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Geoffroy de Lagasnerie

VERURTEILEN
Der strafende Staat und die Soziologie

Aus dem Französischen von Jürgen Schröder

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Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Juger. L'f:.tat penal face a la
sociologie © Librairie Arthcme Fayard, 2016. Für die amerikanische und
deutsche Übersetzung wurde das Buch vom Autor in Teilen überarbeitet.

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Erste Auflage 2017


©dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
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Druck: Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-58709-6
1
Den Sta at vo rla den

In diesem Saal oder einem, der diesem ähnlich ist - darauf


kommt es nicht an-, jedenfalls in einem Saal, der ebenso
eingerichtet ist, der von denselben Figuren bevölkert wird,
die dieselben Rollen spielen und dieselben Funktionen er­
füllen, habe ich gesehen, wie Personen verurteilt und be­
straft wurden, die des Raubüberfalls, Mordversuchs, Mor­
des, Raubmordes, Totschlags, der »Schiffsentführung«, der
Freiheitsberaubung oder der Vergewaltigung angeklagt wa­
ren. Fast ausschließlich Männer. Fast alle stammten aus un­
terdrückten Klassen oder lebten in Situationen der Prekari­
tät und des sozialen Abstiegs. Mit einem beträchtlichen
Anteil von Nichtweißen (Schwarzen, Maghrebinern, Asia­
ten) oder Ausländern (Polen, Indern, Serben, Somaliern
usw.), wie mir sehr schnell klar wurde.
Die Statistiken haben seit jeher die Überrepräsentation
der unterdrückten Gesellschaftsschichten unter den ver­
urteilten Personen bestätigt. In Frankreich kommen etwa
6% der Bevölkerung aus dem Ausland; dasselbe gilt für et­
wa 12% der strafrechtlich verurteilten Personen. Diese Sta­
tistiken enthalten zwar keine Angaben über die Klassen­
herkunft der Vernrteilten, aber das Ergebnis einer solchen
Erhebung unterliegt kaum einem Zweifel: Alle Untersuchun­
gen haben die massive Zugehörigkeit der Straftäter zu den
unteren Volksschichten bestätigt. So wird beispielsweise ge­
schätzt, dass 95% der Morde von »Personen [begangen wer­
den], die den unteren Volksschichten oder gar den benach­
teiligsten sozialen Milieus angehören« - und dieser Anteil

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gilt ebenso für die meisten europäischen Länder wie für such zur Erfassung der Ursachen ihrer Handlungen wird
die Vereinigten Staaten.1 Etwa 90% der Verurteilten sind als irrelevant bezeichnet. Und zwar so sehr, daß bestimmte
Männer. Mechanismen oder bestimmte Variablen - des Geschlechts,
Solche Feststellungen beinhalten eine Wahrheit, die für der Rasse, der Klasse, des Alters -, wenn sie erwähnt wer­
die Analyse des Strafsystems richtungsweisend sein muß - den, insbesondere von den Anwälten der Verteidigung, in
und die jede Untersuchung, die sie nicht berücksichtigen ihrer Bedeutung offen zurückgewiesen werden (der Satz
würde, zum Scheitern verurteilt: Es gibt eine Determina­ »Schließlich sind doch nicht alle Armen Diebe, Herr An­
tion für die Konfrontation mit der Justiz, für den Vollzug walt« stellt eine typische Aussage dar, die die Richter und
von Handlungen, die jemanden dem Bestrafungsapparat Staatsanwälte gerne vorbringen, ebenso wie »Man wird doch
des Staats ausliefern. Die Existenz einer gesellschaftlichen nicht gewalttätig, nur weil man trinkt« oder »Indem Sie
Logik von Gesetzesübertretungen stellt weder eine Hypo­ das sagen, beleidigen Sie alle Armen«).
these noch eine Weltanschauung noch eine Meinung dar,
über die man diskutieren könnte. Sie ist eine Tatsache. Sie
ist eine Wahrheit. Dadurch wird an sich schon ein soziolo­ Wände
gisches Verständnis der Verbrechen und der Verbrecher
und damit auch eine gesellschaftliche Kritik der Justiz Die Gerichtsszene gestaltet sich im Sinne einer grundle­
und des Strafrechts gerechtfertigt und sogar zwingend not­ genden Doppelzüngigkeit. Deren Intensität nimmt man
wendig. im kleinen Saal des Schwurgerichts wahr, der Nr. 2, in den
Das erste Gefühl, das sich mir aufdrängte, als ich damit ich mich viele Male begab. Dort trennt eine einfache, dün­
begonnen h atte, Gerichtsverhandlungen beizuwohnen, war ne Wand den Empfangsraum des Schwurgerichts vom Saal
daher ein Gefühl des Unbehagens. Denn sobald man ein ab, in dem die Verhandlungen stattfinden. Auf der einen
Gericht oder ein Schwurgericht betritt, wird die Wahrheit, Seite der Wand ist also die Liste der kommenden Prozesse
daß die verurteilten Handlungen in weitere soziale Kon­ angeschlagen, wobei die Namen und Vornamen der Ange­
texte eingebettet sind, die zumindest teilweise ermöglichen klagten in diesem Fall ihre massive Zugehörigkeit zu ethni­
sollten, sie zu verstehen und zu erklären, völlig verdrängt, schen Minderheiten verraten. Doch auf der anderen Seite
ignoriert - außen vor gelassen. Jede soziologische Auffas­ der Wand entfaltet sich die Strafrechtspraxis, ohne daß je­
sung der Individuen wird abgelehnt. Der geringste Ver- mals die Mechanismen des sozialen Abstiegs, der Unter­
drückung, der Herrschaft dazwischen träten. Bei einer Ge­
richtsverhandlung sind die Wirkungen der Struktur, die
1 Zu einer soziologischen Untersuchung dieser Fragen vgl. Laurent Kollektivkräfte abwesend, während ein paar Zentimeter
Mucchielli, »Les caracteristiques demographiques et sociales des weiter, auf der anderen Seite der Wand, die Wirklichkeit ih­
meurtriers et de leurs victimes. Une enquete sur un departement
rer Wirkung offen zutage liegt.
de la region parisienne dans les annees i990«, in: Population,
Als ich zum Schwurgericht ging und über dieses Buch
Bd. 59, Nr. 2, S. 203-232. Siehe auch Angele Christin, Comparu­
tions immediates, Paris, La Decouverte, 2008. nachzudenken begann, hat mich der Umstand, daß ich mei-

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nem Projekt eine soziologische Definition gegeben habe, be - und sich folglich die Frage nach den Grundlagen,
auf den Gedanken gebracht, daß ich mich ausführlich nach der Gewalt, nach der politischen Rationalität und
mit dem Problem der Herkünfte und Werdegänge der An­ den Machtwirkungen dieser Praxis der Verdunkelung der
geklagten und Opfer, mit den gesellschaftlichen Beziehun­ sozialen Welt zu stellen.
gen, die in der Verhandlung am Werke sind, befassen müs­
se - mit den Beziehungen zur legitimen Sprache, zu den
juristischen Kategorien, mit dem Gegensatz zwischen der Zahl
sozialen Herkunft der Angeklagten und der der Richter
oder der Anwälte, mit der unterschiedlichen Behandlung Die Tätigkeit, deren Zuschauer ich im Lauf der letzten Jah­
je nach den sozialen, ethnischen oder Geschlechtszugehö­ re war, um dieses Buch zu schreiben, ist nur ein Teil der
rigkeiten usw. Aber sehr bald wurde mir klar, daß ein sol­ Praxis des Verurteilens und des Bestrafens. Tag für Tag,
ches Vorgehen nicht notwendig war. In erster Linie, weil Woche für Woche spielt sich eine gewaltige Straf- und Re­
dieser Analysemodus, der sich als kritisch verstünde, fak­ pressionstätigkeit an diesen Orten ab, die zugleich zentral,
tisch von der offiziellen Definition der Soziologie vorge­ offen und wenig bekannt sind, weil sie einschüchternd sind,
schrieben wird - er wird erwartet, er ist schon als gültig nämlich den Gerichten. Personen werden auf die Ankla­
angenommen worden. Jedermann sagt es bereits, jeder­ gebank gesetzt, man stellt ihnen Fragen, man verhört sie,
mann weiß es bereits und allen ist es bewußt. Aber vor al­ man beruft Experten, Freunde, Bekannte, Opfer, Psycholo­
lem, weil der Versuch keinen Sinn hat, die Wahrheit vom gen und Psychiater als Zeugen, man befragt sie noch ein­
soziologischen Standpunkt aus noch einmal zu zeigen. mal, man stellt sie gegenüber ... Anschließend halten zwei
Eine Theorie der Justiz, des Rechts oder der Kriminalität oder drei Personen ein Plädoyer, dann wartet der Ange­
muß sich nicht mehr zum Ziel setzen hervorzuheben, wie klagte, umgeben von Polizisten oder Gendarmen, bis der
sehr soziale Logiken die Tatsachen und Handlungen von Gerichtshof mit seiner Beratung fertig ist. Danach kehrt
jedem von uns bedingen und folglich auch von denen, die dieser wieder zurück. Er verkündet, ob er entscheidet, den
»kriminell« werden. Diese W irklichkeit ist offensichtlich. Angeklagten ins Gefängnis zu schicken oder, ganz selten,
Und die Soziologie und die kritische Theorie müssen nicht ihn freizulassen oder freizusprechen - der Anteil an Frei­
in die Defensive gehen. sprüchen schwankt zw ischen 7 und 10% auf Landesebene,
Infolgedessen muß man die Fragen, mit denen sich eine und während meiner Untersuchung habe ich nur einen
moderne Analyse des Strafrechtssystems auseinanderset­ einzigen Freispruch erlebt.
zen muß, neu bestimmen. Diese Analyse muß sich auf das Das staatliche System der Gerichtsbarkeit funktioniert
·· beziehen, was man als Mechanismen der Leugnung bezeich­ w ie eine objektive Potentialität, der gegenüber jeder von
nen kann. Ins Zentrum der Untersuchung muß der Hang uns Stellung beziehen muß und folglich auch faktisch Stel­
des strafenden Staates gestellt werden, die Wahrheit zu leug­ lung bezieht. »Keiner von uns kann sicher sein, dem Ge­
nen, seine Tendenz, den Menschen in einer Weise gegen­ fängnis zu entgehen«, erklärte 1971 die Gruppe Gefäng­
überzutreten, als ob es die soziologischen Logiken nicht gä- nisinformation (Groupe d'information sur !es prisons) in

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ihrem Manifest. Auch kann keiner von uns sicher sein, der stem und einen Bestrafungsapparat zulegt: Was bedeutet
Justiz zu entgehen. Und im übrigen entgeht wirklich kei­ verurteilen und strafen? Und was bedeutet verurteilt wer­
ner der Justiz. Die Justiz ist ein Teil unseres Lebens und un­ den? Was bedeutet anklagen und strafen? Und was bedeu­
seres Alltags. Es gibt nur ganz wenige, die sich niemals mit tet angeklagt werden? Nach welchen Prinzipien sind diese
Richtern, Anwälten, mit dem Spiel der Strafe, der Schäden Dispositive aufgebaut? Welche Wirkungen der Macht, des
und Entschädigungen, mit der Möglichkeit, Klage zu erhe­ Zwangs, der Herrschaft üben sie aus? Welche Politik des
ben oder verfolgt zu werden, auseinandersetzen werden ... Leidens, welchen Umgang mit dem ertragenen oder zuge­
Aber andererseits werden selbst jene, die im Laufe ihres fügten Leid bringt das Strafrechtssystem hervor?
Lebens keine direkte Beziehung zur Justiz haben werden, Für mich besteht das Ziel darin zu zeigen, bis zu wel­
notwendig mit der Existenz dieses Systems und seinen For­ chem Grad die Modalitäten, durch die der Strafrechtsap­
derungen rechnen müssen, mit der Möglichkeit der Ankla­ parat sich entfaltet, in eine allgemeinere Ökonomie der
ge und Strafe, und wäre es nur, um ihr zu entkommen - sei Mächte und Wahrnehmungen eingebettet sind. Die Funk­
es, indem sie sich dem Gesetz beugen oder Verheimlichungs­ tionsweise der Justiz in einer Gesellschaft ist wesentlich mit
strategien befolgen. den anderen Rahmenbedingungen - materiellen oder sym­
Die Absicht dieses Buchs besteht in erster Linie darin, bolischen - verbunden, die dem Gesellschaftsleben Form
diese \Virklichkeit, deren Selbstverständlichkeit wir so leicht geben. Eine Untersuchung des Systems der Gerichtsbarkeit
akzeptieren, zu hinterfragen: das System der Gerichtsbar­ kann daher nicht auf einer lokalen Ebene bleiben. Statt des­
keit und der Bestrafung. Es geht nicht nur darum, Prozes­ sen muß man sich bemühen, dieses Dispositiv als einen
se zu beobachten und zu untersuchen, wie sie sich auf fran­ Ort zu verstehen, an dem sich eine größere und globalere
zösischem Boden abspielen. Vor allem geht es darum, im politische Rationalität einrichtet und entfaltet.
Ausgang von diesem Beispiel die Fundamente unseres Straf­
rechts auf allgemeinere Weise zu rekonstruieren, zu erfas­
sen, welche Kategorien, welche Weltanschauungen, welche Fundament
Erzählungen das System der Gerichtsbarkeit und der Be­
strafung einbürgert und reproduziert. Die Untersuchung der Theorien und Institutionen des Straf­
Was ich System der Gerichtsbarkeit und der Bestrafung rechts ist um so notwendiger, als die Institution der Justiz
nenne, beschreibt ein unbewußtes Dispositiv, in dessen In­ auf einem Fundament ruht, das praktisch niemals ausge­
nerem und von dem ausgehend sich die verschiedenen na­ graben oder hinterfragt wird. Täglich findet eine V ielzahl
tionalen Justizsysteme bestimmen und in ihren Einzel­ von Akten statt. Man verurteilt, man bestraft oder man
heiten entfalten. Auf dieselbe Art, wie man die Form des spricht frei, man entschädigt. Nun versetzt die \Viederho­
Gefängnisses, die Form des Asyls, die Form des Lagers hin­ lung dieser Akte das Dispositiv des Strafrechts in eine Art
terfragen kann, geht es hier darum, die Form des Gerichts­ von Immunität gegenüber der Kritik. Dieses Dispositiv voll­
prozesses und die Form des Gerichts in Frage zu stellen.Was zieht sich in der Bequemlichkeit der Gewohnheit. Es bildet
bedeutet es in einer Gesellschaft, daß man sich ein Strafsy- die naheliegende Modalität der Reaktion auf Gesetzesüber-

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tretungen, die man aktiviert, weil es selbstverständlich ist ehe Schuld des Angeklagten und seine Bestrafung gleich­
und folglich ohne daß man das Bedürfnis verspürt, sich zeitig in derselben Gerichtsverhandlung. Am Ende der Ver­
die Frage zu stellen, was man da eigentlich tut. Anklagen, handlung erhebt sich der Staatsanwalt und hält sein Plä­
vorladen, verurteilen, Fragen stellen, Strafen verhängen, all doyer. Er wendet sich an das Gericht (die Berufsrichter
diese Dinge sind Teil jener eingebürgerten Rituale, die eine und die Schöffen): Zuerst nimmt er Stellung zur Schuld
Gesellschaft vollzieht, ohne deren Bedeutung oder deren des Angeklagten. Dann gibt er die Strafe an, zu der er ihn
Logik zu ermessen. Paradoxerweise erzeugt die Wieder­ verurteilt sehen will, wenn er seine Verurteilung verlangt.
holung kein Bedürfnis, besser zu verstehen, was man tut, Aber nun wird die Anzahl der Jahre knallhart gefordert,
oder es zu problematisieren; sie verortet die Tätigkeit im ohne Rechtfertigung (wenn eine solche Rechtfertigung über­
Register des Alltäglichen und außerhalb des Bereichs des haupt möglich wäre).
Problematisierbaren. Aber die Triebfedern dieser Tätigkeit Natürlich erinnert der Staatsanwalt immer daran, daß
werden vergeblich verschleiert, sie sind auch weiterhin oh­ die Strafe die Persönlichkeit des Angeklagten berücksichti­
ne und gegen unser Wissen w irksam - und beherrschen gen muß, die Schwere der Tat oder auch die Schäden, die
uns in diesem Sinne. den Opfern entstanden sind. Aber nachdem einmal diese
In den Gerichtsprozessen, an denen ich teilgenommen nahezu obligatorischen Formeln ausgesprochen sind, fol­
habe, schien mir immer ein Moment die Fähigkeit der Ju­ gen die Anträge, ohne daß eine logische oder verständliche
stiz zu enthüllen, im Leerlauf zu funktionieren und ohne Verbindung zwischen diesen Erwägungen und der Strafe
sich Fragen zu den eigenen Operationen zu stellen: der Mo­ geliefert würde: »Sie sollten Herrn X zu zwölf Jahren Zucht­
ment, in dem die Frage nach dem Strafmaß erörtert wird, haus verurteilen« oder häufiger: »Sie sollten ihn zu nicht
zu dem der Angeklagte verurteilt werden sollte. Das ist weniger als X Jahren Zuchthaus verurteilen.«
ein Moment, in dem der geheimnisvolle Charakter jedes In ihrem Buch La Vie ordinaire des assises, in dem sie
Strafrechtssystems am deutlichsten erscheint: Es ist ein von acht Gerichtsverhandlungen berichtet, denen sie beige­
Moment, der mit dem Ritual, der sozialen Magie verwandt wohnt hat, gibt Marie-Pierre Courtellemont diese äußerst
ist. Aber niemand scheint sich seines w illkürlichen Charak­ erstaunlichen Momente w ieder. Beispielsweise berichtet
ters bewußt zu sein. Denn worum geht es denn eigentlich, sie über den Strafantrag, der bei einem Prozeß am Schwur­
wenn nicht um die Verwandlung des Verbrechens in Zeit gericht von Versailles gegen zwei Männer gestellt wur­
und Geld: ein Raubüberfall, so und so viele Jahre und/ de, die des Raubüberfalls angeklagt waren. Nachdem der
oder eine so und so hohe Geldstrafe; ein Mord, so und so Staatsanwalt versucht hatte, die Schuld der Angeklagten
v iele Jahre ... zu beweisen, wendet er sich ihrer Persönlichkeit zu: »Sind
Jedes Strafrechtssystem gestaltet den Augenblick, in dem sie beeinflußbar? Ich glaube nicht, denn wenn ein anderer
man diese Umwandlung des Verbrechens in Zeit oder Geld ihnen gesagt hätte >wir werden uns von einer Brücke her­
erörtert, unterschiedlich. In manchen Ländern geschieht unterstürzen<, hätten sie sich geweigert. Warum geben sie
das in einer Sonderverhandlung, die nach dem Schuld­ nicht den Namen ihrer Komplizen an? Darin sehe ich nur
spruch stattfindet. In Frankreich erörtert man die mögli- Zeichen der Rückfälligkeit. Das Gesetz des Schweigens ist

