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Autonom oder authentisch? Rousseau und die Ambivalenzen des modernen Bürgerseins
Author(s): Karlfriedrich Herb
Source: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, Vol. 20,
Themenschwerpunkt: Recht und Ethik im Werk von Jean-Jacques Rousseau / Law and
Ethics in Jean-Jacques Rousseau's Works (2012), pp. 93-104
Published by: Duncker & Humblot GmbH
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/43593900
Accessed: 25-11-2018 18:00 UTC
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Autonom oder authentisch?
Karlfriedrich Herb
I. Feiern
Im Grunde wissen wir es alle. Geburtstagsfeiern haben ihre Tücken. In aller Re-
gel überfordern sie Jubilare und Gratulanten. Die einen haben die Qual bei der
Wahl der Gäste, die anderen stressi die Suche nach dem passenden Geschenk, dem
angemessenen Outfit und der treffenden Glückwunschformel - schließlich will man
die schwierige Balance zwischen Nähe und Distanz wahren und an einem solchen
Tag nicht alles zur Sprache bringen. Das gelingt bekanntlich selten. Häufig kommen
die falschen Freunde mit den richtigen Themen, und den wahren Freunden fehlen
die Worte.
Dies wird kaum einfacher, wenn es sich bei solchen Geburtstagen um Geburts-
tage von Klassikern handelt. Der dreihundertste Geburtstag Jean-Jacques Rousseaus
liefert dazu Bestätigung und schlechtes Beispiel zugleich. Gerade bei diesem von
Natur aus Unangepassten dürften Kopfzerbrechen über Einladungslisten und Gast-
geschenke unvermeidlich sein. Gibt es in seinem Fall überhaupt Anlass zum frohen
Feiern bei so vielen guten Gründen zur Klage? Und ist nicht schon alles von allen
gesagt? Und wie könnte überhaupt ein gemeinsames Motto zur allgemeinen Begeis-
terung lauten? Welche Wahlverwandtschaften Rousseaus könnten noch ans Tages-
licht kommen, nachdem Rousseaus Politische Philosophie aus dem Schatten kantia-
nischer Vereinnahmung1 und frühbürgerlicher Kleinkrämerei2 herausgetreten ist?
Werden frustrierte Republikaner, liberale Dissidenten, unbewegliche Kommunitaris-
ten, hastige Revolutionäre, tugendhafte Despoten, totalitäre Gesetzgeber, professio-
nelle Schwarzseher, grüne Aussteiger und rote Facebooker sich künftig noch auf
Rousseaus fragwürdige Autorität berufen dürfen?
Als vor einem Jahrhundert Rousseaus 200. Geburtstag in Paris auf der Tagesord-
nung stand, feierte man den Jubilar in bester Absicht mit einer gemeinsamen Suche
nach der Einheit seines Werkes. Heute steht die Feier im Zeichen der Ambivalenz
1 Vgl. Julius Ebbinghaus , Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Darmstadt 1968;
Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische
Überlegungen im Anschluss an Kant. Frankfurt a. Main 1994.
2 Vgl. Iring Fetscher , Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokrati-
schen Freiheitsbegriffs. Frankfurt a. Main 3 1975.
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II. Ausgraben
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Bild, das Rousseau im Diskurs über die Ungleichheit von der ursprünglichen Posi-
tion des homme naturel zeichnet. Hier glänzt das alter ego durch Abwesenheit.
Von Natur aus ist der Mensch nicht auf Sozialität geeicht: ein solitäres Wesen,
das weder von sich weiß noch den Anderen kennt - und gerade deshalb eins mit
sich selbst ist. Der Archetypus dieses Einsseins ist durch keinerlei Reflexion getrübt
- sie würde das unschuldige Glück des Anfangs ruinieren. Kein inneres Telos, son-
dern reine Kontingenz ist es, die das nicht festgestellte Tier zum potentiellen Ver-
nunftwesen und zum Mitmenschen werden lässt.4 Der Fortgang der Geschichte ist
allzu bekannt. Die durch Perfektibilität ermöglichte Entfaltung des Menschlichen ist
zutiefst ambivalent. Sie führt zu Aufklärung und Verblendung, Tugend und Laster,
Größe und Verfall, Humanität und Verrücktheit. Im Horizont dieses anthropolo-
gischen Gesetzes wirkt das Erscheinen des Anderen prekär auf das Selbstsein und
die Selbstbestimmung des Einen. Ruht der natürliche Mensch anfangs in sich selbst,
ganz im Gefühl der Existenz aufgehend, spielt er von jetzt an vor den Augen der
anderen sich selbst - und verliert sich dabei. Der homme de la nature mutiert zum
homme de l ' homme (OC IV 549).
