit der Wahrheit einer Position unverträglich ist, ja diese selbst
aufhebt und uns, wie Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik ausführt, zu
totalem Schweigen und Nichtdenken verurteilen müsste. Siehe dazu auch J.
Crosby, „Kritik des Skeptizismus und Relativismus“, in: Wahrheit, Wert und Sein
(Regensburg: Habbel, 1974).

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554 KAPITEL 12

Zunächst einmal gibt es in sich rein formale Elemente gar nicht. In der
allgemeinen Ontologie und Logik werden die obersten ontologischen und
logischen Prinzipien genauso als material-inhaltliche Prinzipien verstanden
wie konkretere Prinzipien in anderen Wissenschaften.642 „Formale“
Voraussetzungen sind sie nur relativ zu anderen Seinsbereichen, für die sie
formale Bedingungen, nicht „materiale Inhalte“ darstellen.
Selbst wenn man die im Begriff des „Formalen“ implizierte Relativität
leugnen und im „Formalen“ eine innere Bestimmtheit von Prinzipien
erblicken wollte, etwa ihre Inhaltsarmut und Abstraktheit, könnte man
„formale Prinzipien“ in diesem Sinn keineswegs als den einzigen
Gegenstandsbereich evidenter Erkenntnis betrachten, der durch die
Geschichte nicht konstituiert, sondern nur vermittelt wird.
Denn erstens gehört zu diesem durch andere Menschen oder Geschichte
nur vermittelten Wissen alles empirische Wissen, alles historische und
philosophiehistorische Wissen, das nicht „formal“ in irgendeinem Sinne
dieses Ausdrucks ist.
Zweitens gibt es viele in jedem Sinne des Wortes material-inhaltliche
absolute Evidenzen, die sich auf wesensnotwendige Sachverhalte beziehen
und für deren Erkenntnis die Geschichte nur eine vermittelnde, nicht eine
konstituierende Rolle spielen kann. Man denke an das von Stumpf,
Husserl, Reinach, Hildebrand und anderen Phänomenologen oft verwen-
dete Beispiel der zweidimensionalen Ausdehnung der Farbe oder der
Tatsache, daß die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach
zwischen rot und gelb liegt. Oder man denke an die materialen apriorischen
Sachverhalte über das Wesen des Versprechens, die Reinach herausge-
arbeitet hat, wie daß das Versprechen notwendig ein sozialer Akt und also
„vernehmungsbedürftig“ ist, sodaß ein einsames Versprechen, das niemals
seinen Adressaten erreicht, ein Unding oder jedenfalls wie ein „abgesch-
leuderter Speer, der niemals sein Ziel erreicht“, wäre.643 Man kann aber
auch axiologisch-anthropologische Sachverhalte wie daß der Mensch als
Person eine Würde besitzt ganz unabhängig von seiner Rasse, eine

642
Siehe die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von „formal-material“ in D.
von Hildebrand, What is Philosophy?, übers. F. Wenisch, Was ist Philosophie?, D.
von Hildebrand, Gesammelte Werke Bd. I, Kap. IV, S. 88 f.
643
Siehe Adolf Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts: Die apriorischen Grundla-
gen des bürgerlichen Rechts, S. 37 ff.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 555

Wahrheit, bei deren Anerkennung der Nazihorror und höchst konkrete


historische Ereignisse in vielen Ländern nicht stattgefunden hätten, als
Beispiele für solche zeitlose Wahrheiten wählen.
Gegen eine bloß vermittelnde, nicht konstituierende Rolle der
Geschichte für echte philosophische Erkenntnis mag man einwenden, daß
die Mathematik, Geographie und Naturwissenschaft strenge Wissenschaf-
ten seien, über deren Ergebnisse keine Kontroverse herrsche und innerhalb
derer wissenschaftliche Nachprüfbarkeit bestehe. Mit der Philosophie
verhalte es sich ganz anders. Da in ihr kein Konsens herrsche, könne es in
ihr auch nicht um rationale, nachvollziehbare Erkenntnis gehen.
Auf diesen Einwand, auf den ich an anderer Stelle ausführlich eingegan-
gen bin, kann und muß man im Sinne der Ergebnisse unserer Kritik der
Konsens- und Diskurstheorie der Wahrheit erwidern, daß rationale Evidenz
und prinzipielle Konsensfähigkeit, die allerdings – zumindest im Fall nicht-
privater, sondern allgemein zugänglicher Erkenntnis – von Wissenschaft
impliziert wird, auch dort vorliegen können, wo auf Grund von methodolo-
gischen Problemen, besonderen Anforderungen an Begabung und morali-
schen Voraussetzungen der Erkenntnis tatsächlicher Konsens nicht erzielt
werden kann. Nur von den Sachen selbst her, die der Philosoph durch
vielfältige Gedankengänge, Klärungen und Argumentationen zur Evidenz
bringen soll und nicht einfach behaupten darf, kann es sich erweisen, ob es
in der Philosophie um evidente Erkenntnis der „Sachen selbst“ oder um
irrationale, auch prinzipiell keinem intersubjektiven Konsens und keiner
intersubjektiven Erkenntnis offenstehende Thesen geht.644
Wenn es sich aber auch in Philosophie und Mathematik um völlig
evidente Erkenntnis handelt, so ist damit keineswegs ausgeschlossen, daß
diese Erkenntnis historisch vermittelt werden kann und vermittelt werden
soll. Es gilt dabei angesichts der historischen Vermittlung von Gedanken
scharf zwischen zwei Fällen zu unterscheiden:
Im einen Fall können wir einem Erkenntnisakt oder einer geschichtli-
chen Gestalt oder Entwicklung die Erkenntnis von etwas bloß verdanken,
das nicht selber historisch konstituiert ist: etwa die Entdeckung des
Prinzips vom Widerspruch, der gültigen und ungültigen Formen des

644
Siehe J. Seifert und E. Morscher, „Über die Grundlegung der Ethik: Ein Dialog
zwischen Josef Seifert und Edgar Morscher,“ in: Vom Wahren und Guten:
Festschrift für Balduin Schwarz zum 80. Geburtstag, hrsg. J. Seifert, F. Wenisch
und E. Morscher (Salzburg: Verlag St. Peter, 1982), S. 102-122.

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556 KAPITEL 12

Syllogismus, des Unterschiedes zwischen freiem personalem Sein und


einem determinierten materiellen Ding.
Im anderen Fall kann ein Gegenstand bloß als Gegenstand eines Aktes
oder einer historischen Gedankenrichtung konstituiert und als Objekt
historischen Denkens entworfen sein wie ich dies für das „transzendentale
Ego“ oder die „Selbstkonstitution des Ich“ und „allen erdenklichen Sinnes
und Seins“ an anderer Stelle nachzuweisen suchte.645
Damit werden wir schon auf eine zweite radikal verschiedene Form der
Abhängigkeit eines bestimmten philosophischen Denkens von der
Geschichte geführt.

2. Die Geschichte als Quelle von Irrtümern und Ideologien: Geschichte und
Konstitution von „falschem Bewußtsein“ und bloß vermeintlichem „An
sich“

Die Geschichte hat in hohem Maß an der unerschöpflichen menschli-


chen Fähigkeit teil, Gegenstände zu erfinden oder zu konstituieren, die
zwar ein Sein beanspruchen, das außer unseren historischen Denk- und
Bewußtseinsakten zu bestehen prätendiert, aber nicht tatsächlich besteht.
Unermeßlich ist die vielfältige Weise, in der einzelne Menschen und
ganze Kulturen sich eine bloß scheinbar an sich bestehende Welt, die in
Wirklichkeit „bloß eine Fabel war“, zurechtgedichtet haben. Und in der
Konstitutierung falscher Weltsichten haben zweifellos die idola historiae,
die eine Abart der von F. Bacon beschriebenen idola tribus sind, eine
gewichtige Rolle inne.
Wenn Philosophen auf Grund historischer Einflüsse vermeintlich an
sich jenseits des Bewußtseins bestehende Dinge ansetzen, die nicht
wirklich bestehen, so stellt diese historische Abhängigkeit im Gegensatz
zur ersten ein ausgesprochenes Übel dar. Denn es geht dann notwendig um
falsche Werte oder Götter, da wahre ja nicht historisch konstituiert sein
können, und es ist einsichtigerweise unwertig, falsche Wertmaßstäbe
anzunehmen oder falsche Götter anzubeten.

645
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenological Foundation
for Classical Realism wo dieser Unterschied und damit die Möglichkeit einer
Erkenntnis der Dinge an sich eingehend erörtert und begründet wird.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 557

Die Macht öffentlicher Meinung und historisch-interpersonaler Ideen ist


gewaltig und tritt oft als Produzentin von Irrtümern auf. Zu bestimmten
Zeiten und auf Grund des wechselseitigen historisch-soziologischen
Einflußes von Ideen stellen sich die Menschen bestimmte Hexen, Götter,
schematisierte „Klassenkämpfe“, und zahllose andere Gegenstände von
Irrtümern und ideologischen Weltsichten vor, von denen sie zwar
vermeinen, sie hätten eine überhistorische Gültigkeit, die aber in der Tat
keine Wirklichkeit besitzen als die, Objekt ihres historischen Bewußtseins
zu sein.
Wie mächtig die idola historiae sind, kann man daraus erkennen, daß
offensichtlich und total verkehrte Wertmaßstäbe, wie der Rassismus des
Dritten Reichs sie einführte, seinerzeit ganze hochzivilisierte Länder voller
intelligenter Menschen beherrschten, während heute nur noch wenige
Verbrecher oder Wahnsinnige an ihnen festhalten.
Der reine Einfluß historisch-soziologischer Ideen als solcher und vor
allem der durch durch irrige historisch-soziologisch einflußreiche Ideen
konstituierten Objekte ist groß, aber stets illegitim. Denn in jedem Falle
eines solchen Einflusses, kraft dessen das Objekt historischen Bewußtseins
eine Wirklichkeit beansprucht, die ihm als Konstitutum historischer Akte
nicht zukommt, geht es um Illusion, Irrtum und dergleichen. Denn
Wahrheit, und insbesondere Wahrheit über übergeschichtliche Wirklich-
keit, ist immer transgeschichtlich und niemals – wenigstens was ihre
Verankerung im Sein betrifft – durch historisches Bewußtsein konstituiert.
Auch die von Nietzsche entdeckte und von Max Scheler tiefer und
kritischer durchdachte Rolle der Ressentiments in der Schaffung falscher
Werte und moralischer Systeme entfaltet seine Blindheit für Werte und
Pseudowerte hervorbringende fatale Kraft oft nicht nur im Privatleben,
sondern auch in der Geschichte, wie in der Zeit des Nationalsozialismus.646
Es wird deshalb aber wohl kein Leser behaupten, die nationalsozialis-
tische Idee, daß Juden Untermenschen seien, die vergast werden dürften,
habe eine Wahrheit ausgesprochen, die auch unabhängig von diesem
historischen Urteil den Sachen selbst entsprochen hätte.

646
Vgl. Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: M. Scheler,
Vom Umsturz der Werte (Bern-München: Francke-Verlag, 1955); vgl. auch
Siegfried Johannes Hamburger, „Max Scheler’s Ressentiment im Aufbau der
Moralen (1941-1943)“, Aletheia VI (1992-1993).

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558 KAPITEL 12

Ebensowenig wird heute jemand im Ernst behaupten, das nach der


Hitlerzeit allgemein akzeptierte Urteil, die Juden seien Nichtjuden an
Menschenwürde gleich, sei bloß ein Produkt der heutigen historischen
Situation und sei deshalb jederzeit historisch überholbar.647
Es gibt aber zahllose andere Sachverhalte, die der Philosoph erforscht,
von den rein logisch-grammatischen, arithmetischen und geometrischen
Gesetzen, von den Gesetzen der Logik und Ontologie bis hin zu subtilen
Fragen der Ethik oder Philosophie der Ästhetik und Liebe, die ebensowe-
nig bloße konstituierte Produkte historischen Daseins und Bewußtseins
sind, sondern schlicht der Wirklichkeit entsprechen.

3. Die Rolle der Geschichte in der Konstituierung von Noemata, Mythen


und Märchen, die kein „An sich“ beanspruchen

Selbstverständlich ist die historische Fabelkunst keineswegs auf solche


Noemata beschränkt, die zwar bloß als Gegenstand der Geschichte existie-
ren, aber dennoch Seinsautonomie gegenüber menschlichem Bewußtsein
beanspruchen, also ein bloß vermeintliches An sich darstellen.
Vielmehr gibt es viele Märchen, Symbole und Mythen im buchstäbli-
chen Sinn, die als solche historische Quellen haben, aber bei denen es
unsinnig wäre anzunehmen, es handle sich hier um historische Relativität,
daß etwa der Grimm’sche Märchenschatz mit all seinen Königinnen,
Rotkäppchen und Prinzen zu einer ganz anderen Kultur als die
Erzählungen von 1001 Nacht gehört, widerspricht keineswegs einem
Anspruch, übergeschichtlich an sich zu bestehen, da ein solcher Anspruch
gar nicht besteht.
Selbstverständlich ist dabei nicht ausgeschlossen, daß der Mythos oder
auch das Märchen und die Fabel – man denke an Platons Höhlengleichnis –
symbolisch oder dichterisch Wahrheit zum Ausdruck bringen, die durchaus
Anspruch auf An sich Sein ihres Gegenstandes in sich birgt. Auch kann
ein Mythos oder auch ein Märchen – in diesem tieferen Sinn seines

647
Mit Recht hebt R. Lauth die schlechthinnige historische Unaufhebbarkeit der
Wahrheit solcher Urteile in seiner glänzenden Schrift Die absolute Ungeschicht-
lichkeit der Wahrheit (Stuttgart, 1966) hervor, auch wenn wir seiner Fichteschen
Begründung dieser These keineswegs folgen können.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 559

symbolischen Gehaltes oder auch in anderen rein ästhetisch-künstlerischen


Bedeutungen des Wortes – wahr oder falsch sein.648
Hier begegnen wir übrigens auch einem weiteren Sachverhalt,
hinsichtlich dessen der Relativismus übergeschichtliche Wahrheit voraus-
setzt. Er setzt nämlich das wirkliche Bestehen eines Anspruchs philosophi-
scher und anderer Urteile auf ein An sich Sein ihrer Gegenstände bzw. der
in ihnen behaupteten Sachverhalte voraus. Nur die Leugnung der Gerecht-
fertigtheit eines derartigen wirklich bestehenden Anspruchs auf Objektivi-
tät kann ja als Relativierung angesehen werden.
So hätte es keinen Sinn, wenn ein Vater seinen Kindern ein
Einhornmärchen erzählt, zu sagen, dieses Märchen bzw. die in ihm
vorkommenden Drachen und Könige seien „relativ auf seine Familie“, da
ja die in Märchen erscheinenden Gestalten keinen Anspruch machen, an
sich zu sein und also außerhalb ihrer Konstitution im Märchen zu
bestehen.649
Da dieser Sinn von historischer Abhängigkeit von Bewußtseinsobjekten
für uns keine weitere Bedeutung besitzt, weil solche konstituierte
Gegenstände, die keinerlei Anspruch auf Nichtkonstituiertheit und An sich

648
Wir sehen hier von weiteren Unterscheidungen wie der von Johann Jacob Bacho-
fen gemachten zwischen Symbol und Mythos ab. Bachofen, darin anderen
Autoren seiner Zeit folgend, schreibt dem Symbol den Charakter des Einfachen zu
und meint, es gehe von Gott aus, der Mythos hingegen sei als menschengedichtete
Geschichte und durch seine Bestimmung der Deutung der Symbole, sowie durch
den dadurch bedingten kompositorisch komplexen Charakter unterschieden.
Neben J.J. Bachofen’s 1867 erschienenen Hauptwerk Mutterrecht ist dabei das
1959 erschienene Buch Gräbersymbolik wichtig.
649
Außer diesem Grund für die Nichtrelativität der Märchenwelt gibt es zumindest
noch einen anderen. Andere Menschen können an diesem Märchen teilhaben und
in diesem Sinne ist die Welt des literarischen (Kunst-)Werks und der in ihm
dargestellten Gegenstände und Personen – denen Roman Ingarden die heteronome
Existenzform der abgeleiteten rein intentionalen Gegenständlichkeiten zuweist –
intersubjektiv zugänglich. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk;
ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (Tübingen: Niemeyer, 1968).
All dies hindert freilich nicht, daß die von bewußten Akten und von
intersubjektiv zugänglichen Wortbedeutungen konstituierten Gegenstände eines
Märchens kein Sein an sich besitzen und in diesem Sinne „relativ“, „seinshetero-
nom“ und vom Märchen und seiner objektivierten Intentionalität total abhängig
sind.

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560 KAPITEL 12

Sein erheben, innerhalb der Philosopie kaum einen Platz haben,650 können
wir von einer weiteren Erörterung dieser Art von historischer Bewußtseins-
abhängigkeit absehen, mußten diese Bedeutung von historischer Abhängig-
keit von Gegenständen des Bewußtseins jedoch zur Abgrenzung einführen.

