Meschetiu in der Mythologie und der Orientierung der ägyptischen

Tempel

José Lull

Zusammenfassung:
Unter allen ägyptischen Sternen und Sternbildern möchte ich mich konkret auf das Sternbild Meschetiu
beziehen, das unserem Großen Bären, oder genauer gesagt dem „Großen Wagen“ entspricht. Dieses Sternbild
hatte für die Ägypter eine besondere Bedeutung, die sich nicht nur in häuÞgen Erwähnungen in religiösen
Texten widerspiegelt, sondern auch in der Tatsache, dass bestimmte Bauten nach ihm oder nach einem seiner
Sterne orientiert wurden.

Abstract:
Of all the ancient Egyptian stars and constellations I like to discuss particularly the constellation of Meskhetiu
, which is the Egyptian version of our Great Bear, or more accurately, our “Big Dipper”. That constella-
tion had for the Egyptians a special signiÞcance that is not only proved by its numerous mentions in religious
texts but also by the fact that some Egyptian tempels were oriented to it or to one of its stars.

Lokalisierung von Meschetiu
Die alten Ägypter sprachen von einer Art Sterne, die
sie Ikhemu-Seki1 nannten, was wort-
wörtlich bedeutet: „die, die nicht den Untergang
kennen”. Anscheinend handelt es sich um die Zir-
kumpolarsterne, die nicht unter dem Horizont ver-
schwinden. In den Pyramidentexten (PT) werden
diese Sterne oft erwähnt. So kann man in PT 302
(§ 458: a-c) lesen:
§ 458: a
Dieser und andere religiöse Texte erlauben verschie-
dene Interpretationen. Tatsache ist, dass insbesonde-
re die Pyramiden-Texte immer abstrakt sind und au-
ßerdem grammatisch und lexikalisch schwierig.
Wichtig ist, dass PT 302 (§ 458: c) eine Beziehung
ausspricht zwischen Meschetiu einerseits und den
Sternen, die den Untergang nicht kennen, anderer-
seits. Es lässt sich erschließen, dass die Sterne, die
das ägyptische Sternbild Meschetiu bilden, zu den
Ikhemu-Seki-Sternen gehören. Wir wissen aber
auch, dass die Ägypter diese Sterne für Götter hiel-
ten. So lesen wir zum Beispiel in PT 441 (§ 818 c):

§ 818: c
§ 458: b 3

„Mögest du zu jenen nördlichen Göttern gehen, die

den Untergang nicht kennen.”
§ 458: c 2

Jedoch sind nicht alle Ikhemu-Seki-Sterne zirkum-

„(a) Der Himmel ist hell, Seped lebt, weil Unas der
Lebende ist, der Sohn von Sepedet,
(b) denn die beiden Neunheit haben sich gereinigt
für ihn
(c) in Meschetiu, der den Untergang nicht kennt.”
1
A. Erman/H. Grapow, Wörterbuch der Aegyptischen Sprache I
(Berlin 1971), 125; R. Hannig, Großes Handwörterbuch Ägyp-
tisch-Deutsch (Mainz 1997) 99.
2
K. Sethe, Die altägyptischen Pyramidentexte I (Leipzig 1908)
235.
polar. Aus einigen Aussagen der Pyramidentexte
kann man folgern, dass die Ikhemu-Seki-Sterne zu
verstehen sind als die Sterne nördlich der Ekliptik4,
was die zirkumpolaren Sterne einschliesst. Nach
Spruch PT 520 (§ 1222 c-d) muss man eine Seite des
3
Sethe (Anm. 2) 454.
4
R. Krauss, Astronomische Konzepte und Jenseitsvorstellungen
in den Pyramidentexten (Wiesbaden 1997) 120–127; Siehe auch,
R. Krauss, Altägyptische Astronomie in den Pyramidentexten.
Sterne und Weltraum 3, 1999, 249–251.