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der Ehrenkodex in diesem Milieu. Saint-Exupery sagte: Erklärung der Strafe vorgeschlagen - und dieses Fehlen
>Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.< Für sie ist einer Rechtfertigung hindert die Justiz mitnichten daran,
das Wesentliche das, was man sieht: die Kleider, die Autos, täglich zu verurteilen.Welch sonderbares Gebaren, die Ge­
aber vor allem nicht die anderen, der Respekt vor den an­ wohnheit durch die Gewohnheit zu rechtfertigen und sich
deren.«2 Und in einer typischen Abfolge aller Gerichts­ mit einer solchen Rechtfertigung zufriedenzugeben! Vor
verhandlungen, denen ich beiwohnen konnte, äußert der allem, wenn es sich um ein System handelt, das von Natur
Staatsanwalt nach diesen Erklärungen übergangslos seine aus jedes Jahr konkrete brutale Konsequenzen für das Le­
Anträge: »Ich beantrage also 7 Jahre Gefängnis für K. A ben Zehntausender Menschen beinhaltet.
und N.Y.«3 Wir können nicht in einem Strafrechtsstaat leben und es
Also? Aber warum also? Welche Beziehung besteht zwi­ akzeptieren, der Gesetzgebung der Rechtsordnung zu un­
schen den vorangehenden Aussagen und der beantragten terstehen, ohne das System der Gerichtsbarkeit und die
Strafe? Welche Verbindung markiert dieses also? Was un­ Operationen, die es auf uns anwendet, der Kritik zu unter­
terstreicht es und worauf lenkt es die Aufmerksamkeit, wenn ziehen. Die Macht, die der Staat innehat und die er faktisch
nicht schließlich auf die Unmöglichkeit, eine Verbindung auf unser Leben, unsere Freiheit, auf unsere Güter, unser
herzustellen? Schicksal ausübt, ist von einer solchen Stärke, daß es eine
Zwar versuchen die Staatsanwälte manchmal die Strafen, quasiontologische Notwendigkeit ist, ihn mit radikalen und
die sie beantragen, zu rechtfertigen. Aber dann tun sie es ethischen Fragestellungen zu konfrontieren. Man muß den
ausschließlich mit Bezug auf »Gewohnheiten«, d. h. mit Staat seinerseits vorladen und verlangen, daß die Kräfte,
Bezug auf das Strafmaß, das sich im entsprechenden Amts­ die auf uns angewendet werden, rationalen, rechtfertigba­
bezirk eingebürgert hat: In Paris bedeutet ein bewaffne­ ren, verständlichen Logiken unterstehen.
ter Raubüberfall zwischen 8 und 10 Jahren, ein Totschlag Eine kritische Distanz zum System der Gerichtsbarkeit
bedeutet so und so viel usw. Wenn sie zu weniger oder zu einzunehmen setzt wie bei allen anderen gesellschaftlichen
mehr verurteilen, wird den Geschworenen gesagt, stellen Institutionen voraus, den Glauben an seine Selbstverständ­
sie das »Strafmaß« und die Funktionsweise der Institu­ lichkeit aufzuheben. Die Infragestellung des Strafrechts­
tion, die Hierarchie zw ischen der Strafkammer und dem staats, seiner Begriffe, seiner Prozeduren, seiner Rituale
Schwurgericht in Frage. Die Strafen werden ausschließ­ oder seiner Funktionen und der Triebe, die ihn stützen,
lich innerhalb eines selbstbezüglichen Maßstabs gedacht. mag daher als eine merkwürdige, vergebliche, naive oder
Die einzige Rechtfertigung, die die Institution geben kann, sinnlose Aufgabe erscheinen. Man sieht nicht recht ein,
nimmt die Form einer Angabe der Gewohnheit und des worin der »Zweck« dieser Untersuchung liegen könnte,
Brauchs an: So macht man das. Niemals wird eine rationale denn schließlich »muß man doch wohl verurteilen«, und
es ist unvorstellbar, ein »System der Straf losigkeit« zu
veranstalten. Wie wäre es möglich, die Existenz eines Ge­
2 Marie-Pierre Courtellemont, La Vie ordinaire des assises, Paris,
Ramsay, 2005, S. 206. setzessystems zu vermeiden, wenn doch die Strafen von
3 Ebd. Verbrechen abschrecken oder Rückfälligkeiten reduzieren

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sollten? Wozu sollte es gut sein, die Frage nach den Grund­
lagen des Strafrechtssystems zu stellen, wenn der Abbau ei­
nes solchen Systems die Gewalt in der Welt erhöhen und
die Welt unbewohnbar machen w ürde? 2
Es versteht sich von selbst, daß mein Projekt in keinem Rechtssubjekte
Fall etwas zum Zweck hat, das aus der Nähe oder von fern Elemente ein e r Repression stheo rie
betrachtet der Abschaffung jeglichen Rechts oder jeglicher der Ma cht
rechtlichen oder ethischen Ordnung gliche. Das hätte kei­
nen Sinn, keine Bedeutung und auch keine Relevanz. Sol­
che Einwände haben also keinerlei Wert. Ich würde v iel­ Wenn man sich das Strafrechtssystem, die Tätigkeit des Ver­
mehr versuchen, die Perspektive umzukehren. Mir scheint urteilens, die Begriffe und Verfahren der Justiz zum Gegen­
tatsächlich die Feststellung frappierend zu sein, daß die kri­ stand macht, stößt man auf allgemeinere Probleme. Die Ju­
tische Theorie einen Großteil ihrer Energie darauf verwen­ stiz versinnbildlicht und gewährleistet die Effektivität der
det, sich neue Arrangements vorzustellen, die die globale Beschränkungen, die vom Staat auferlegt werden. Sie be­
Organisation unserer Gesellschaft neu definieren würden. treibt die Institution des Rechts und die Beziehungen zwi­
Eine V ielzahl von Bemühungen schlägt radikale Umwand­ schen den Rechtssubjekten. Die Bühne des Gerichts, auf
lungen unserer Welt vor und stellt die Grenzen der Staaten der ein Individuum vor den Richtern erscheint, ist ein Ver­
in Frage, ihre W irtschaftsstrukturen, den Kapitalismus, die größerungsspiegel der Tatsache, daß w ir der Ordnung des
Systeme der Demokratie, ihren Umgang mit dem Ökosy­ Gesetzes unterliegen und seiner Autorität unterworfen
stem. Dennoch gibt es nur wenige Schriften, die eine kri­ sind. Die Frage nach dem strafenden Staat beschränkt sich
tische Untersuchung des Justizapparats, der Begriffe der also nicht auf das spezifische Problem des Umgangs mit
Schuld, der Verantwortung, des Strafrechts, der Bestrafung Gesetzesübertretungen. V ielmehr geht es um unsere Ver­
vornehmen. Die Form der Gerichtsverhandlung, die Form faßtheit als Rechtssubjekte und politische Subjekte. Wie
der Gerichtsbarkeit bleiben unhinterfragt und scheinen sollen w ir uns unsere Situation als Wesen vorstellen, die
unhinterfragbar zu sein. Als ob es noch utopischer, noch dem Gesetz unterworfen sind? Was bedeutet es, unter ei­
unmöglicher schiene, diesen Umgang mit den Verbrechen nem Rechtsstaat zu leben? Wie sollen w ir die W irkungen
zu verändern, unsere Verurteilungs- und Bestrafungstrie­ der Macht auffassen, die von der rechtlich-politischen Ord­

be zu hinterfragen, als die Grenzen der Staaten abzubauen nung ausgeübt werden, und was ist ihre Funktionsweise?
oder den Kommunismus im internationalen Maßstab ein­ Seit den Analysen, die von Michel Foucault in Der Wille
zuführen. zum Wissen durchgeführt wurden, begreift ein bedeuten­

Woher kommt diese Immunität, die das System der Ge­ der Teil der Literatur zur kritischen Theorie die Macht

richtsbarkeit und die Form der Gerichtsverhandlung genie­ als eine performative und konstituierende Kraft, eine »po­
ßen? Was berührt diese Organisation in uns, das so intim sitive« Instanz, die Weisen des In-der-Welt-Seins hervor­

ist, daß es uns so w iderstrebt, es rational zu analysieren? bringt. V iele zeitgenössische Untersuchungen gehen von

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der Idee aus, der zufolge die begriffliche Fassung der Macht Die Kunst der Revolte verwendet, indem ich die Vorstellung
die Rekonstruktion der »Subjektivitäten« und »Identitäten« verteidigt habe, der zufolge Snowden, Assange und Manning
voraussetzt, die von ihr geformt werden: der Homo oecono­ disruptive Lebensstile erfinden, die die Formen der Sub­
micus, das »neoliberale Subjekt«, der Homo criminalis, die jektivierung, denen wir unterliegen, insofern wir in einem
Geschlechts- oder Genderidentitäten. Rechtsstaat leben, in Frage stellen.1 Ich schlug vor, diese
Angewandt auf die Frage nach dem Staat, würden diese drei beispielhaften Persönlichkeiten als »Gegensubjekte«
Weisen der Problemstellung zu dem Gedanken führen, daß zu betrachten, die sich gegen die fest verankerten Mo�a­
sich die Rechtsordnung nicht auf eine Gesamtheit von litäten der Politik auflehnen und die durch Vergleich den
Zwängen reduziert, die jedem von uns äußerlich sind. V iel­ Nachweis gestatten, w ie w ir in den liberalen Demokratien
mehr würde sie geradezu den Kern der Art und Weise be­ als »Bürger« konstituiert werden.
treffen, wie wir uns als Subjekte konstituieren, der Art und Ich verstehe daher die Bedeutung einer solchen Sicht­
Weise, wie wir uns zu uns selbst verhalten und wie wir un­ weise, und ich sage nicht, daß sie unbedingt falsch oder ab­
ser Verhalten steuern: Die Reflexivität, das Verhältnis von wegig ist. Das hängt wohl von den Untersuchungsgegen­
jedermann zu sich selbst seien immer schon durch Rechts­ ständen, Kontexten, Einsätzen oder davon ab, was man
normen vermittelt. Das System der Gerichtsbarkeit stelle meint und was man besonders hervorheben w ill. Aber hier
keine Hindernisse oder Einschränkungen für ein Subjekt schlage ich vor, die Frage nach der Macht und der Gewalt
dar, das sich zuvor schon gebildet hat. Die Genese des Sub­ anders zu problematisieren. Ich möchte eine gewisse Di­
jekts vollziehe sich innerhalb des Rechtssystems und ver­ stanz zur performativen Theorie des Gesetzes wahren.
mittels seiner W irkung. Die Rationalität des Rechts selbst Ich möchte sagen, warum es mir für das Verständnis der
bewerkstellige die Entstehung des Subjekts. Funktionsweise des Strafrechtsapparats und des Systems
In der Tat ist diese Art und Weise, die Funktion des Ge­ der Gerichtsbarkeit zutreffender erscheint, unser Verhält­
setzes aufzufassen, regelmäßig in der Philosophie am Werk nis zu den Kräften, denen wir unterliegen, im Modus der
gewesen, ob sie sich nun als kritisch versteht oder nicht - Repression zu denken. Im Raum der Theorie neigen w ir zu
beispielsweise bei Hegel, aber auch bei Walter Benjamin. sehr dazu, der Idee der Performativität anzuhängen und
Die Rechtsordnung wird dann als Schöpfer der Gestalt die Macht als konstituierende Kraft aufzufassen. Nun hin­
des verantwortlichen Individuums bestimmt. Die begriff­ dert diese Auffassung aber daran, die Funktionsweise der
liche Fassung unseres Verhältnisses zum Gesetz setze das Rechtsordnung zu verstehen und vor allem die Eigenart ih­
Unternehmen einer Genealogie des verantwortlichen Sub­ rer Gewaltsamkeit.
jekts voraus, die Analyse dieser Selbstsubjektivierung, der Es ist zwar nicht falsch zu sagen, daß die Gesetze in dem
Beziehungen zur Welt, die sie begründet, aber auch der Ty­ Sinne performative Aussagen sind, daß ihre Formulierung
pen von Erfahrung, deren wir dadurch beraubt oder ent­ und schließlich ihre Anwendung konkrete W irkungen auf
eignet werden.
Diese Auffassungen sind gewiß sehr stark und sehr in­ i Vgl. Geoffroy de Lagasnerie, Die Kunst der Revolte. Snowden, As­
teressant. Ich selbst habe diese Denkweise in meinem Buch sange, Manning, übers. v. J. Schröder, Berlin, Suhrkamp, 2016.

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unser Leben hervorbringen. Aber das Recht schreibt nicht Eine gewisse Erfahrung der Enteignung und der Verletz­
nur Normen vor, die dazu bestimmt sind, das Verhalten lichkeit durchdringt das Rechtssubjekt.
auszurichten und zu steuern: Es ist an eine bestimmte Ge­ Die interessante Frage ist nicht die nach unserer Konsti­
stalt des Subjekts und an eine bestimmte Theorie des Han­ tution als Rechtssubjekte. V ielmehr ist es die Tatsache, daß
delns gekoppelt. Es erfaßt, reinterpretiert und charakteri­ wir in Wirklichkeit gerade keine Rechtssubjekte sind. Eine
siert die Wirklichkeit im Ausgang von Kategorien, die ihm Kritik des Staats muß nicht von den Subjektivitäten ausge­
eigentümlich sind. Die Gerichtsprozesse stellen Augenblik­ hen, die der Staat angeblich hervorbringt, sondern von der
ke dar, in denen man sieht, wie der Bestrafungsapparat des Diskrepanz zwischen dem, was der Staat aus uns macht
Staats Erzählungen darüber konstruiert, was in der Welt ge­ oder über uns sagt, und dem, was wir sind, von dem Unter­
schieht, indem er ein ganz spezifisches Lektüreraster in An­ schied zwischen den Rechtslogiken und den Logiken, die
schlag bringt: Die Begriffe der Verantwortung, des Urhe­ in der gesellschaftlichen Welt wirklich am Werk sind.
bers, der Absicht, der öffentlichen Ordnung, der Schäden, Übrigens läßt sich unter der Bedingung, daß man sich
der Ursache, des Opfers, der Mitschuld bilden die Instru­ dieser Spannung bewußt ist, ein hervorstechender Bestand­
mente, durch die das Recht sich unserer Handlungen und teil von Gerichtsverhandlungen verstehen: das Schweigen
unserer Existenzen bemächtigt und sie interpretiert - zu der Angeklagten oder die Tatsache, daß sie sehr wenig spre­
Lasten anderer möglicher Auffassungsweisen. Die Justiz be­ chen (einschließlich dessen, wenn man sie auffordert, sich
urteilt eine bestimmte Vorstellung dessen, was wir getan über die Dinge zu äußern, die mit dem, was man ihnen vor­
haben, und der Gründe, aus denen wir es getan haben. wirft, nichts zu tun haben). Die Situation ist natürlich ein­
Nun wird dieser narrative Schauplatz aber im Ausgang von schüchternd. Und zweifellos spielt auch die Angst vor den
einer bestimmten Logik (einer bestimmten Auffassung des möglichen Folgen jeder Äußerung eine Rolle. Aber ich glau­
Gewissens, des Willens, der zwischenmenschlichen Hand­ be, daß da noch etwas mehr ist. Mir scheint, daß sich diese
lungen, der Gesellschaft) entwickelt, die mit der Wirklich­ diskursive Spärlichkeit durch die Tatsache erklären läßt,
keit, wie sie die Gesellschaftsanalyse uns zu rekonstruieren daß die Fragen, die vom Vorsitzenden, vom Staatsanwalt
ermöglicht, in Konflikt gerät. Ein Teil der Gewaltsamkeit oder auch von den Rechtsanwälten mit Bezug auf ihr Le­
des Systems der Gerichtsbarkeit wurzelt in der Tatsache, ben, ihre Entwicklung, ihren Charakter gestellt werden, ge­
daß der Strafrechtsstaat auf uns Anwendung findet, indem genüber den wirklich wichtigen Dingen, gegenüber dem,
er uns zwingt, einem Bild des Subjekts zu entsprechen, das wie das Leben erlebt wird, verschoben sind. Sie verlangen
eine Diskrepanz mit unserer wirklichen Existenzweise auf­ vom Subjekt nicht, daß es über das spricht, worüber es
weist. Es ist diese Diskrepanz, die die Gewaltsamkeit aus­ sprechen könnte, worüber es etwas zu sagen hätte. Mit der
macht, die die Gewaltsamkeit der Rechtsordnung beinhaltet. Folge, daß die Antworten nur knapp und stereotyp sein
Genauer, die Gewaltsamkeit besteht in dieser Diskrepanz. können.
Ein Rechtssubjekt zu sein bedeutet, der staatlichen Kon­
struktion der Wirklichkeit unterworfen und mit ihr kon­
frontiert zu sein und mit ihr zurechtkommen zu müssen.