4. Die Geschichte als Grenze und Ermöglichung der Philosophie:


Historische Modifikationen von Sprache, Terminologien und Kulturen,
die ein An-sich-Sein weder beanspruchen noch auflösen

Neben diesen drei Rollen der Geschichte (als Bedingung und Vermitt-
lerin von Erkenntnis, als Konstitution von vermeintlichem An sich und als
Ursprung von Fabeln, Mythen, Parabeln, usf.) gibt es eine ganz andere Art
historischer Abhängigkeit, die in besonderer Weise die Philosophie betrifft.
Es geht um die Rolle der Geschichte beim Entstehen von konkreten
Sprachen, um den jeweiligen Wortreichtum derselben, um die Entwicklung
besonderer wissenschaftlicher und philosophischer Terminologien und um
Bedeutungsbesonderungen, die in ihnen sprachlich ausgedrückt werden
können, um grammatische Strukturen und viele andere Faktoren, die
jeweils historisch entwickelt und modifiziert werden.
Zwar gibt es, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen gezeigt hat,
eine „rein logische Grammatik“, und damit grammatische und sprachliche
Strukturen, die apriorisch-wesensnotwendige Gültigkeit besitzen und
deshalb allen Sprachen gemeinsam sind, wie sie auch Chomsky und andere
platonisierende Sprachwissenschaftler und Semiotiker sowie Semantiker
heute in zunehmendem Masse anerkennen.
Doch zugleich gibt es zweifellos jene historischen Besonderungen
semiotischer und semantischer Sprachelemente, die den einzelnen
Sprachen eigentümlich sind und die es etwa erlauben, in einer bestimmten
Sprache anders oder besser philosophieren zu können als in anderen.
In diesem Sinne besteht zweifellos ein Vorteil darin, nicht in einer
indianischen Sprache, wie einem der Apatschen- oder Komantschen-

650
Es sei denn, man denke an die philosophischen Aussagen der von Platon und
anderen Philosophen verwendeten Mythen, die dann aber nicht als reine Dicht-
werke, sondern als dichterischer Ausdruck philosophischer Thesen zur Philoso-
phie selbst gehören.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 561

dialekte, philosophieren oder Naturwissenschaft treiben zu müsssen,


sondern den Reichtum sprachlich ausdrückbarer Modifizierungen zur
Verfügung zu haben, den etwa die englische, italienische, spanische,
deutsche oder französische Sprache, oder auch zahlreiche andere Sprachen
und Fachsprachen bieten, deren Modifizierungen der – als solche
ebensowenig wie die „materia prima“ bestehenden – „Sprache an sich“
jeweils eigene Vor- und Nachteile implizieren.
Selbstverständlich können die sprachlichen und insbesondere die von
Fachterminologien geprägten Ausdrücke auch eine Rolle bei der Konsti-
tuierung von scheinbaren „An sich“ spielen, die sich aus Verführungen der
Sprache ergeben und eine der hauptsächlichen Gefahren und Irrtums-
quellen darstellen, sowie z.B. dazu führen, Unterscheidungen dort zu
machen, wo keine Unterschiede bestehen oder Hypostasierungen zu
vollziehen, die von den Sachen selbst her nicht zu rechtfertigen sind.
Sprache in diesem Sinne impliziert jeweils auch eine Grenze des in ihr
Aussagbaren und stellt eine historische Modifikation dar, die zwar als
solche keineswegs zu Irrtum führt, aber immerhin eine negative Schranke
des Philosophierens bedeutet.
Allerdings gibt es zugleich auch eine positive Rolle der erwähnten
historischen Modifikationen von Sprache und dem in der jeweiligen
Sprache Aussagbaren. Diese besteht darin, daß die individuelle Sprache
durch den ihr selbst eigenen Reichtum auch auf gewissen Gebieten durch
vorgegebene linguistische Regeln der Grammatik und Tiefengrammatik,
sowie durch ihre jeweilige semantische Subtilität differenzierteres und
sachgemässeres Denken ermöglicht als es jemand vollziehen könnte, der
sich nicht in der bestimmten Sprache ausdrückt.
In dieser Hinsicht spielt die Modifikation der Sprache auch eine
wichtige Rolle im Rahmen der ersten Rolle der Geschichte für die
Philosophie: der Ermöglichung des Denkens zeitlos gültiger Wahrheiten
und Zusammenhänge.
Diese Modifikation der Philosophie durch Geschichte bzw. durch in ihr
gewachsene Gegebenheiten bezieht sich nicht ausschließlich auf die
Sprache, sondern auch auf viele andere Aspekte der Kultur, etwa die
Selektion der Quellen und Autoren, die zu einer Zeit zur Verfügung stehen
oder nahegebracht werden und in deren Terminologien die Denker einer
Zeit denken. Wenn es um philosophische Terminologien geht, so
entwickeln sich diese ja nicht in jenen langfristigen Zeiträumen, in denen

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562 KAPITEL 12

etwa Lautverschiebungen und allgemeine Sprachentwicklungen stattfinden,


sondern oft auf einen Schlag, durch einen ganz bestimmten Autor. Daher
hängt es oft von so zufälligen historischen Umständen wie Übersetzungen
ab, ob ein bestimmtes Denken und Werk und die durch es verfügbaren
begrifflichen Apparate einem gegebenen Denker zur Verfügung stehen
oder nicht. Man denke an die immense Wirkung der lateinischen
Aristoteles-Übersetzungen Moerbekes auf die Scholastik, insbesondere auf
das Denken Thomas von Aquins.
Diese Rolle der Geschichte bedeutet ebensowenig wie die vorherigen
die mindeste „Historizität der Wahrheit“ selbst.

5. Die Geschichte als Quelle bestimmter Interessen, Fragen und Probleme

Wieder ein ganz anderer Einfluß der Geschichte betrifft das Aufwerfen
bestimmter Interessen, Fragen oder Probleme. Der Mensch und insbeson-
dere der Philosoph ist ja als zoon politikon nicht ein Wesen, das einen
luftleeren isolierten Raum bewohnt, sondern er steht in lebendigem
Kontakt mit der Welt, in der er lebt.
So sehen wir uns heute globalen Problemen der Umweltverseuchung
gegenübergestellt, die der mittelalterliche Mensch nicht kannte. Wissen-
schaftliche Entdeckungen wie die der Genetik, Vererbung, der Rolle des
Gehirns, aber auch mögliche Transplantationen oder genetische Eingriffe,
Genomanalysen usf. eröffnen der Technik und Manipulation des Menschen
völlig neue Möglichkeiten und werfen neue Probleme für den Philosophen
auf. Dadurch wird der Erfahrungshorizont, von dem ein Philosoph
ausgehen und über dessen Gegenstände er philosophieren kann, ungeheuer
erweitert. Es werden ihm etwa ganz neue Probleme der Leib-Seele-
Beziehung oder Ethik gestellt, die er durch neues Nachdenken über die
Dinge im Lichte solcher empirischer Befunde oder neuer Erfahrungs-
horizonte anzugehen hat. Neue Interessen stehen im Vordergrund. Man
denke an das im Spätmittelalter und der Renaissance neu erwachende
Interesse am Individuum oder an das im 19. Jahrhundert erwachende neue
Interesse an der Geschichte.
Für all dies ist gewiß die Geschichte zumindest partiell verantwortlich,
für all dies ist geschichtliches Leben und sind historische Entwicklungen
gewiß maßgeblich. Doch hindert nichts, daß die durch diese neuen

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 563

Interessen und Probleme vielleicht erstmals entdeckten Zusammenhänge


selber auch ewig gültige Wahrheiten, Wesenheiten und Wesensgesetze –
etwa über menschliches Leben, Ethik und Bioethik – sein können.
Vielleicht muß man sich an dieser Stelle von dem Vorurteil freimachen,
die zeitlose Gültigkeit von Gesetzen, die zu allen Zeiten bestehen, mit dem
Alten oder schon Bekannten zu verwechseln. Denn da jedes Ding an
notwendigen und zeitlosen Wesensgesetzen teilhaben muß, enthüllt jede
neue historische Entwicklung auch neue – d.h. noch nie vorher bedachte –
Wesensgesetze und erlaubt, schon bekannte in neuem Licht und in neuer
Anwendung zu sehen.
Gewiß ist es angesichts der wandelbaren Aspekte und Probleme der
Geschichte notwendig, nicht zusehr in Zeitproblemen zu ersticken, immer
aufs neue durchzustoßen zu den großen klassischen Problemen der
Philosophie und sich auch gegenüber Problemen zu öffnen, die vielleicht
ganz anderen Kulturkreisen angehören.651
Immerhin ist es an sich durchaus legitim, ja erforderlich, als Philosoph
gerade auch zu den brennenden und philosophischen Fragen der eigenen
Zeit Stellung zu nehmen, zu jenen Fragen, die die eigene im Unterschied
zu anderen Epochen aufwirft.
Mit diesem Aufwerfen neuer Probleme durch historische Entwicklungen
hängt eine weitere Rolle der Geschichte für Philosophie eng zusammen.

6. Geschichte als Quelle von Erfahrung und Erfahrungsdaten

Die Geschichte spielt noch eine weitere Rolle für die Philosophie.
Geschichte ist auch selbst eine Urgegebenheit und liefert uns zugleich
zahlreiche neue Erfahrungsdaten, über die philosophiert werden muß.
Kunstwerke werden in ihr geschaffen, die viele psychologische
Probleme aufdecken, wie die Romane Dostojewskis. Neue Kunstarten
werden hervorgebracht, die nach einer eigenen ästhetischen Analyse
verlangen. Neue wissenschaftliche Forschungen werden durchgeführt, neue

651
Vgl. dazu etwa die von I. Quiles mit so vielem Erfolg durchgeführten Dialoge mit
dem japanischen und chinesischen, hinduistischen und buddhistischen Denken und
die von ihm hervorgehobenen authentischen Erkenntnisse in demselben. Siehe
Ismael Quiles, Filosofia budista (Buenos Aires, Ed Troquel, 1973); ders., Qué es
el Yoga? (Buenos Aires: Ed. Depalma, 1987).

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564 KAPITEL 12

Methoden medizinischer und genetischer Eingriffe entwickeln sich in der


Geschichte.
Ein besonderer Fall dieser Rolle der Geschichte liegt dort vor, wo
gerade der Angriff auf etwas oder die Entwürdigung eines Gutes, oder auch
die Verdunkelung einer Wahrheit die philosophische Reflexion durch eine
solche negative Erfahrung erweckt – im Sinne des berühmten Hegel-
Wortes von der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung fliegt.652
Dieser offenkundig bestehende Einfluß der Geschichte muß radikal von
den vorhergehenden und erst recht von einer angeblichen „historischen
Realativität“ oder „Geschichtlichkeit der Wahrheit selbst“ unterschieden
werden.
Vielleicht besteht die elementarste Form dieses Einflusses der
Geschichte auf Philosophie und Wahrheitsfindung überhaupt darin, daß die
Geschichte selbst eine Gegebenheit darstellt, die philosophischer Aufklä-
rung harrt. In diesem Sinne erweitert die Geschichte in der unmittelbarsten
Weise unseren Erfahrungshorizont und stellt der Philosophie neue
Probleme, da die Gegebenheit der Geschichte selber nach philosophischer
Erkenntnis verlangt, einer Erkenntnis allerdings, die bei idealer Verwirkli-
chung in zeitlose Wahrheiten über das Wesen der Geschichte, des
sogenannten hermeneutischen Zirkels im Verstehen von Ganzem und
Teilen und viele andere Wesensgesetze eindringt.

7. Geschichte als Ursprung gewisser Aspekte und komplementärer


Ausschnitte aus der Gesamtwirklichkeit

Eine andere Dimension der Rolle der Geschichte und der Geschichtlich-
keit des Philosophierens folgt aus den eben genannten (4-6) ebensowohl
wie aus der metaphysischen Tatsache der Endlichkeit menschlichen
Erkennens. Denn so objektiv und daher absolut wahr auch ein Urteil, wie
652
Einleitung zur Rechtsphilosophie: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein
soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät.
Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit
ihren Bildungs-Prozeß vollendet und sich fertig gemacht hat... Mit Grau in Grau
läßt sie (eine Gestalt des Lebens) sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die
Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Werkausg. 7, 27/8).

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 565

daß der Mensch frei und verantwortlich und nicht kausal historisch
determiniert sei, ist und sosehr es deshalb Teil der allumfassenden
Wirklichkeit und Wahrheit und in dieser enthalten ist, so ist es doch
andererseits ein in unendlich vielen Richtungen ergänzungsfähiges,
differenzierungsbedürftiges und von möglichen Mißverständnissen zu
befreiendes Urteil.
Wegen der potentiellen Unendlichkeit der Erkenntnis und des Seins und
der Begrenztheit jeden menschlichen Wissens ist es natürlich, daß in einem
bestimmten Lebensabschnitt und von einem bestimmten Menschen nur ein
kleiner Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit erkannt wird. Der eine wird
Handwerker und versteht vieles über den Bau von Häusern, wovon ein
Philosophieprofessor keine Ahnung hat. Ein anderer versteht mehr von
Politik, wieder ein anderer von Mathematik usf.
Diese Partialität und Unvollständigkeit menschlichen Erkennens ist Teil
von dessen Wesen, und seine konkrete Gestalt hängt von vielen bega-
bungsmäßigen, charakterologischen und lebensgeschichtlichen Faktoren
individueller Art ab.
Jedoch ist es ebenso klar, daß es neben diesen und anderen individuellen
oder sozialen Faktoren die Geschichte ist, und zwar nicht eine abstrakte
Gegenwart, sondern die konkrete historische Gestalt, in der sich etwa die
Philosophie und Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit in einem
bestimmten Land befindet, von der es mit abhängt, mit welchen Dingen
sich ein Mensch besonders beschäftigt und welche Teile der grundsätzlich
möglichen Erkenntnis er erwirbt.
Damit ist freilich nicht eine gewisse von Schleiermacher und der
hermeneutischen Philosophie hervorgehobene und schon in der Antike
erkannte Dialektik von Ganzem und Teilen geleugnet, kraft deren auf jeden
Teil durch alle anderen sowie durch das Ganze neues Licht geworfen wird.
Doch während diese Dialektik beweist, daß der Teil nur im Licht des
Ganzen vollkommen verstanden werden kann, beweist sie keineswegs die
Vorläufigkeit, Relativität oder gar den bloßen Vorurteilscharakter
irgendeiner gültigen Einzelerkenntnis, die durch weitere Erkenntnisse zwar
differenziert und ergänzt, niemals jedoch im Sinne des Ungültigwerdens
oder Unwahrwerdens aufgehoben werden kann. Dies wäre nur bei
Irrtümern möglich, niemals bei gültigen Erkenntnissen, die im Ganzen der
Wahrheit voll bewahrt bleiben.

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566 KAPITEL 12

Allerdings ist es dem Menschen auf Grund der Unvollständigkeit seines


Erkennens notwendig, sich derjenigen Urteile zu enthalten, die willkürlich
oder in falschen Verallgemeinerungen über das Erkannte hinausgehen oder
sich dem Ganzen gegenüber zu verschliessen. Sonst folgen in der Tat
Engen und sogar Irrtümer aus borniert festgehaltenen Teilerkenntnissen,
auf Grund deren Menschen sich der Gesamtwirklichkeit gegenüber
verschliessen oder sogar Falsches behaupten, was einem allerkennenden
Wesen unmöglich wäre und die Unvollständigkeit des Erkennens voraus-
setzt.
An sich ist jedoch ein solcher Ausschnitt unvollständiger Erkenntnis,
etwa daß der Mensch frei ist, sich selbst besitzt und beherrscht und weder
von weltlichen noch von transzendenten Faktoren in seinem Handeln
inhaltlich determiniert ist, keineswegs gleichbedeutend mit Irrtum. Nur
wenn er verabsolutiert wird und deshalb zur Leugnung anderer Erkennt-
nisse führt, kann ein solcher partialer Blickpunkt auf die Gesamtwirklich-
keit in Irrtum enden.
Allerdings werden wir im Lauf der weiteren Ausführungen sehen, daß
die Unaufhebbarkeit von Einzelerkenntnissen durch Erkenntnis des Ganzen
nur unter einer oder sogar zwei – allerdings evidenten und mit dem
Gesagten mitgegebenen – Voraussetzungen besteht, die wir an dieser Stelle
noch nicht entwickeln.