85
Acta Praehistorica et Archaeologica 40, 2008
Himmels durchqueren, um zu den Ikhemu-Seki-
Sternen zu gelangen:
§ 1222: c
§ 1222: d 5
„(c) Möge er zu der Seite hin gehen, auf der die sind,
die den Untergang nicht kennen (d), damit er sich
unter ihnen beÞndet.”
In den Pyramidentexten wird an zahlreichen Stellen
ein „Kanal” zitiert, genannt „Kha-Kanal”,
von dem gesagt wird, dass man ihn auf seiner Nord-
oder Südseite überqueren kann. Möglicherweise be-
zieht sich dieser Kanal auf die Ekliptik6, sodass man,
vorausgesetzt dass sich der Text in PT 520 (§ 1222
c-d) auch auf das Überqueren dieses Kanals in Rich-
tung Norden bezieht, nur noch übernehmen muss,
dass die Ikhemu-Seki-Sterne, also die „unsterb-
lichen”, „die, die den Untergang nicht kennen”, nicht
nur allein die zirkumpolaren, sondern auch diejeni-
gen sind, die sich nördlich der Ekliptik beÞnden.
Aber auch diesbezüglich gibt es verschiedene Mei-
nungen, da man durch die wörtliche Übersetzung
des Begriffs Ikhemu-Seki verstehen kann, dass es
sich einzig und allein um die Zirkumpolarsterne
handelt. Andererseits könnte dieser Kanal sich gut,
wenn wir als „Krummer Kanal” überset-
zen, auf die Milchstraße beziehen7. Auf jeden Fall
liegt Meschetiu, laut der Texte, im Bereich der Ster-
ne, die sich auf der Nordseite des Himmels beÞn-
den.
Darstellung und Mythologie von Meschetiu
Die ältesten Erwähnungen von Meschetiu in den Py-
ramidentexten gehen in die Regierungszeit von Pha-
rao Unas zurück, während die ältesten Darstellungen
des Meschetiu rund drei Jahrhunderte jünger sind8
(Dyn. IX–XI). Einige Särge aus dieser Zeit bieten
sehr interessante bildliche Beispiele (Abb. 1). Me-
schetiu erscheint hier in Form eines Stierschenkels,
der von sieben Sternen gebildet wird, deren Anord-
nung an den Großen Wagen erinnert.
5
K. Sethe, Die altägyptischen Pyramidentexte II (Leipzig 1910)
188.
6
Krauss (Anm. 4) 49–56.
7
V. L. Davis, Identifying Ancient Egyptian Constellations. Jour-
nal History of Astronomy 16, 1985, 102.
86
Abb. 1: Meschetiu-Darstellungen auf Särgen der IX.-XI. Dynas-
tie (EAT I, Taf. 4; 8; 9; 14).
Im Schloss Hohentübingen wird der Sarg eines Man-
nes namens Idi aufbewahrt, und hier lesen wir:
9
„(...) Eine Opfergabe, die Meschetiu im nördlichen
Himmel gegeben wird, eine Opfergabe, die Nut
(...)”.
Also beÞndet sich das Sternbild Meschetiu im nörd-
lichen Himmel, und es bekommt eine Opfergabe.
Ein älterer Text, den ich bereits zitiert habe, macht
deutlich, dass es sich bei den Ikhemu-Seki-Sternen,
unter denen sich Meschetiu beÞndet, um Götter han-
delt. Von daher wird der Wunsch des verstorbenen
Pharao verständlich, sich in diesen Teil des Himmels
begeben zu können, denn es ist dort, wo sich die
Götter beÞnden.
Was hat der Stierschenkel in der Form von Mesche-
tiu für die Ägypter bedeutet? Eine erste Antwort auf
diese Frage Þndet sich im Buch vom Tage, das ein
Jahrtausend jünger ist als die Pyramidentexte. Das
Buch vom Tage gehört zur Textgattung der so ge-
nannten Unterweltsbücher, mit denen die Wände
einiger Gräber (XX. Dyn.) im Tal der Könige deko-
riert wurden:
(8)
(9)
(10)
(11) 10
8
O. Neugebauer/R. A. Parker, Egyptian Astronomical Texts I
[EAT] (London 1960) Taf. 1–23.
9
Ebd. Taf. 8.
10
É. Drioton, Le Livre du Jour et de la Nuit (Kairo 1942) 23.