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Repression wußten und dieses Invariante (Besteht Adäquanz zwischen
den Wunschmaschinen und der ödipalen Struktur)? Oder
Die Art, die Macht zu denken, die ich vorschlage, ist von bringt das Invariante etwa durch seine Variationen und
derjenigen inspiriert, die Deleuze und Guattari vorschla­ Modalitäten nur die Geschichte eines langen Irrtums
gen, insbesondere in Anti-Ödipus, und stellt deren Fortset­ zum Ausdruck, die Anstrengung einer endlosen Repres­
zung dar. In diesem Werk entwickeln Deleuze und Guatta­ sion?«2
ri eine radikale Kritik der Psychoanalyse. Sie untersuchen Die Analytik, die Deleuze und Guattari in Anschlag brin­
die analytische Praxis und lesen die Texte von Freud und gen, besteht in folgendem: Die Psychoanalyse gibt zwar
Klein neu. Sie machen im Dispositiv der Psychoanalyse vor, die Begierden zu erfassen, aber sie tut das mit unan­
eine Besessenheit von der Gestalt des Ödipus und dem gemessenen Mitteln, die gegenüber der Wirklichkeit des
Dreieck der Familie aus: Alles geschieht so, als ob die Be­ Trieblebens verschoben sind. Durch diese Unangemessen­
gierden, die Triebe in letzter Instanz immer auf eine Be­ heit ist sie dazu verurteilt, gewaltsame und verstümmelnde
teiligung der Figur des Vaters oder der Mutter hindeuten Wirkungen auszuüben. Kurz, die Geschichte der Repres­
müssten. Nun besteht die Hauptsache für mich jedoch dar­ sion ist die Geschichte eines Irrtums.
in, daß Deleuze und Guattari zum Zwecke der Kritik der Ich entfalte hier dieselbe Logik. Der kritische Ansatz muß
Psychoanalyse keineswegs behaupten, daß diese Praxis mit einer Praxis der Wahrheit verknüpft werden. Mit an­
uns nach ihrem Bilde schüfe; das Problem mit der Psycho­ deren Worten, der Vorschlag einer gesellschaftlichen Ana­
analyse ist nicht, daß sie uns zu ödipusartigen Subjekten lyse des Strafrechtsstaats darf sich nicht auf die deskripti- -
machte, deren Unbewußtes durch und durch von Logi­ ve - und vorgeblich neutrale - Aufgabe beschränken, die
ken der Familie determiniert wäre. Im Gegenteil, Deleuze darin besteht, seine Funktionsweise zu verstehen. V ielmehr
und Guattari heben das Bestehen einer Diskrepanz hervor, geht es darum, die Diskrepanz zwischen dem hervorzu­
einer ontologischen Differenz zwischen der Wahrheit der heben, was die Soziologie zeigt (über uns selbst, über die
Funktionsweise der Begierde und dem Rahmen, den die Welt, über die Logik von Handlungen), und der Art und
Psychoanalyse darauf anwendet. »[Ob] die wirkliche Diffe­ Weise, wie das System des Urteilens und der Repression
renz nicht zwischen einem Ödipus schlechthin, mag er auf uns angewendet wird, indem eine andere Theorie des
struktural oder imaginär sein, und etwas anderem liegt, Handelns und des Subjekts geltend gemacht wird. Die staat­
das alle Ödipusse niederdrücken und verdrängen: nämlich liche Interpretation der Wirklichkeit soll mit dem konfron­
die Wunschproduktion - die Maschinen des Wunsches, tiert werden, was die Soziologie an Erkenntnissen ermög­
die sich weder auf eine Struktur noch auf Personen redu­ licht. Es geht nicht darum, die Soziologie des Staats im
zieren lassen und die das Wirkliche in sich selbst konstitu­ Sinne des Begreifens des Staats zu entwickeln, sondern dar-
ieren, jenseits oder unterhalb des Symbolischen wie Imagi­
nären? [ ... ] Wir glauben sogar denen, die uns Ödipus als 2 Gilles Deleuze und Felix Guattari, L'Anti-CEdipe, Paris, Minuit,
eine Art Invariante präsentieren. Aber das Problem steckt r972, S. 61f., meine Hervorhebung; dt. : Anti-Ödipus, übers. v.
woanders: Entsprechen sich die Produktionen des Unbe- B. Schwibs, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1974, S. 66f.

28 29
um, von soziologischen Überlegungen auszugehen, um die
Gültigkeit der Rahmenvorstellungen in Frage zu stellen,
die durch die Strafrechtsordnung aufgezwungen werden,
und ihren repressiven Charakter zu enthüllen. 3
Vom Recht zu r K ritik

Der soziologische Ansatz, den ich vertrete, w ill die Wirkun­


gen der Macht, der Ordnung und der Herrschaft enthüllen,
die durch die gesellschaftlichen Zusammenhänge - und
hier insbesondere durch die rechtlichen und staatlichen
Zusammenhänge - hervorgebracht werden. Diese Analy­
tik zielt darauf ab, das, was man als eine Art von widerspen­
stiger Einstellung gegenüber dem Staat bezeichnen könnte,
neu zu beleben. Ich möchte das soziologische Denken als
Instrument zur Enthüllung des Einflusses verwenden, den
die rechtlich-politischen Dispositive auf uns ausüben. Die­
ses Buch beabsichtigt daher, den Sozialwissenschaften ihre
antiinstitutionelle und destabilisierende Wirkung zurück­
zugeben. Wie wir sehen werden, ist es möglich, Annähe­
rungen zwischen dem soziologischen Denken und Strö­
mungen zu vollziehen, die ihm manchmal, und zwar zu
Unrecht, entgegengesetzt waren, wie beispielsweise die li­
bertären Ansätze.
Vor diesem Hintergrund möchte ich die komplexe Art
und Weise präzisieren, mit der man notwendigerweise die
Frage des Staats und des Rechts aus einer kritischen Per­
spektive angehen muß. Mein Ansatz sollte nicht als anti­
staatlich wahrgenommen werden, als ob das Recht eine ne­
gative, schädliche und Zwang ausübende Instanz darstelle,
die man zerstören müsse, um weniger »unterdrückt« oder
»freier« zu sein.
Zunächst bin ich mir völlig im klaren darüber, daß es
auch außerhalb des Staats Gewalt gibt. Es geht für mich kei-

30 31
neswegs darum zu behaupten, daß der Staat die einzige stellen auch sie in gewisser Weise eine gewaltsame Reak­
oder auch nur die wichtigste Quelle der Gewalt sei - und tion auf die Gewalt dar, die sich ihrer selbst als solcher
daß folglich die Abschaffung staatlicher Rahmenbedingun­ nicht bewußt ist und die sich im Namen der Vernunft und
gen ein Ziel von irgendeinem praktischen oder theoreti­ des Gesetzes vollzieht? Und wenn das der Fall ist, wie könn­
schen Wert sei. Es liegt auf der Hand, daß der Rechtsstaat te eine rationalere Art und Weise der begrifflichen Fassung
und das Strafverfahren, die Einführung von Verteidigungs­ des Systems der Gerichtsbarkeit in Betracht gezogen wer­
rechten und von Berufungssystemen Fortschritte und ei­ den?
nen Schutz gegenüber einer ungeregelten Organisation der Wenn die Entwicklung einer Kritik, auch einer radika­
Ökonomie von Verbrechen und Strafen (Rachezyklen, au­ len, der Justiz nicht bedeutet, eine antistaatliche Position
toritärer Staat . .. ) darstellen. Das Bestreben von Nationen, einzunehmen, dann auch deshalb, weil das Strafrechtssy­
denen ein Rechtsstaat fehlt, liberale Strafrechtssysteme ein­ stem nicht die Gesamtheit des Staats ist. Es macht nur eine
zurichten, die mit der Willkür und dem Recht des Stärke­ seiner Dimensionen aus und auch nur einen der Aspekte
ren brechen, ist nicht nur verständlich, sondern auch abso­ des Rechts. Der Staat ist auch der Sozialstaat, die Sozialver­
lut legitim. sicherung, die Umverteilung, die staatliche Bildung oder
Dennoch verbietet es das Bewußtsein dieser Dimensio­ das Arbeitsrecht. Infolgedessen ist es durchaus möglich,
nen nicht, zu einer Kritik des Rechtsstaats und des Straf­ theoretisch und praktisch eine der Logiken des Staats zu at­
rechtssystems überzugehen. Dadurch könnte sich im Ge­ tackieren, ohne das ganze Gebäude anzugreifen. Man kann
genteil dieses Projekt als noch unverzichtbarer erweisen. den Strafrechtsstaat kritisieren, man kann sogar libertäre
Wenn es tatsächlich so ist, daß das Recht durch sein Stre­ Analyseprinzipien bei der Untersuchung des Bestrafungs­
ben nach der Verkörperung einer rationalen, am wenigsten apparats in Anschlag bringen, ohne jedoch aus einer prin­
willkürlichen Ordnung gerechtfertigt wird, die außerdem zipiellen und globalen Perspektive antistaatliche Positio­
zum Ziel hätte, eine Minderung der allgemeinen Menge nen einzunehmen. Spannungen und sogar 'Widersprüche
an Gewalt zu erreichen, dann ist es nur natürlich, die Über­ sind im Innern des Staats am Werk. Daher kann man eine
einstimmung des Staats mit diesen Verkündigungen zu be­ seiner Facetten in Frage stellen, während man zugleich an­
werten. Ich halte es für notwendig, eine kritische Analyse dere Dimensionen anerkennt - wie Pierre Bourdieu, als er
des Gesetzes und des Staats gerade im Namen der Werte die linke und die rechte Hand des Staats einander entge­
durchzuführen, die der Staat hochhält. Es geht darum ein­ gensetzte. Man kann eine bestimmte Tätigkeit des Staats
zuschätzen, in welchem Maß die juristischen Dispositive im Namen von Werten in Frage stellen, die bestimmte an­
uns wirklich vor der Gewalt schützen, und zu bestimmen, dere seiner Tätigkeiten beseelen. Somit geht es nicht dar­
ob sie nicht trotz allem auch ihrerseits Gewalt ausüben. um, den Staat von außen in Frage zu stellen. Es geht dar­
Das Programm der Minderung der Menge an Gewalt ver­ um, eine bestimmte Art von staatlicher Kritik des Staats
langt die Formulierung einer Diagnose der staatlichen Rah­ zu entfalten, jedenfalls eine Kritik, die eine bestimmte Auf­
menbedingungen und erfordert, daß man sich die Frage fassung des Staats gegen eine andere zur Geltung bringt.
stellt: Hemmen sie wirklich den Zyklus der Gewalt, oder Man könnte sogar noch weiter gehen und die wesent-

32 33
lieh konservative - d. h. illegitime - Natur jeder Rhetorik die Kraft des Rechtssystems vergessen: seine Fähigkeit zu
behaupten, die die radikalen Kritiken des Staats als »anar­ Neuerfindungen, zur Selbsterneuerung, zur Selbstverände­
chistisch« bezeichnet. Meines Erachtens ist die Praxis, die rung. Das System des Staats und des Rechts ist in einem
unaufhörlich und immer akribischer die Funktionsweise gewissen Sinn auch die Welt der Erfindung, des Experi­
der Rechtsordnung und ihrer Grundlagen in Frage stellt, mentierens, der Schöpfung - das heißt der Geschichtlich­
nicht nur legitim, sondern dem Geist des Gesetzes und des keit. Beim Recht ist es immer möglich, eine neue Welt zu
Staats treu. schaffen, die rationaler, vollwertiger, lebenswerter ist. Mit
Der Staat stellt keine unwandelbare Substanz dar, mit anderen Worten, es gibt keinen Grund, sich a priori zu be­
der notwendigerweise dieses oder jenes Merkmal verbun­ schränken, wenn man sich Gedanken zum Recht macht.
den wäre. Bestimmte Rahmenbedingungen, die zu einem Daher muß sich eine Analyse der Justiz die Frage stellen,
bestimmten Zeitpunkt die Praxis des Staats definieren, kön­ in welchem Maße das soziologische Denken, ethische An-
nen abgebaut werden, verschwinden, entkräftet werden, und liegen, libertäre oder pluralistische Werte einen Ausgangs­
andere können sie ersetzen. Was den Staat ausmacht, ist punkt für die Vorstellung anderer Dispositive darstellen
nichts ein für allemal Gegebenes, sondern eine politische können, inwiefern sie uns lehren können, das Verbrechen
Konstruktion, die dem Wandel und Entscheidungen unter­ anders zu verstehen, Kausalität und Verantwortung anders
worfen ist. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt staatlich zu betrachten, andere Auslegungen der Ereignisse zu kon­
ist, kann aufhören, es zu sein. Und Dispositive, die nicht struieren, um mehr Rationalität und weniger Gewalt ins
staatlich sind, können zu staatlichen werden. Mit anderen Spiel zu bringen, mehr Freiheit und weniger Repression.
Worten, das staatliche System des Strafrechts zu kritisieren Läßt sich eine andere Auffassung des Strafrechts, der Sy­
könnte bedeuten, es zu erreichen, daß bestimmte staatliche steme der Gerichtsbarkeit und der Repression vorstellen?
Praktiken aufhören und daß im Gegenzug der Staat sich Was sind die Grenzen und was ist das Ungedachte der ge­
selbst andere Regeln gibt, daß andere Praktiken zu Prakti­ genwärtigen Dispositive?
ken des Staats werden. Folglich haben die Argumente, die Gewiß werden die Einrichtungen des Strafverfahrens,
versuchen, die Glaubwürdigkeit der radikalen Kritiken des der Verteidigungsrechte, der Position der Opfer oder auch
Staats zu untergraben, keinerlei Wahrheitswert. Diese Ar­ der Strafformen regelmäßig in Betracht gezogen. Dennoch
gumente tun so, als ob jene Kritiken sich auf ein implizites scheint die Veränderung bestimmter Schlüsselbegriffe des
Lob der Anarchie reduzierten, was sie der Naivität oder der Systems der Gerichtsbarkeit umgekehrt eine nahezu unlös­
Absurdität bezichtigt. Den Staat zu kritisieren bedeutet im­ bare Aufgabe darzustellen. Aber das bedeutet zu vergessen,
mer, in Frage zu stellen, was zu einem bestimmten Zeit­ daß die Einrichtung neuer gerichtlicher Schauplätze oder
punkt zum Staat gehört. Und daher bedeutet es auch, sich jedenfalls solcher, die sich von jenen unterscheiden, welche
die Frage nach der Möglichkeit eines anderen Staats zu stel­ wir für unübertrefflich halten, keine Sache der reinen Spe­
len oder zumindest die Frage nach wünschenswerten und kulation oder des frommen Wunsches ist. Die Neudefini­
möglichen Veränderungen. tion der Justiz, der Begriffe des Gerichts, der Strafe, der Ver­
Eine Kritik des Rechts darf nie die Einzigartigkeit und antwortlichkeit, der Bestrafung im Ausgang von politischen,

34 35
ethischen, kritischen Anliegen stellt kein absolut neues Un­ dingt danach trachtet, die Schuldigen zu bestrafen, zu un­
ternehmen dar. Es existiert schon und hat schon existiert. terdrücken, einzusperren. Manchmal bricht sie auch mit
Das zeigt beispielsweise die Analyse der »Übergangsjustiz<<, den kalten Verfahrensweisen, mit dem Imperativ der Neu­
d. h. jener Dispositive der Justiz, die nach einem Bürger­ tralität der Richter, um bei ihnen eine Empathie gegenüber
krieg oder einer Revolution eingerichtet wurden nach dem den Opfern zu begünstigen, die letzteren ermöglicht, die
Vorbild der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Gefühle auszudrücken, die sie empfinden. In ihrem Buch
Südafrika, des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruan­ La ]ustice transitionnelle schreibt Kora Andrieu beispiels­
da oder auch der Kommission für Empfang, Wahrheit und weise: »Die Übergangsjustiz gesteht in all ihren Formen
Versöhnung auf Ost-Timor. Eine Untersuchung dieser Ver­ dem Gefühl einen sehr großen Raum zu. Sie geht im we­
fahrensweisen zeigt, inwieweit die Tatsache, daß man die sentlichen zu einer Inszenierung über, deren Vorstellung
Justiz (und folglich auch die Frage des Verbrechens, der in erster Linie narrativ und weniger strafend ist: So ging
Schuld, der Strafe) mit Bezug auf politische, historische, es in den Wahrheitskommissionen, die in Südafrika, in
ethische Überlegungen (der Einrichtung des zivilen Frie­ Chile, in Marokko oder auch in Argentinien eingerichtet
dens nach einem Konflikt, der Festigung einer demokrati­ wurden, zunächst darum, Tatsachen festzustellen, anstatt
schen Regierung) denken muß, zu neuen Verhältnissen die Schuldigen zu verurteilen, den Opfern eine Bühne zu
zur Justiz geführt hat, zu neuen Prozeßtypen, die die Be­ bieten, auf der sie schließlich ihre Leiden ausdrücken und
griffe der Verantwortlichkeit, der Strafe, der Neutralität der sie öffentlich anerkannt sehen konnten. Die Legitimation
Richter, der Beweise anders angingen und auslegten . . . Wen dieser Methode ist wesentlich psychologisch und moralisch:
muß man nach dem Zusammenbruch eines Unterdrük­ Die Erzählung der Tatsachen soll eigentlich das Leiden
kungsregimes verurteilen - und welche Verbrechen? Bis zu der Opfer lindern (talk therapy: Therapie durch Ausspra­
welchem Punkt - bis zu welchem Grad - muß man in der che), während sie gleichzeitig die Henker der öffentlichen
Kette der Verantwortlichkeiten »hinabsteigen«? Soll man Schande unterwirft (naming and shaming: benennen, um
jedermann verurteilen? Und welchen Sinn kann die Bestra­ jemanden zu beschämen). Tatsächlich steht die Amnestie
fung eines Individuums angesichts der Leiden Tausender der Schuldigen im Namen der Versöhnung der Gemein­
von Opfern haben, auch wenn es sich um eine lange Ge­ schaft der überlebenden und der Neugründung der Na­
fängnisstrafe handelt? Liefe eine zu harte und zu systema­ tion sehr oft auf dem Programm der politischen Maßnah­
tische Bestrafung nicht Gefahr, den Bürgerkrieg erneut aus­ men der Übergangsjustiz. Dennoch wird diese nicht als
zulösen, anstatt den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen? gleichbedeutend mit völligem Vergessen oder totaler Straf­
Die »Übergangsjustiz« ist der Name einer Strafjustiz - losigkeit betrachtet: Die Darstellung des Horrors, seine Be­
oder vielmehr gerade einer Justiz, die vielleicht nicht mehr schreibung in der Erzählung werden als edlere und morali­
völlig Strafjustiz ist -, die erfinderisch, wagemutig, anders schere Formen der Justiz betrachtet. Die Vergebung wird
ist. Manchmal ist sie angehalten, die Herstellung der Wahr­ zur höchsten Form des Gerechten.«1
heit und der Versöhnung gegenüber der Bestrafung zu be­
vorzugen. Es handelt sich um eine Justiz, die nicht unbe- i Kora Andrieu, La Justice transitionnelle, Paris, Gallimard, 2012,