8. Geschichte als Herausforderung an den Philosophen und an alle, die sich


um Wahrheitserkenntnis bemühen: Geschichte als Grund eines
bestimmten Dialogs

Damit rühren wir an eine weitere Bedeutung der Geschichte für die
Philosophie und der Philosophie für das Begreifen der Geschichte. Die
Philosophie und andere Wissenschaften und Forschungszweige haben eine
Aufgabe in der Geschichte, insoferne sie von der historischen Situation
Erfahrungen, Probleme, aber auch bestimmte Irrtümer, die das soziale-
historische Klima einer Zeit bestimmen, empfangen und zugleich kritisch
zu erforschen haben.
So ist die jeweilige historische Epoche eine Herausforderung an die
Philosophie. Kant sah sich bewogen, auf die beherrschenden philoso-
phischen Strömungen seiner Zeit, den Rationalismus und Empirismus zu

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 567

antworten. Er konnte nicht an so bedeutenden Strömungen seiner Zeit


vorbeiphilosophieren und sich etwa nur an Aristoteles halten. Nachdem
Wittgenstein oder Kant als bestimmend auftraten, bestand die Notwendig-
keit einer Auseinandersetzung mit ihnen für jede Ontologie oder
realistische Philosophie. Dasselbe gilt für das Auftreten des Materialismus,
der Skepsis, bestimmter Ideologien usf. Sie alle stellen an den in einer Zeit
lebenden Philosophen die Aufgabe, sich nicht rein abstrakt und
unhistorisch mit philosophischen Fragen von ewigem Interesse zu
befassen, sondern konkret auf jene Fragen und Probleme einzugehen, die
zu seiner Zeit bestehen.
Dies findet sich schließlich auch in jeder Konversation statt, daß wir auf
die jeweiligen Probleme unseres Gesprächspartners, auf seine Fragen, auf
seine terminologischen Unterscheidungen, Probleme usf. eingehen sollen.
Doch darf diese Tatsache nicht damit verwechselt werden, daß der
Philosoph etwa bloß – wie Hegel annahm – Sprachrohr eines Zeitgeistes
sein oder gar nur in sich wandelbare Strukturen des Lebens des Weltgeistes
ausdrücken müsse.653
Ganz im Gegenteil, das Wesen der Wirklichkeit selbst, um das es der
Philosophie geht, – ja sogar das Wesen von Zeit und Geschichte – bleibt
dasselbe und die ewigen Wesensgesetze, an denen jedes konkrete und
historische Etwas teilhat und durch die es inhaltlich – innerhalb des
Rahmens seiner Natur – bestimmt ist, bleiben dieselben. So darf sich der
Philosoph, wie der platonische Sokrates im Gorgias bemerkt, nicht nach
dem Wind richten, wie Machiavelli dies dem Prinzen empfiehlt,654 sondern
sollte die eine und zu allen Zeiten gültige Wahrheit, die immer dasselbe
sagt, in einer je den historischen Fragen angemessenen Weise anwenden
und in diesem Sinne aus dem unvergänglichen Schatz der Wahrheit stets
Altes und Neues, das sich erst in der Konfrontation mit neuen Problemen
und Fragestellungen, Irrtümern und Entdeckungen, enthüllt, hervorholen.

653
Siehe G.F.W. Hegel, Philosophie der Geschichte, cit., S. 75-76.
654
Siehe Machiavelli, Der Prinz, Kap. xviii.

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568 KAPITEL 12

III. VIER WURZELN DES HISTORISMUS

1. Der Historismus als Erzeugnis seiner selbst Konstitution des Historismus


durch die Meinung, eine total neue Philosophie sei die einzig wahre: der
Historismus selber

Eine bedeutsame Quelle des Historismus und der Meinung, alle philoso-
phischen Syteme seien von der Geschichte erzeugt, liegt in Philosophien,
die einen radikalen Neuheitsanspruch erheben. Dies gilt insbesondere für
den Historismus selber.
Denn wenn man sein eigenes System für eine völlig neue Philosophie
hält und damit vielleicht sogar – unwahrscheinlicherweise – recht hat, und
dann fälschlicherweise die Wahrheit einer solchen radikal neuen Philoso-
phie ansetzt, kann man leicht den Eindruck bekommen, daß es keine
Kontinuität und Selbigkeit der Wirklichkeit und Wahrheit zu allen Zeiten
gibt, sondern einen radikalen, an die Wurzeln der Dinge und Erkenntnis
selbst gehenden Wandel. Heidegger ging aus diesen Gründen so weit,
einen Wandel der Wahrheit selber anzunehmen.
Wenn man hingegen einer klassischen realistischen Philosophie, etwa
dem Thomismus oder phänomenologischen Realismus, anhängt und die
ungezählten historischen Vorläufer und Gestalten der im Grunde gleich-
bleibenden einen und umfassenden Philosophie (philosophia perennis)
sowie auch die immer wiederkehrenen Gestalten philosophischer Grund-
irrtümer bemerkt, wird man weder an einen radikalen Wandel der
Philosophie noch auch an die inhaltliche Geschichtlichkeit philosophischer
Erkenntnisse glauben, sondern vielmehr frei sein, neben den historischen
auch die zeitlosen inhaltlichen Dimensionen der Philosophie, die diese
besitzt, insoferne sie an der zeitlosen Wahrheit teilhat, anzuerkennen.
So wird man etwa in der skotistischen Philosophie des Guten mehr
wahre Erkenntnisse finden als in zahllosen Formen des Wertsubjektivismus
oder kantischen Wertidealismus der letzten Jahrhunderte, oder in Platons
und Aristoteles’ Einsichten in unwandelbare Wesenheiten mehr Wahrheit
erblicken als im französischen strukturalistischen Nihilismus mancher
Denker der eigenen Zeit. Wenn man viele, ja ungezählte Erkenntnisse ewig
gültiger Wahrheit über Seele, Geist, Verantwortung, Moral, das Gute,

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 569

Sprache, Naturrecht, Gerechtigkeit, Gott usf. in klassischen Philosophen


wie Platon findet – und einem daher die Lektüre Platons mehr bedeutet als
die ganzer Bibliotheken von Werken Heideggers, Wittgensteins und
anderer Zeitgenossen –, so wird man kaum versucht sein zu behaupten, es
gäbe keine überhistorischen Inhalte philosophischer Erkenntnis.
So sehen wir, wie der historische Relativismus und die Hermeneutik,
mit ihrem Neuheitsanspruch, sich selbst gebären. Der Historismus, der
philosophisch neutral zu sein und auf einer vorurteilslosen Betrachtung der
Geschichtlichkeit allen Denkens zu beruhen scheint, entpuppt sich so als
Konsequenz einer philosophischen Vorentscheidung für eine historisch
gesehen ganz neue, in den letzten hundertzwanzig Jahren entstandene
Philosophie. Deren wirkliche oder vermeintliche Neuheit wird zu einem
Hauptmotiv für seine Annahme.655

2. Der Skandal der Widersprüche in der Geschichte der Philosophie:


Von Pyrrho bis zur Hermeneutik

Von der pyrrhonischen Skepsis bis zur Gegenwart ist ein hauptsäch-
licher Grund für den Historismus und Skeptizismus wohl das Phänomen,
das Kant in einem Brief an Garve als den „Skandal der Vernunft“ und als
Hauptmotiv für die Kritik der reinen Vernunft bezeichnete und das wohl

655
Wie alle derartige Versuche einer Beschreibung der Entwicklung und Motive einer
Philosophie handelt es sich auch hier um Schematisierungen und der historischen
Interpretation eigene Abstraktionen, die es durchaus möglich erscheinen lassen,
daß einzelne Denker der hermeneutischen Philosophie, etwa Gadamer, der mit
seinen vielen und hervorragenden Arbeiten über Platon und Aristoteles ein
außerordentliches Verständnis für und Einverständnis mit der klassischen
Philosophie beweist, nicht dieselben Motive hatten.
Paradoxerweise wirkt die gegenüber Dilthey und Droysen radikalisierte
hermeneutische Version des Historismus in Gadamer, obwohl er deren Mitbe-
gründer ist, als Fremdkörper angesichts seiner klassisch-platonischen Geistesrich-
tung. So müsste es etwa von seinen Voraussetzungen her folgen, daß wir
Kunstwerke immer vom neuesten eigenen und je subjektiven Interpretations-
horizont und den eigenen Vorurteilen aus interpretieren sollten, aber Gadamer
führt in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele beeindruckend aus,
daß Mozarts und andere Werke nicht von willkürlichen und fremden Gesichts-
punkten, sondern von der morphe (Gestalt) der Werke selbst aus interpretiert
werden müssten.

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570 KAPITEL 12

den primären Beweggrund für Hegels System darstellt: nämlich einerseits


radikale Widersprüche, in die sich angeblich (nach Kant und Hegel) die
menschliche Vernunft selbst verwickelt,656 andererseits die grundlegenden
Gegensätze zwischen den großen philosophischen Positionen der
Vergangenheit und Gegenwart, in deren Licht es schlechthin vermessen
und arrogant erscheint zu meinen, die eigene philosophische Position
könne objektiv wahr sein oder auch nur in vielen Urteilen objektive
Wahrheit darüber, wie die Dinge selbst sich verhalten, erreichen.
Da es keinen Teil der eigenen Position gibt, dem nicht von anderen
Denkern widersprochen wurde, scheint es schlechthin untragbar, eine
inhaltliche philosophische Position mit objektivem Wahrheitsanspruch zu
vertreten. Dies erscheint als schierer Dogmatismus. Deshalb sind einige
Philosophen zu historischen Relativisten oder Skeptikern geworden, andere
nehmen mit Hegel an, die Wahrheit sei „das Ganze“ und schliesse das
Leben und die Dialektik all der entgegengesetzten Philosophien als
Momente in sich. Insbesondere die Hegel’sche, alle Philosophien aufneh-
mende Position erscheint dann als Ausdruck philosophischer Weite.
Gewiß ist an Hegels Auffassung der Wahrheit und an seiner Interpreta-
tion der Geschichte der Philosophie dies richtig, daß das Ganze der
Wahrheit die gültigen Erkenntnisse aller Philosophen in sich enthalten
muß. Gewiß ist ferner der Dogmatismus zu vermeiden, der unkritisch oder
in partieller Verabsolutierung des Unvollständigen verharrt.
Doch diese echten Einsichten Hegels bedeuten nicht, daß das ganze und
widersprüchliche „Leben“ bzw. das Ganze der objektiven und einander
kontradiktorisch entgegengesetzten Gedanken philosophischer Systeme
„die Wahrheit“ sei. Noch viel weniger bedeutet die echte Weite angesichts
der Vielfalt philosophischer Gedanken, daß wir Skeptiker und historische
Relativisten zu werden brauchten.
Denn es gibt ja eine ganz andere Lösung der Schwierigkeit als die
Hegel’sche oder die relativistische. Es können ja an der einen umfassenden

656
Die spezifischen Probleme der angeblichen Antinomien, die Kant und moderne
Philosophen in verschiedenen Formen behaupten, werden im folgenden nicht
behandelt. Ich verweise dazu auf meine Arbeiten; Überwindung des Skandals der
reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; „Das
Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der
reinen Vernunft“.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 571

Wahrheit alle Philosophen teilhaben, aber nicht in allen Gedanken, sondern


nur in den wahren, von denen keiner einem andern wahren Urteil
widersprechen kann. Gegen diese eine universale Wahrheit, die sich jedem
Geist in gewissem Maß enthüllt, sei es auch teilweise nur in seinen
Voraussetzungen, nicht in seinen ausdrücklichen Lehren, kämpfen aber
auch viele Philosophen und verfälschen sie. Ja dies gilt in gewissem Maß
für jeden Philosophen, daß er – wenngleich oft in bester subjektiver
Intention – die Wirklichkeit entstellt, wenn immer er irrt.657
Mit diesem Problem leben wir alle. Und es kann auch keine Hegel’sche
Identifizierung des gesamten philosophiehistorischen und historischen
Prozesses mit „der Wahrheit“ die richtige Antwort auf diese Situation
bieten, da viele dieser Philosophien untereinander widersprüchlich sind,
was unmöglich von der wesenhaft widerspruchsfreien Wahrheit und
Philosophie an und für sich ausgesagt werden darf. Außerdem ist ja
Hegel’s eigene Philosophie (die übrigens ebensosehr nur eine bestimmte
Meinung und insoferne eine „partiale“ Philosophie ist wie alle übrigen),
der alle vorhergehenden implizit widersprechen, nicht identisch mit allen
Philosophien, sondern eine ganz bestimmte. In dieser Richtung kann also
niemals die gesuchte „ganze Wahrheit“ liegen. Der Anspruch, diese in
absolutem Wissen zu kennen oder gar die eigene Philosophie zum letzten
Schritt in der Bewußtwerdung Gottes erklären und für ein Selbstgespräch
des absoluten Geistes mit sich selbst halten zu dürfen, ist außerdem
unerträglich anmaßend und unhaltbar. Eine solche Gesamtsynthese ist
unmöglich und widerspruchsvoll.
Vielmehr ist es prinzipiell möglich und nötig, in je eigener Prüfung und
Forschung und Bemühung um Wahrheit eben jene Erkenntnisse herauszu-
finden, die von den verschiedenen Philosophen und vom eigenen Sachkon-
takt her gewonnen werden können.
Denn die eine allumfassende Wahrheit verbirgt sich keinem Menschen
ganz und übersteigt doch alle endlichen Geister; es kommt darauf an,
soviel als möglich von ihr zu erobern. Nur dadurch, nicht durch einen
Relativismus, können wir an ihr teilhaben und den alle Geister verbin-
denden Logos, von dem Heraklit spricht, berühren. Nur durch die Weite
der Erkenntnis können wir ökumenisch mit allen Philosophen etwas

657
Siehe dazu das bedeutende Werk von Balduin Schwarz, Der Irrtum in der
Philosophie (Münster i.W.: Verlag der Aschendorff’schen Verlagsbuchhandlung,
1934).

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572 KAPITEL 12

Gemeinsames und Verbindendes haben, nur in dem Maß unserer je eigenen


Erkenntnis objektiver Wahrheit können wir wahre Weite des Geistes
erlangen, nicht durch total leere Skepsis und Relativismus oder durch
arrogante Ansprüche eines Gesamtsystems, in dem man „über allen
anderen zu stehen prätendiert“ und auch die widersprüchlichsten Systeme
von einem angeblich höheren Standpunkt aus bewahrt und doch zugleich
im Sinne der Negation aufgehoben werden und ihre relative Stelle besitzen
sollen.
Vor allem in ihren Voraussetzungen und Implikationen haben alle
Philosophen und Sophisten immer wieder jener Wahrheit Tribut gezollt,
die wir – gleich Sokrates – im gemeinsamen Dialog von allen historischen
Philosophien herauslocken und in ihnen ebenso anerkennen, wie wir uns
auch mit Sokrates um Widerlegung fremder und noch mehr der eigenen
Irrtümer bemühen sollten. Dann werden wir wie Sokrates die Nichtwider-
sprüchlichkeit der Philosophie selbst – im Gegensatz zur Widersprüchlich-
keit der verschiedensten philosophischen Meinungen, und oft gerade der
eigenen – erkennen. Diese Nichtwidersprüchlichkeit und Ganzheit der
Wahrheit impliziert auch, daß keine echte Teilerkenntnis, d.h. keine
unvollständige, doch wahre Erkenntnis, je aufgehoben werden kann.

3. Der Zweifel an einer Erkenntnis der „transzendentalen“


Prinzipien und Seinsproprietäten

Alles was bisher über die Unaufhebbarkeit unvollständiger Wahrheits-


erkenntnis durch das Ganze der Wahrheit gesagt wurde, bedarf einer
wichtigen Ergänzung. Denn die Voraussetzung für diese Wahrheit der
Unaufhebbarkeit einer Wahrheit durch irgendeine andere (quod semel
verum, semper verum) ist, daß wir nicht in dem Sinne auf Teilerkenntnisse
beschränkt sind, daß wir keine gültigen Prinzipien und Momente für alles
Seiende überhaupt erkennen könnten.
Denn könnten wir dies nicht und wären wir in diesem Sinn auf
Teilbereiche und Teilaspekte der Wirklichkeit beschränkt, so könnte alles,
was wir erfahren, nur eine Erscheinung sein, deren wahres Wesen als eines
Dinges an sich uns ewig verborgen bliebe. Aus dieser Auffassung müsste
dann auch folgen, daß alles, was wir erfahrend und denkend betrachten,
vielleicht in Wirklichkeit und an sich „ganz anders“ sein könnte, also

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 573

vielleicht auch in einem Sinne, in dem es ganz unseren „Teilerkenntnissen“


widerspricht. Die Wirklichkeit könnte letzten Endes sogar Nichts sein,
denn über das Sein an sich jenseits unserer Erfahrung könnten wir nichts
wissen.
Es zeigt sich bei näherem Nachdenken, daß letzten Endes für jede
gültige Teilerkenntnis jene Erkenntnis des Ganzen vorausgesetzt ist, die
mit der Erkenntnis erster und auf alles, was ist, zutreffender Prinzipien
einhergeht. Denn ohne solche könnten wir nicht wissen, daß auch jene
Aspekte der Sache, die wir nicht erkennen und daß dieselbe auch in ihrer
Ganzheit betrachtet dem Widerspruchssatz, ohne den kein wahres Urteil
wahr wäre, da es ja sich selbst aufheben würde, unterstehen.
Daß es solche Erkenntnis gibt, ist jedoch keine willkürliche
Voraussetzung, sondern kann erwiesen werden und ist außerdem in jeder
Teilerkenntnis, ja sogar im radikalsten skeptischen Zweifel als dessen
Bedingung mitgegeben.658

4. Die behauptete Unerkennbarkeit des absoluten Seins

Der historische Relativismus und ,in einer besonderen Form, der


Relativismus überhaupt kann allerdings auch darin seine Ursache haben,
daß man jenes wichtigste „Ganze“ für unerkennbar hält, in dessen Licht
erst jedes Ding seine Stelle erhält, das absolute, göttliche Sein. Wenn der
absolute Grund aller Dinge schlechthin unerkennbar wäre und mit dem
Nichts in eins fallen könnte, dann würde uns allerdings in so radikaler
Weise der Schlüssel des Ganzen der Wirklichkeit fehlen, in dessen Licht
wir jeden Teil zu interpretieren hätten, daß sogar das Nichts und die
Negation aller von uns erkannten Werte die höchste Berechtigung hätten.
Damit wäre zwar nicht jede unvollständige Wahrheitserkenntnis aufgeho-
ben, aber sie verlöre – durch Ausfallen jeder Erkenntnis „reiner Vollkom-
menheiten“ – ihre letzte Bedeutung und Erklärung, die ohne Bezug auf das
absolute Sein kat’ exochén undenkbar ist.
Hier ist nicht die Stelle, auf dieses höchste Thema der Metaphysik
einzugehen. Das ist an anderer Stelle geschehen. Für unsere Zwecke
genügt es festzuhalten, daß jene Universalität, die aus der Erkenntnis

658
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves, cit. und die dort referierten
Erkenntnisse Augustins, Descartes’, Hildebrands u.a.