„(8) Es ist der Schenkel (Meschetiu) von Seth, der im
(9) nördlichen Himmel an zwei steinerne Landepfäh-
le angebunden ist (10) mit einer goldenen Kette. Sei-
ne Bewachung ist Isis als Nilpferd (11) anvertraut“.
Meschetiu stellt also den Schenkel von Seth dar, je-
nem Gott der als Mörder seines Bruders Osiris einen
bösartigen Aspekt repräsentiert. Es ist Isis, die
Schwester-Gemahlin von Osiris, die den abgeschnit-
tenen Schenkel im nördlichen Himmel bewacht. Der
Schenkel ist mit goldenen Ketten an Pfählen festge-
macht. Isis hat hier die Form eines Nilpferdes ange-
nommen.
Bildliche Darstellungen Þnden sich auf den astrono-
mischen Decken von einigen Gräbern, beispielswei-
se im Grab von König Sethos I. (Abb. 2) oder im
Grab von Pedamenope. Unter den Sternbilder des
nördlichen Himmels sieht man auch Meschetiu und
Isis sowie die Ketten und Pfähle. Meschetiu hat hier
die Form eines kompletten Stieres, nicht nur eines
Stierschenkels.
Im Papyrus Jumilhac, aus der Zeit der griechischen
Herrschaft in Ägypten, stehen zusätzliche Erklä-
Abb. 2: Mythologie des Meschetiu im Grab von König Sethos I. Nach R. A. Parker, The Calendars of Ancient Egypt (Chicago 1950)
43.
11
J. Vandier, Le papyrus Jumilhac (Paris 1961) 108 und 129.
12
R. O. Faulkner, The Ancient Egyptian Pyramid Texts (Warm-
Lull, Meschetiu in der Mythologie ägyptischer Tempel
rungen darüber, wie Meschetiu in den nördlichen
Himmel geraten ist:
„Nachdem er (Horus) ihm (Seth) den Schenkel abge-
schnitten hatte, hob er ihn in die Mitte des Himmels,
wo die Götter sind, um ihn (den Schenkel im
Nordhimmel) zu bewachen und das große Nilpferd
hält ihn fest, so dass er nicht zwischen den Göttern
wandern kann.”11
Auch in anderen Texten aus der gleichen Zeit wird
erzählt, wie Horus den Seth besiegt und ihm den
Schenkel abgeschnitten hat. Danach platzierte Horus
den abgeschnittenen Schenkel im nördlichen Him-
mel und sorgte dafür, dass das große Nilpferd ihn
angebunden hält. Auch wenn diese Texte aus viel
späterer Zeit sind, geht der Ursprung der Geschichte
zweifellos auf das Alte Reich zurück, denn in den
Pyramidentexten (PT 61 § 42) wird besagt: „Oh,
Osiris, der König, nimm den Schenkel von Seth, den
Horus ihm abgeschnitten hat”.12
Der Gott Horus, in seiner Form von Harendotes, er-
hält den Beinamen “Horus, der Rächer sei-
nes Vaters”. Es war also der Gott Horus verantwor-
lich dafür, dass der Schenkel an den nördlichen Him-
inster 1969) 14.
87
Acta Praehistorica et Archaeologica 40, 2008
mel kam, und er war es, der seinen Onkel Seth
vierteilte, womit er seinen verstorbenen Vater rächte
(der auch am Himmel erscheint in seiner Form von
Sah, die mit Orion übereinstimmt13).
Die ägyptische Mythologie ist eine wichtige Quelle,
um zu verstehen, wie die Ägypter die Existenz dieses
Gestirns erklären. Jedoch scheinen die mytholo-
gischen ägyptischen Texte manchmal widersprüch-
lich. So Þnden wir auf einem Stiersarkophag (Cairo
JE 86723), der von Kom Abu Yasin stammt, 30. Dy-
nastie, folgende Inschrift:
. [...] (...)
. Das beste Beispiel stammt von einem Sarkophag aus
. der Stierschenkel in wechselnder Orientierung. Die
. 14
„Grüße an Osiris, erster Stier, du bist Osiris Stier
des Himmels [...] (...) / Die Sterne des nördlichen
Himmels, sie sind dein Meskhet-Schenkel, sie ver-
bergen sich nie im westlichen Himmel / wie die De-
kanal Sterne, (sie) reisen entgegengesetzt in der
Nacht, sowie am Tage. / Sie stehen hinter dem groß-
en Nilpferd des nördlichen Himmels, wie dein Mesk-
het-Schenkel, wenn es zum südlichen Himmel wan-
dert, in die Nähe der Seelen der Götter, die in Orion
sind“.
Laut letzterem Text wäre also das Stierbein eine
Form von Osiris, etwas absolut inkohärentes mit den
vorhergehenden Texten. Aber noch der klassische
Schriftsteller Plutarch berichtete in „De Iside et Osi-
ride“ „dass nach ägyptischer Auffassung die Seele
Abb. 3: Bewegung des Meschetiu in einem Sarkophag aus Kom Abu Yasin, XXX. Dynastie (EAT III, Taf. 24).
13
K. Locher, New Arguments for the Celestial Location of the
Decanal Belt and for the Origin of the $3h-hieroglyph. In: VI
Congresso Internazionale di Egittologia, Atti II (Torino 1993)
280.
14
O. Neugebauer/R.A. Parker, Egyptian Astronomical Texts III
88
von Typhon der Große Bär ist”15. Typhon ist natür-
lich der griechische Gott, der dem ägyptischen Seth
entspricht. Auf diese Weise erfahren wir aus der
ägyptischen Mythologie, wie das Sternbild Mesche-
tiu im Nordhimmel entstanden ist.
Die Sterne des Meschetiu
Die Form von Meschetiu und die Anzahl der Sterne,
die den Stierschenkel bilden, ist auf den Särgen der
IX. bis XI. Dynastie am besten dargestellt. Es wur-
den sieben Sterne, die sieben Sterne unseres Großen
Wagens, markiert16.
Die Ägypter beobachteten auch die Bewegung dieses
Sternbilds und die daraus resultierende Veränderung
seiner Stellung am Himmel im Laufe eines Jahres.
Kom Abu Yasin (Abb. 3). In zwei Registern erscheint
Bilderfolge beginnt in der rechten oberen Ecke. Das
besagte Feld entspricht dem ersten Monat von Achet.
Von dort aus muss man nach links folgen, sodass di-
ese ersten drei Felder sich auf die Stellung beziehen,
die das Stierbein am Himmel während dieses ersten
Monats Achet zu Beginn der Nacht ( ), an Mit-
ternacht ( ) und bei Morgengrauen ( ) ein-
nimmt. Weiter nach links folgend, Þnden wir den
Stand von Meschetiu für diese gleichen Zeitpunkte
der Nacht bis zum zweiten Monat von Peret. Die
Reihe geht weiter im zweiten Register, im Feld rechts
außen, und vervollständigt so den Rest des Jahres.
Ein einziger Blick zeigt, dass diese Darstellung der
verschiedenen Positionen des Mesechtiu im Laufe
einer Nacht wesentliche Fehler enthält. Aber inso-
fern sich die Darstellung auf einem Sarkophag beÞn-
det, sollte sie ja auch keinen vollen astronomischen
(Plates) (London 1969) Taf. 24.
15
Plutarco, Isis y Osiris (Barcelona 1996) 58.
16
J. Lull/J.A. Belmonte, A Firmament Above Thebes: Uncover-
ing the Constellations of Ancient Egyptians. Journal History of
Astronomy 37, 2006, 377–378.