III. Vereinbaren
Kein Zweifel: Mit dem zögerlich gewählten Titel Vom Gesellschaftsvertrag be-
kennt sich Rousseau zur Tradition des modernen Kontraktualismus. Politische Herr-
schaft, so das programmatische Credo, lässt sich allein aus der Idee der Vereinigung
freier und gleicher Subjekte begründen. In die kontraktualistische Matrix ist einge-
schrieben: der Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft, des Teils vor dem
Ganzen, des Rechts vor der Pflicht, der Freiheit vor dem Zwang. Für den Kontrak-
tualisten gehört Bürgersein so wenig zur Natur des Menschen wie der Staat zu den
natürlichen Bedingungen der Menschheit. Gott, Gewalt und Natur haben als ver-
lässliche Garanten politischer Herrschaft ausgedient; Autonomie lautet das neue be-
gründungstheoretische Hauptwort. Damit ist Rousseau beileibe nicht allein: „Man
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Kein Wunder, dass diese eigenwillige Verbindung von Freiheitsrecht und Souve-
ränität liberalen Argwohn provoziert hat. Hier übt das Schreckgespenst der demo-
kratischen souveraineté une et indivisible seine ersten Schritte: Die volonté générale
nimmt an nichts anderem Maß als an sich selbst, und ist dabei selbst maßlos. Vor
Tocqueville entdeckt Rousseau damit die ungezügelte Leidenschaft des demokrati-
schen Souveräns, die fragwürdige Besetzung des magischen Ortes der Macht durch
das Volk.
5 Vgl. Carl Schmitt , Die Diktatur. Von den Anfangen des modernen Souveränitätsgedan-
kens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin 2006; dazu kritisch: Franz Halas , Träumer
und Kronjurist. Der Zwang zur Freiheit bei Rousseau und Schmitt. In: Rousseaus Zauber. Les-
arten der Politischen Philosophie. Hg. v. Karlfriedrich Herb u. Magdalena Scherl. Würzburg
2012, 57-65.
6 Vgl. Kevin Inston, Rousseau and Radical Democracy. London /New York 2010.
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IV. Schweigen
Anders als von Rousseau anfangs vorgesehen, kann die Republik die Natur des
Menschen nun doch nicht lassen, wie sie ist (OC III 381). Um Bürger zu formen,
muss die Natur des Menschen verändert, ja zerstückelt werden.7 Der citoyen muss
den Menschen in sich völlig zurücknehmen, um ein allgemeines Leben in der Re-
publik zu führen. Hier fallt zusammen, was der vertragstheoretische Anfang noch
trennt, nämlich das Schicksal des Einzelnen und das Telos des Gemeinwesens.
„Wir beginnen erst eigentlich Menschen zu werden, nachdem wir Bürger gewor-
den sind" (OC III 286), schreibt Rousseau ungeniert im Genfer Manuskript. Mit
dieser Wendung werden Kontraktualismus und Republikanismus zunehmend zu
Antagonisten.
Theoretisch eng wird es für Rousseau auch dort, wo er das Prinzip der Autono-
mie bei der institutionellen Ausgestaltung der Republik mit bitterer Konsequenz
verfolgt. Politische Repräsentation hat in Rousseaus Republik bekanntlich keinen
Platz, das moderne Repräsentativsystem gilt als Tabu. Ohne Wenn und Aber fordert
Rousseau die Realpräsenz des Gemeinwillens, will aus der Rechtsfiktion volenti
non fit iniuria politische Realität machen. Das Volk soll bis in den letzten Winkel
der Republik herrschen. Rousseaus Fetischismus politischer Unmittelbarkeit geht
das gouvernement des modernes 8 gegen den Strich: Alles mit und für das Volk.