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574 KAPITEL 12

universalster ontologischer und logischer Prinzipien, sowie jene, die aus


der Erkenntnis reiner Vollkommenheiten und des absoluten Seins
erwächst, entscheidend ist für das Durchbrechen der relativierenden
Interpretation des „hermeneutischen Zirkels“. Daher gilt es mit Augustin’s
tieferer Fassung des Cogito anzuerkennen, daß schon in der Einsicht in die
bescheidenste Wahrheit auch die in ihrer Weite alles Sein umspannenden
ersten Prinzipien mit aufleuchten, ohne deren objektive Evidenz auch die
Evidenz des eigenen sum unmöglich wäre, ebenso wie die im cartesischen
und augustinischen Cogito mitenthaltene Entdeckung der Endlichkeit des
menschlichen Subjekts zugleich ein gewisses Begreifen der Unendlichkeit
einschließt und zugleich ohne dieses gar nicht möglich wäre.659
Vielleicht leuchtet hier die Wahrheit der erstaunlichen und berühmten
Aeusserung im VII. Buch von Platons Politeia auf, derzufolge weder im
öffentlichen noch im privaten Leben weises Handeln ohne Erkenntnis des
absoluten Guten möglich ist, das die Ursache für alle Dinge und für alles
Gerechte und Schöne ist. Erst vom Maß der Erkenntnis des Absoluten her
erhält alle Teilerkenntnis ihre rechte Stelle.660
Während jedoch in den transzendentalen Prinzipien, die für alles Sein
gelten, eine notwendige Bedingung für die Wahrheitserkenntnis überhaupt
liegt, da ihr Ausfallen es sogar möglich machen würde, daß alles Erkannte
an sich mit seinem kontradiktorischen Gegenteil zusammenfiele, ist
Erkenntnis des Absoluten nicht im selben Sinne für die Wahrheit
unvollständiger Erkenntnis vorausgesetzt. Sie ist nicht Bedingung für deren
eigentliche Gültigkeit und Wahrheit, die vielmehr schon Bedingung für
jede Gotteserkenntnis ist und ohne die jeder Gottesbeweis in den
(Descartes’ Ableitung der Wahrheit jeglicher Erkenntnis von der Wahrhaf-
tigkeit Gottes mit Recht vorgeworfenen) Zirkelschluss fallen würde, daß
sie schon das voraussetzte, was sie erst zu beweisen oder zu erweisen hätte:
nämlich die Objektivität menschlichen Erkennens. Vielmehr ist Erkenntnis
des absoluten Guten und Seienden nicht für die Wahrheit unvollständiger
Erkenntnis, wie derjenigen, daß die eigene Person existiert und frei ist, als

659
Siehe dazu J. Seifert, Essere e Persona : Verso una Fondazione Fenomenologica
di una metafisica classica e personalistica, Kap. 5; 9-15, sowie ders., Gott als
Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen
Arguments, 2. Aufl. 2000.
660
Siehe Platon, Politeia, VII, 517 c.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 575

solche Bedingung, sondern nur für die Erkenntnis von deren letzter
wirklicher Stelle im Ganzen.
Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, jedwede
Form einer grundsätzlichen Skepsis an einem übergeschichtlich wahren
philosophischen und auch historischen Wissen in durchaus kritischer
Weise zu überwinden.

5. Erkenntnisse ungeschichtlicher Wahrheit und transgeschichtlich wahre


Urteile als Bedingung der Geschichtlichkeit des Menschen: Im Dialog
mit Gadamer

Gibt es, so müssen wir fragen, im jeweiligen historischen Standpunkt


Momente, die nicht standortgebunden sind? In Antwort auf diese Frage
sehen wir zunächst die Gültigkeit der erwähnten augustinischen
Überwindung der Skepsis und seiner Entdeckung zeitlos gültiger Wahrheit
in keiner Weise durch den Verdacht der radikalen Geschichtlichkeit allen
Denkens getroffen. Denn durch Gadamers Interpretation der Hermeneutik
wird in uns ja der Zweifel erweckt, ob irgendeine jener Meinungen, die wir
über die Welt oder auch über die Vergangenheit haben, objektive und
übergeschichtliche Gültigkeit, also Wahrheit zu Recht beanspruchen kann
oder nicht. Doch mit diesem Zweifel, ob nicht all unser Denken als
geschichtlich bedingtes auch falsch sein könnte, setzen wir doch gewiß
unsere eigene Existenz und unser Leben voraus. Es enthüllt sich uns mit
Evidenz, daß ohne Existenz und Leben eines Subjekts kein Zweifel
hinsichtlich der Historizität aller Wahrheit existieren könnte. Ferner sehen
wir die evidente Tatsache ein, daß ohne die Existenz des Subjekts (oder
sogar verschiedener Subjekte) der Geschichte diese selbst unmöglich ist
Man mag diese Dinge für banal halten, sie sind dennoch absolut
transgeschichtliche Wesensgesetze über Zweifel und Geschichtlichkeit.
Ebenso trifft der augustinische Gedanke zu, daß, um den hermeneu-
tischen Zweifel an aller transhistorischen Erkenntnis zu vollziehen, wir uns
daran erinnern müssen, woran wir zweifeln. Mit anderen Worten, die
intentionale Struktur des Zweifelsaktes selbst, der notwendig ein Objekt
verlangt, auf das er sich richtet, enthüllt sich uns mit derselben
unerbittlichen Gewißheit. Wir können sogar dieses Objekt unseres
Zweifels näher bestimmen als ein Paar kontradiktorischer Sachverhalte

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576 KAPITEL 12

oder Urteile, zwischen denen unser Zweifel uns hin und her schwanken
läßt: nämlich ob jedes Objekt des Verstehens von historisch wechselnden
Interpretationshorizonten konstituiert ist oder nicht. Entweder es gibt ein
Sein und ein Leben, das wir als solches erkennen können und das
keineswegs bloß noema historischer Bewußtseinsvollzüge und Vorurteile
ist oder es gibt kein solches Leben! Die Antwort auf diese disjunktive
Frage mag ungewiß sein. Daß jedoch der Zweifel selbst dieses doppel-
strukturierte Objekt besitzt, steht außer Frage. Wir könnten nicht zweifeln,
ohne zu erkennen, woran wir zweifeln und näher, daß wir daran zweifeln,
ob es transhistorische Bedingungen allen Verstehens und aller
Hermeneutik gibt oder nicht.
Mit diesem „oder nicht“ ohne das der Zweifel als solcher sich überhaupt
nicht zu konstituieren vermag, ist uns jedoch auch jenes Prinzip
mitgegeben, von dem Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik sagt, es
sei das allergewisseste und unbezweifelbarste Prinzip, nämlich das des
Widerspruchs. Denn unser Zweifel würde absolut ins Leere greifen, wenn
uns dies eine nicht gewiß wäre: Die objektive Existenz des Lebens
historischer Subjekte und nicht auf geschichtliches Bewußtsein relativer
Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie deren Gegenteil. Der Sachverhalt „S ist
P“, d.h. es gibt eine nicht bloß historisch entworfene Wirklichkeit, und der
Sachverhalt „S ist nicht P“, es gebe also keine solche, sind nicht identisch
und schließen sich außerdem gegenseitig aus. Ohne dieses Entweder-Oder,
wie wir auch mit Kierkegaard formulieren können, läßt sich der
hermeneutisch und historisch motivierte Zweifel überhaupt nicht
vollziehen. In diesem Entweder-Oder und im Prinzip, daß dasselbe
intelligibel macht, rühren wir jedoch mit Augustinus661 an das Wider-
spruchsprinzip als Bedingung der Möglichkeit jedes, und damit auch des
historisch-hermeneutischen Zweifels.
Auch die Einsicht in die objektive, nicht standortbedingte Tatsache, daß
wir zweifeln, ist gewiß. Ferner sind wir in unserem ernsthaften Dialog
zwischen der Position der Hermeneutik und unserer augustinischen
Antwort auf das Problem der Geschichtlichkeit bemüht, eine Antwort zu
finden. Ja der Ernst unseres Dialogs hängt gerade davon ab, ob wir
erkennen wollen, welche der beiden Positionen und welche der

661
In Contra Academicos III, xiii, 29 hat Augustinus das Widerspruchsprinzip als
unbezweifelbare Bedingung jeden Zweifels formuliert.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 577

vorgebrachten Argumente richtig oder stichhaltig sind. Jedoch läßt sich


gerade diese Frage gar nicht stellen und dieses Bemühen gar nicht denken
ohne jenes Wollen, von dem Augustinus sagt, daß wir sicher sein bzw.
erkennen wollen. Der Wille zur Wahrheit, der dem Dialog über unsere
Frage zugrundeliegt, bildet also ein weiteres intelligibles Fundament des
Zweifels. Die unbedingte Wirklichkeit dieses Wahrheitswollens kann auch
durch unseren durch die Idee hermeneutischer Vorurteilsbedingtheit allen
Erkennens motivierten Skeptizismus nicht erschüttert werden. Ja gerade
die Frage nach der Historizität allen Denkens selbst setzt voraus, daß der
Wille, eine Antwort auf diese Frage zu finden, nicht selbst wieder bloß
Objectum historischer Bewußtseinsvollzüge und Verstehenshorizonte sein
kann. Denn wenn er dies wäre, wenn er also nicht an sich wirklich
bestünde, könnten wir an überhaupt nichts zweifeln, zumindest wenn wir
„Zweifel” im authentischen Sinn einer theoretischen Antwort, nicht bloßer
Ungewißheit nehmen.
Wenn wir einen Moment von der Diskussion des Zweifels abstrahieren
und auf die Frage blicken, die wir aus unserem Zweifel heraus als
Grundlage unseres Dialogs stellen, so enthüllen sich im Beispiel der Frage,
die Coreth als mögliches und voraussetzungsloses Fundament einer
Metaphysik herausarbeitete, eine Fülle weiterer notwendiger Momente,
ohne die eine Frage zu stellen unmöglich ist Viele der folgenden
Wesenszüge der Frage haben auch Gadamer und Friedrich Löw entfaltet662:
Wir müssen zunächst den Akt des Fragens vom Inhalt der Frage bzw. von
dieser selbst unterscheiden. Die Frage selbst ist wiederum wesenhaft nicht
mit den Worten und dem Fragesatz identisch, in denen sie sprachlich
ausgedrückt wird. Vielmehr besteht sie in dem ausgedrückten und aus
Begriffen bestehenden Gebilde der Frage, von der Gadamers Aussage gilt:
„Im Wesen der Frage liegt, daß sie einen Sinn hat“. Wir wissen ferner im
Vollzug des Aktes des Fragens, daß wir fragen und auch, daß wir das
Gefragte noch nicht wissen; daß das Fragen immer Akt eines Subjekts sein
und die Frage immer einen Gegenstand haben muß. Wir erkennen

662
Siehe Emerich Coreth, Metaphysik, 3. Auflage (Innsbruck/Wien: Tyrolia, 1982).
Siehe auch Gadamer, „Was ist Wahrheit“, in: Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2,
S. 44-56, bes. S. 52 ff. Siehe auch G.W.., Bd. I, S. 304 ff, 368 ff., 374 ff.
Im Anschluß an Alexander Pfänders Logik hat auch Friedrich Löw eine
gediegene Arbeit über „Logik der Frage“ vorgelegt: Archiv für die gesamte
Psychologie Bd. 66 (1928), S. 357-436.

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578 KAPITEL 12

gleichermaßen die wesensnotwendigen Sachverhalte, welche die folgenden


Einwände Menons und anderer antiker Eristiker gegen die Möglichkeit des
Fragens als sophistisch entlarven: daß wir nämlich nach nichts fragen
könnten, da wir um das Gefragte schon wissen müßten, um zu fragen;
zugleich könnte man nach einem schon Gewußten nicht mehr fragen.663 In
Wirklichkeit muß zwar im Fragen in Gestalt eines Vorwissens erkannt
werden, daß es überhaupt die Sphäre von Sachverhalten gibt, auf die die
Frage sich bezieht und was an diesen Fragen ermöglicht. Wir dürfen aber
zugleich über den genauen Gegenstand unserer Frage noch nicht sicher
sein, um überhaupt fragen zu können. Ebenso ist die zeitlose Wahrheit
evident, daß die Frage ihren Gegenstand mit einem anderen Bedeutungs-
gehalt und mit einer anderen Funktion der Kopula betrifft als der Zweifel
oder das Urteil, daß wir deshalb auch mit der Frage als solcher keinen
Wahrheitsanspruch erheben. Während es ferner zur Evidenz gebracht
werden kann, daß die Frage danach, was das Sein ist, keine ungeprüften
inhaltlichen und logischen Voraussetzungen macht und deshalb in Coreths
Sinn einen absolut voraussetzungslosen Ausgangspunkt der Metaphysik
bieten kann, ist doch zugleich evident, daß jede Frage schon wieder Urteile
und jeder Frageakt auch Erkenntnisse voraussetzt oder besser in sich birgt.
Die Frage „was ist das Sein?“ etwa setzt zumindest die Wahrheit des
Urteils voraus, daß es überhaupt so etwas wie Sein gibt. Um den Akt des
Fragens zu vollziehen, müssen wir erkennen, daß wir fragen und daß es
überhaupt so etwas wie den Gegenstand der Frage gibt – dies und vieles
andere enthüllt sich in der intelligiblen Struktur des Fragens als
unhinterfragbarer, bzw. von jedem Fragen und in Frage Stellen bereits
vorausgesetzter Ansatzpunkt und Wirklichkeitsgrund.664 Selbst die voraus-

663
Siehe Platon, Menon, 80 c-d.
664
Siehe E. Coreth, S. 86 f., 90-131. Coreth analysiert das Wesen der Frage in
bewundernswerter Weise und zeigt die Bedingungen auf, die in ihrem Wesen
gründen. Deshalb stimmen wir jedoch nicht mit dem Versuch überein, spezifische
Momente der kantischen Philosophie mit einer klassischen oder thomistischen
Metaphysik zu verbinden. Siehe dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist
Philosophie?. Siehe auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Siehe
auch Walter Hoeres, „Transcendental Metaphysics of Knowing”, S. 353-369;
ders., Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie. Damit ist die
transzendentale Methode als Frage nach den (objektiven!) Bedingungen der
Möglichkeit des Subjekts in keiner Weise geleugnet. In einem besonders auf die

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 579

setzungsloseste aller Fragen: Gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr


nichts? ruht auf der Erkenntnis der einsichtigen Wahrheit des Wider-
spruchsprinzips, das ausschließt, daß es zugleich und im selben Sinne
etwas und nichts geben kann. Doch sind diese Voraussetzungen nicht
willkürliche Thesen, die das Fragen als solches mit unvermeidbaren
Vorurteilen belasten. Vielmehr haben wir es hier – im Gegensatz zu falsch
gestellten oder schiefen Fragen, die Verwirrung im Urteil oder Irrtümer
voraussetzen bzw. implizieren – mit evidenten Einsichten bzw. Wesens-
sachverhalten zu tun, auf denen zugleich die Möglichkeit sinnvollen
Fragens wie sinnvollen Zweifelns beruht.
Die augustinische Antwort auf die Skepsis, daß jeder, der zweifelt,
urteilt, daß er seine Zustimmung nicht voreilig geben solle, die Tatsache
und die Wahrheit dieses Urteils werden notwendig von der Frage und auch
von jedem Zweifel, der durch die hermeneutische Position motiviert wird,
vorausgesetzt. Denn wie sollten wir sinnvollerweise fragen oder zweifeln,
ob die These des historisch-hermeneutischen Zirkels stimmt, wenn wir
keine Skrupel und Bedenken hätten, einfach Behauptungen aufzustellen?
Was sollte mich etwa davon zurückhalten, die hermeneutische Position von
Anfang an als wahr oder als falsch zu bezeichnen, wenn nicht das dem
Zweifel zugrunde liegende Urteil, daß ich nicht voreilig und ohne triftige
Gründe ein Urteil fällen soll?
Mit diesem Urteil und dieser Erkenntnis jedoch ist wieder eine weitere
Fülle von Erkenntnissen verknüpft. Denn ohne ein Werturteil, demzufolge
eine sachliche und rationale Lösung unseres Problems und der Verschie-
denheit unserer Positionen besser als ein irrationales und unbegründetes
Urteil in dieser Angelegenheit ist, bestünde ja keinerlei Grund dafür, auf
willkürliche Urteile zu verzichten, ja uns selbst des willkürlichsten und
unsinnigsten Urteils zu enthalten. Ohne den vorausgesetzten und nicht bloß
Objekt historischen Bewußtseins seienden Wert der Sachlichkeit bestünde
nicht einmal ein Grund dagegen, die Position unseres Gegners total zu
entstellen und gegen einen bloßen Strohmann der Gegenposition zu
argumentieren. Ohne ein solches Urteil des Wertes der Erkenntnis und
eines sachlich begründeten Urteils bestünde ferner keinerlei Grund, nicht

Interpretation der transzendentalen Methode bei Coreth eingehenden Sinn will der
Autor versuchen, in einem Aufsatz das legitime Moment der Frage nach unleug-
baren und immer vorausgesetzten Wahrheiten von anderen s.E. philosophisch
unhaltbaren Elementen der tranzendentalen Erkenntnistheorie zu scheiden.