Nutzen haben. Wichtig bleibt die Tatsache, dass die
verschiedenen Positionen des Meschetiu durch das
Jahr hindurch dargestellt wurden, denn daraus folgt,
dass dieses Sternbild für die alten Ägypter eine be-
sondere Bedeutung hatte.
Ein klares Beispiel dafür bietet die astronomische
Decke von Senenmut, aus der Zeit der Königin Hat-
schepsut. Wie in anderen Beispielen aus der gleichen
Epoche ist statt des Stierschenkels ein eiförmiger
Stier mit vier kleinen Beinen dargestellt. Das Beson-
dere an dieser Darstellung ist jedoch die Bildung des
Stierschwanzes aus drei Sternen von denen der letzte
rot ausgemalt, mit einem roten Kreis umgeben und
überdies durch ein spitzes Objekt markiert ist. Mei-
ner Meinung nach ist hier der Stern Alkaid hervorge-
hoben.
Ich halte es für möglich, dass das spitze Objekt kein
Gestirn darstellt, sondern ein Gerät zur Beobach-
tung17. Genauer lässt sich das auf der astronomischen
Decke von Pedamenope (Abb. 4) erkennen, die fast
ein Jahrtausend jünger ist als die Darstellung im Se-
nenmut-Grab. Bei Pedamenemope wird das spitze
Objekt als eine Art Pfosten wiedergeben. Es scheint
kein Zufall zu sein, dass die erste der Gottheiten, die
sich links davon beÞnden, ihren rechten Arm erhebt
und in der Hand etwas fest hält was ein bay sein
könnte, das heißt, ein altägyptisches Visiergerät.
Wenn wir das bay-Gerät mit dem Pfosten und dem
im Grab von Senenmut rot markierten Stern in Ver-
bindung bringen, dann scheint es eindeutig zu sein,
dass der Stern Alkaid anvisiert wurde. Der Zweck
dieser Visuren könnte die Orientierung von Gebäu-
den gewesen sein; auch die Bestimmung von Meri-
diandurchgängen von Alkaid ist denkbar.
Seit der Epoche um 1500 v.Chr. wurde der Mesche-
tiu anders dargestellt als früher. Diese Tatsache
Abb. 4: Astronomische Decke von Pedamenope, XXVI. Dynas-
tie. Nach R. H. Wilkinson, JARCE 28, 1991, 154 Abb. 4.
17
J. Lull, La astronomía en el antiguo Egipto (Valencia 2006)
Lull, Meschetiu in der Mythologie ägyptischer Tempel
könnte bedeuten, dass mit den ursprünglich sieben
Sternen andere Sterne kombiniert wurden, um das
Bild eines kompletten Stiers zu erhalten. Vielleicht
hat man sich damit begnügt, gewisse Sterne einzube-
ziehen, die sich als Stierhörner deuten ließen. Der
eiförmige Stierkörper könnte das Produkt der ikono-
graphischen Verschmelzung des Stierschenkels mit
dem Stierleib sein. Auf jeden Fall ist an verschie-
denen Decken, wie beispielsweise bei Pedamenope,
das Gehörn des Stieres durch eine Reihe von Sternen
markiert. Aber es könnte sich auch um einen Zufall
handeln, da die Ägypter die gegenseitige Lage von
Sternen nicht genau wiedergegeben haben. In der
Regel scheint es sich nur um eine dekorative Anord-
nung zu handeln, ohne Rücksicht darauf, wie man
die die Sterne tatsächlich am Himmel sieht.
Trotzdem ist Folgendes wahrscheinlich: Wenn man
die Orientierung des Stierschenkels berücksichtigt
und wenn das Stiergehörn bestimmte Sterne abbil-
den soll, dann muss es sich um die Sterne 1, 23, 29,
30, 25 und 9, 12 von UMa handeln.
Es lässt sich also nachvollziehen, wie die Ägypter
das Sternbild Meschetiu, sowohl in seiner Form als
Stierschenkel als auch in seiner Form als kompletter
Stier, gesehen und dargestellt haben. (Abb. 5)
Astronomische Orientierung nach Meschetiu
Es ist möglich, dass das Sterbild Meschetiu schon