36 37
Ich bin weit davon entfernt, die Gesamtheit der Formu­ sischen Modalitäten des Systems der Gerichtsbarkeit nicht
lierungen von Kora Andricu zu teilen und mich ihrem als selbstverständliche und nicht kritisierbare Rahmenbe­
theoretischen Rahmen anzuschließen: Ihr Buch bleibt in dingungen akzeptieren. Es gibt keinen Grund zu meinen,
einem klassischen und recht konservativen politischen Li­ daß die Struktur unserer strafrechtlichen Fundamente das
beralismus gefangen (zum Beispiel soll man die »Unter­ Ende aller Möglichkeiten verkörpert. Die Befreiung unse­
schiede« nicht zu sehr anerkennen, um »die gemeinsame rer juridischen Vorstellungskraft stellt eine legitime Auf­
Welt« zu bewahren). Außerdem ist es von einem Vokabular gabe dar.
der Versöhnung, der Notwendigkeit der Anerkennung, der
Gesellschaftsbildung geprägt, dem ich mißtraue. Aber die­
ser Aspekt ist hier sekundär. Die Hauptsache besteht darin,
sich der Tatsache bewußt zu werden, daß es möglich war,
völlig neue Dispositive in Anschlag zu bringen, die auf an­
dere Vveise kodifizieren, was Recht sprechen bedeutet, in­
dem die Frage nach der Justiz mit politischen Problemen
(dem Ende des Krieges, der Einrichtung der Demokratie
etc.) verknüpft wurde.
Die Übergangsjustiz stellt für mich keineswegs ein Vor­
bild dar - und der Typ von rechtlicher Bühne, den ich ge­
rade angesprochen habe, ist nicht das, was in meinen Au­
gen die gegenwärtige Strafjustiz »ersetzen« sollte. Übrigens
hat die Übergangsjustiz in Raum und Zeit sehr verschie­
dene Formen angenommen, und man sollte folglich aus
ihr kein einheitliches »Modell« ableiten. Vielmehr stellt
diese Institution den Beweis dafür dar, daß eine andere Ju­
stiz möglich ist, daß ein anderes Strafsystem vorstellbar ist,
daß die Begriffe von Verantwortung, Strafbarkeit, Verbre­
chen, Strafe neu definiert, neu bestimmt werden können.
Die Geschichte ist nicht zu Ende. Wir sollten die zeitgenös-

S. 38f. In La Justice en proces gibt Jean Berard eine ganze Menge


vergessener militanter Traditionen der Kritik an der Strafjustiz
wieder, die sich im Kielwasser des Mai 1968 entwickelt haben.
Jean Berard, La fustice en proces, Paris, Presses de Sciences-Po,
2013.

39
38
Zweiter Teil

Staat und Gewalt


1
L ü g e in der Kultur

Ich habe schon immer ein sehr ausgeprägtes, zweifelsohne


recht alltägliches Interesse für Gerichte empfunden. Ich
werde es weder als Besessenheit noch als »Faszination(< be­
schreiben, um das Wort zu gebrauchen, das Andre Gide in
seinem Buch A us dem Schwurgericht verwendete, um sein
Verhältnis zur Justiz in Erinnerung zu rufen. Meine An­
ziehung durch diese Orte nährt sich vielmehr von dem
Eindruck, daß dort etwas Einzigartiges geschieht. Die Ge­
richtsmaschinerie erschien mir immer als eine außerge­
wöhnliche Institution. Nicht so sehr wegen der Geschichten,
die dort erzählt werden, der Dramen, die dort wiedergege­
ben werden. Der faszinierende Charakter dieser Orte der
Macht (der die »Faszination<< erklärt, die sie ausüben kön­
nen) wurzelt v ielmehr, glaube ich, in der T atsache, daß
sich dort unsere Verfaßtheit als Staatssubjekt manifestiert,
daß wir dort konkret jene Erfahrung erleben, die wir letzt­
lich sehr selten thematisieren, deren Intensität wir nur sel­
ten ermessen und die darin besteht, dem Staat zu gehören.
Die Zeit, die Energie, die Ressourcen, die der Staat aufwen­
det, um diejenigen zu befragen, zu identifizieren und zu be­
strafen, die angeblich die Gesetze übertreten haben, das
Akzeptieren des Dispositivs des Urteilsprozesses und die
Unterwerfung darunter, die Unentscheidbarkeit oder die
Unsicherheit, zu der die Debatten führen, der Zufallscha­
rakter der ergangenen Entscheidungen, die außergewöhn­
lichen Folgen, die sie nach sich ziehen, die Reaktionen der
Verständnislosigkeit, der Wut oder der Resignation der Par-

43
teien angesichts der Urteile, all das stellt eine Szene dar, die Die Mythen des Gerich ts
in sich selbst konzentriert, was es bedeutet, in einem Staat
zu leben, die Vermischung der Logiken des Schutzes, der Herkömmlicherweise stellt die kulturelle Repräsentation
Enteignung, der Unterwerfung und der Verletzlichkeit, die der gerichtlichen Bühne den Prozeß als einen bedeutungs­
die Tatsache kennzeichnen, der Gerichtsbarkeit unterwor­ schweren und aufgeladenen Moment dar. Das geht beispiels­
fen zu sein, d. h. zugleich dem Staat zur Verfügung zu ste­ weise aus dem Gebrauch der Metapher des Schauspiels
hen und in seinen Händen zu sein. hervor: Der Gerichtsprozess wird als Theater beschrieben
Dieses Interesse am System der Gerichtsbarkeit hat mich oder gezeigt, auf dem sich ein »Drama« abspielt mit Intri­
dazu geführt, regelmäßig, und zwar so regelmäßig wie mög­ gen, Wendungen, Aufschüben, Unentschiedenheit bis zum
lich, alles zu lesen und anzuschauen, was sich auf die juristi­ Schluß . . . und dann der Auflösung zum Zeitpunkt des Ur­
sche Problematik bezieht, die Prozesse, Richter, Rechtsan­ teils. Die Inszenierungen stellen ihn als eine Zeremonie dar,
wälte, Angeklagte inszeniert: Chroniken und Zusammen­ bei der jedes Schweigen, jede Pause, jede vergehende Mi­
fassungen von Verhandlungen, Romane, Essays, Sendungen nute und jedes Sprechen angeblich voller Spannung, Angst
über Vermischtes, Filme, Dokumentarfilme . . . Folglich war und Intensität sind. Das Schwurgericht habe eine Bezie­
es unter dem Einfluß dieser Art von Erzeugnissen und · hung zur Tragödie, und die Hauptakteure seien darin die
durch die Erzählungen, die sie transportieren, daß ich zu Anwälte, die Angeklagten, die Zeugen und die Richter.
den Schwurgerichten gegangen bin, um dieses Buch zu Es gibt noch eine andere mystifizierende Art und Weise,
schreiben. über Gerichtsprozesse zu sprechen. Sie bemüht weniger
Nun spielte sich aber von der ersten Verhandlung an das Vokabular des Schauspiels als das der Religion oder
nichts so ab, wie ich es erwartet hatte. Sofort war ich be­ der Majestät. Es handelt sich um die Metapher des R ituals:
stürzt von der Feststellung, inwieweit die zirkulierenden die Justiz als Ritus und der Gerichtsprozeß als feierlicher
Bilder von der Justiz, denen ich ausgesetzt war, falsch wa­ Moment, in dessen Verlauf der Staat öffentlich seine Maje­
ren - oder besser: verfälscht. Es gibt eine erschütternde, stät, seine Kraft, seine Autorität manifestiere. Der Prozeß
massive Diskrepanz zw ischen den kulturellen Vorstellun­ stelle eine Art von Institution dar, die dazu bestimmt ist
gen von der Bühne der Gerichtsbarkeit und ihrer W irklich­ zu beeindrucken, den transzendenten Charakter des Staats,
keit Daher ist die erste Frage, die sich einer Analyse der Ju­ des Gesetzes, der Rechtsordnung zu festigen - und zwar
stiz aufdrängt, die Frage nach den Bildern vom Staat und um Respekt und Gehorsam einzuflößen.
folglich auch der Sprache, den Möglichkeiten, Erzählun­ Es genügt, an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen,
gen zu konstruieren, die den Staat so zeigen, wie er ist, in um die Falschheit dieser Vorstellungen festzustellen. Die
seiner Wahrheit, und die die lügenhaften Erzählungen in Metapher des theatralischen Dramas und die der rituellen
Frage stellen. Zeremonie, die die symbolischen Produktionen mit Bezug
auf die Bühne des Gerichts übersättigen - Filme, Theater­
stücke, Gerichtschroniken, Essays -, stellen keine Mittel
dar, die die Enthüllung oder die Annäherung an eine be-

44 45
stimmte Wahrheit gestatten. Es handelt sich um diskursive Die Mach t kommt von unten
Elemente, die einen Abstand zwischen den Wahrnehmun­
gen und der Wirklichkeit begründen. Gerichtsverhandlun­ Die Diskrepanz zwischen den eingebürgerten Vorstellun­
gen weisen nichts von diesen intensiven, feierlichen, spek­ gen vom Gericht und seiner Wirklichkeit könnte als anek­
takulären oder eindrucksstarken Momenten auf, die man dotenhaft und sekundär erscheinen. Wie es so häufig bei
uns gewöhnlich schildert. Vielmehr sind es routineartige, Arbeiten geschieht, die sich als gelehrt ausgeben, könnte
flache und platte Augenblicke. Die Debatten spielen sich man der Versuchung erliegen, die öffentlichen Bilder von
gelassen, gleichförmig, fast schon mechanisch - eben nor­ der Justiz einfach als falsch zu bezeichnen, sie beiseite zu
mal - ab. schieben, um anschließend geradewegs zur Beschreibung
Als ich mich zu den Pariser Gerichten begab, hat mich der Wirklichkeit überzugehen.
ein Gefühl der Enttäuschung und der Ratlosigkeit über­ Aber eine solche Vorgehensweise würde dazu führen
mannt. Denn nichts schien mir bemerkenswert zu sein. daß ein wichtiges Problem außer acht gelassen wird. Mit an­
Nichts Außergewöhnliches, nicht einmal etwas, das ganz deren Worten, man muß die Diskrepanz zwischen den Vor­
einfach interessant wäre, geschah. Der Ablauf der Verhand­ stellungen und der Wahrheit ernst nehmen. Sie stellt ein ---- ­
lungen, die Fragen der Rechtsanwälte und des Gerichts­ Element dar, anhand dessen es möglich ist, unsere Kultur,
hofs, die Plädoyers der Rechtsanwälte und des Staatsanwalts, unsere Wahrnehmungen, unser Verhältnis zum Staat in Fra-
die Antworten der Zeugen und der Angeklagten, häufig so­ ge zu stellen; sie eröffnet den Weg für eine kritische Unter­
gar die Urteile und die Strafen - alles entfaltete sich linear: suchung der Bilder der Wirklichkeit, der Wahrnehmung,
keine Überraschung, kein Schauspiel, keine Emotionen, der Logiken der Unterwerfung und der Souveränität. War-
keine Gewaltausbrüche. Die Befragungen, die Gutachten, um propagiert die Kultur ein mystifizierendes Bild vom
die Verteilung von Fotos fanden auf eintönige und flache Staat? Welche Funktion erfüllt das? Wie sollen wir diese
Weise statt. Die Debatten hatten nichts Spannendes; sie zo­ Lüge in der Kultur verstehen - oder besser, den wesentlich
gen sich in die Länge und verloren sich in bedeutungslo­ lügenhaften Charakter der Kultur?
sen Einzelheiten. Sie hatten nichts Feierliches an sich. All Die Theorie der Politik und der Herrschaft hat gezeigt,
das hatte viel mehr Ähnlichkeit mit einem bürokratischen daß eine gewisse Beziehung zwischen der Macht und den
und alltäglichen Verfahren mit seinen Improvisationen, sei­ Bildern besteht. H istoriker und Soziologen haben die Art
nen Fehlschlägen, seinem Leerlau( So war nach einigen Ta­ und Weise rekonstruiert, wie sich die Herrschaft des Staats
gen das Gefühl, das mich am regelmäßigsten durchdrang an die Bildung, Verbreitung oder Durchsetzung einer Rei­
und das am besten beschreibt, was ich während dieser gan­ he von Mythen, Erzählungen oder Dispositiven anlehnt, die
zen Verhandlungen empfand, und das mich nicht mehr dazu bestimmt sind, Anerkennung, Gehorsam und Unter­
verlassen sollte, Langeweile. Ich frage mich jetzt, wie es werfung hervorzubringen. Es gibt eine symbolische Öko­
möglich ist, Gerichtsprozesse als ehrfurchtgebietende Mo­ nomie der Macht, und die politische Autorität bedient sich
mente aufzufassen. der Vorstellungen, um sich zu legitimieren.
Aber so erwiesen dieser Mechanismus auch sein mag,

46 47
ist die Erfahrung, mit der ich konfrontiert war und die ich mung von sich selbst und ihre Bewertung ihres ontologi­
hier wiedergebe, doch gar nicht von dieser Art. Auch wenn schen Status von der Majestät des Staats, dem sie angehö­
die Behauptung richtig ist, daß der Staat häufig Mythen ren, abhängig sein ließen: den Staat erhöhen, um sich selbst
produziert, die darauf abzielen, seine Autorität durchzu­ zu erhöhen, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu etwas
setzen und zu legitimieren, scheint hier der Glaube an den Großem zu haben. Foucault sagt in Der Wille zum Wissen,
feierlichen Charakter des Staats eher aus uns selbst zu kom­ daß man, um eine kritische Theorie der Macht zu begrün­
men. Alles geschieht so, als ob die Symbolproduzenten - den, den Kopf des Königs abschneiden muß. Ich glaube,
Journalisten, Intellektuelle, Filmemacher, Regisseure, Ma­ daß wir uns in erster Linie darum bemühen müssen, damit
ler - auf die Gerichtsbühne eine Feierlichkeit, einen rituel­ aufzuhören, ihm Kleider anzuziehen, wo er nackt und oh­
len Charakter projizierten, den sie sich selbst nicht verleiht. ne Zierat ist.
Es genügt, sich an einen Ort zu begeben, an dem die Die Kunst, die Literatur, das Kino - ob es dokumenta­
Macht des Staats ausgeübt wird, um konkret zu erleben, risch ist oder nicht - geben sich gern selbst als kritische Be­
daß sich alles ohne Majestät abspielt. Nichts besitzt die­ reiche aus, die uns gegenüber uns selbst verschieben wol­
sen eindrucksvollen Charakter. Mit anderen Worten, es ist len, die Räume des Widerstands bilden könnten, welche
nicht der Staat, der uns eine beeindruckende Vorstellung uns, wenn auch nur teilweise, ermöglichen, Erfahrungen
von den Orten der Macht aufzwingt. Wir selbst sind es, die der Befreiung zu erleben. Aber tatsächlich scheinen die Pro­
darauf Wert zu legen scheinen, die sie schaffen, die sie be­ duzenten symbolischer Güter unterjochende Fiktionen zu
treiben, wohingegen die Wahrheit sich nicht einmal verbirgt. schaffen, wenn es um den Staat geht: Sie staffieren den Staat
Die Metaphern, durch die die Bühne des Gerichts kul­ aus, versehen ihn mit Kostümen, die er nicht trägt, geste­
turell aufgefaßt wird, müssen daher nicht nur »dekonstru­ hen ihm eine Feierlichkeit zu, die er nicht besitzt - kurz,
iert« werden. Diese Bilder müssen als verfälschende Rheto­ sie fassen ihn als Souverän auf. Alles geschieht so, als ob
riken und Mystifikationen angeprangert werden. Sie wirken es eine Leidenschaft oder einen Trieb gäbe, die schöpferi­
wie institutionelle Fassaden. Kultur, Filme, Theaterstücke, schen Fähigkeiten nicht einzusetzen, um glasklare Ansichten
Bücher entwickeln unterj ochende Kunstprodukte, die den oder kritische Fiktionen zu schaffen, sondern im Gegen­
konkreten Ablauf der staatlichen Tätigkeiten, die der Staat teil das Leben falscher Bilder zu verlängern, deren einziger
selbst nicht verbirgt, entstellen. Es handelt sich also nicht Zweck darin besteht, Prozesse der »Fabrikation des Feier­
um harmlose Fiktionen, sondern um politische Fiktionen, lichen« zu akzentuieren, die dazu neigen, die Dispositio­
die den Staat in der Höhe und über uns verorten - und nen zur Unterwerfung und zum Gehorsam zu erneuern.
die eine Leidenschaft mit Bezug auf die Souveränität ver­ Das steht im Gegensatz zur kritischen Vorgehensweise, die
raten. darin besteht, die Souveränität immer dem Verfall preiszu­
Man kann sich die Frage stellen, ob die Logik der Macht geben, das, was beeindruckend ist oder es zu sein scheint,
nicht grundlegend mit einer Art des Verlangens nach Sou­ weniger beeindruckend erscheinen zu lassen und auf diese
veränität verbunden ist. Hier wäre ein Entfremdungsphä­ Weise die Entwicklung von Dispositionen zu fördern, die
nomen am Werk, bei dem die Menschen ihre Wahrneh- im Hinblick auf »Autoritäten« widerspenstig sind.