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580 KAPITEL 12

sogar das Gegenteil dessen zu behaupten, was wir in unserer philoso-


phischen und wissenschaftlichen Diskussion für das Richtige halten. Um
also überhaupt zu unserer jeweiligen philosophischen Position zu stehen
und zu dialogisieren, setzen wir bereits ein Werturteil transzendenter und
übergeschichtlicher Struktur sowie dessen übergeschichtliche Wahrheit
voraus, ein Werturteil, demzufolge es besser ist, in einer sachlichen
Diskussion rational zu urteilen, nicht gegen die eigene Überzeugung
Urteile zu fällen, usf., als gegen diese Werte zu verstoßen. Wir könnten an
dieser Stelle von transzendentalen Voraussetzungen des Zweifels oder der
Frage sprechen, ich ziehe jedoch vor, von unleugbaren Wesenssachver-
halten und notwendigen Wahrheiten und Voraussetzungen zu sprechen,
weil wir nicht nur erkennen, daß wir diese notwendig voraussetzen, daß sie
also Bedingungen der Möglichkeit des Fragens oder Zweifelns sind,
sondern weil wir vielmehr darüber hinaus erkennen, daß in der Tat diese
Voraussetzungen des Zweifels objektiv und notwendig gegeben sind,
sowohl daß wir sie objektiv notwendig machen, als auch, daß die in diesen
Voraussetzungen gemachten Annahmen und gefällten Urteile notwendig
und evident wahr sind.665 Wir könnten von einer transzendentalen Methode
sprechen, die die unleugbaren und unbezweifelbaren transgeschichtlichen
und zugleich in sich einsichtigen Wahrheitsbedingungen formuliert, ohne
deren Fundament menschliches Denken und historisches Dasein schlecht-
hin undenkbar und vor allem in sich unmöglich sind. Eine genauere
Analyse würde ergeben, daß die genannten Sachverhalte und Wahrheiten
bloß einen Bruchteil dessen darstellen, was das dem Zweifel und der Frage
zugrundeliegende Urteil alles voraussetzt.

6. Übergeschichtliche Wahrheitserkenntnis in der hermeneutischen


Position

Bis zu diesem Punkt betrachteten wir in mancherlei Hinsicht der


Position der Hermeneutik fremde Gesichtspunkte, nicht in dem Sinne, daß

665
Siehe oben, Anm. 7, sowie Josef Seifert, Discours des Méthodes. The Methods of
Philosophy and Realist Phenomenology, (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster /
New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009); ders., Siehe auch Josef Seifert, Back to
Things in themselves: A phenomenological Foundation for classical Realism.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 581

es sich nicht um Voraussetzungen dieser Position selbst und in diesem


Sinne um ihr selbst und jedem Denken immanente Voraussetzungen
handeln würde, jedoch in dem Sinne, daß diese Voraussetzungen nur
teilweise als solche von den großen Vertretern dieser Schule, insbesondere
von Heidegger und Gadamer, formuliert wurden. Zum Abschluß dieser
Überlegungen möchten wir uns jedoch auf solche Erkenntnisse unge-
schichtlicher Wahrheit konzentrieren, die der hermeneutischen Position
und Gadamers bedeutendem und in jeder Hinsicht erkenntnisreichen Werk
Wahrheit und Methode selbst entnommen sind und die bestätigen, daß die
Historizität des Menschen die Erkenntnis ungeschichtlicher Wahrheit
voraussetzt. Dabei geht es uns insbesondere um das Problem ungeschicht-
licher Erkenntnis von „Dingen an sich“, die nicht bloß vom historischen
Bewußtsein konstituiert sind.
Betrachten wir eine Äußerung Gadamers im Kontext seiner Analyse des
Ansichseins:666
Wer das „Ansichsein“ diesen ‚Ansichten‘ gegenüber stellt, muß
entweder theologisch denken – dann ist das Ansichsein nicht für ihn,
sondern allein für Gott – oder er wird luziferisch denken...
Wenn man dem Begriff des Dinges an sich einen solchen Sinn zuweist,
als handelte sich hier um die Wirklichkeit in ihrer Fülle, unter Einschluß all
jener Dimensionen und Aspekte, unter denen sie überhaupt erkennbar ist,
dann müssen wir gewiß Gadamer zustimmen, daß der Anspruch einer
Erkenntnis des Dinges an sich den Anspruch der Allwissenheit implizieren
und aus diesem Grunde einem endlichen Wesen in keiner Weise zustehen
würde, ja, sollte er vom endlichen Geiste dennoch erhoben werden,
luziferisch wäre. Denn das endliche und historische Wesen besitzt keine
allumfassende Erkenntnis der Wirklichkeit.
In diesen Einsichten Gadamers sehen wir eine Erkenntnis über-
geschichtlicher Wahrheit, die zugleich Bedingung der Geschichtlichkeit
des Menschen ist und deren Erfassen Gadamers Position entscheidend
mitbestimmt. Ohne die ungeschichtliche Wahrheit dieser Erkenntnis gäbe
es Geschichte überhaupt nicht, da ein allwissendes Wesen als solches keine
Geschichte haben könnte. Ohne die ungeschichtliche Wahrheit der
Endlichkeit menschlichen Erkennens würde auch das Motiv der hermeneu-

666
Siehe H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Hermeneutik I), S. 451.

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582 KAPITEL 12

tischen Position als Gegenposition zu solchem luziferischem Anspruch


unbegründbar bleiben.667
Ferner ist mit Gadamers Erkenntnis auch miterkannt, daß ein solches
absolutes Wissen des Dings an sich zu implizieren nicht moralisch neutral,
sondern ein Anspruch wäre, der sittlichen Tadel verdiente, ohne welchen
der Begriff des ‚Luziferischen‘ wohl kaum sinnvoll anwendbar wäre. Also
auch der moralische Tadel, der nicht bloß ein negatives Werturteil als wahr
voraussetzt, sondern überdies noch den Anspruch der Hybris als verant-
wortungsvolle und freie, zugleich jedoch der Wahrheit unangemessene
Haltung beschreibt, wird hier vorausgesetzt. So enthüllen sich in der
Einsicht in die sachliche und sittliche Unberechtigtheit des Anspruchs,
Allwissenheit zu besitzen und nicht in den persönlichen und historischen
Entwicklungsprozeß stets weiterer Erkenntnisbemühung eingebunden zu
sein, zahlreiche Erkenntnisse und Urteile, deren Wahrheit keineswegs
historisch bedingt ist. Oder sollte dies etwa wechseln, sollte es morgen
moralisch rechtfertigbar werden, daß jemand den Anspruch erhebt, die
Dinge an sich in jenem Allwissenheit implizierenden Sinn zu erkennen!?
Nun wird uns wohl entgegengehalten werden, wir könnten auch diese
Position und diese Urteile nicht formulieren, es sei denn in einer historisch
gewachsenen Sprache, im Deutschen einer bestimmten Entwicklungsstufe,
mit den Besonderheiten und innerhalb der Grenzen dieser Sprache. Es
könnte uns ferner entgegengehalten werden, daß wir die historische
Bedingtheit dieser Erkenntnis vergäßen, die z.B. von der Lektüre des
Werkes Gadamers und von dessen Wirken, das dem unseren vorausging,
abhängt. Und selbstverständlich ließen sich solche Erinnerungen an die
Kontingenz und Bedingtheit unserer Aussagen von historischen Situatio-
nen, Traditionen und Umständen unermeßlich vermehren.
Doch auch dies, daß nämlich jedes menschliche Denken, zumindest in
der Gestalt, in der es uns in der Welt begegnet, an zeitlich-historische
Bedingungen, an historisch gewachsene Sprachen und jedenfalls an rein
logische Sprach- bzw. Gedankengebilde gebunden bleibt, ist wiederum
eine überzeitliche Erkenntnis über Wesen der Geschichtlichkeit und

667
Vgl. dazu Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 5, „Ich bin die Wahrheit“ und
die scharfe Auseinandersetzung mit Michel Henrys Buch, Ich bin die Wahrheit.
Für eine Philosophie des Christentums.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 583

Sprachlichkeit des Menschen. Auch besagt die Geschichtlichkeit dieser


Erkenntnis nicht, daß der Inhalt derselben bloß eine Funktion irgendwel-
cher historischer Bedingungen, Umstände oder Voraussetzungen wäre.
Fällen wir die genannten Urteile nur, so müssen wir fragen, weil diese und
jene Vorgänger uns diese Urteile ermöglichten? Oder stellen dieselben
vielmehr – außer jenen historischen Bedingungen, die wir in keiner Weise
in Abrede stellen, sondern deren Anerkennung wir vielmehr als eine
übergeschichtliche Erkenntnis betrachten – bloß ermöglichende, nicht
determinierende Bedingungen dar, die uns erlauben, Tatsachen zu erfassen,
die nicht selber Produkte dieser Bedingungen sind? Können solche
historisch bedingten Erkenntnisse nicht echte Erkenntnisse sein, also
einfach und schlicht der Wahrheit bzw. der Wirklichkeit entsprechen?
Ich glaube, es wird uns nicht schwer fallen zuzugeben, daß die
historische Bedingtheit der Erkenntnisse, von denen bis jetzt die Rede war,
nicht den Inhalt dieser Erkenntnisse auf die historischen Bedingungen, die
sie ermöglichen, relativiert, sondern daß diese historischen Bedingungen
uns vielmehr in die Lage versetzen, das zu erkennen, was selbst an sich
und objektiv die Geschichtlichkeit unserer Verfassung als Menschen
ausmacht.
Ferner begegnen wir bei Gadamer und Heidegger wichtigen Erkenntnis-
sen über den sogenannten hermeneutischen Zirkel, den schon
Schleiermacher und die antike Rhetorik zuvor in interessanter Weise
erhellt hatten,668 dem gemäß „die Teile, die sich vom Ganzen her
bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen“.669 Schleiermacher
und Dilthey und erst recht Gadamer erweiterten den Begriff von Ganzen
und Teilen, indem sie ihn auf Gesamtwerke, Epochen und Struktur- bzw.
Wirkungszusammenhänge ausdehnten. (Und hier ergibt sich eine
Hauptquelle des Zweifels, da wir nie das Ganze der Universalgeschichte,
welche die Zukunft einschließt, in den Griff bekommen. Gewiß können wir
historische Zusammenhänge nicht in ihrer Totalität umfassen, sondern
bewegen uns von Teilerkenntnissen auf ein Ganzes zu.) Und wenn uns eine
begrenzte historische Sinngestalt in ihrer Ganzheit begegnet, so kehren wir
von dieser Gesamtgestalt wieder zurück zum einzelnen Detail und
interpretieren dieses in neuer Weise.

668
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Hermeneutik II: Wahrheit und
Methode, Ergänzung und Register, „Vom Zirkel des Verstehens“, S. 57-65.
669
Ebd., S 57.

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584 KAPITEL 12

Ähnliches gilt für die Interpretation des Kunstwerks. So verläuft der


Weg interpretierenden und denkenden Verstehens zirkelförmig von
Teilerkenntnissen zu einem Ganzen und von diesem zurück zu den Teilen
und diese Dialektik des Prozesses des Verstehens ist für dessen Erklärung
unerläßlich und schlicht ein Moment desselben. Ferner trifft ohne Zweifel
auch jene spezifische Ausweitung zu, die Gadamer der Idee des
hermeneutischen Zirkels dadurch hinzufügt, daß er aufweist, daß auch
unsere historisch wachsende Erkenntnis oder einfach unsere fortschrittlose
Position in der Geschichte jeweils einen neuen Interpretationshorizont
bildet, von dem aus wir in stets neuer Gegenwart bzw. Zukunft das
Vergangene auch in je und je neuer und anderer Weise verstehen und
interpretieren. Schließlich ist es unleugbar, daß uns die universal-
geschichtliche Totalität verborgen ist.
Doch sind diese Erkenntnisse selbst; so müssen wir noch einmal fragen,
bloße Funktionen und Objekte eines historischen und wechselnden
Standpunkts, oder sind sie nicht vielmehr wahre Einsichten in die
Geschichtlichkeit des Menschen und in die Rolle des hermeneutischen
Zirkels des Verstehens in seinen spezifisch historischen Manifestationen?
Gewiß trifft dies letztere zu. Damit zeigt sich jedoch, daß der jeweils
neue Verstehenshorizont, ebenso wie die früher genannten historischen
Bedingungen, keineswegs implizieren, daß das von dem je neuen
Standpunkt des Verstehens aus Gegebene bloß auf diesen Standpunkt
relativ wäre. Die Neuheit kann ja in einem Wachstum des Erkennens, in
einer Vertiefung oder Differenzierung, in einem Angereichertwerden neuen
Verstehens durch zwischen dem letzten und dem gegenwärtigen
Verstehensakt vorgefallene Entwicklungen dargestellt werden, muß aber
keineswegs den Gegenstand und Inhalt des Interpretierens zu einem bloß
relativen machen. Ebensowenig ist die Einsicht in den allgemeinen
strukturellen Aufbau historischen Verstehens selbst bloß Wirkung oder
Objekt der Historie. Wohl wäre eine solche Reflexion auf den historischen
Verstehensprozeß bei Thomas oder Augustinus schwerlich anzutreffen und
setzt den Weg voraus, der von Kant über Hegel und Schleiermacher bis zu
Heidegger und Gadamer verläuft. Doch heißt dies, daß das von Gadamer
und seinen Vorgängern Entdeckte oder durch Momente wie den „Vorgriff
der Vollkommenheit“ Bereicherte670 die Struktur des hermeneutischen
670
Siehe Hans-Georg Gadamer, ebd., S. 61-62.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 585

Interpretierens selbst bloß zum Objekt dieses neuen historischen


Standpunkts und Motivationshorizonts macht? In keiner Weise, sondern
vielmehr wurde zum gegebenen Zeitpunkt eine Erkenntnis von etwas
konkret möglich, das zu allen Zeiten und bei allen Historikern und
Interpreten vergangener Gedanken wirksam war; aber zuvor nicht ins Licht
philosophischer Erkenntnis gehoben wurde.
Unter den tief von Gadamer gesehenen Momenten ist auch, daß erst das
Scheitern des Versuchs, die Meinung des anderen als wahr gelten zu
lassen, zu historischem und psychologischem Verstehen führt, daß
Verstehen primär heißt: „sich in der Sache Verstehen“. Luthers von
Gadamer zum Motto des 2. Teils von Wahrheit und Methode gewählte
Wort “Qui non intelligit res, non potest ex verbis sensum elicere”671 könnte
gerade auch jeder Arbeit einer auf Philosophie und einem
phänomenologischen Realismus fundierten Forschungs- und Lehrtätigkeit
zum Motto dienen. Man könnte unzählige andere Einsichten Gadamers
über die verschiedenen Erkenntnisvermögen des Geschmacks, der Ur-
teilskraft, der phrónesis, u.a. anführen oder an Gadamers Wesensanalyse
der Sprache, des Spiels, des hermeneutischen Prozesses selbst u.a.
erinnern, worin wir eine breiteste Basis gemeinsam anerkannter Wahrhei-
ten erblicken, die durchaus überhistorische und zeitlose Wesenssachver-
halte betreffen. Dazu kommen die vielen Urteile Gadamers über die
Geschichte, den eigentlichen Sinn der Schriften Schleiermachers, Diltheys
und zahlloser anderer. Auch die vielen historisch richtigen und
feinsinnigen Erkenntnisse Gadamers, obwohl ihr Gegenstand historischer
Natur ist, sind nicht selbst historisch.

7. Zum Problem einer Kritik auf Grund von Selbstwidersprüchen in der


hermeneutischen Position

Doch so wie sich diese Einsichten Gadamers als Einsichten in die


notwendige Wesensstruktur des Interpretierens überhaupt erschließen und
also in ihrer Gültigkeit nicht historisch bedingt sind, so kritisieren diese
Erkenntnisse implizite selbst jenen Anspruch der hermeneutischen Schule,
daß jedes Verstehen historische Voraussetzungen besäße und von
Vorurteilen ausginge, deren Objektivität und Wahrheit bloß angenommen

671
Ibid., S. 177 ff.

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586 KAPITEL 12

würde, nicht jedoch objektiv erkennbar sei. In diesem Sinn verstanden,


würde „hermeneutischer Zirkel“ eine notwendige historische petitio
principii und Voraussetzungsgebundenheit implizieren, kraft deren die
Prinzipien des eigenen Verstehens zwar wohl vorausgesetzt werden
müßten, niemals jedoch von einem nicht selbst historisch relativen
Standpunkt aus erkannt und analysiert werden könnten. Mit anderen
Worten, jedes Verstehen hätte historische Bedingungen, deren Wahrheit es
nicht selbst, es sei denn vom eigenen relativen Punkt des Verstehens-
horizonts aus, beurteilen könnte. Hermeneutischer Zirkel, so verstanden,
würde die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis bedeuten und die
Gebundenheit allen Interpretierens und historischen oder philosophischen
Verstehens an Voraussetzungen, die niemals in ihrer objektiven Evidenz
zur Gegebenheit gelangen könnten. Gadamer scheint eine solche
historische Relativität alles Gegebenen inklusive jeden Ansichseins gerade
dort auszusagen, wo er den Vorwurf des historischen Relativismus
abweist:672
Vielmehr bedeutet die unendliche Perfektibilität der menschlichen
Welterfahrung, daß man, in welcher Sprache immer man sich bewegt, nie
zu etwas anderem gelangt als zu einem immer mehr erweiterten Aspekt,
einer ‚Ansicht‘ der Welt. Solche Weltansichten sind nicht in dem Sinne
relativ, daß man ihnen die ‚Welt an sich‘ entgegenstellen könnte, als ob die
richtige Ansicht von einem möglichen Standorte außerhalb der
menschlich-sprachlichen Welt aus sie in ihrem Ansichsein anzutreffen
vermöchte.