Autonomie ist alles, und alles ist Autonomie.
7 In der Erstfassung akzentuiert Rousseau den Bruch mit der Natur noch drastischer. Hier
ist nicht von altérer , sondern von mutiler die Rede (OC III 313).
8 Vgl. Bernard Manin , Principes du gouvernement représentatif. Paris 2008.
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V. Wohnen
9 Vgl. Mareike Gebhardt , Von Göttern und Engeln. Die Republik zwischen Ideal und Uto-
pie bei Kant und Rousseau. In: Rousseaus Zauber. Hg. v. Karlfriedrich Herb u. Magdalena
Scherl. Würzburg 2012, 19-31.
10 Vgl. Karlfriedrich Herb /Kathrin Morgenstern /Magdalena Scherl , Im Schatten der Öf-
fentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und Hannah Arendt In: Jahr-
buch für Recht und Ethik 19 (201 1), 275-298.
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Schon früh zählt Rousseau die „süße Gewohnheit, einander zu sehen und zu ken-
nen" (OC III 112) zu den Charakteristika des Bürgerseins. Er verlangt nach über-
schaubaren und durchsichtigen Verhältnissen. Rousseaus Bürger braucht keinen
Schutz vor den Blicken der Allgemeinheit und des Einzelnen. Die Republik ist ein
offenes Haus, das Privates und Öffentliches der Helligkeit preisgibt. Den Freunden
der Republik ist alles gemein. „Der erste Schritt zum Laster ist der, aus unschuldi-
gen Handlungen Geheimnisse zu machen; und wer sich gern verbirgt, hat früher
oder später Ursache, sich zu verbergen. Ein einziges Gebot der Sittenlehre kann
aller andern Stelle vertreten, dieses nämlich: Tue und sage niemals etwas, was nicht
die ganze Welt sehen und hören könnte. Ich meinerseits habe stets jenen Römer als
den hochachtungswürdigsten Mann betrachtet, der wünschte, sein Haus werde so
gebaut, daß man alles, was darin vorginge, sehen könnte." (OC II 424)
Wie man im republikanischen Haus lebt, davon erfahrt der Leser des Gesell-
schaftsvertrages kaum etwas. Das Private kommt lediglich dort zur Sprache, wo es
der Republik bedrohlich wird - wenn es droht, dem Bürger die republikanische
Libido zu entziehen. Ansonsten ist es kein Thema. Über die Frau in der Gemeinde
schweigt Rousseau so hartnäckig, dass man nicht einmal ihre Abwesenheit bemerkt.
Warum sollte man? Die Frau nimmt keinen Anteil am öffentlichen Leben, ihr Ak-
tionsradius bleibt auf die Intimität des Hauses beschränkt. Hier ist sie - kraft des
Begehrens - Herr im Haus.
Wie sehr die republikanische Differenz, die Trennung von Öffentlichem und
Privaten, insgeheim durch die Geschlechterdifferenz markiert ist, zeigt ein Blick in
den Emile und den Brief an D ' Alembert . Dort liefert die heterosexuelle Matrix ein
einfaches Muster: Öffentlichkeit ist männlich, Privatheit ist weiblich. Die Republik
ist eine exklusive Männergesellschaft. Wird dieses Rollenspiel von Mann und
Frau gewahrt, ist in der Republik alles in Ordnung. Dagegen bringen die Frau in
der Politik und der Mann im Rock die geschlechtliche und politische Ordnung
gleichermaßen durcheinander. Ordnung muss sein! Obwohl die Frau im republika-
nischen Haushalt gefangen bleibt, ist sie für das öffentliche Leben der Republik
von immenser Bedeutung. Als privates Wesen sorgt sie für die affektiven Grund-
lagen der Republik. Hier erhält das Politische seine eigentliche, weibliche Verfas-
sung: Haushalt und Familie werden zur Keimzelle der Republik. Als kleines Vater-
land der Familie (OC IV 700) macht das Haus die Rousseausche Polis überhaupt
erst bewohnbar.11
VI. Spielen
Freilich ist Rousseaus Begriff von politischer Öffentlichkeit alles andere als ein-
deutig. Im Gesellschaftsvertrag verfliegt der Charme lebendiger Bürgerbeteiligung,
11 Vgl. Friederike Koster, Rousseau - Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bür-
gerlichen Familie. Berlin 2005.