48 49
Die Kunst und die Phantasie werden häufig mit der Kri­
tik verbunden, weil sie die Möglichkeit der Distanznah me
gegenüber dem Wirklichen verkörpern würden sowie die
Möglichkeit, die Forderung nach Veränderung derselben 2
lebendig zu erhalten. Gerade aus diesem Grund scheinen Den Sta a t s o seh en, wie e r ist
sie hier aber Komplizen der Kräfte der Ordnung zu sein,
die sich in eine Logik der Lüge und der Mystifizierung ein­
fügen. Im Gegensatz dazu übt die soziologische Praxis, die Die Dekonstruktion von Mythen und Mystifizierungen stellt
sich damit begnügt, das Seiende so zu beschreiben, wie es eine langwierige und komplexe Aufgabe dar. Sie vollzieht
ist, befreiende Wirkungen aus. sich notwendigerweise in mehreren Schritten. Man kann
nicht alles mit einem Schlag dekonstruieren. Es ist unmög­
lich, sich ein für allemal von Ideologien zu befreien, und
die kritische Arbeit muß ein Problem nach dem anderen
angehen. Daher ist es durchaus möglich, den Mystifizie­
rungen Elemente entgegenzusetzen, die ihrerseits in einem
zweiten Schritt dekonstruiert werden müssen.
Aus diesem Grund möchte ich die Frage stellen, ob die
Ausarbeitung einer klaren Auffassung der Operationen des
Gesetzes und des Staats nicht einen erneuten Bruch erfor­
dert. Wenn man an einer Gerichtsverhandlung teilnimmt
und den Eindruck hat, daß ihr Ablauf gelassen, neutral, ru­
hig ist, könnte das nicht in Wirklichkeit bedeuten, daß
man auch hier zum Opfer einer Illusion geworden ist oder
besser noch, eines politischen Eindrucks, der durch eine
Erzählung geformt wird, die in Frage zu stellen ist ?
Was sieht man denn, wenn man sich im Publikum eines
Schwurgerichts niederläßt, wenn man sich als Beobachter
verhält, der sich für unparteiisch erachtet, oder wie ein »Feld­
ethnologe« : die Wirklichkeit oder ein vorgefertigtes Bild
von ihr, das vom Staat geprägt wurde? Die Wahrnehmung
der Verhandlungen als ruhige, rationale, gelassene Augen­
blicke, ist sie denn wahr? Bestätigt sie nicht vielmehr die
offizielle Charakterisierung des Strafverfahrens als etwas,
das im Gegensatz zur Logik der Leidenschaft, des Kriegs,

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der Rache, des rückständigen Rituals steht? Drückt die Cover zielt vor allem auf die Juristen und politischen Philo­
wahrgenommene und festgestellte Wirklichkeit nicht eine sophen und auf die Art und Weise ab, wie sie unseren Blick
Verinnerlichung von Ideologien aus und zwar in diesem auf die Gerichte formen. Die Interpretation von Gerichts­
Fall der Ideologie des Rechts, das den modernen Staat in entscheidungen verwendet häufig die Kategorien von »Ge­
seiner gesetzlich-rationalen Form begründet, d. h. das Ak­ setzgebern«, der »Rationalität« und des »Systems«. Die
zeptieren der Definition von Gewalt und Nichtgewalt, die Hermeneuten befinden sich an der Stelle des Richters. Sie
sie festsetzt - kurz, eine Erfahrung, deren Selbstverständ­ versuchen, seine Entscheidung zu verstehen, die Art und
lichkeit aufgehoben werden muß? Weise, wie seine Motive sich in die herrschende Doktrin
einfügen, in das Normensystem, das angeblich »das Leben
in der Gesellschaft« regiert. Nun befestigt diese Analyse­
Leiden zufügen weise jedoch eine voreingenommene Wahrnehmung. Eine
Gerichtsentscheidung ist nämlich nicht in erster Linie ein
In diesen Momenten des Zweifels und angesichts solcher Gedankengang, dessen Gültigkeit und Rationalität man ve­
Fragen spürt man die Bedeutung der Theorie, der Refle­ rifizieren müßte. Sie ist auch kein Diskurs, der die kollek­
xion, des Bruchs mit den spontanen Implikationsmodi in tiven und innerhalb einer demokratischen Gesellschaft
der Welt als Voraussetzung dafür, sich von sich selbst zu lö­ kollektiv geteilten Normen zum Ausdruck bringt (»Im Na­
sen und die eigenen Erfahrungen zu dekonstruieren. Im men des Volkes«), und fügt sich auch nicht in einen solchen
Grunde ermöglicht nur eine solche Vorgehensweise der Diskurs ein. Sie ist eine situierte Handlung, die auf jeman­
Einklammerung der Welt, die Blindheiten, Lügen und Täu­ den abzielt, die die Welt zerbricht, die einen Schlag austeilt.
schungen zu erfassen, die die Interpretation dessen gestal­ Cover fordert uns nicht auf, die Perspektive zu ändern. Er
ten, was sich auf den ersten Blick als \.Yirklichkeit präsen­ sagt nicht: Man muß aufhören, das Recht aus der Perspek­
tiert. Und wenn man sich der eigenen Irrtümer bewußt tive des Richters zu betrachten. Seine Behauptung lautet:
wird, schämt man sich fast, die Wahrheit nicht früher gese­ Wir müssen unsere Art und Weise der Thematisierung und
hen zu haben. Deutung dessen verändern, was auf der Bühne des Ge­
Der berühmte Aufsatz des amerikanischen Juristen Ro­ richts geschieht, wenn ein Richter spricht. Es geht nicht
bert Cover, »Violence and the Word«, bringt, glaube ich, darum zu wissen, was der Richter sagt, sondern was er
einen Bruch ins Spiel. Er verändert unsere Auffassungswei­ tut; und was er, objektiv betrachtet, tut, ist zu verletzen. Ge­
sen des Rechts, die Wahrnehmung dessen, was während ei­ richtlich zu urteilen bedeutet, Gewalt anzutun. Jede Rechts­
ner Gerichtsverhandlung geschieht, und folglich auch die auslegung fügt den Menschen, auf die sie sich bezieht, Lei­
Art und Weise, die Frage nach der Justiz und dem Staat zu den zu, sei es, indem sie sie einsperrt, indem sie ihnen ihre
problematisieren. Covers Idee ist, daß wir unsere spontane Güter wegnimmt oder indem sie sie tötet.1
Perspektive auf das Justizsystem ändern müssen, um es in
Frage zu stellen. Wir müssen mit den Wahrnehmungsmodi I Robert Cover, »Violence and the 'Nord«, in: Yale Law Journal,
brechen, die dazu neigen, das Strafsystem zu neutralisieren. Bd. 95, Nr. 8, Juli 1986.

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Die Justiz zu denken bedeutet, eine »Praxis« zu denken, wenn die Wachen den Verurteilten nach dem Urteil abfüh­
deren »Ziel« es ist, Leiden zuzufügen. Wenn man benennen ren. Sie bricht nicht zeitweise, neben gelasseneren Momen­
will, was in einem Gericht geschieht, muß man sagen: die ten, auf die Gerichtsbühne herein. Es gibt eine strukturelle
Ausübung von Gewalt.2 Mit anderen Worten, die Konstruk­ Gewalt der Form der Gerichtsverhandlung, die jenseits al­
tion einer nicht-mystifizierenden Analyse der Justiz erfor­ ler besonderen Interaktionen angesiedelt ist und die we­
dert, mit der Gesamtheit der Rahmenvorstellungen oder sentlich zur eigentlichen Natur der Operationen der Rechts­
Rhetoriken zu brechen, die dazu führen, sie als ruhige Büh­ ordnung gehört.
ne zu schildern. Den Ablauf eines Prozesses als eintönig In dieser Hinsicht läßt sich übrigens Covers Analyse
und flach wahrzunehmen oder zu glauben, daß das Ge­ eine weitere Dimension hinzufügen und sie sich, wie ich
richt eine Institution ist, in der die Debatten gelassen ab­ meine, radikalisieren. Die Gewalt des Strafrechtssystems
laufen, stellt einen Irrtum dar, eine Art und Weise, nicht besteht nämlich nicht nur in der Tatsache, daß jeder juristi­
zu sehen, was geschieht. Alle Augenblicke, die wir auf den sche Akt, jede Entscheidung konkrete Konsequenzen auf
ersten Blick als ruhig erleben, alle Handlungen, die nicht Leib und Leben eines Individuums hat. Sie wurzelt auch
gewaltsam zu sein scheinen, weil sie rational und büro­ in der Tatsache, daß ein P rozeß als ein Augenblick der äu­
kratisch sind, sind in Wirklichkeit von größter Intensität: ßersten Enteignung verstanden werden muß. D asjenige,
Die Operationen des Rechts erzeugen einen Antagonismus, dessen Gewalt wir nicht spontan wahrnehmen, ist jene Si­
eine Spaltung, einen Bruch, wobei der Richter durch sie tuation, der zufolge die Individuen bei einer Gerichtsver­
auf den Angeklagten eine gewaltsame Handlung und einen handlung (übrigens nicht nur die Angeklagten, auf die ich
Zwang ausübt. Die Justiz ist der Ort einer Aggression. mich hier konzentriere, sondern auch die Opfer, die Zeu­
gen, die Geschworenen) zu jedem Zeitpunkt dem Staat zur
Verfügung stehen. Es ist ein wiederkehrender Ausdruck: sich
Von der Gewalt als nützlicher A nalysekategorie »in den Händen« der Polizei befinden, »in den Händen<<
der Richter sein. Die Auslösung des Strafrechtsverfahrens
Covers Sichtweise gestattet es, daß man sich des Werts des bedeutet, daß jemand in seinem Leben angehalten und vor­
Begriffs der Gewalt als Analysekategorie bewußt wird, um geladen wird. Was aus ihm werden wird, liegt nicht mehr
mit dem gesunden Menschenverstand zu brechen und das bei ihm und wird vom Staat kontrolliert; Richter und/ oder
Recht und die Praktiken des Staats begrifflich zu fassen: Geschworene werden nach ihren Kriterien über sein Schick­
Die Gewalt des Gerichts wird nicht nur und vielleicht sal entscheiden. Nachdem sie die Zeugen, seine Ankläger,
nicht einmal hauptsächlich in bestimmten Augenblicken seine Verteidigung angehört haben, werden sie sich zu­
ausgeübt, zum Beispiel bei sprachlichen Interaktionen oder rückziehen, sich beraten und dann ein Urteil fällen.
Ein Gericht stellt etwas dar, was man meinem Vorschlag
zufolge als einen Ort der Macht bezeichnen kann. Es ist ein
2 Ebd„ S. 1610. Über das Leiden als Wissen und als Lehre vgl.
Edouard Louis, »Savoir-souifrir«, in: NRF, Nr. 609, »Que peut Raum, wo sich materialisiert, was es bedeutet, ein Rechts­
(encore) la Litterature? «, Oktober 2014. subjekt zu sein. Die primäre Erfahrung meines Verhältnis-

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ses zum Staat und zum Gesetz ist die von etwas Aufgezwun­ einbricht mit allen das Leben betreffenden psychischen und
genem, von einer Verpflichtung: Ich werde in einem Staat materiellen Folgen, die damit verbunden sind.
geboren und bin gezwungen, sein Subjekt zu sein. Ich kann Diese Fälle sagen etwas darüber aus, was wir sind: Wir
mich von dieser Zugehörigkeit weder befreien noch sie ver­ können die Justiz nicht als eine Institution betrachten, die
lassen. Ich bin der Rechtsordnung unterworfen. uns nichts angehen würde. In jeder Minute kann sie über
Eine Kritik des Rechts darf gewiß nicht einseitig oder bi­ uns hereinbrechen. Wir leben in einem ontologischen Zu­
när sein. Es ist völlig richtig, daß das Recht einen Schutz stand der Prekarität, da wir potentiell jeden Augenblick
darstellen und einen Raum der Freiheit begründen kann. vom Staat angehalten werden können, weil die Instanzen
Man sollte es nicht ausschließlich als ein System von Zwän­ des Staats sich das Recht geben, in unser Leben einzugrei­
gen betrachten, das die Handlungsfähigkeit der Individu­ fen und zu entscheiden, was mit uns nach ihrer eigenen Lo­
en behindert, und auch den Staat nicht als eine negative, gik geschehen soll. In einem Rechtsstaat zu leben bedeutet,
einschränkende und Zwang ausübende Instanz. Die recht­ in einer Situation zu leben, in der der Staat über das Recht
lichen Zwänge können auch als G arantien wahrgenommen verfügt, über einen zu verfügen.
werden, die jedem zu Gebote stehen. Ebenso stellte die Exi­ Im Gegensatz dazu, was ein Großteil der politischen
stenz einer abstrakten Rechtsordnung regelmäßig ein äu­ Theorie anführt, bedeutet ein Rechtssubjekt zu sein nicht
ßerst starkes Mittel dar, das von Minderheiten in ihrem in erster Linie, ein geschütztes, abgesichertes Subjekt zu sein.
Kampf für Gleichheit und Emanzipation eingesetzt wurde. Vor allem bedeutet es, ein Subjekt zu sein, das gerichtlich
Aber der Besitz dieser positiven Rechte setzt zunächst beurteilt werden kann. Das heißt, einsperrbar, verhaftbar,
einen Akt des Einschließens voraus, durch den das Sub­ verurteilbar zu sein. Es bedeutet, als verletzbares Subjekt
jekt als ein solches gesetzt wird, das dem Staat zugehört, konstituiert zu sein, das gegenüber der Logik des Staats
als Subjekt, das dem Bestrafungssystem unterliegt, d. h. als enteignet ist. Die Schutzmaßnahmen, die vom Strafverfah­
Subjekt, auf das das Bestrafungssystem Anwendung fin­ ren angeboten werden, setzen zuallererst voraus, daß man
det. Als Rechtssubjekte sind wir alle potentielle Objekte diesem Verfahren untersteht. Sie verlangen sogar die Un­
des Strafrechtsverfahrens. Jedermann kann zu jedem Zeit­ terwerfung unter dieses Verfahren, da ja die Ausübung der
punkt zur Zielscheibe der Polizei- und Justizmaschinerie eigenen Rechte sich gemäß im voraus festgelegter und
werden: Untersuchung, Haft, Gerichtsurteil. Die Existenz durch das Verfahren kodifizierter Modalitäten vollzieht.
eines Strafrechts geht Hand in Hand mit der Existenz eines Das Gericht ist vielleicht diejenige Institution, bei der die
Systems, durch das sich der Staat das Recht verleiht, über Enteignung der Individuen gegenüber dem Staat und ihre
die Menschen zu verfügen: Jedes Individuum kann verhaf­ Verletzlichkeit im Hinblick auf die Rechtsordnung am in­
tet, eingesperrt, verurteilt etc. werden. Man darf nie verges­ tensivsten sind. Es ist einer der seltenen Orte der gesell­
sen, daß jedes Jahr Zehntausende Menschen der Taten, für schaftlichen Welt, wo das Recht, das sich der Staat anmaßt,
die sie angeklagt wurden, für nicht schuldig befunden wer­ über das Schicksal der Menschen - ob es sich um Staatsan­
den. So viele Menschen, über die die Justiz- und Polizeima­ gehörige handelt oder nicht - zu verfügen und zu entschei­
schinerie auf ungerechtfertigte und willkürliche Weise her- den, in seiner Wirklichkeit erscheint. Die Orte der Macht

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sind jene Instanzen, wo sich das Recht des Staats vollzieht, torität ein. Die Besonderheit des Staats wurzelt in der Tat­
über das Leben eines Individuums zu entscheiden, ohne sache, daß er eine Macht darstellt, die denjenigen, die ihm
daß dessen Einwilligung, sich dieser Autorität zu unter­ unterworfen sind, die Möglichkeit nimmt, sich ihm zu ent­
werfen, jemals erfordert worden wäre und ohne daß die ziehen. Was die Existenz der Form des Gerichts öffentlich
Möglichkeit, sich ihr zu entziehen, offengestanden hätte. bekräftigt, was jedes Mal bei der Eröffnung einer Verhand­
Man sieht ein, daß wir uns hier innerhalb eines Disposi­ lung immer wieder erneuert und neu bekräftigt wird, ist
tivs bewegen, das sich dem, was Pierre Bourdieu die gesell­ der Einfluß, den der Staat auf seine Subjekte ausübt, die Tat­
schaftliche Paradoxie der Logik der Macht nannte, entzieht sache, daß wir dem Staat zur Verfügung stehen, daß wir vor­
und eine Ausnahme davon bildet, nämlich daß jemand an­ geladen werden, vor ihm zu erscheinen.
ders nur eine Macht über mich ausüben kann, wenn ich Das Gefühl, das ich vermitteln möchte, wird in dem Do­
ihm die Möglichkeit dazu gebe, wenn ich sein Spiel mit­ kumentarfilm von Jean-Xavier de Lestrade mit dem Titel
spiele. Einzig und allein, wenn ich mich auf eine gegebene The Staircase: Tod auf der Treppe wiedergegeben. Dieser
Welt einlasse, wenn ich dem, was sich dort abspielt, Bedeu­ Film inszeniert den Prozeß eines Mannes, der des Mordes
tung beimesse, wenn ich die darin vorkommenden Ein­ an seiner Frau angeklagt ist. Im Lauf der Verhandlungen
sätze anerkenne, kann ich die Wirkungen der Macht hin­ wachsen die Unsicherheit, der Zweifel an dem, was geschah,
nehmen, die sich dort entfalten, und bin ich für die Urteile und selbst an der Fähigkeit, es herauszufinden, immer mehr.
empfänglich, die dort gefällt werden. Eben weil ich an die Der Prozeß erstreckt sich über mehrere Monate, dann
Einsätze des Kampfes innerhalb eines bestimmten Bereichs kommt der Augenblick, wo die Geschworenen sich in ei­
glaube und ihnen zustimme (was Bourdieu als illusio be­ nem kleinen, abgetrennten und bewachten Saal einschlie­
zeichnet), bin ich diesem Bereich unterworfen - so daß ßen, der von der Außenwelt abgeschnitten ist, um zu ent­
die Macht immer und notwendig mit meiner Beihilfe aus­ scheiden. Die Beratungen dauern eine Woche, dann kehren
geübt wird: Wenn ich nicht daran glaube, wenn ich mich die Geschworenen zurück, um ihre Entscheidung zu ver­
nicht auf die Einsätze eines bestimmten (kulturellen, wis­ künden. Wenn sie ihn für »schuldig« befinden, wird Mi­
senschaftlichen, sportlichen etc.) Bereichs einlasse, igno­ chael Peterson automatisch zu lebenslangem Gefängnis
riere ich dessen herrschende Instanzen und Urteilskatego­ verurteilt; wenn sie ihn für »Unschuldig« befinden, wird Pe­
rien, und dadurch findet die spezifische Macht, die dort terson freigesprochen und kann nach Hause gehen.
existiert, auf mich keine Anwendung - sie bleibt mir äu­ Was bedeutet es, einem so extravaganten Machtsystem
ßerlich und betrifft mich nicht.3 unterworfen zu sein? Was bedeutet es, diese Bühne und
Das Justiz- und Strafrechtssystem stellt ein anderes Dis­ dieses Dispositiv zu akzeptieren? Wie können so wichtige
positiv dar. Der Staat trägt mich gewaltsam unter seine Au- Entscheidungen in einem solchen Kontext von Unsicher­
heit getroffen werden? Es sei denn, daß der Staat in Wirk­
3 Pierre Bourdieu, Meditationen - Zur Kritik der scholastischen Ver­ lichkeit auf diese Weise seinen unvorhersagbaren und folg­
nunft, übers. v. A. Russer, Frankfurt/M„ Suhrkamp, 2004, S. 265- lich souveränen Charakter inszeniert . . . Die Darstellung
315. des Wartens durch den Dokumentarfilm und dann des

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Augenblicks der Verkündung des Urteils führt konkret und
beinahe körperlich folgendes vor Augen: die Gewalt der
Justiz, unsere Verletzlichkeit gegenüber dem Staat, die Ent­
eignung, die sich in der Tatsache ausdrückt, zu seiner Ver­ 3
fügung zu stehen, und den Fatalismus (anstatt die Aufleh­ Die d oppelte Wa h rheit der Gewalt
nung), zu dem diese Situation führt.