während des Alten Reiches dazu diente, Bauwerke
zu orientieren. Das Beispiel, um das am meisten ge-
stritten wurde, ist die Große Pyramide von Cheops
aus der IV. Dynastie.
Abb. 5: Meschetiu und seine Form als Stierschenkel und Stier.
GraÞk von J. Lull mit Sky Astronomy Software.
235–241.
89
Acta Praehistorica et Archaeologica 40, 2008
Unlängst von Dorner18 vorgenommene Messungen
haben ergeben, dass die Abweichung von der Nord-
Süd-Achse der Pyramide durchschnittlich –3’06”
beträgt, sodass die Ostseite –3’24” abweicht und der
Westen –2’48”. Diese Fehler sind an der Grenze der
technischen Möglichkeiten mit dem bloßen Auge.
Eine Reihe von Löchern, die längs der Pyramide von
Cheops drei Meter von der Grundßäche entfernt ge-
graben wurden, scheinen eindeutig zu beweisen,
dass sie dazu benutzt wurden, um Pfosten und Seile
zu befestigen19, die helfen sollten, die Grundlinien
der Pyramide festzulegen, nachdem die genauen
Himmelsrichtungen bestimmt worden waren. Es ist
offensichtlich, dass die Ägypter einzig durch astro-
nomische Kenntnisse die große Pyramide orientie-
ren konnten.
Es gibt zahlreiche Vorschläge, wie die Ägypter die
Große Pyramide orientiert haben könnten. Bei zwei
von diesen Vorschlägen spielt Meschetiu eine Rolle.
Im Jahr 1952 verwies Pólak20 darauf, dass in der Zeit
Abb. 6: Die Orientierung der Cheops-Pyramide nach Meschetiu, nach Pólak und Spence. Nach Lull (Anm. 17) 296; 299.
18
J. Dorner, Die Absteckung und astronomische Orientierung
ägyptischer Pyramiden. Ungedr. Ph.Dr. Dissertation (Innsbruck
1981) 71 ff.
19
M. Haase, Eine Stätte für die Ewigkeit. Der Pyramidenkom-
plex des Cheops (Mainz 2004) 22.
20
B. Polák, Astronomická orientace egyptských chrámú a pyra-
mid. Rÿ íše hveÿ zd 33, 1952 (nach J.-Ph. Lauer, Observations sur
les pyramides [Kairo 1960] 117).
21
K. Spence, Ancient Egyptian chronology and the astronomical
90
von Cheops die gleichzeitige untere Kulmination der
Sterne Megrez (δ UMa) und Phecda (γ UMa) ein
ausgezeichneter Indikator für die Nordrichtung ge-
wesen wäre. Vor sechs Jahren machte Spence21 den
Vorschlag, dass die Nordrichtung aus der oberen
Kulmination von Mizar (ζ UMa) und der gleichzei-
tigen unteren Kulmination von Kochab (β UMi) ab-
gelesen wurde. (Abb. 6)
Wenn beide Methoden durch Jahrhunderte hindurch
angewendet wurden, dann musste es zu einem mit
der Zeit anwachsenden Fehler kommen, da sich die
Koordinaten der beobachteten Sterne aufgrund der
Präzession änderten. Unter dieser Voraussetzung hat
man mit Hilfe von verschiedenen GraÞken versucht,
die Abweichungen in den Nord-Süd-Achsen mit
einer absoluten Chronologie der Pyramiden zu ko-
rellieren22. Aber wenn wir die Orientierungsfehler
bei einer größeren Gruppe von Pyramiden betrach-
ten, dann kommen wir zu dem Schluss, dass sie sich
nicht durch die einheitliche Anwendung einer ein-
orientation of pyramids. Nature 408, 2000, 320–324
22
S. C. Haack, The Astronomical Orientation of the Egyptian
Pyramids. Archaeoastronomy 7, 1984, 119–124; K. Gadré, La
signiÞcation astronomique des pyramides d’Égypte (Château-
Gontier 1998) 93–114; Spence (Anm. 21) 320–324; ders., An-
cient Chronology: Astronomical Orientation of the Pyramids.
Nature 412, 2001, 699–700; J.A. Belmonte, On the orientation
of the Old Kingdom pyramids. Archaeoastronomy 26, 2001, 1–
20.