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13 Vgl. Jean Starobinski , Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt a. Main 2003.
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„Was werden aber schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was
wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele
zusammen kommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit
Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest
haben. Oder besser noch: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Dar-
stellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle bes-
ser miteinander verbunden sind" (OC V 1 15).
Als Zelebration kollektiven Glücks hat das Fest nichts zum Gegenstand als sich
selbst. Hier ist die republikanische Lebensgemeinschaft ganz bei sich. Wer wollte
Rousseau aus diesem Traum wachrütteln?14
VII. Scheitern
Gleich zu Beginn konfrontiert er seine Leserinnen und Leser mit der bitteren
Wahrheit: das Zeitalter des Bürgers ist vorüber, die Figur des republikanischen cito-
yen nur noch ideengeschichtliches Zitat. Nun erscheint der Gegensatz von Bürger
und Mensch als ganz und gar unüberwindbar. Nur kurz lässt Rousseau im ersten
Entwurf des Emile die Möglichkeit anklingen, natürliche und politische Erziehung
miteinander zu versöhnen. Doch Rousseau ist kein Abenteurer der Dialektik, er
nimmt jede versöhnliche Aussicht auf Synthese. Der republikanische Grundsatz
Tertium non datur duldet keine Ausnahme: „Man bekämpft [. . .] entweder die Natur
oder die sozialen Einrichtungen und muss wählen, ob man einen Menschen oder
einen Bürger erziehen will: Beides zugleich ist unmöglich" (OC TV 248). Doch die
angedeutete Alternative wirkt fadenscheinig. Die Wahl zwischen Mensch und Bür-
ger besitzt lediglich spekulativen Charakter. Damit bestätigt sich der frühe Verdacht
aus Rousseaus Erstem Diskurs : „Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astro-
nomen, Poeten, Musiker, Maler. Wir haben keine Bürger (citoyens) mehr." (OC III
26) Angesichts der vollendeten Tatsachen der bürgerlichen Gesellschaft entpuppt
sich die Erziehung zum citoyen als Anachronismus. Mit dem zeitgenössischen
bourgeois ist kein Staat, geschweige denn eine Republik zu machen. „Eine öffent-
liche Erziehung gibt es nicht mehr und kann es nicht mehr geben, denn wo kein
Vaterland ist, gibt es auch keine Bürger mehr" (OC IV 250).
Will Rousseau den Bürgerbegriff im Gesellschaftsvertrag noch zu neuem Leben
erwecken, zeigt er sich im Emile restlos ernüchtert: Seinetwegen können die Be-
griffe citoyen und patrie ganz aus dem Wortschatz der modernen Sprachen gestri-
14 Rousseaus Traum sollte sich allerdings für viele angelsächsische Interpreten im Zeitalter
des Kalten Krieges als Alptraum erweisen. Vgl. Jacob L. Talmon , Die Ursprünge der totalitä-
ren Demokratie. Köln 1961; Lester Crocker , Rousseau's social contract. An interpretive essay.
Cleveland 1968.
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VIII. Befreien
Unter solchen Umständen bleibt der innere Rückzug als letzte Option. Emiles
innere Freiheit ist unempfindlich gegenüber den Freiheiten der anderen, mit der
Freiheit des citoyen verbindet sie nicht das Geringste: sie ist nicht von dieser Welt:
„Die Freiheit besteht in keiner Regierungsform, sie lebt im Herzen des freien Men-
schen, er trägt sie überall mit sich" (OC IV 857).
Auf diese Weise bestätigt der traurige Schluss des Erziehungsromans seinen illu-
sionslosen Anfang. Rousseau besiegelt damit das Ende einer Illusion. Emiles Ge-
schichte ist damit allerdings noch nicht zu Ende geschrieben.