Ein Gerichtsprozeß ist kein Schauspiel. Er ist kein Ritual.


Er ist kein Drama. Er ist keine eindrucksvolle Zeremonie.
Aber er ist auch nicht, wie man vielleicht auf den ersten
Blick meinen könnte, das gelassene Management von Ge­
setzesübertretungen. Er ist eines der intensivsten Dispositi­
ve des Gesellschaftslebens: Jemandes Freiheit, seine Güter,
seine Beziehungen zu den anderen, sein »Ruf«, seine Lei­
den und in manchen Staaten sogar sein Leben sind der Ent­
scheidung eines Dritten unterworfen. Die theoretische Ana­
lyse muß sich in ihrer Form und ihren Analysen auf die
Höhe dieser Situation begeben. Sie muß von einem wesent­
lichen Anliegen geleitet sein: keine beschönigende Darstel­
lung der gerichtlichen Bühne zu liefern; die Wirklichkeit
dessen, was sich dort abspielt, deutlich zu machen; den
Weg für eine kritische Reflexion zu öffnen.
Die Wahrheit zu sagen bedeutet zunächst, die Tatsache
hervorzuheben, daß in einem Gerichtsprozeß die Gewalt
überall ist: Gewalt der Interaktionen, Gewalt des Verfahrens,
Gewalt der Vernunft, Gewalt der Situation, Gewalt des Ge­
setzes, Gewalt der Enteignung. Die Gewalt des Gerichts
stellt keinen Rest, keinen Mangel, keinen Makel in der Ra­
tionalisierung und Bürokratisierung der Funktionsweise
dieser Stätte der Macht dar. Es gibt eine Gewalt des recht­
lich-rationalen Verfahrens, die man erfassen muß, um zu
verstehen, was wir sind.
Aber eine kritische Theorie des Staats darf sich nicht da­
mit begnügen, die Gewalt des Staats zu enthüllen oder die

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Weisen ihrer Ausübung aufzudecken. Wenn sie so vorgeht, Politische Philosophie
versagt sie sich, Rechenschaft über die Wirklichkeit in ih­
rer Gesamtheit abzulegen, eine Wirklichkeit, zu der auch Der erste große Feind der Verwirklichung einer angemes­
die Erfahrung gehört, die wir von ihr machen und die ih­ senen Analyse des Staats ist die politische Philosophie. Es
rerseits durch eine - zugegebenermaßen immer nur teil­ gibt einen Widerspruch zwischen dem Unternehmen, das
weise - Blindheit gegenüber der Gewalt des Staats gekenn­ auf die Erfassung der Gewalt der Rechtsordnung abzielt,
zeichnet ist. Die Gewalt des Gerichts erscheint den Sinnen und den Wahrnehmungen, die die Tradition der politi­
nicht unmittelbar. Wir nehmen sie zunächst nicht wahr schen Philosophie konstruiert, aufzwingt und in Umlauf
oder wenn, dann nur oberflächlich und jedenfalls nicht bringt. Mit anderen Worten, wir müssen das Vokabular
in ihrer ganzen Intensität. Das Recht und das Strafrechts­ auseinandernehmen, das von der Reflexion auf die Politik
verfahren betreiben gemäß den ihnen eigenen Modalitäten eingeführt wurde, wenn w ir eine kritische Analyse der Er­
eine Gewalt, die wir nicht als solche empfinden. Eine theore­ scheinungen der Macht entwickeln wollen.
tische Arbeit, eine Reflexion auf die juristischen Akte und Die Aufgabe, die sich die politische Philosophie selbst
auf unsere Verfassung als Rechtssubjekte ist notwendig, zugewiesen hat, könnte folgendermaßen bestimmt wer­
um sich dessen völlig bewußt zu werden. den: sich eine Möglichkeit vorzustellen, vom Staat zu spre­
Daß es uns nicht gelingt, unmittelbar die Wahrheit der chen, ohne von der Gewalt zu sprechen; es zu bewerkstelli­
Handlungen des Staats zu erfassen, ist eine Situation, die gen, daß unser Verhältnis zum Recht neutralisiert wird;
weder selbstverständlich noch notwendig ist: Es rührt von eine entpolitisierte Wahrnehmung der Politik vorzuschla­
der Tatsache her, daß w ir Bilder des Staats oder Weisen sei­ gen. Beispielsweise ist es frappierend festzustellen, daß in
ner Auffassung, die seine Wirklichkeit maskieren, verin­ einem Text wie Eine Theorie der Gerechtigkeit von John
nerlicht haben. Wie läßt sich die merkwürdige Fähigkeit Rawls die Begriffe von Gewalt, von Zwang, von Einen­
erklären, über die der Staat verfügt, nämlich seine gewaltsa­ gung nahezu fehlen. Dieses Vokabular ist diesem Autor
men Handlungen als nicht gewaltsam auszugeben, und die fremd.
Tatsache, daß wir diese Handlungen nicht als das empfin­ Diese Optik, die Teil der kantischen Abstammungslinie
den, was sie sind? Was sind die Paradigmen, die an dieser ist und die man bei Hannah Arendt oder in jüngerer Zeit
Logik der politischen Verblendung teilhaben? Was sind die bei Jürgen Habermas findet, setzt voraus, daß der Staat
Hindernisse für die Herstellung einer klarsichtigen Wahr­ grundsätzlich n icht gewalttätig sein kann.
nehmung des Staats? Und unter welchen Bedingungen Die Konstruktion einer besonderen, als »politisch« be­
können wir umgekehrt eine kritische Theorie der Bezie­ zeichneten Sphäre bedeutet die Konstruktion einer Arena,
hungen zwischen Staat und Gewalt entwickeln? innerhalb deren das Recht durch die Operationen der Dis­
kussion, der Argumentation, der Beratung erarbeitet wird.
Wer Recht sagt, sagt auch Allgemeinheit (mit anderen Wor­
ten, nur in der Demokratie gäbe es ein Recht, das diesen
Namen verdient). Die politischen Normen leiteten sich von

62 63
Verfahren, von Regelungen ab, deren Ausarbeitung den Lo­ mehr rechtmäßig handelt. In Faktizität und Geltung greift
giken der Entscheidung, der Gegenseitigkeit oder der gegen­ Habermas auf diese Weise die Soziologie an, der vorgewor­
seitigen Anerkennung gehorchten - so daß diese Normen fen wird, den Normativismus des rationalen Rechts »Zu
von denjenigen hervorgebracht würden, die gleichzeitig untergraben«, indem sie das Recht auf nichtrechtliche Lo­
ihr Objekt sind. Die Rechtsordnung strebe nach dem Uni­ giken herabsetzt und die Problematik des Staats auf die
versalen, dem Rationalen, dem Anerkannten. Natürlich kön­ Problematik der Herrschaft. Die Soziologie analysiere das
ne die Anwendung des Rechts einen Zwang darstellen und Rechtliche als eine Form von etwas Auferlegtem und nicht
sich auf eine Macht stützen. Aber das seien nichtgewaltsa­ als einen Bereich, der durch Operationen gegenseitiger Ver­
me Zwänge und Mächte, weil das Subjekt als Staatsbürger ständigung auf die gesellschaftliche Integration abzielt,
sie als die seinen anerkennen würde. die durch Subjekte, welche durch das Mittel der Kommuni­
Der Antrieb, der die politische Philosophie während des kation handeln, verwirklicht wird. Aufgrund dessen gehe sie
ganzen Verlaufs ihrer Geschichte beseelt, besteht darin, das an der Singularität dieses Handlungs- und Diskussionsbe­
Recht auf Prozesse zu gründen, die zugleich als rational reichs, den die Politik und das Rechtliche darstellten, vorbei.1
und als kollektiv ausgegeben werden, um dieser normati­ Diese Operation der Fetischisierung und der Beförde­
ven Instanz eine Art von Immunität gegenüber der Kritik rung des Staats hat seine Vollendung in der Unterschei­
zu verleihen. Wenn die Rechtsordnung auf die kollektive dung gefunden, von der Hannah Arendt glaubt, daß sie
und rationale Beratung gegründet wird, gäbe es folglich notwendigerweise zwischen der »Macht« - oder der »Au­
so etwas wie eine grundsätzliche Gewaltlosigkeit des Staats. torität« - und der »Gewalt« getroffen werden müsse, wo­
Die Idee des Staats setzt voraus, daß der Staat nicht gewalt­ bei die erste als eine Materialisierung des Willens begriffen
tätig ist; wenn er als Staat handelt, wenn er die Verfahren wird, der gemeinsam durch Operationen der Beratung ent­
und Regelungen respektiert, die ihn begründen oder die wickelt wird, während die zweite sich auf instrumentelle Me­
er erläßt, kann das keine Gewalt sein. Die Gewalt gehört chanismen der Herrschaft, Unterwerfung und des Zwangs
zum Privatbereich, zum Bereich der Zivilgesellschaft, zu bezieht.2 Die politische Theorie weist dem Staat einen Aus­
dem der Willkür - d. h. gerade zu derjenigen Sphäre, ge­ nahmestatus zu, indem sie Politik und Gewaltlosigkeit
genüber der der Staat als autonomer Bereich auftritt. Die miteinander verknüpft. In diesem Rahmen erscheint das
Gewalt - die Blutrache, die Rache etc. - gehört zum Ver­ staatliche System der Gerichtsbarkeit nicht als gewalttätig.
staatlichen oder Unterstaatlichen, zum Privaten, Zivilen. Vielmehr handelt es sich um die Anwendung eines Rechts,
Die Gewalt ist definitionsgemäß dasjenige, was außerhalb das auf der Diskussion und dem kollektiven Einverständ­
des Gesetzes liegt. Infolgedessen wird jedem Autor, der nis gründet. Es ist ein Prozeß, der kollektiv als rechtmäßig
diese Kategorie für ein Denken des Staats verwendet, vorge­
worfen, nicht in der Lage zu sein, das Politische in seiner
1 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltu ng, Frankfurt / M „ Suhr­
Besonderheit zu denken. Der Staat kann nur dann als ge­
kamp, 51997, S. 68.
walttätig bezeichnet werden, wenn er seine Prinzipien ver­ 2 Hannah Arendt, Crises of the Repub/ic, New York, Harcourt Brace
rät - d. h. wenn er sich als Staat gerade auflöst und nicht Jovanovich, 1972.

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anerkannt ist und der mit Recht vollzogen wird. Wie alle und der Gewalt geben. Allein die Soziologie sagt die Wahr­
anderen Staatsbürger erkenne die gerichtete Person die Le­ heit über den Staat, während die politische Philosophie als
gitimität des Strafrechtsverfahrens an, das auf sie angewen­ Mystifikationsmaschine funktioniert.
det wird, weil es in einem Rechtsstaat die normgemäße
Konsequenz von Handlungen ist, die dem Recht wider­
sprechen. Gerichtet zu werden ist aus dieser Perspektive Politische Soziologie
keine Gewalt, die durch den Staat auf mich ausgeübt wird.
Denn ich werde ja nicht durch eine äußere Macht gerich­ Staat und Gewalt zusammen zu analysieren stellt eine der
tet. Die Anwendung des Strafsystems repräsentiert meinen großen Errungenschaften der Sozialwissenschaften dar. Wah­
Willen, insofern ich ein rationales und politisches Wesen rend die politische Philosophie das Thema der Gewalt und
bin, und manifestiert die Anerkennung meines Status als das des Staats voneinander loskoppeln will, indem sie die
Rechtssubjekt.3 Nicht ich richte mich selbst, sondern ich Sphäre der zivilen oder privaten Interaktionen von der
unterwerfe mich dem Gerichtssystem und fordere die Be­ öffentlichen Sphäre trennt, heben die historischen oder so­
strafung. Was beispielsweise Kant zu behaupten gestattet, ziologischen Vorbilder, insbesondere der klassische Text
daß, weit davon entfernt, das Opfer einer Gewalttat zu sein, von Norbert Elias, Der Prozeß der Zivilisation, die Frage
das zum Tode verurteilte Subjekt in Wirklichkeit in diesem des Zwangs hervor: Die Thematik des Zwangs ist wesent­
Augenblick vom Staat als Rechtssubjekt behandelt und als lich für das Verständnis der Geburt und der Erhaltung des
solches anerkannt wird, d. h. daß es den Vorteil einer onto­ Staats. Die Entstehung des Staats ist die Geschichte der Mo­
logischen Beförderung genießt. nopolisierung der Gewalt durch eine bestimmte Gruppe,
Die Möglichkeit, die Frage der Gewalt der Rechtsord­ die sich als tonangebend und universal durchsetzt. Die Ge­
nung zu problematisieren, erfordert den Bruch mit dieser schichte der Form des Staats ist die Geschichte der Konzen­
Rhetorik. die der politischen Philosophie eigentümlich ist; tration der Gewalt innerhalb einer zentralen Organisation
diese Analytik zielt darauf ab, das Recht zu begründen, in­ und der entsprechenden Enteignung der anderen Akteure
dem die Problematik der Gewalt ausgeschieden wird. Dazu des Gesellschafts- oder Wirtschaftslebens ihres Rechts auf
beruft sie sich auf mystifizierende Fiktionen (Beratung, Stell­ Gewalt. Der Staat richtet ein militärisches, polizeiliches, ge­
vertretung, Vertrag, Demokratie etc.), die dazu bestimmt richtliches, fiskalisches etc. Monopol ein. Er entzieht den
sind, uns ohne weiteres dem System des Gesetzes einzuver­ Handelnden das Recht, Gewalt auszuüben. Seine Herrschaft
leiben und uns als Staatsbürger aufzufassen, die dieses wol­ ist daher zugleich an die Einigung und die Befriedung des
len und anerkennen. Mit anderen Worten, es kann keine Territoriums geknüpft.
andere als eine soziologische kritische Theorie des Staats Diese Beschreibung des Staats als einer Instanz, die durch
die Monopolisierung der Gewalt auf den Zusammenhalt ei­

3 Vgl. Frederic Gros, »Les quatre foyers de la peine«, in: Antoine nes Territoriums gegen Anarchie, Privatkriege, ständigen
Garapon, Thierry Pech, Frederic Gros, Et ce sera justice. Punir Aufruhr hinarbeitet, stellt einen ganz w ichtigen und unver­
en democratie, Paris, Odile Jacob, 2001, S. 40. zichtbaren Beitrag dar. Sie ist ein n otwendiger Ausgangs-

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punkt. Gegen die politische Sicht der Politik, gegen die Ver­ gestellt, wird nicht mehr als kritisierbare, veränderbare, re­
trags- oder Beratungsauffassung des Rechts verortet sie duzierbare Wirklichkeit problematisiert. Der Zweck der
den Staat wieder in der Sphäre der Konkurrenzkriege zwi­ Gewalt des Staats wird als selbstverständlich wahrgenom­
schen den gesellschaftlichen Institutionen und hebt den men, was ihn gegen die Kritik immunisiert.
willkürlichen, kontingenten und partikularen Charakter der Die paradoxe Schw ierigkeit der Sozialwissenschaften,
rechtlichen Dispositive hervor sowie deren wesentlichen die offizielle Gewalt zu problematisieren, wird durch einen
Beitrag zur Verfestigung einer gegebenen gesellschaftlichen zweiten Aspekt noch verstärkt: die klassische und herr­
Ordnung und Politik. schende Definition des Staats durch Max Weber. Diese De­
Dennoch kann auch die soziologische oder historische finition hebt die Tatsache hervor, daß es unmöglich ist, den
Theorie trotz dieser ursprünglichen Absicht, die das Pro­ Reduktionismus zu akzeptieren, der in der Behauptung be­
jekt einer Sozialwissenschaft begründet, die Reflexion auf steht, daß der Staat die Gewalt wie irgendeine andere Insti­
die Gewalt blockieren - und de facto tut sie das auch in tution anwendet. Sie lehnt die Relevanz der Diskurse ab,
der Form, die sie gegenwärtig annimmt. Sie neigt dazu, die eine Äquivalenz zwischen dem Staat und den konkur­
die Gewalt an und für sich nicht zu thematisieren und zu rierenden Privatakteuren ansetzen würden, die sich im Be­
problematisieren. Dieses merkwürdige Versäumnis erklärt reich der Gesellschaft entwickeln. Der Staat ist kein Akteur
sich zunächst durch die Tatsache, daß die soziologische wie die anderen; der Zwang, den er ausübt, wird in seinem
und historische Analyse sich implizit auf eine Erzählung Fall als legitim anerkannt. Der Staat ist die Instanz, die mit
stützt, die die offizielle Gewalt als nachgeordnet und not­ Erfolg das Monopol der legitimen physischen Gewalt auf
wendig zugleich erscheinen läßt: Die Polizei, die Justiz gel­ einem bestimmten Territorium beansprucht.
ten nur als Reaktionen auf vorangehende Gewalttaten. Und Diese Definition hat ein merkwürdiges Schicksal erlebt.
diese Reaktion der repressiven Instanzen - dieses Wort Sie umfaßt zwei unzertrennliche Aspekte: den Aspekt der
bringt die angenommene Nachgeordnetheit der Handlung Gewalt und den der Anerkennung. Dennoch hat sie zu ei­
des Staats gegenüber den Kräften zum Ausdruck, die auf ner nahezu ausschließlichen Konzentration auf die Thema­
immanente Weise aus dem Bereich der Gesellschaft her­ tik der Legitimität geführt, indem sie die Thematik der Ge­
vorgehen würden - habe die Funktion, die Ordnung wie­ walt in den Hintergrund verbannt hat. Die Singularität des
derherzustellen und zu verhindern, daß sich Privatkriege Staats bestünde im Akzeptieren seines Zwangs durch die
oder unendliche Zyklen der Rache ausbreiten. Die Gewalt Subjekte, auf die er sich erstreckt, und in der Anerkennung
des Staats wird als Gegengewalt wahrgenommen, als Ge­ seiner Legitimität. Infolgedessen wurde die Frage der Legi­
walt gegen die Gewalt, dank deren der Frieden, das Zusam­ timität als wesentliche Problematik der Staatswissenschaft
menleben, die politische Einheit gegen den Krieg, die Anar­ aufgefaßt: Wie legitinüert ein Staat seine Gewalt? Unter wel­
chie und die politische Auflösung aufrechterhalten werden. chen Bedingungen wird sein Zwang anerkannt, akzeptiert,
Es handelt sich zwar um eine Gewalt, aber um eine frieden­ verinnerlicht? Warum wird er es manchmal nicht, und in­
stiftende Gewalt. Infolgedessen wird diese Gewalt nicht als wiefern sind diese Krisen der Legitimität wesentlich für
fragwürdig wahrgenommen, wird nicht als solche in Frage das Verständnis politischer Krisen?