zigen Methode erklären lassen. Nach meiner Mei-
nung haben die Ägypter bei der Nord-Süd-Ausrich-
tung der Pyramiden nicht immer die gleiche Orien-
tierungsmethode angewendet.
Meiner Meinung nach gibt es verschiedene Erklä-
rungsmöglichkeiten für die Nord-Süd-Ausrichtung
einer Pyramide23. Es kann sich um eine sekundäre
Orientierung nach Norden handeln, durch Ausrich-
tung an einer älteren Pyramide, die ihrerseits bereits
nach Norden orientiert war. Es kann sich um eine
primäre Nordorientierung handeln durch Beobach-
tung der Kulmination von bestimmten Zirkumpolar-
sternen (wie die von Meschetiu). In Frage kommt
auch die Orientierung aufgrund der Beobachtung der
Sonne, usw. Die ganz verschiedenen Orientierungs-
Werte beweisen auf jeden Fall, dass es nicht nur eine
einzige Methode zur Ausrichtung der Pyramiden
nach den Himmelsrichtungen gab.
Aus der längsten Zeit der altägyptischen Geschichte
sind keine Texte erhalten, die sich ausdrücklich auf
die stellare Orientierung von Tempeln und Gräbern
beziehen. Aber das muss nicht heißen, dass es keine
stellaren Orientierungen gegeben hat. Erst in sehr
späten Texten Þnden wir Bemerkungen über die Ori-
entierung von Tempeln in Richtung auf das Sternbild
Meschetiu. So lesen wir zum Beispiel im ptolemä-
ischen Tempel von Edfu, den Ptolemaios III. im Jah-
re 237 v.Chr. gegründet hat (Edfu II, 31):
24
„Ich halte den Stab und nehme den Griff des Schlä-
gels. Ich messe mit Seshat. Ich wende mein Gesicht
zum Lauf der Sterne und mache, dass meine Augen
sich zu Meschetiu richten, / indem Sek-Aha (der In-
dikator der Zeit: Thot) bei seinem Merkhyt ist. Ich
bestimme die vier Ecken des Tempels”.
Diese Texte werden von Darstellungen begleitet, die
zeigen, wie der Pharao und die Göttin Seshat lange
Stäbe halten, verbunden durch ein Seil, während sie
gleichzeitig ein Gerät in der Art eines Visiers, einen
bay, am Griff festhalten (Abb. 7). Eigentlich ist dies
23
J. Lull, Métodos de alineación astronómica aplicados a
la orientación de la pirámide de Khufu. Boletín de la Aso-
ciación Española de Egiptología 12, 2002, 27–43.
24
Z. Zaba, L’orientation astronomique dans l’ancienne Égypte et
Lull, Meschetiu in der Mythologie ägyptischer Tempel
Teil eines sehr alten Rituals, genannt , das
heißt das „Spannen des Strickes”. Ein gespanntes
Seil, sei es nach den Sternen orientiert oder nicht,
diente dazu, die Grundachsen des Tempels festzule-
gen. Wenn wir jetzt auf das schon besprochene Bild
an der Decke von Pedamenopes Grab zurückkom-
men, können wir sehen, wie sich die wichtigsten Be-
standteile des Rituals zu wiederholen scheinen: eine
Person mit einem bay, ein langer Stab und die astro-
nomische Orientierung zum Meschetiu.
Der Text von Edfu lässt keine Zweifel: Das Gestirn
von Meschetiu, bestehend aus den wichtigsten Ster-
nen unseres Großen Wagens, diente zur Orientierung
des Tempels. Durch die Messungen, die Belmonte25
vor kurzem im Rahmen des Projektes Orientatio ad
sidera vorgenommen hat, wissen wir, dass der ptole-
mäische Horus-Tempel von Edfu eine Ausrichtung
von 1º 45’ N hat. Dieser Wert kann in verschiedener
Weise zustande gekommen sein:
a) eine Ausrichtung nach Norden wurde vorgenom-
men, wobei man sich nach der Flucht eines bereits
vorhandenen Gebäudes richtete. Wir wissen, dass
Abb. 7: Das Spannen des Strickes. Nach R. H. Wilkinson, The
Complete Temples of Ancient Egypt (London 2000) 38.
la précession de l’axe du monde (Praga 1953) Taf. II.
25
M. Shaltout/J.A. Belmonte, On orientation of ancient
Egyptian Temples I: Upper Egypt and Lower Nubia. Jour-
nal History of Astronomy 36, 2005, Tab. 1.
91
Acta Praehistorica et Archaeologica 40, 2008