Die Bemerkung, daß ein solcher hermeneutischer Perspektivismus bzw.


Relativismus sich selbst widerspreche, da er eben für die These historischer
Bedingtheit selbst absolute Wahrheit beansprucht, leugnet Gadamer nicht,
sieht jedoch ein solches „Reflexionsargument“ aus einem Selbstwider-
spruch mit Heidegger als einen „Überrumpelungsversuch“ an:673
Man kann die innere Widersprüchlichkeit eines jeden Relativismus noch so
klar aufweisen, es ist schon so, wie Heidegger es ausgesprochen hat: Alle
diese siegreichen Argumentationen haben etwas vom Überrumpelungs-
versuch an sich. So überzeugend sie scheinen, so sehr verfehlen sie doch die
eigentliche Sache. Man behält recht, wenn man sich ihrer bedient und doch

672
Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 451.
673
Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 350.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 587

sprechen sie keine überlegene Einsicht aus, die fruchtbar wäre. Daß die
These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich
insofern selber aufhebt, ist ein unwiderlegliches Argument. Aber wird damit
irgend etwas geleistet? Das Reflexionsargument, das sich derart als
siegreich erweist, schlägt vielmehr auf den Argumentierenden zurück,
indem es den Wahrheitswert der Reflexion suspekt macht. Nicht die
Realität der Skepsis oder des alle Wahrheit auflösenden Relativismus wird
dadurch getroffen, sondern der Wahrheitsanspruch des formalen Argumen-
tierens überhaupt.

Doch mit welchem Recht wird beim Nachweis eines von Gadamer aus-
drücklich zugestandenen Selbstwiderspruchs von Überrumpelung gespro-
chen und behauptet, ein solches Argument, das aufdeckt, die kritisierte
Position setze urteilsmäßig einen Sachverhalt, den sie zugleich leugne,
„leiste nichts“?
Man darf jedenfalls nicht unbesehen Widerlegungen aus inneren
Widersprüchen abtun, da immerhin Denker vom Rang eines Platon, eines
Aristoteles, Augustinus, Bonaventura oder Kant sie verwenden.674 In
Platons Theaitetos entwickelt Sokrates mehr oder weniger sämtliche
möglichen Argumente gegen Protagoras und andere Formen des
Relativismus, wobei die Widerlegung aus inneren Widersprüchen eine
entscheidende Rolle spielt. Die These des Protagoras vom Menschen als
Maß aller Dinge hebt sich selbst auf, da auch Protagoras voraussetzt und
unter dem Druck der Erforschung seiner Position zugeben müßte, daß er
mit sich selber uneins ist und sich selber widerspricht.675

674
Wir finden das Argument aus Widersprüchen in Platons Theaitetos, insbesondere
152d – 170d. Aristoteles verwendet es in Buch Gamma der Metaphysik,
Augustinus in Contra Academicos, Bonaventura in De Trinitate, wenn er in der
Einleitung die Existenz einer unbezweifelbar gewissen Wahrheitserkenntnis
(cognitio certitudinalis) nachweisen will. Kants Antinomie der reinen Vernunft
beruht geradezu darauf, daß Positionen, die uns in notwendige Widersprüche
verwickeln, auch notwendig falsch sein müssen. Deshalb gilt Kant der Realismus
als Dogmatismus und als notwendig falsch, da er meint, daß jeder Realismus zur
Behauptung antinomischer Thesen und Gegenthesen zugleich führe. Die kritische
Philosophie soll der Vorrede der Zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft
zufolge gerade dies zum „einzigen Probierstein“ haben, daß sie allein eine
Position vertrete, die frei von inneren Widersprüchen sei.
675
Das Argument aus dem Selbstwiderspruch des Relativismus finden wir im
Theaitetos 170 e ff., wo Platon zeigt, daß trotz aller mehr oder minder raffinierten
Versuche von Protagoras, sich von dem Vorwurf des Selbstwiderspruchs zu

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588 KAPITEL 12

Gewiß, darin stimmen wir mit Gadamer überein, das letzte Fundament
einer Widerlegung kann nicht in der formalen Tatsache des Nachweises
eines Selbstwiderspruchs einer Position liegen, da ein solcher auch in der
„suspekten“ und irrtumsbehafteten Struktur des Denkens überhaupt
gründen könnte und deswegen zur Widerlegung einer Position nur
ausreicht, wenn die innere Wahrheit jener logischen Prinzipien zur Evidenz
gebracht werden kann, auf denen Argumente aus dem Selbstwiderspruch
beruhen. Es bedarf der letzten Evidenz der Wahrheit des Widerspruchs-
satzes, um dieses Reflexionsargument als zwingend einzusehen. Doch steht
einmal fest, daß wirklich zwei kontradiktorische Sachverhalte nicht
zusammen bestehen und deshalb auch nicht die sie behauptenden
kontradiktorischen Urteile im selben Sinn bzw. gleichzeitig wahr sein
können, erweist sich die absolute Stringenz jener Argumente, die innere
Widersprüche einer Position dartun. Wenn auch Unleugbarkeit eines
Prinzips als solche keine Widerlegung seiner Verwerfung darstellt, so zeigt
sich – über den formalen Hinweis auf Selbstwiderspruch hinaus – das
Fundament der Logik selbst als wahr. Erst aus diesem Grund ist die
Unleugbarkeit mancher Wahrheiten, weil deren Leugnung sie notwendig
voraussetzt, ein tiefes und in einem objektivistischen Sinn transzendentales
Argument für sie. Auf dieser Basis ist jeder Nachweis des Selbstwider-
spruchs einer These notwendig auch ein Nachweis von deren Falschheit.
Denn eine wahre These kann sich nicht notwendig selbst aufheben oder in
Konflikt mit dem notwendig wahren Widerspruchssatz treten.676
Aber auch abgesehen von der Fundierung des „Reflexionsargumentes“
auf der evidenten Wahrheit des Widerspruchsprinzips dürfte es doch
keinen Menschen, der wie Aristoteles zeigt, in jedem Urteil und jeder
Handlung das Widerspruchsprinzip voraussetzt, ruhig bleiben lassen, wenn
er zugleich urteilend etwas setzt und denselben Sachverhalt wieder aufhebt.
Denn dies widerstreitet der Erfüllung der innersten und ebenso evidenten

befreien, er doch notwendig gerade leugne, was er selber behaupte, also die
homo-mensura-These zugleich vertrete und zugleich aufhebe.
676
Siehe Josef Seifert, Verso una Fondazione di una Metafisica Classica e
Personalista, II. Teil, Kap. V, wo das Fundament dieser Thesen im Buch G der
Metaphysik des Aristoteles diskutiert und die dreifache Hinsicht erörtert wird, in
der u.a. Husserl, Pfänder, Reinach und Hildebrand das philosophische Verständnis
des Satzes vom Widerspruch vertieft haben.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 589

wie unleugbaren Intention eines Urteils und dessen Anspruch, wahr zu


sein. Doch stellen wir die Frage, ob nicht das bisher Gesagte und
insbesondere die zeitlos gültigen Einsichten Gadamers in das Wesen des
hermeneutischen Zirkels in der vorher diskutierten Form beweisen, daß
gerade dies stattfindet, daß der Geist in diesen Erkenntnissen von
Voraussetzungen ausgeht, die weder historisch relativ noch ungeprüfte
Vorurteile sind, sondern, wie Platon im 6. und 7. Buch der Politeia vom
Philosophen verlangt, jenseits aller Hypothesen zu den absoluten
Fundamenten menschlichen Wissens vordringen.
In tiefsinnigen Ausführungen Gadamers über das Verhältnis des Logos
der Sprache zur Logik der Sachen selbst erblicken wir Erkenntnisse, die
man als Schritt in dieser Richtung deuten könnte, daß tatsächlich das
Denken und Sprechen des Menschen immer schon im Akt
rezeptiv-transzendierenden Erkennens beim Eigenlogos des Seins weilt
und dieses so auffaßt, wie es ist. Doch läßt sich eine solche Deutung der
betreffenden Äußerungen nur von dem Gadamer und uns gemeinsamen
Prinzip her aufrechterhalten: „Verstehen heißt primär; sich in der Sache
verstehen, und erst sekundär: die Meinung des anderen als solche abheben
und verstehen.“677
Ich denke bei der Rede von Gadamers Denken über eine „vorgängige
Einheit“ von Logos der Sachen und der Sprache insbesondere an den
Aufsatz von 1960 „Die Natur der Sache und die Wahrheit der Dinge“.678
Indem Gadamer dort dem modernen Subjektivismus damit begegnen will,
daß „eine vorgängige Entsprechung des einen und des anderen“ (ibid., S.
71) bestehe, könnte man dies im Sinne der klassischen Tradition so
verstehen, daß von vornherein Denken an der intelligiblen Struktur der
Dinge selbst teilhat und sie immer schon erkennt. Dem könnten wir nur
zustimmen, wenn wir auch das Problem des Subjektivismus, das nicht nur
in moderner Gestalt als Transzendenzproblem bei Descartes und Husserl
vorhanden war, sondern das schon in der antiken Skepsis und bei
Augustinus in voller Klarheit auftritt, voll ernst nehmen müssen und nicht
durch einen einfachen Hinweis auf die Entsprechung von Denken und Sein
lösen können. Man könnte jedoch mit größerer Plausibilität Gadamers
Position auch dahingehend deuten, daß er ähnlich Heideggers „In--

677
Siehe Gadamer, „Vom Zirkel des Verstehens“, Gesammelte Werke Bd. II, 57-65,
S. 62.
678
Gesammelte Werke, Bd. II, S. 66-76.

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590 KAPITEL 12

der-Welt-sein“ eine vorgängige Entsprechung zwischen Geist und Dingen


annimmt und das Problem Realismus/Idealismus so ablehnen möchte. In
einem solchen „Überspielen“ eines klassischen erkenntnistheoretisch-meta-
physischen Problems der Erkennbarkeit der Dinge an sich sehen wir jedoch
ein Anzeichen dafür, daß eine solche Position nicht naiv oder kritisch
realistisch eine objektive Angleichung (adaequatio) vom menschlichen
Geist an die Wirklichkeit annimmt, sondern ein solches „in-der-Welt-sein“
rein vom Subjekt erklärt und die transzendentalidealistische Position eines
Husserl für unübersteigbar bzw. unrevidierbar hält. Dabei werden „Welt“
und „Lebenswelt“ doch letztlich als bloße Noemata und Produkte von
Sprache, Geschichte und Bewußtsein genommen. Damit geht aber der
objektive Anspruch vieler Seiender unter, „an sich“ und „in sich selber
seiend“ zu sein im Sinne eines noúmenon, das in sich erkennbar ist.679
Den folgenden Gedanken aus Wahrheit und Methode fügt auch der
Anhang zu diesem Werk680 nichts wesentlich Neues hinzu. Dort bezieht
sich Gadamer auf die These von Leo Strauss und Karl Löwith, daß die
Unterscheidung von ‚recht‘ und ‚unrecht‘ den Anspruch erhebe, „daß der
Mensch sich über seine geschichtliche Bedingtheit muß erheben können.“
Er erkennt dabei Strauss’ und Löwiths folgende Thesen als wahr an: 1. daß
der Historismus selber seine historischen Bedingungen hat, und 2. daß „das
historische Phänomen des Historismus, so wie es seine Stunde erhielt,
eines Tages auch vorbei sein könnte.“ Dies gelte ganz gewiß, „nicht weil
der Historismus sich sonst ‚widerspräche‘, sondern wenn er es mit sich
selbst ernst meint.“ Gadamer stellt dort (ibid., S. 416) – in gewissem
Gegensatz zur in Wahrheit und Methode stehenden Aussage zu diesem
Punkt – in Frage, daß ein tatsächlicher Widerspruch daraus folge, daß der
historische Relativismus selbst zu einem späteren Zeitpunkt seine
historisch bedingte ‚Wahrheit‘ verlieren könnte. Er führt aber den Grund
nicht aus, aus dem es sich hier um etwas anderes als Widerspruch halten
sollte, noch erörtert er die Gründe für seine These, daß, wenn es sich hier
um Widerspruch handle, der Historismus nicht als falsch erwiesen sei. Auf

679
Siehe gerade dazu die ausführliche Diskussion der Problematik des „Dinges an
sich“ bei J. Seifert, Back to ‘Things in themselves’: A phenomenological
Foundation for Classical Realism, Parts III und IV.
680
„Hermeneutik und Historismus“, S. 415 ff.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 591

diese entscheidenden Fragen werden wir im Haupttext noch einmal


zurückkommen.
Im übrigen entwickelt Gadamer im Aufsatz „Was ist Wahrheit?“,681 der
Vorstufe für Wahrheit und Methode, eine hervorragene Analyse des
Wesens der Urteilswahrheit. Von dieser Analyse des Urteils her könnte
Gadamer die Eigenart des Wahrheitsanspruchs des historistischen Urteils
selber entfalten, was allerdings zu jenem Vorwurf des Widerspruchs führen
dürfte, den Gadamer nicht widerlegt.
Übrigens könnte man diesen Widerspruch nicht nur darin sehen, daß der
Historismus tatsächlich behauptet, daß alle Meinungen historisch relativ
seien und daß eben dies „absolut wahr sei“ und zugleich seine eigene
historische Relativität und damit (potentielle) Falschheit zugibt, was nur
der selten ehrliche Historist tun wird. Vielmehr tritt das die historische
Relativität aller Wahrheit behauptende Urteil mit einem impliziten
Wahrheitsanspruch auf, der sich in Form eines Wahrheitsurteils (über die
Wahrheit des Urteils des Historismus) ausfalten läßt. Dieses bloß implizit
präsente Urteil tritt nun tatsächlich in direkten kontradiktorischen
Widerspruch zur Grundthese des Historismus, wie Bonaventura ausführt:
Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß
nämlich kein Urteil (contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil
(contradictoriam) impliziere, ist zu erwidern: dies ist wahr, insofern zwei
Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen, daß eine bejahende
Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft deren
sie ein Prädikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie
behauptet, sie selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie
sich von der negativen Aussage, die ein Prädikat von einem Subjekt
abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die negative Aussage mit
der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die
bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten
Behauptungsebene sind die Aussagen kontradiktorisch, nicht auf der
zweiten (als solcher). Wenn man deshalb sagt: es gibt keine Wahrheit, so
impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom Subjekt negiert, nicht
ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber für
sich selbst beansprucht, wahr zu sein, impliziert sie, daß es Wahrheit gibt;
dies ist nicht verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so
jedes Falsche die Wahrheit. Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es
keine Wahrheit gibt – da es wegen der Abtrennung des Prädikats vom
Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behauptung, mit der es

681
„Was ist Wahrheit?“ (1957), (Gesammelte Werke Bd. II, S. 44-56).

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592 KAPITEL 12

behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt –
beide Teile des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht
verstehende Intellekt auch aus jenem Falschen beide Teile des
Widerspruchs und damit schließen, daß die These wesenhaft falsch und
nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.682
Es ist uns im begrenzten Rahmen dieser Ausführungen nicht möglich,
tiefer in die Einsichten einzudringen, die in großem Reichtum in Gadamers
umfangreichem Werk enthalten sind, in dem uns Schritt für Schritt Erken-
ntnisse über Verstehen, Verstehenshorizonte, Zeitlichkeit, Kontinuität im
Wandel, Wesen des Wandels und Wechsels, menschliches Bewußtsein, die
Ungerechtigkeit von Reduktionismen aller Art und die Notwendigkeit, den
naturwissenschaftlichen Methoden-Monismus zu überwinden, und zahlrei-
che weitere Erkenntnisse begegnen, ganz abgesehen von dem immensen
historischen Wissen über die Meinungen anderer. Gewiß kann weder von
Gadamers Wesenserkenntnissen noch von wahren Urteilen über historische
Fakten gesagt werden, daß sie sämtlich auf derselben Stufe der Urteile
eines Ungebildeten stünden und nicht wirklich und objektiv wahr seien.
Die historischen Fakten, aber auch allein die zeitlosen Wesensstrukturen
des Historischen, des Verstehens und Interpretierens, des Menschen
überhaupt, die in Gadamers Werk offenbar werden, würden ohne weiteres
den Stoff für ein eigenen Buch hergeben. In diesem Sinne bleibt trotz allem
Gegensatz zwischen einer Position, die die historische Relativität allen
menschlichen Verstehens behauptet und einer, die in dem Erfassen
zeitloser Wahrheit die Bedingung der Geschichtlichkeit erkennt, ein
erheblicher gemeinsamer Erkenntnisboden und damit Boden möglicher
Verständigung, von dem aus ein sinnvoller philosophischer Dialog
erfolgen kann.
An dieser Stelle wird uns auch die Unhaltbarkeit der eingangs
erwähnten Skepsis deutlich, die mit einer von Gadamer zu recht gerügten
Oberflächlichkeit die Gegensätze der vorsokratischen Lehrsysteme und die
Kraft der jeweils für sie vorgebrachten Argumente als Zeichen dafür
nimmt, daß zwischen diesen Positionen absolut nichts Verbindendes sei.