68 69
Diese Operation der Unsichtbarmachung der Gewalt des chung: Wann und warum unterwerfen sich die Menschen?
Staats kann nicht einfach als eine schlechte Lesart oder Welche Rechtfertigung nutzt die Macht zur Stützung ihrer
eine schlechte Wiedergabe des Weberschen Textes verstan­ Legitimität? Und dann formuliert Weber seine Theorie der
den werden. Sie ist bei Weber selbst am Werk. Als Beispiel drei reinen Typen möglicher Legitimation: Tradition, Cha­
können wir seinen Text »Politik als Beruf« nehmen. Weber risma und Legalität.5
sucht darin zunächst nach einer Möglichkeit, den Staat zu Sicherlich stellt die Reflexion auf die Gründe der Unter­
definieren. So behauptet er, daß man den modernen Staat werfung ein wesentliches Anliegen dar. Aber man kann
soziologisch nicht durch seine Inhalte oder Zwecke definie­ nur staunend feststellen, daß zur Gewalt keinerlei Frage ge­
ren kann (andere nichtstaatliche Gruppierungen können stellt wird. Wir haben eine Theorie der Legitimationswei­
in der Geschichte Ziele gehabt haben, die mit denen des sen des Staats; warum haben wir keine Theorie der Formen
Staats identisch sind). Der moderne Staat sei daher durch von Gewalt? Die Staaten unterscheiden sich nach dem Typ
ein »spezifische[s] Mittel [gekennzeichnet ] , das ihm [ . . . ] der Rechtfertigung, auf dem sie beruhen; könnten sie sich
eignet«. Dieses Mittel ist die »physische Gewaltsamkeit«. nicht auch nach dem Typ der Gewalt unterscheiden, die sie
Weber zitiert Trotzkij : »Jeder Staat wird auf Gewalt gegrün ­ ausüben oder nutzen? Warum scheint die Gewalt als eine
det«, und kommentiert: »Das ist in d e r Tat richtig«. Und sekundäre Angelegenheit gegenüber derjenigen der Legiti­
dann formuliert er seinen berühmten Satz: »Staat ist dieje­ mität angesetzt zu werden?
nige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines be­ Der Begriff der »legitimen Gewalt« hat zu einer Objekt­
stimmten Gebietes - dies: das >Gebiet<, gehört zum Merk­ verschiebung geführt. Die Problematik der Legitimation
mal - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für der Gewalt hat sich zu Lasten der Problematik der Gewalt
sich (mit Erfolg) beansprucht.«4 durchgesetzt. Das Feld der Problematisierung hat sich auf
Die Begriffe der Herrschaft, des Zwangs, der Gewalt neh­ die Legitimationsweisen konzentriert, auf die Art und Wei ­
men eine zentrale Stellung in der Definition des modernen se, w i e e s d e n Staaten gelingt, i n d e r Ausübung ihrer Funk­
Staats ein. Und dennoch wird Weber sie sehr schnell aus­ tionen anerkannt zu werden. Das Problem der Herrschaft
scheiden. Man wird sie vergessen. Weber wird sich auf ei­ wird zum Problem der Formen der Legitimität und der Le­
nen anderen Aspekt konzentrieren : die Anerkennung der gitimation. Die Gewalt wird ihrerseits nicht mehr als voll­
Legitimität der Gewalt. Damit der Staat existieren kann, gültiger Untersuchungsgegenstand für sich aufgefaßt. Sie
»müssen sich also die beherrschten Menschen der bean­ wird zu einem abwesenden Gegenstand des soziologischen
spruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen«. Da­ Denkens. Welche Typen von Gewalt übt das Recht aus?
her stellt er folgende Frage ins Zentrum seiner Untersu- Wie? Auf wen? Wodurch? Diese Probleme werden igno­
riert, als ob die Gewalt ein Nichtobjekt wäre, eine Hand­
lungsform, die sich selbst durchsichtig, nicht problemati­

4 Max Weber, »Politik als Beruf« , in: Max Weber Gesamtausgabe,


sierbar oder nicht beschreibbar ist. Im äußersten Fall wird
Bd. 17, hg. v.W. J. Mommsen und W. Schluchter, Tübingen, Mohr,
1992, s. 158( 5 Ebd., S. 160.

70 71
der Staat nur dann als »gewalttätig« (Fehlverhalten der Po­ sie in ihrer Wahrheit zu sehen und sie in ihrer Massivität
lizei, Ungleichheiten der Behandlung vor Gericht, Willkür zu empfinden.
der Macht etc.) bezeichnet, wenn er auf eine Weise handelt, Meines Erachtens ist es kein Zufall, wenn die politische
die nicht mit den Normen übereinstimmt, die ihn begrün­ Philosophie und die Sozialwissenschaften sich gegen die
den und legitimieren. Enthüllung und die Bewußtwerdung der Gewalt des Staats
abschirmen. Die politische Theorie, die von Kant ausging,
und die Politikwissenschaft im Ausgang von Weber teilen
Die Aufhebung der L egitimität dieselbe grundlegende Verzerrung, die sie dazu verurteilt,
als Hindernisse für die Erkenntnis zu fungieren: Sie be­
Ich behaupte hier nicht, daß die Ausarbeitung einer klar­ trachten den Staat als eine gesonderte Entität, die mit den
sichtigen Theorie des Staats erfordert, mit der Aussage We­ anderen Entitäten, aus denen die gesellschaftliche Welt be­
bers zu brechen. Aber ich glaube auch nicht, daß es ausrei­ steht, inkommensurabel ist. Sie stellen ihm Fragen, die sie
chen würde, die Untersuchungen der Legitimität einfach nur ihm alleine stellen, nämlich die Frage nach seinen
nur durch Untersuchungen der offiziellen Gewalt zu ergän­ Grundlagen im Falle Kants und die Frage nach seinen Le­
zen. Im Grunde frage ich mich, ob man nicht vielmehr gitimationsweisen im Falle Webers. Ihre Vorgehensweise
einen neuen Gebrauch vom Begriff der »legitimen Gewalt« stützt sich auf dasselbe Bestreben. Zu charakterisieren, was
machen und ob man nicht ein ganz anderes Projekt aus die Besonderheit des Staats ausmacht. (Übrigens zeigt die
dieser Charakterisierung des Staats ableiten sollte. Wenn Tatsache, daß diese Untersuchungsweisen die Form von
es richtig ist, daß der Staat mit Erfolg das Monopol der le­ Disziplinen oder vollgültigen und relativ autonomen Fach­
gitimen physischen Gewalt für sich beansprucht, müßte gebieten annehmen - politische Philosophie und Politik­
sich das kritische Denken dann nicht quer zur Frage der wissenschaft -, daß alles so geschieht, als ob man die Idee
Legitimität verorten? Seine Aufgabe wäre es, Mittel zu fin­ akzeptierte, der zufolge der Staat ein spezifisches Objekt
den, um die Gewalt dort zu zeigen, wo man sie nicht mehr darstellt - und nicht ein Objekt wie jedes andere, das man
sieht, sie zu enthüllen, sie spürbar zu machen. Wenn die Ge­ mit den üblichen Methoden und Problematiken angehen
walt als legitim wahrgenommen wird, wenn sie akzeptiert muß.)
wird, wenn sie als selbstverständlich betrachtet und folglich Aber dem Staat eine solche Besonderheit zuzugestehen,
nicht als veränderbar oder kritisierbar problematisiert wird, ihn mit besonderen Instrumenten anzugehen, ihn auf sin­
dann liegt die Funktion des Intellektuellen weniger darin, guläre Weise zu problematisieren (in B egriffen der Legiti­
die Gründe für diese Wahrnehmung zu verstehen, als sie mität, der Grundlagen etc.) bedeutet, daß man sich dazu
vielmehr zu dekonstruieren. Wir m üssen uns in einen ge­ verurteilt, Gefangener des Staats zu bleiben. Es bedeutet,
wissen Abstand zur Problematik der Anerkennung stellen, dem Staat das zuzugestehen, was er gerade in dem Augen­
um die Wahrheit des Staats zu enthüllen. Und auf diese blick verlangt, wo man beansprucht, ihn zu objektivieren.
Weise den Menschen - d. h. jedem von uns - die Möglich­ Diese Sichtweisen sind Teil des staatlichen Dispositivs, sie
keit geben, sich der Gewalt des Staats bewußt zu werden, setzen voraus, was der Staat beansprucht und verlangt, wenn

72 73
sie ihn als Objekt auffassen. Sie bestätigen die Zweiteilung hinzufügen] auf den Staat anzuwenden«, um die Formulie­
der Welt, die der Staat zwischen sich und den anderen Ak­ rung von Pierre Bourdieu aufzunehmen.6 Es geht darum,
teuren errichten will, um sich als Staat durchzusetzen, sie die physische Gewalt des Staats, die ihm gestattet, seine
gehen von ihr aus, anstatt sie in Frage zu stellen, sie zum Zwänge auszuüben, ohne daß sie von denjenigen, die de­
Gegenstand zu machen, sie zu enthüllen. Mit der Folge, ren Opfer sind, nämlich den Rechtssubjekten, als solche
daß sie am Ende weniger das Dispositiv der Souveränität wahrgenommen werden, erfolgreich sichtbar und spürbar
zum Gegenstand machen, als vielmehr an seiner Konstitu­ zu machen. Nicht, weil eine gewaltsame Handlung nicht
tion und seiner Funktionsweise teilhaben, indem sie dem als solche wahrgenommen wird, nicht, weil man in sie ein­
Staat den Ausnahmecharakter zugestehen, auf den er sich willigt, verschwindet sie auch schon oder ist nicht mehr
stützt, um seine Autorität auszuüben. Durch ihre Art der gewaltsam. Im Gegenteil bleibt sie es, aber verkannterma­
Problematisierung selbst gehören diese Erzeugnisse zwar ßen - und die Aufgabe des Intellektuellen besteht darin,
nicht zum Denken des Staats, aber sicherlich zu einem diese Verkennung aufzuheben, mit diesem Verhältnis der
symbolischen Etatismus. Sie behandeln den Staat mit Ehr­ Verkennung zur Welt zu brechen, um die Dinge zu sagen,
erbietung, Respekt, Aufmerksamkeit - und gestehen ihm wie sie sind.
im Raum der Sprache die Unterwerfung zu, die er fordert
Die politische Wissenschaft und die politische Philosophie
bilden unterworfene und unterjochte Positivitäten. Ausnahme
Als Pierre Bourdieu Max Weber vorwarf, sich in seiner
Definition auf die physische Gewalt des Staats konzentriert Es gibt bekanntlich eine Verbindung zwischen der Souve­
und seine symbolische Gewalt nicht berücksichtigt zu ha­ ränität und der Ausnahme, wobei der Souverän derjenige
ben, wollte er gerade die Aufmerksamkeit auf die Tatsache ist, der zu einem bestimmten Zeitpunkt über das Recht ver­
lenken, daß eine der wesentlichen Eigenschaften des Staats fügt, über den Ausnahmezustand zu entscheiden und das
darin besteht, auf Vorstellungen einzuwirken, Wahrneh­ Recht im Namen des Schutzes und der Selbsterhaltung
mungen zu verändern, unsere unbewußten Sehgewohnhei­ des politischen und gesellschaftlichen Körpers aufzuhe­
ten zu formen. ben. Der Souverän bestimmt sich durch die einzigartige Fä­
Die Logik des Staats besteht darin, seine Handlungen zu higkeit, sich vom Recht freizustellen, durch jenen eigen­
verschleiern, sie für etwas anderes auszugeben. Der Staat tümlichen Status, der ihm gestattet, zu bestimmen, was als
ist die Instanz, der es gelingt, ihre gewaltsamen Handlungen Ausnahme gilt, und sich dann anschließend auf diese Situa­
als nicht gewaltsam auszugeben. Infolgedessen erfordert tion zu berufen, um die reguläre Rechtsordnung aufzuhe­
die Formulierung einer kritischen Theorie des Staats die ben und sich folglich - und zwar nur sich allein - die Mög-
Erfindung eines Dispositivs, das ein Denken des Staats ge­
stattet, ohne seinerseits das Denken des Staats wiederauf­
6 Pierre Bourdieu, »Esprit d'Etat«, in : ders., Raisons prati q 11es, Paris,
zunehmen, ohne »Staatlich produzierte und geschützte Denk­ Seuil, 1994, S. 101; dt.: »Staatsgeist«, in: ders., Praktische Vernunft,
kategorien [und auch solche der Wahrnehmung, könnte man übers. v. H. Beister, Frankfurt / M., Suhrkamp, 1998, S. 93.

74 75
lichkeit einzuräumen, ihr nicht mehr gehorchen zu müs­ Tat neige m a n dazu, so Derrida, sich der Todesstrafe im
sen.7 Namen der »Ehrfurcht vor dem Leben«, des »Rechts auf
Natürlich geschieht die Aufhebung des Rechts nur sel­ Leben« zu w idersetzen. Wenn der Staat den Mord verbie­
ten und nur für eine bestimmte Zeit. Ihre Möglichkeit be­ tet, ihn als entscheidendes Verbot betrachtet, wie kann er
stimmt die Struktur und den Ort der Souveränität, aber sich dann das Recht zu töten herausnehmen ?
die Wirklichkeit der Aufhebung bleibt trotz allem per de­ Derrida zufolge ist diese Rhetorik zu einfach. Insbeson­
finitionem eine seltene, eine Ausnahmesituation. dere ist sie nur wenig überzeugend (halten wir fest, daß
Dennoch scheint der Ausnahmezustand im Register der Derrida hier natürlich keinen Diskurs zugunsten der To­
Sprache dauerhaft und strukturell zu sein. Der Staat besitzt desstrafe hält: Im Gegenteil vollzieht er eine Reflexion dar­
die Fähigkeit, sich so zu verhalten, daß man von ihm an­ auf, was es bedeutet, einen abolitionistischen Diskurs zu
ders als über Privathandlungen spricht, daß man ihn auf führen). Denn, so Derrida weiter, wenn man den Staat kri­
eine besondere Weise problematisiert, daß man spezifische tisierte, weil er Handlungen vollzieht, die den Privatperso­
\Vörter und Begriffe verwendet, um das zu bezeichnen, was nen verboten sind, so würde man zeigen, daß man die Lo­
er tut. Diese Art und Weise, den Staat auszunehmen, ihn gik der Politik verkennt. Der Staat setzt nämlich in seinem
anders zu behandeln, legt Zeugnis von der unbewußten Begriff selbst diesen Ausnahmestatus voraus. Er kann ver­
und spontanen Anerkennung ab, die wir ihm zugestehen. haften, Privatpersonen können das nicht; er kann die ein­
Die politische Frage verweist hier ganz unmittelbar auf die zelnen zwingen, ihm einen Teil ihrer Güter zu überlassen
Frage nach der Sprache, weil die Reservierung eines beson­ (durch Steuern), Privatpersonen haben dieses Recht nicht
deren Vokabulars dem Staat gegenüber bedeutet, daß man (das wäre Diebstahl) . . . Folglich steht das Verbot des Mor­
seine Anmaßung billigt, eine höhere, transzendente und des auch keineswegs im Widerspruch zur Existenz der
irreduzible Instanz zu verkörpern. Auf diese Weise neigt Todesstrafe - andernfalls könnte das Verbot der Freiheits­
man dazu, seinen Anspruch auf Legitimität, seinen Aus­ beraubung ebensogut als Argument gegen Gefängnisse ver­
nahmestatus zu akzeptieren, d. h. ihn mit den Kategorien wendet werden.
des Staats zu begreifen. Derrida zufolge wird der kritische Diskurs über die To­
In dem Seminar, das er der Todesstrafe gewidmet hat, desstrafe nur dann strapazierfähig und konsequent wer­
reiht sich Jacques Derrida in dieses System ein, wenn er be­ den, wenn er eine Wandlung vollzieht. Er muß sich der Tat­
tont, daß man seines Erachtens die Logik der Verurteilung sache bewußt werden, daß die Todesstrafe sich nicht gegen
zum Tod nur unter der Bedingung verstehen kann, daß das Leben richtet - und daß es folglich zu nichts führt, ihr
man mit einem gewissen abolitionistischen Diskurs bricht, ein »Recht auf Leben« entgegenzusetzen. Sie steht im Ge­
der auf dem heiligen Charakter des Lebens besteht. In der gensatz zum Mord, ebenso wie das Gefängnis im Gegen­
satz zur willkürlichen Verhaftung steht. Das Recht kann al­
so zur selben Zeit und ohne Widerspruch sagen »Du sollst
7 Jacques Derrida, Seminaire sur la peine de mort, Paris, Galilee,
2012, S. 128-133. (Vgl. auch Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, nicht töten« und »wenn du so und so eine Handlung voll­
übers. v. U. Müller-Schöll, Frankfurt / M., S uhrkamp, 2004.) ziehst, werde ich dich töten« , denn es handelt sich weder