das gelegentlich vorgekommen ist und es den Ägyp-

tern in diesen Fällen anscheinend nicht auf Präzision
ankam.
b) kann der Aufgang eines Sternes des Meschetiu an-
gepeilt worden sein. Ich sage Aufgang, denn in der
Spätzeit waren nicht alle Sterne des Meschetiu zir-
kumpolar.

Es wurde bereits erwähnt, dass an der astrono-

mischen Decke von Senenmut der letzte Stern am
Stier-Schwanz hervorgehoben ist und dass dieser
Stern dem Alkaid entsprechen muss. In erster Linie
muss man also an Alkaid denken, wenn bei der Grün-
dung des Edfu-Tempels ein Stern des Meschetiu an-
gepeilt wurde.
Im Jahr 237 v.Chr. wurde Alkaid in einer Höhe von
2º sichtbar (wenn wir die atmosphärische Extinktion
berücksichtigen), fast 18º vom Azimut entfernt. Da-
gegen erreichte Mizar einen der Orientierung des
Tempels ähnlichen Azimut in einer Höhe von ca.
2º20’.26
Wenn also der Edfu-Tempel mit Hilfe des Meschetiu
nicht nur annähernd nach Norden ausgerichtet wor-
den wäre, sondern eine konkrete Orientierung an
einem seiner sieben Sterne vorliegt, dann wäre Mi-
zar und nicht Alkaid der beste Kandidat gewesen. Abb. 8: Die Orientierung des Tempels von Denderah nach Al-
Wie wir aber gesehen haben, heißt es in den Texten kaid, Ach von Meschetiu. Nach J. Lull, Astronomía 84, 2006, 31
von Edfu nicht, dass ein bestimmter Stern von Me- Abb. 8.
schetiu angepeilt wurde.
Im Jahr 54 v. Chr. gründete Ptolemaios XII. den Stern von Meschetiu in dieser Position erschien.
Tempel der Göttin Hathor in Denderah. Hier ist in Nicht durch Zufall ist dieser Stern kein anderer als
den Gründungsinschriften von einem speziÞschen Alkaid29 (Abb. 8), der in dieser Zeit nicht zirkumpo-
Ziel im Sternbild Meschetiu die Rede: lar war. Er ist fast so hell wie der hellste Stern von
„(...), der König der Beiden Länder, hat das Seil mit UMa, aber selbst wenn Alkaid nicht der hellste unter
Genugtuung gespannt und mit seinem Blick zu ‚Ach’ den Sternen des Meschetiu ist, könnte er doch für die
von Meschetiu, hat er das Haus der Göttin, der Her- Ägypter als der “geeignete” gegolten haben, so wie
rin von Denderah, gegründet”.27 es aus der Decke von Senenmut hervorzugehen
Laut diesem Text richtete der König beim Ritual des scheint. Letzten Endes war Alkaid durch seine Posi-
Strickspannens seinen Blick auf Ach von Meschetiu. tion am Ende des Stierschenkels oder des Stier-
Aber wir wissen nicht genau, wie Ach in diesem Zu- schwanzes hervorgehoben. Also scheint es so zu
sammenhang zu übersetzen ist. Das Wort Ach kann sein, dass die Ägypter in Denderah den Hathor-Tem-
als “glänzend” und “geeignet (nützlich)” übersetzt pel ausrichteten, indem sie Ach von Meschetiu, das
werden28. Wenn wir uns für “den glänzenden Me- heisst den Stern Alkaid, beobachteten.
schetiu” entscheiden, müssten wir an seine hellsten
Sterne denken – an Dubhe (50-α UMa) und Allioth Dr. José Lull
(77-ε UMa), mit Magnitude 1,8, und Alkaid (85-η San Francisco de Borja, 81
UMa), mit Magnitude 1,9. E-46701 Gandía (Valencia)
Da der Denderah-Tempels auf 18º vom Azimut aus- Spanien
gerichtet ist, bleibt nur noch zu überprüfen, welcher jose.lull@gmail.com

26
Lull (Anm. 17) 336. 28
Hannig (Anm. 1) 11.
27
Zaba (Anm. 24) 59. 29
Shaltout/Belmonte (Anm. 25) 289-291; Lull (Anm. 17) 339.

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