Im Fragment Emile und Sophie oder die Einsamen findet der Erziehungsroman
seine Fortsetzung - ohne happy end. Statt eines strahlenden Helden treffen wir ei-
nen unglücklichen Einzelgänger, der nach mehreren Schicksalsschlägen als Sklave
endet. Scheitert Rousseau erneut - in Gestalt des Emile? Bestätigt das traurige Ende
des Zöglings Emile das Scheitern des pädagogischen Projekts? Rousseau wehrt sich
gegen diese bittere Konsequenz. Er verleiht dem gesellschaftlichen Scheitern Emi-
les eine positive Wendung. Aus der Nähe betrachtet erweist sich Emile im Unglück
als souveräner Meister seines Schicksals. Er bleibt sich selbst in allergrößter Not
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Rousseau und die Ambivalenzen des modernen Bürgerseins 1 03
treu: Er ist frei und authentisch. Mehr noch: Die Erziehung zur Freiheit bewährt
sich gerade unter größtem gesellschaftlichem Zwang. In der Sklaverei bleibt Emile
freier als seine Unterdrücker. Damit scheint das pädagogische Experiment auf ei-
genwillige Weise geglückt. Vom Traum der politischen Emanzipation des Men-
schen bleibt nur die Emanzipation vom Politischen.
Das mag die Leser des Emile trösten, die Anhänger des Gesellschaftsvertrags
bleiben untröstlich - und auch dessen Autor. Letztlich führt Rousseaus Unbehagen
an der Moderne dazu, das Selbstverständnis seiner politischen Philosophie in Frage
zu stellen. Ungerührt - und sozusagen ohne Mitleid - fallt der Emile das vernich-
tende Urteil von der großen und nutzlosen Wissenschaft (OC IV 836) des Politi-
schen. Im System der falschen Bedürfnisse bleibt für den Gesellschaftsvertrag kein
Platz.
IX. Feiern
Können wir uns mit Rousseaus sparsamer Vision eines richtigen Lebens im fal-
schen begnügen? Sollen wir ihn bei solchen Aussichten überhaupt noch feiern? Wir
sollten - und den Parisern zeigen, wie man's macht. Über das Format müsste man
sich allerdings noch einigen. Denkbar wäre ein event , wie es Rousseau im Brief an
D ' Alembert beschreibt. Ein Fest im großen Stile, das Jubilar und Gäste mit Tanz
und Musik zusammenbringt und ihr gemeinsames Glück feiern lässt.
Wenn es nicht gleich öffentlich sein muss, ließe sich auch eine kleinere, eher
private Feier organisieren, wie sie in der idealen Hausgemeinschaft von Ciarens ge-
pflegt wird, von Rousseau in Julie ou la nouvelle Héloïse hautnah beschrieben. In
der stillen Gemeinschaft der Herzen kommen die Menschen einander näher, ohne
von sich selbst Abstand nehmen zu müssen. „Das Vergnügen, beieinander zu sein
und die Süßigkeit der Einkehr in uns selbst" (OC II 558) klingen hier zusammen, in
einem intimen Refugium, das vor den korrumpierenden Einflüssen der Gesellschaft
schützt und Selbstsein in erlesener Gemeinschaft erlaubt. Hier wird moderne Intimi-
tät erfunden.15
Es besteht kein Zweifel, dass sich Rousseau, der Bürger ohne Vaterland, in die-
sem Ambiente wohlgefühlt hätte. Ob er eine solche Gesellschaft allerdings eigens
suchen würde, kann man bezweifeln. Gut denkbar wäre, dass sich Rousseau an sei-
nem Festtag der Gesellschaft entziehen und die Einsamkeit, das stille Selbstge-
spräch, suchen würde. Um damit die wenigen und unwiederbringlichen Augenbli-
cke seines diesseitigen Glücks wachzurufen, wie er sie auf der St. Peter-Insel erlebt
hatte. Dürfen wir Rousseau trauen, war er hier ganz bei sich selbst (OC I 1046).
Allein hier können wir uns Jean-Jacques als glücklichen Menschen vorstellen.
15 Daran wird Hannah Arendt gedacht haben, als sie Rousseau den Entdecker des Intimen
(Vita activa 49) genannt hat; vgl. dazu Karlfriedrich Herb /Kathrin Morgenstern /Magdalena
Scherl , Im Schatten der Öffentlichkeit. Privatheit und Intimität bei Jean-Jacques Rousseau und
Hannah Arendt In: Jahrbuch für Recht und Ethik 19 (201 1), 275-298.
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104 Karlfnedrich Herb
Summary
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