682
Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5 (eigene Übers., JS). Vgl. dazu auch
J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendi-
gen Sein der Wahrheit“, 38-52.

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 593

Man könnte etwa zeigen, daß Heraklit und Parmenides je viele tiefe
Einsichten gewannen, Einsichten, die als solche keineswegs in gegenseiti-
gem Widerstreit stehen, sondern vielmehr ein gemeinsames Fundament der
Erkenntnis und Wahrheit bilden, auf dessen Boden erst die allerdings
bestürzenden Gegensätzlichkeiten der beiden Positionen sich bewegen. Mit
der Entdeckung eines solchen gemeinsamen Erfahrungs- und Erkenntnis-
bodens jedoch ist der auf der Tatsache von Widersprüchen aufbauenden
Skepsis der Boden entzogen, denn es ergibt sich mit aller Deutlichkeit, daß
auch für die gegensätzlichsten Positionen das Wort Heraklits gilt, das den
Grund der Möglichkeit der Philosophie und auch unseres hier angestrebten
Dialogs bildet; „Der Logos ist allen gemeinsam“.683

8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der
hermeneutischen Philosophie Gadamers

Womöglich haben wir den eigentlichsten Grund für Gadamers herme-


neutische Philosophie in einem Aufsatz über Platons Dialektik zu suchen,
nicht in den hermeneutischen Schriften.684
Darin geht es um den berühmten kurzen erkenntnistheoretischen Exkurs,
in dem Platon den Grund der mündlichen Tradition an der Akademie
angibt. Er unterscheidet dort am Beispiel des Kreises 1. Name bzw. Wort
(„Onoma“) 2. Definition („Erklärung bzw. Begriffsbestimmung, Logos“);
3 „Erscheinung, anschauliches Bild, Beispiel, Figur (Eidolon)“, und 4 „die
Erkenntnis selbst“.
Der Leser des platonischen Briefes wird zunächst den Eindruck
gewinnen, daß Platon die Meinung vertrat, weder wechselnd-zufällige
Namen, noch Definitionen und Erklärungen, noch auch Bilder könnten
jemals zu untrüglicher Erkenntnis führen. Dies könne hingegen durch die
eigentliche Erkenntnis (Noesis, Episteme) geschehen, die in ihren höchsten

683
Dieses Wort ist aus dem umfangreicheren Fragment # 2 des Heraklit genommen,
das (in eigener Übersetzung) lautet: „Deshalb soll man dem Allgemeinen folgen.
Obwohl jedoch der Logos das (allen) Gemeinsame ist, lebt die Menge doch so, als
hätte sie je eine private Erkenntnis.“
684
Siehe Hans-Georg Gadamer, „Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen
Brief“, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. VI, Griechische Philosophie II, S.
90-115.

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594 KAPITEL 12

Stufen primär durch Dialog vermittelt werde und erst nach entsprechender
geistiger Reinigung (Katharsis) erfolge. Dann erst könne die Sache selbst
und vor allem der letzte Urgrund der Dinge ansichtig werden.
Gadamer deutet jedoch die betreffende Stelle so, worin wir ihm ganz
folgen, daß auch das letzte dieser vier Momente, die Erkenntnis, noch nicht
mit dem zusammenfällt, worum es eigentlich in der Philosophie geht: der
„Sache selbst“.685 Mit Recht auch gibt Gadamer Platons Ausführungen eine
weitere Deutung als Platon selbst sie ausdrücklich vermerkt, indem er
darauf hinweist, daß es im philosophischen Dialog überhaupt kein
Gewaltmittel gegen Sophistik gibt, auch nicht in den mündlichen Reden
und Dialogen, von denen Platon spricht.686 Nur Worte, Worte, nicht die
Sachen selbst und den Blick auf diese kann ja der Philosophierende
unmittelbar einem andern vermitteln. Darum geht es jedoch in der
Philosophie.
Nun zieht Gadamer daraus einen Schluß, der von seiner PlatonDeutung
in Richtung auf die Hermeneutik abweicht, wie mir scheint. Er sieht
nämlich in allen vier Medien inklusive der Erkenntnis jene Schwäche, die
uns keinen unbezweifelbaren Zugang zur Wahrheit erlaubt. Daher seien die
historischen lógoi und philosophischen Dialoge unendlich. Darum wird
einer z.B. auch wohl viel Tiefes über die sittliche und rechtliche
Verbindlichkeit von Versprechen vorbringen, aber den letztlichen Grund
ihrer Verbindlichkeit nicht mit Gewißheit ergründen können, weshalb auch
immer sophistische Ablehnung einer Philosophie von Verbindlichkeit des
Versprechens möglich sei.
Gadamer sieht den Grund für diese Endlosigkeit des Dialogs und die
Unmöglichkeit, unbezweifelbare Erkenntnisse zu gewinnen, auch in der
weiteren platonischen Erkenntnis der unendlichen und vielfachen
Verquickungen und Abhängigkeiten aller Ideen und Wesenheiten, sodass
es in der Philosophie niemals um eine Idee, sondern um deren Fülle und
Einheit, das Ganze gehe.687

685
Ebd., S. 96-110.
686
A. a. O., S. 106-110.
687
Ebd., S. 112-113. Gadamer versteht diese vielfache und wechselseitige Verwoben-
heit der Ideen bei Platon als eine solche, die es nicht erlaubt, eine einsinnige klare
Abhängigkeit der Ideen untereinander und von ersten Prinzipien anzunehmen
(Parmenides). Er schreibt:

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Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit 595

Was die Möglichkeit der sophistischen Freiheit betrifft, jede auch noch
so einsichtige Wahrheit zu leugnen, so ist diese offenkundig gegeben.
Doch stellt sich sowohl vom Standpunkt getreuer Platon-Interpretation als
auch vom rein systematisch-philosophischen Standpunkt die Frage, ob der
Grund für diese Freiheit sophistischer Dialektik darin liegt, oder gar liegen
muß, daß es keine unbezweifelbare Wahrheit gibt, die durch Logoi und
Episteme vermittelt werden kann. Uns scheint Platon vielmehr zu sagen,
und darin auch recht zu haben, daß nur der intellektuell und sittlich
gereinigte Mensch durch die Vermittlung von Schriften und, betreffend der
höchsten Gegenstände, von denen Platon nicht schreiben will, durch das
Medium des Dialogs Erkenntnis gewinnen kann. Nach Platon entzünden
nicht historische Horizonte, sondern die Wahrheit wie ein Funke den Geist
mit Licht, sodass er der Erkenntnis des Höchsten teilhaftig wird. Gewiß,
kein Geist kann den unerschöpflichen Reichtum intelligiblen Seins
ausschöpfen und es wird der Philosophie immer um eine „ganze Wahrheit“
gehen, die sie selbst jedoch niemals vollkommen erreicht. Doch aus dieser
Endlichkeit des Erkennens folgt noch nicht die mögliche Falschheit dessen,
was der Mensch erkennt. Aus der Tatsache, daß jedes erreichte Ergebnis,
wie daß jeder Zweifel Bewußtsein von seinem Objekt einschließt, daß das
Versprechen ein sozialer Akt ist, daß der Mensch eine unveräußerliche
Würde besitzt, unvollständig ist, folgt nicht, daß diese unvollständigen
Erkenntnisse durch weitere zukünftige Einsichten jemals aufgehoben
werden könnten.
Dies widerspricht auch nicht der Hermeneutik. Im Gegenteil! Wäre es
nicht möglich, unvollständige und doch wahre Erkenntnis zu gewinnen, so
könnte der Erkenntnisprozeß nie beginnen. Dann könnten wir niemals von
einem Teil ausgehen, da dieser ja durch und durch unverständlich wäre,
noch könnten wir im hermeneutischen Zirkel auch nur zu einer
bruckstückhaften Erkenntnis des Ganzen fortschreiten, oder gar von

„Es scheint wie ein dürrer Schematismus, in den Erzeugungsprinzipien der Zahlen, der Eins
und der Zwei, die Erzeugungsprinzipien aller Einsicht und das Aufbaugesetz aller
sacherschließenden Rede zu erblicken, und es dürfte dieser Schein gewesen sein, der Plato
die schriftliche Fixierung dieser Lehre unratsam erscheinen ließ.”
In dieser Deutung stimme ich mit Gadamer ebenso überein wie wenn er von der
im Philebos beschriebenen beglückenden Erfahrung fortschreitender Einsicht und
jener Euphorie spricht, in der dem Geist die letzten Prinzipien und die innere
Einheit aller Dinge mehr und mehr aufgehen.

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596 KAPITEL 12

diesem zum Teil zurückkehren. Der von Gadamer so tief beschriebene


Prozeß des Verstehens setzt eben voraus, daß uns der Teil als solcher
wahrhaft ansichtig werden kann, daß das, was er ist, als solches erkannt
werden und deshalb zum Ganzen hin fortgeschritten werden kann. So wie
die Bedeutung und Existenz einzelner Worte eines Gedichts und seiner
ersten Strophen schon erkannt werden und vieles an diesem Erkennen
unverändert verbleiben muß, damit dann zum Ganzen fortgeschritten und
zum Teil zurückgekehrt werden kann, so müssen auch die philosophischen
Einsichten, die sich dem wahrhaft Philosophierenden mit unbezweifelbarer
Gewißheit, die die Skepsis überwindet, erschließen, als Basis und
Ausgangspunkt jeden weiteren Fragens und Erkennens festgehalten
werden. So ist die augustinische Einsicht, die er jedem Skeptizismus und
Relativismus entgegensetzt, daß es inhaltliche und unbezweifelbare
philosophische Wahrheitserkenntnis gibt, nicht eine dogmatische Antithese
zum Fragen oder zum fortgesetzten Dialog. Vielmehr ist das von keinem
Zweifel zu erschütternde Fundament wahrer Erkenntnis Bedingung und
Voraussetzung für jeden Zweifel, für jede Frage, für jeden Sinn. Gerade
auch bei Gadamer finden wir eine Fülle solcher unbezweifel-
bar-übergeschichtlicher Erkenntnis, die die Basis für Dialog, Intersubjekti-
vität und jenes „sich Verstehen in der Sache“ bilden, um die es nach
Gadamers tiefem Ausspruch im philosophischen Gespräch letztlich geht.

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EPILOG

NUR STREIT UM DIE WAHRHEIT – ODER AUCH SIEG DER WAHRHEIT?

Während der erste Band des vorliegenden Werkes primär der systema-
tischen philosophischen Darstellung der Seinswahrheit, Erkenntniswahr-
heit und Urteilswahrheit sowie dem metaphysischen Status der Urteils-
wahrheit und der Beziehung zwischen Wahrheit und Person, die in dem
letzten metaphysischen Zusammenfallen der Wahrheit selbst mit dem
absoluten personalen Sein („Ich bin die Wahrheit“) gipfelt, gewidmet war,
beschäftigte sich der zweite mit einer kritischen Untersuchung der diversen
alternativen Wahrheitstheorien und mit dem Streit um die Wahrheit, der
ihnen zugrundeliegt und sich in ihnen bekundet.
Heftiger als jemals zuvor ist in den vergangenen Jahrhunderten, so
haben wir an den markantesten Beispielen und Positionen gezeigt, unter
den einflußreichsten Denkern ein Riesenstreit, eine wahre Gigantomachie,
um die Wahrheit ausgebrochen.
Dieser Streit um die Wahrheit betrifft alle Ebenen und Bedeutungen der
Wahrheit. Soweit er die Erkenntniswahrheit und Seinswahrheit angeht,
haben wir bereits in Wahrheit und Person und anderswo ausführlich von
diesem Streit um die Wahrheit gehandelt,688 dem zu guten Teilen auch ein
Streit um das Sein und um die Welt vorausgeht.689 Im vorliegenden Buch
Der Streit um die Wahrheit ging es dagegen in erster Linie um die scharfen
Auseinandersetzungen über die Urteilswahrheit und vornehmlich um die
Kritik verschiedenster Wahrheitstheorien, welche die klassische Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit immer mehr zu verdrängen drohen. Eine solche
Kritik ist keineswegs leicht. Es kostet vielmehr eine Riesenmühe, die
vielfältigen Argumente zu prüfen, die in dem erbitterten Streit um die
Wahrheit von den verschiedenen Seiten vorgebracht werden, ja es erfordert
eine wahrhaft herkulische Anstrengung, dem Verständnis der Urteils-

688
Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in
der Erkenntnis; Ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological
Foundation for Classical Realism.
689
Vgl. Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt; Josef Seifert, Sein und
Wesen.

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598 EPILOG

wahrheit als einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bzw. mit dem
Sein und, noch präziser, mit den Sachverhalten und dem Selbstverhalten
der Dinge, zu einem neuen Durchbruch gegen die zahlreichen brillanten
Einwände und scharfen Angriffe gegen die Adäquationstheorie der
Wahrheit zu verhelfen. Der Kampf wird auf einem so breiten Schlachtfeld
geführt, daß das vorliegende Buch höchstens ein kleines Gefecht in diesem
Krieg der Geister liefern oder gewinnen kann.
Denn obwohl die Urteilswahrheit seit unvordenklichen Zeiten vom
gewöhnlichen Menschen, und seit über zwei Jahrtausenden von der
Mehrheit der Philosophen, in prinzipiell gleicher Weise als Übereinstim-
mung (adaequatio) anerkannt worden war, so wandte sich das Blatt und
das Geschick der Adäquationstheorie der Wahrheit in dieser Schlacht und
deren Ausgang wurden immer zweifelhafter. Daher erwies sich die
Erfüllung der Aufgabe, dieser heute fast schon gefallenen alten Lehre über
die Wahrheit auf dem Kampfplatz zu Hilfe zu kommen, als unrealisierbar,
ohne dabei die echten Einsichten der verschiedensten, selbst der in ihren
Grundzügen gegen die Wahrheit als adaequatio streitenden, Wahrheits-
theorien zu würdigen und sie zu integrieren. Und dies konnte nicht
gelingen, ohne das in der Tradition zu wenig klar als Übereinstimmung des
Intellekts mit der Wirklichkeit bezeichnete Wesen der Urteilswahrheit ganz
neu zu untersuchen und herauszuarbeiten,690 sowie gegen scharfsinnige
Einwände aller Art zu verteidigen und dadurch noch besser und
differenzierter zu verstehen.
Der Kern des von uns im vorliegenden Werk verfolgten Streites gegen
die authentische Natur der Urteilswahrheit richtet sich gegen die, von
Platon und Aristoteles an, den Großteil der Philosophiegeschichte und
Geschichte der Religionen prägende Überzeugung, daß die Wahrheit des
Urteils in einer besonderen Art seiner Übereinstimmung mit der Wirklich-
keit besteht. An die letzten Endes unverrückbare und unentthronbare Stelle
dieser „Übereinstimmung“ haben sich viele Bastarde gedrängt: Erfolg,
Konsens, Kohärenz und zahlreiche andere Phänomene, durch die man das
Wesen der Wahrheit bestimmen wollte.
Wer ist nun Sieger in diesem titanischen Streit vieler neuer und alter
Wahrheitstheorien gegen die Erkenntnis des Wesens der Urteilswahrheit

690
Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.

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Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit? 599

als adaequatio (Korrespondenz)? Nicht ein Mensch oder eine Schule, nein,
die Urteilswahrheit selbst, deren Natur wir mit den klassischen Methoden
der Phänomenologie und der Philosophie überhaupt zu erhellen suchten,
hat sich im Streit der Titanen gegenüber einer Reihe von Wahrheits-
theorien, die sie umdeuten, durch andere Wahrheitsbegriffe ersetzen, oder
ganz ausschalten möchten, als siegreich erwiesen.
Unter Sieg verstehen wir hier selbstredend nicht den sozial-historischen
Sieg in den Köpfen, oder vielmehr in den Erkenntnissen oder Meinungen,
der Menschen im allgemeinen und der Philosophen im besonderen, welche
vielmehr – obwohl sie das wahre Wesen der Urteilswahrheit als adaequa-
tio überall voraussetzen und ihm dadurch wider Willen Tribut zollen – in
überwiegender Mehrheit Anhänger der Skepsis, des Relativismus und
alternativer, oder sogar der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüber
ausdrücklich feindlich eingestellter Wahrheitstheorien sind. Auch wenn
wir sehnlich wünschen, einen Beitrag zu einem neuen historischen Sieg der
richtigen Fassung der Wahrheit als adaequatio in den Köpfen von
Menschen geleistet zu haben, ist es nicht dieser Sieg, den wir eben
meinten. Der Sieg der Wahrheit, von dem die Rede war und dessen die
Wahrheit sich immer schon erfreut, ist vielmehr ein rein geistiger Sieg, ein
Sieg des Logos und der Vernunft, der in der idealen Welt rein logischer
Urteile und Argumente zeitlos gewonnen wird bzw. immer schon
gewonnen ist.
Diesem Sieg in der Welt der reinen ewigen Ideen aber steht ein Sieg der
Wahrheit und des richtigen Verständnisses der Urteilswahrheit in der
Geschichte, in der sprachlich verkörperten Welt der Philosophie gegen-
über, der erst errungen werden will. Dieser Sieg der richtigen Auffassung
der Wahrheit in der Geistes- und Philosophiegeschichte ist keineswegs
mühelos durch eine Rückkehr zur bewährten und althergebrachten,
Jahrtausende lang anerkannten Adäquationstheorie der Wahrheit zu
gewinnen. Nein, die Geistesgrößen, welche, insbesondere von Brentano
an,691 in den vergangenen Jahrhunderten die klassische Korrespondenz-
theorie der Wahrheit attackiert haben, können durch eine einfache

691
Nach ihren Vorläufern im 18. Jahrhundert und auf dem Rücken einer
Vorgeschichte, die auf Hume und Kant sowie bis auf die griechische Sophistik
zurückreicht.

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600 EPILOG

Rückkehr zu scholastischen und anderen früheren Philosophien der


Wahrheit, so vortrefflich diese auch sind, nicht überwunden werden. Im
Gegenteil verbietet geradezu die durch scharfsinnige neuere Philosophen,
denen diese früheren Lehren wohl bekannt waren, bewirkte tiefe Krise des
Wahrheitsverständnisse jeden „easy way out“ aus den Wirren des
Wahrheitsbegriffs, denen wir uns gegenüber sehen.
Diese Irrtümer und Verirrungen von großen Denkern, die zumeist, wie
etwa Franz Brentano, die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht nur tief
kannten, sondern zunächst vertreten hatten, bevor sie sich von ihr aus einer
Reihe nicht ungewichtiger Gründe abwandten, verlangen vielmehr eine
neue Ausfahrt der Philosophie, eine neue Bemühung um ein tieferes
Eindringen in die Wahrheit, ohne welches die umfassende Krise des
Wahrheitsbegriffs und ihre umstürzenden Folgen unmöglich überwunden
werden können – weder in breiterem historischen Sinn noch rein philoso-
phisch in einschlägigen Analysen.692
Der philosophische Sieg der Wahrheit als adaequatio im Streit mit
gegen sie kämpfenden oder sie in irriger Form verteidigenden Wahrheits-
theorien, dem ein breiterer historischer Sieg folgen möge, konnte nur durch
eine gründliche kritische Analyse und Diskussion der Einwände sowie
durch eine Vertiefung des Begriffs des Sachverhalts, der an die Stelle der
alten res (Dinge, Wirklichkeit) treten mußte, errungen werden, da es schon
von Brentano glasklar bewiesen worden war, daß nicht jedem wahren
Urteil, z.B. dem negativen Urteil „Das Nichts ist kein Ding“, auf der
Gegenstandsseite Dinge oder Sachen korrespondieren.693 Auch war es zur
Erreichung dieses Zieles nötig, sich mit pragmatischen, konsenstheore-
tischen und anderen Wahrheitstheorien eingehend auseinanderzusetzen,
alles prüfend, das Falsche abweisend und nur was gut ist, behaltend.
Ferner verlangte eine Neubegründung der Adäquationslehre der
Wahrheit, die Frage nach dem Wesen der Wahrheit von den Problemen der
Bedingungen, Folgen, Erkenntnisse und Kriterien der Wahrheit weitaus
deutlicher zu unterscheiden als dies in den bisherigen Philosophien der

692
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen
Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie.
693
Vgl. dazu neben den Erörterungen in den elf vorhergehenden Kapiteln den ersten
Band dieses Werkes: Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.

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Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit? 601

Wahrheit der Fall gewesen war. Wenn wir jedoch auch zwischen einer
Wahrheitstheorie im Sinne einer Wesenstheorie, einer Kriteriologie und
einer Lehre von den Bedingungen und den Folgen der Wahrheit, sowie
einer Theorie ihrer Erkenntnis zu unterscheiden und all diese, freilich im
einzelnen objektiv eng mit einander verquickten und gerade deshalb häufig
mit einander verwechselten, Aspekte zu berücksichtigen hatten, so stand
doch im Zentrum der Überlegungen des vorliegenden Bandes die Frage
danach, was die Wahrheit des Urteils ist, die Frage nach ihrem Wesen. Um
diese Frage tobt insbesondere seit den letzten drei Jahrhunderten der
Hauptstreit. Und auf diese Frage hat sich deshalb die Analyse des
vorliegenden Bandes konzentriert.
In der Auseinandersetzung mit den einzelnen Wahrheitstheorien haben
wir freilich auch eine Fülle anderer Probleme, die mit diesem Streit um die
Urteilswahrheit zusammenhängen, aber von dieser verschieden sind,
berührt, wie – insbesondere im Dialog mit Franz Brentano – die Wahrheit
des evidenten Erkennens und – vor allem im kritischen Gespräch mit
Martin Heidegger – die existentielle sowie die ontologische Wahrheit.
Wir sind jedoch trotz der notwendigen Abstecher in andere Teile der
Lehre über die Wahrheit und der Metaphysik der Wahrheit in diesem Band
in erster Linie der dramatischen Auseinandersetzung über die Urteils-
wahrheit und dem um sie geführten heißen Kampf gefolgt und haben eine
Vielzahl von Theorien kritisch geprüft, welche – mit ungeheuren Auswir-
kungen auf die Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Ethik und
Religionsphilosophie, und damit auf das gesamte menschliche Leben – den
klassischen Begriff der Urteilswahrheit in Frage stellen bzw. durch ganz
andere Wahrheitsbegriffe ersetzen wollen: wie dies in der Evidenztheorie,
Konsenstheorie, Diskurstheorie, und anderen geschieht.
Dabei hatten wir schmerzlicherweise auch auf der eigenen Seite, jener
der Verteidiger der Korrespondenztheorie der Wahrheit (wie die Adäqua-
tionstheorie der Wahrheit auch genannt wird), Gegner zu überwinden und
die Anschauungen so hervorragender Denker und Freunde dieser Lehre
wie Alfred Tarskis, in Auseinandersetzung mit dem wir die Relation der
Wahrheit zu formalisierten und nicht formalisierten Sprachen und das
Antinomienproblem zu erörtern hatten, Sir Karl Poppers, Hans Alberts und
anderer, welche die Korrespondenztheorie der Wahrheit befürworten, zu
kritisieren. Denn wir fanden in ihrer Verfechtung der Korrespondenz-

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602 EPILOG

theorie der Wahrheit eine Fülle von Momenten, die zur Verwirrung des
Begriffs der Übereinstimmung, ja sogar zu dessen Eliminierung aus dem
philosophischen Diskurs beitragen. Wir haben gesehen, wie Tarski – auf
Grund seiner Meinung, es gäbe kein präzises Verständnis des Wesens der
Urteilswahrheit für umgangssprachliche Urteile und Aussagen reicherer
formalisierter Sprachen – die Sphäre der Urteilswahrheit, oder wenigstens
einen klaren Begriff derselben, aus allen Lebensbereichen und Wissen-
schaften zu eliminieren sucht, welche keine inhaltsarme formalisierte
Sprache verwenden, und damit zu einer unannehmbaren, ja verheerenden
und überdies in sich widersprüchlichen Einschränkung des Reiches der
Urteilswahrheit gelangt. Wir mußten in ähnlicher Richtung gleichfalls
Ludwig Wittgensteins Behauptungen, daß die Bereiche der Werte, der
Ethik und der Religion völlig jenseits der möglichen Sphäre der
Urteilswahrheit, ja sogar der sinnvollen Sätze liegen, widerlegen, um die
unendliche Ausdehnung des Dominiums der Urteilswahrheit neu zu
erschließen und nicht zuzulassen, sie zwar anzuerkennen, aber nur auf
einen kleinen Bereich einzuschränken. Auch Sir Karl Poppers rein negative
Konzeption der Urteilswahrheit und der Erkenntniswahrheit auf noch nicht
widerlegte und bisher nicht falsifizierte Hypothesen, sowie seine Ersetzung
der Idee der Wahrheit durch die verisimilitude und Wahrheitsnähe,
erkannten wir als eine verworrene, unhaltbare und gleichfalls wider-
spruchsvolle Auffassung und Einschränkung der Urteilswahrheit.
Erst kraft einer kritischen Untersuchung dieser Theorien und Auf-
deckung ihrer Äquivokationen und Verwirrungen sowie durch das Licht
zahlreicher notwendiger phänomenologischer Unterscheidungen und einer
neuen Untersuchung des Trägers und gegenständlichen Bezugspunktes der
Urteilswahrheit setzte sich diese in ihrem unleugbaren und überall
vorausgesetzten Wesen siegreich durch. So ergab sich: Wer den eigent-
lichsten Sinn der Urteilswahrheit als adaequatio durch andere Theorien
ersetzen oder gar entthronen will, den straft das Wesen der Urteilswahrheit
durch Selbstwidersprüche und unsinnige Folgen; und dem widerspricht sie
vor allem durch die einleuchtende und unentthronbare Struktur ihres
Wesens, die durch die notwendigen Unterscheidungen und durch den Streit
mit der Legion ihrer Gegner in glanzvoller Klarheit ans Licht kommt.
Die aus diesem Verständnis der Wahrheit heraus verlangte Unterwer-
fung des Urteils und des menschlichen Geistes unter die Wirklichkeit, bzw.

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Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit? 603

unter die Totalität der unabhängig von allen von Menschen gefällten
Urteilen bestehenden positiven und negativen Sachverhalte, soll, so haben
die verschiedensten Denker von Brentano bis Heidegger und Habermas aus
sehr verschiedenen Gründen geltend gemacht, unannehmbar sein; und so
haben sie die Korrespondenztheorie der Wahrheit durch Evidenztheorien,
Kohärenztheorien, Konsenstheorien, pragmatische und konstruktivistische
und andere Wahrheitstheorien ersetzen oder wenigstens in ihrer Ausdeh-
nung ungeheuer einschränken wollen.
Wir dagegen haben den Versuch unternommen zu zeigen (und hoffen,
tatsächlich erwiesen zu haben), daß keine dieser alternativen Wahrheits-
theorien jenes Fundament allen menschlichen Denkens, Seins und Lebens
zu erschüttern vermag, dessen Aufklärung der vorliegende Band über den
Streit um die Wahrheit gewidmet war: jene Wahrheit, welche einzig und
allein in der Übereinstimmung des Urteils mit dem geurteilten positiven
oder negativen Sachverhalt liegt – auf welcher Ebene und in Bezug auf
welchen Seinsmodus der Sachverhalt auch, ganz unabhängig vom Urteil
selbst, bestehen mag, angefangen vom Bezug wahrer Urteile auf bloß
mögliche Welten oder sogar auf das Sein der „reinen Objekte“ bzw. rein
intentionaler Gegenstände, bis hinauf zur Wahrheit von Urteilen über das
reale und das allerrealste Sein. Das Urteil kann ja Sachverhalte über
jegliche Art von Sein und Nichtsein zum Gegenstand haben und erhebt, wo
immer es auftaucht, einen Wahrheitsanspruch, der im wahren Urteil erfüllt
ist, im falschen unerfüllt bleibt. Ob Urteile sich in formalisierten Sprachen
finden oder in der Umgangsprache gefällt werden, ist dabei nicht von
Belang.
Aus keinem Teilbereich des unermeßlichen Reiches des Seins – der
Zahlen und des Raums, der Zeit und der geometrischen Körper, der
leblosen und lebendigen Natur, der Ethik und der Welt der Werte, ja aus
keinem Reich über, auf oder unter der Erde, aus keiner Höhe des Himmels
und aus keinem Höllenabgrund, ja nicht einmal aus der Sphäre des Nicht-
seins und Nichts, und deshalb auch aus keinem sprachlich ausgedrückten
oder auch nur gedachten Urteil über all dies, läßt sich jene schlichte
Urgegebenheit der Urteilswahrheit verdrängen, die es über alles und jedes
gibt, auch wenn sie der menschlichen Vernunft in zahlreichen Fällen und

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604 EPILOG

tiefsten Bereichen unzugänglich bleibt,694 woraus mit einer gewissen Logik


die Öffnung der Vernunft gegenüber einer nur dem Glauben zugänglichen
oder geoffenbarten Wahrheit folgt, worauf schon Platon mit deutlichen
Worten hinweist.695
Daß der Mensch nur unvollständige Erkenntnis der unendlichen Fülle
wahrer Urteile besitzt, ändert jedoch nichts an der Einsicht, daß es
Wahrheit über alles und jedes gibt. Denn das Urteil, das nicht als bloßes
Produkt verworrenen menschlichen Denkens, sondern als ideale Bedeu-
tungseinheit letzter Träger der Urteilswahrheit ist, ist nicht wegen unserer
Erkenntnis oder wegen seiner inneren oder äußeren Kohärenz, nicht wegen
seiner Übereinstimmung mit dem evidenten Urteil, nicht weil die ganze
Welt oder eine Mehrheit darüber übereinstimmt, nicht weil man unter
seiner Voraussetzung in der Wissenschaft oder Technik weiterkommt,
sondern ausschließlich deshalb wahr, weil es sagt, daß ist, was tatsächlich
ist, oder daß nicht ist, was tatsächlich nicht ist; daß etwas so ist, was
tatsächlich so ist; oder daß anders ist, was in der Tat anders ist.
Diese schon von Platon und Aristoteles als solche gekennzeichnete
Wahrheit, welche in einer zeitlosen, idealen Sphäre und (wie wir im letzten
Kapitel von Wahrheit und Person in scharfer Auseinandersetzung mit
Michel Henry zeigten)696 im absoluten, göttlichen Geist, und nur in Ihm,
immer schon besteht und zugleich erstes Fundament des ganzen rationalen
Lebens und Sinnes menschlichen Daseins ist, hat seit Ewigkeiten in jedem
möglichen und wirklichen Streit ihr widersprechender Wahrheitstheorien
gegen diese gesiegt und wird immer den Sieg davontragen. Diesen
zeitlosen Sieg im Streit gegen ihre Widersacher verdankt die Urteils-
wahrheit selbstredend keiner menschlichen Bemühung, sondern dieser ihr
ewiger Sieg kann nur in dem jedem menschlichen Denken gegenüber
souverän bestehenden objektiven Charakter der Urteilswahrheit selbst
gründen und von menschlichem Denken bloß entdeckt, niemals durch es
herbeigeführt werden.
694
Von dem hier vorausgesetzten, dem menschlichen Geist gegenüber transzendenten
ontologischen Status der Urteilswahrheit handelt Kap. 4 des ersten Bandes,
Wahrheit und Person.
695
Vgl. Platon, Phaidon, 85 c-d.
696
Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums
(München: K. Alber, 1997).

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Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit? 605

Wohl aber hoffen wir, nicht nur zur in der Zeit stattfindenden
Entdeckung des zeitlosen Sieges der Wahrheit, sondern auch zu ihrem Sieg
in der Geschichte, in den Köpfen der Menschen, menschlichen Gemein-
schaften und künftiger Epochen, einen Beitrag geleistet zu haben. Und
dieser Sieg der rechten Auffassung der Wahrheit in der Zeit und in
menschlichen Köpfen ist keineswegs deshalb belanglos, weil die richtige
Theorie über die Urteilswahrheit in einer zeitlosen Sphäre immer schon
den Sieg davongetragen hat.
Denn in dem Streit um die Wahrheit geht es auch um den Sieg der
Wahrheit in der Geschichte und im realen Leben und Denken der
Menschen, in der Person, die in ihrer Würde und ihrem realen Leben und
Dasein allen reinen Ideen – jedenfalls in gewisser Weise – unendlich
überlegen ist.
Der Sieg der wahren Philosophie der Wahrheit im menschlichen Leben
besteht nicht nur einer korrekten philosophischen Theorie der Wahrheit, zu
der allein die Philosophie einen direkt relevanten Beitrag zu liefern vermag
und zu der wir einen in Jahrzehnten philosophischer Arbeit gereiften
bescheidenen Beitrag gemacht zu haben hoffen, sondern auch um den Sieg
einer auf der richtigen theoretischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit
beruhenden Praxis und Tat. Diesen ihren schönsten Sieg in der Geschichte
und im Leben jedes einzelnen Menschen kann die Wahrheit aber nicht
ohne freie Entscheidung des Menschen und überdies nur in einem Bereich
gewinnen, der jenseits philosophischer Erkenntnis, die auch freie Akte
voraussetzt,697 im Reich des Lebens liegt.
Nicht in der reinen Welt der Ideen, und auch nicht in der philoso-
phischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit durch einzelne Denker oder
ganze Generationen von Philosophen, so wichtig diese auch ist, sondern
erst in dem Sieg der Wahrheit in Form der veritas vitae, erst in der
Wahrheit des Lebens, erst in dem Sieg der Wahrheit über die Person, den
jeder Einzelne in seinem Innersten zu kämpfen und zu gewinnen hat,
entscheidet sich in erster Linie das Geschick jeder einzelnen Person und
der ganzen Menschheit.

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Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso.

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Heruntergeladen am | 09.02.16 15:40

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