76 77
um denselben Tod noch um dieselbe Handlung.8 So gibt die uns verboten sind. Das ist ein Paradigma, das Katego­
es anscheinend zwei verschiedene und inkommensurable rien auf den Souverän anwendet, die von ihm stammen,
Weisen zu töten: Die eine ist willkürlich, anarchisch - der und das ist der Grund, warum er überhaupt dadurch seine
Mord -, die andere ist geregelt, geordnet, legal - die Todes­ Handlungen legitimieren kann. Die Sprache verdeckt hier
strafe. »Zwischen dem Mord und der Todesstrafe, zwischen die Wirklichkeit, indem sie so tut, als ob der Staat anders
dem Mord außerhalb des Gesetzes und der gesetzmäßigen handeln würde, als er tatsächlich handelt.
Todesstrafe gibt es nach dieser Logik keinerlei Zusammen­ Wäre es folglich nicht eher so, daß man nur unter der
gehörigkeit.«9 Der Diskurs der Gegner der Todesstrafe muß Bedingung, den Ausnahmestatus des Staates abzulehnen,
sich mit diesem Unterschied auseinandersetzen und die die Logik infrage zu stellen, derzufolge die Handlungen
Todesstrafe in ihrer Einzigartigkeit erfassen, wenn er den des Staats von anderer Natur sein sollen als die Handlun­
Beschwörungen entgehen und effektiv und glaubwürdig gen von Privatpersonen, in Wahrheit einen kritischen Dis­
sein will. kurs über das Strafrecht und den Staat i m allgemeinen
Die Schwierigkeit des abolitionistischen Diskurses und konstruieren könnte? Es würde ganz einfach darum gehen,
die Abgefeirntheit der Rhetorik zugunsten der Todesstrafe, die Wahrheit zu sagen, zu sagen, was der Staat tut. Und
auf die Derrida die Aufmerksamkeit lenkt, sind sehr wich­ von dort aus könnte man w irklich die Frage mit Bezug dar­
tig und müssen berücksichtigt werden. Aber ich frage mich, auf stellen, was zulässig oder notwendig ist und was nicht.
ob es nicht möglich und sogar notwendig ist, das genaue Mit anderen Worten, es geht hier keineswegs darum, den
Gegenteil dessen zu sagen, was Derrida sagt. Man kann Staat zu zerstören, ihn abzulehnen, seine Existenz und sei­
sich die Frage nach der Triftigkeit der Auffassung stellen, ne Handlungen unmöglich zu machen, sondern vielmehr
der zufolge man die Existenz eines Unterschieds zwischen darum, die Mittel zu finden, um die Reflexion nicht auf
Handlungen des Staats und Privathandlungen schriftlich ein Verhältnis der Mystifizierung zu gründen und sich dar­
verankern müsse, so daß die Logik der Kritik nicht die­ über im Klaren zu sein, was der Staat ist und was er tut, um
selbe Rhetorik verwenden könne, um Handlungen zu be­ zu beurteilen, was unzulässig und was im Gegensatz dazu
zeichnen, die sich auf diesen beiden Ebenen abspielen. akzeptabel ist.
Denn diese Denkweise setzt die Anerkennung des Staats,
des Gesetzes und der Aufteilungen voraus, die sie erlassen,
und zwar genau in dem Moment, wo man eigentlich deren Reduzieren und benennen
Operationen und Gewalt erfassen müßte. Das ist eine Ana­
lytik, die die Souveränität, die souveräne Ausnahme, das Es ist notwendig, der Art und Weise, über den Staat nach­
Recht des Staats voraussetzt, Handlungen zu unternehmen, zudenken, die man in der politischen Philosophie (Arendt
und Habermas), in der Politikwissenschaft (Weber) oder
in jüngerer Zeit in Derridas Seminar antrifft, das ich gera­
8 Derrida, Seminaire sur la peine de mort, S. 35-39. de angeführt habe, eine andere Vorgehensweise entgegen­
9 Ebd., S. 38. zusetzen, die mit dem politischen Gebrauch der Sprache

78 79
bricht, die den Staat wie jeden anderen Akteur auch behan­ obachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urtheil
delt und ihn so entmystifiziert. ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben.«10
Einer der wenigen Autoren, die eine Auffassung des Und Nietzsche stellt die Frage: Warum bringt die Justiz
Staats vorgeschlagen haben, die sich von jeglicher Verken­ keine Reue hervor? Warum erzeugt die Bestrafung weder
nung befreit und die uns daher als Leitfaden und Vorbild Reue noch schlechtes Gewissen ? Warum gibt es einen Ant­
dienen kann, ist Friedrich Nietzsche in seinen Analysen agonismus zwischen der Logik der Bestrafung und der Lo­
der Logik der Reue und des schlechten Gewissens. In Zur gik der Reue? Denn wenn man darüber nachdenkt, wird
Genealogie der Moral setzt sich Nietzsche nämlich mit der klar, daß die bestrafende Handlung im Grunde nur das
Vorstellung auseinander, daß die Bestrafung in der Seele Gegenteil des schlechten Gewissens hervorbringen kann.
des Verbrechers Reue aufkommen lassen könnte. Die Ju­ Vielleicht ist ihre einzige Wirkung die Verhärtung der Ver­
stiz möchte Reue hervorrufen. Sie will den Verbrecher um­ brecher. Wenn man glaubt, daß die Bestrafung die Verbre­
gestalten, indem sie in ihm die Empfindung des schlechten cher dazu führen wird, sich zu bessern und auf Gewalt zu
Gewissens aufkeimen läßt und ihn so dazu ermuntert, den verzichten, dann täuscht man sich: Man sieht die Gewalt
Weg der Selbstkorrektur und der Normalisierung seines des Strafrechtsverfahrens und der Bestrafungen nicht, wor­
Verhaltens zu beschreiten. Auch das »Volksgewissen« setzt aus folgt, daß der Staat nicht als tugendhaftes Beispiel fun­
seine Hoffnung auf die Bestrafung, denn es erblickt darin gieren kann, das es nachzuahmen gilt. Warum? Weil er den
ein Mittel, das dazu bestimmt ist, beim Übeltäter ein »Ge­ Verbrechern gegenüber genauso handelt wie diese selbst -
fühl der Schuld« zu erwecken. Mit anderen Worten, eine und damit nämlich implizit zeigt, daß ihre Handlungen
der am häufigsten vorgebrachten Rechtfertigungen der Be­ nicht an sich verdammenswert sind, daß ihnen an sich
strafung sei ihr »moralischer Nutzen«. Nun ist aber nach nichts vorzuwerfen ist. Der Staat reagiert auf Verbrechen
Nietzsche eine solche Auffassung ein Irrtum. Sie wird hi­ durch Akte, die nicht nur vergleichbar, sondern in allen
storisch für ungültig erklärt. Die Strafe und das Strafver­ Punkten ähnlich und identisch sind, so daß die Straftäter
fahren bringen keine Reue hervor: »Die Strafe soll den gar nicht verstehen können, was sie sich vorzuwerfen hät­
Werth haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzu­ ten: »Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der
wecken, man sucht in ihr das eigentliche Instrumentum je­ Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich ur­
ner seelischen Reaktion, welche >schlechtes Gewissen<, >Ge­ theilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung des
wissensbiss< genannt wird. Aber damit vergreift man sich Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist, - we­
selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psycho­ nigstens in Hinsicht auf die Opfer, an denen sich die stra­
logie: und wie viel mehr für die längste Geschichte des fende Gewalt ausliess. Unterschätzen wir nämlich nicht,
Menschen, seine Vorgeschichte ! Der ächte Gewissensbiss inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der ge­
ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äus­ richtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert
serst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht
Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit 10 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Hamburg, Felix
Vorliebe gedeiht: - darin kommen alle gewissenhaften Be- Meiner, 2013, S. 74f.

80 81
wird, seine That, die Art seiner Handlung, an sich als ver­ daß er sie ins Gefängnis steckt, sondern daß er sie ihrer
werflich zu empfinden : denn er sieht genau die gleiche Freiheit beraubt; nicht daß er ihnen Bußgelder auferlegt,
Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt sondern daß er sie »ausraubt« .
und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt: also Als Beispiel können wir einen Auszug aus dem 14. Zu­
Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die gan­ satz zur Verfassung der Vereinigten Staaten nehmen: »Kein
ze knifiliche und durchtriebene Polizisten- und Ankläger­ Staat soll irgendein Gesetz machen oder durchsetzen, das
kunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den die Privilegien oder Immunitäten der Bürger der Vereinig­
Affekt entschuldigte Berauben, überwältigen, Beschimp­ ten Staaten verkürzen würde; und kein Staat soll irgend­
fen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den ver­ eine Person des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums
schiednen Arten der Strafe sich ausprägt, - Alles somit ohne gebührenden Rechtsprozeß berauben.« In dieser Fas­
von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und sung gibt es etwas, das mit der Lüge zu tun hat, mit dem
verurtheilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Akt des Verhüllens und des Verschönerns der Wirklich­
Hinsicht und Nutzanwendung. Das >Schlechte Gewissen<, keit. Denn es genügt nicht zu sagen, daß der Staat uns des
diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unserer ir­ Lebens, der Freiheit oder unserer Güter »beraubt« : Er tötet
dischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen uns, er sperrt uns ein, er bestiehlt uns. Und die Tatsache,
[ . . ] . « ll
.

daß das im Einklang mit dem Gesetz, auf legale Weise ge­
Dieser Text von Nietzsche bildet einen genauen Kontra­ schieht, schmälert nichts an der Wirklichkeit dessen, was
punkt zum Argument Derridas. Er beruht auf einem sym­ erreicht wird, und an der Gewalt der Handlungen. Den
bolischen Staatsstreich und einer Wiederaneignung der Staat zu objektivieren bedeutet folglich, Operationen der
Sprache und unserer Fähigkeit zur Benennung, die sich Übersetzung durchzuführen. Die Wahrheit zu sagen wür­
auf die Ablehnung der Auffassungen gründet, die der Staat de erfordern, diesen Zusatz folgendermaßen abzufassen:
durchzusetzen versucht. Wenn man Nietzsche folgt, dann »Kein Staat soll töten, einsperren oder stehlen ohne ein ge­
sieht man ein, daß man entgegen der These D erridas und regeltes rechtliches Verfahren.« Nur eine solche Formulie­
folglich auch der These Webers oder Arendts nur unter rung würde die Wirklichkeit des Repressionsapparats des
der Bedingung verstehen kann, was der Staat tut, daß man Staats ausdrücken (und jede Reflexion auf die Repression,
mit der Verschleierung durch den Staat selbst bricht, was Strafe, Polizei, die nicht mit der Behauptung einer klaren
die Behauptung der Vorstellung einer Äquivalenz oder bes­ Sicht des Staats beginnt, verurteilt sich dazu, auf einer My­
ser noch einer Identität zwischen den H andlungen des stifizierung zu beruhen und kann sich daher nicht als ratio­
Staats und den Privathandlungen voraussetzt. Man muß nal ausgeben). Und sagt der Staat das nicht im übrigen ge­
akzeptieren, daß man vom Staat nicht sagt, daß er »zum wissermaßen auch selbst? Manchmal scheint es bei den
Tode verurteilt«, sondern daß er mordet; nicht daß er Pri­ Gesetzen nicht so zu sein, daß der Staat das, was er tut, ver­
vatpersonen verhaftet, sondern daß er sie »kidnappt« ; nicht birgt. Wieder läuft alles so ab, als ob wir es wären, die uns
selbst mit Blindheit schlagen und uns selbst anlügen. Der
u Ebd., S. 75f. Staat behauptet seine praktische Kommensurabilität mit

82 83
den anderen gesellschaftlichen Akteuren. Folgendes ist bei­ Ziel einer kritischen Soziologie darstellen. Die Bestimmung
spielsweise die Fassung des Artikels 224-1 des Strafgesetz­ des Denkens besteht darin, sich dem Glauben an die Wahr­
buchs über Menschenraub und Freiheitsberaubung: »Der heit der ursprünglichen und geläufigen Wahrnehmung der
Tatbestand des Verhaftens, Entführens, Festsetzens oder Welt zu verweigern . 1 4 Die Rolle des Theoretikers besteht
Einsperrens einer Person wird, wenn er ohne Befehl amt­ nicht darin, die spontane Erfahrung zu rekonstruieren, die
licher Behörden und außerhalb der Fälle erfolgt, die vom Ge­ die Akteure von der Welt haben, und deren Gründe zu ver­
setz vorgesehen sind, mit zwanzig Jahren Zuchthaus be­ stehen. Wenn er das tut, verfestigt er die eingebürgerte Ord­
straft. « Mit anderen Worten, was explizit bestraft wird, ist nung der Wahrnehmungen. Denken muß im Gegenteil
nicht das Entführen, Festsetzen oder Einsperren einer Per­ darin bestehen, den Akteuren Gewalt anzutun, sie ins Wan ­
son, sondern es ohne die Autorisierung des Staats zu tun: ken zu bringen, die Mittel z u finden, ihre Rahmenvorstel­
Anders gesagt, der Staat entführt; und er sagt auch, daß lungen und Sichtweisen in Frage zu stellen. Wenn sich die
er entführt. Akteure in einer bestimmten Analyse wiedererkennen, ist
Den Staat zu sehen, zu spüren, was er ist, setzt parado­ das ein Problem, weil es zeigt, daß die Analyse das konso­
xerweise voraus, ihn als Gegenstand aufzulösen. Deutlich lidiert, was sich eingebürgert hat, und folglich Konservie­
zu sehen erfordert, ihn auf etwas Banales zurückzuführen, rungseffekte produziert.
ihn als etwas anderes als er selbst zu betrachten. Was zu Den Staat auf das zurückzuführen, was er ist, die Dinge
dem Gedanken führt, daß der Ansatz von Norbert Elias be­ in ihrer Wirklichkeit zu benennen, eine gemeinsame Spra­
züglich des Staats dem von Max Weber vielleicht überlegen che zu übernehmen, um den Souverän zu denken, ermög­
ist. Elias vergleicht den Staat nämlich mit einer Schutzgeld­ licht es, den politischen Mystifizierungen zu entrinnen und
erpressung: »Eine Schutzgelderpressung, die von Gangstern sedimentierte Sichtweisen zu dekonstruieren. \Ver Kritik
organisiert wird, wie man sie in Chicago sieht, unterschei­ sagt, der sagt Kritik des Staats, d. h. Kritik an der Anma­
det sich nicht so sehr vom Staat.« 1 2 Ich verstehe den Ein­ ßung des Staats, das zu sein, was er ist. Eine Analytik der
wand Bourdieus, der einer solchen Definition ihren Reduk­ Gewalt und des Rechts muß die Autonomie ablehnen, die
tionismus und die Tatsache vorwarf, daß der Staat eben die Politik innezuhaben beansprucht; sie muß auf ein nicht­
gerade nicht als Schutzgelderpresser wahrgenommen wird.13 politisches Vokabular zurückgreifen, um die Politik begriff­
Aber eigentlich sollen das Deutlichmachen der Gewalt und lich zu fassen. Wenn es gelingen soll, die Weisen des Regie­
ihre Enthüllung, indem man die eingebürgerten Wahrneh­ rens in Frage zu stellen, muß man aufuören, von der Spra­
mungen der Akteure in Frage stellt, den Endpunkt und das che und den Kategorien regiert zu werden, die vom Geist
des Staats hervorgebracht wurden.
Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch La Der­
12 Zitiert von Pierre Bourdieu, Ober den Staat, übers. v. H. Brüh­
niere Le(:on de Michel Fouca ult dargelegt, daß es möglich
mann �nd P. Willim, Berlin, Suhrkamp, 2014, S. 232f. Vgl. Nor­
bert Ehas, Ober den Prozeß der Zivilisat ion, Frankfur t/ M„ Suhr­
kamp, 1976, S. 28off. 14 Joan W. Scott, nL'evidence de l'experience«, in : dies„ 111eorie criti­
13 Bourdieu, Über den Staat. que de l'histoire, Paris, Fayard, 2009.

84 85
sei, eine kritische Dimension im neoliberalen Paradigma ihm paradoxerweise vorgeworfen - hat Bourdieu ein Voka­
und in der Art und Weise festzustellen, wie seine Theoreti­ bular benutzt, das von der Ökonomie stammt, um die un­
ker ökonomische Überlegungen verwenden, um über den terschiedlichen Tätigkeiten zur Sprache zu bringen, die die
Staat nachzudenken. Die Ökonomie wendet auf den Staat gesellschaftliche Welt ausmachen: Er hat die Religion, die
diejenigen Kategorien an, die sie für die Gesamtheit der ge­ Sprache, die Kultur oder auch die Literatur in Begriffen des
sellschaftlichen Akteure gebraucht. Sie gesteht diesem Ge­ Marktes, des Kapitals, von Angebot und Nachfrage, Zin­
genstand keine Sonderbehandlung zu. Sie erfaßt auch ihn sen, Wettbewerb, Einkommen, Gewinn etc. problematisiert.
durch die Begriffe des Markts, von Angebot und Nachfra­ So zu denken bedeutet, die Tätigkeiten aus ihrem Sonder­
ge, von Kosten-Nutzen-Kalkül, von Nutzen etc. Der Neo­ status, den sie beanspruchen und geltend machen, heraus­
liberalismus lehnt es ab, dem Staat eine Besonderheit zuzu­ zureißen; es bedeutet, sie auf eine allgemeine Ebene herun­
erkennen: Er führt ihn auf eine W irklichkeit unter anderen terzubringen und dadurch eine W irkung zu erzielen, die
zurück, die mit den anderen kommensurabel ist. Er unter­ sowohl enthüllend als auch entzaubernd ist und die es er­
zieht ihn einem analytischen Raster, das auch für alle ande­ möglicht, einen neuen Blick auf diese Praktiken zu werfen.
ren Institutionen gilt. Die ökonomische Sichtweise löst die Der Reduktionismus bildet den Ausgangspunkt einer er­
Einzigartigkeit des Staats auf und ermöglicht es, ihn ohne hellenden Analyse der Gesellschaftswelt.
Mythos zu begreifen. Um auf das Thema dieses Kapitels zurückzukommen,
Dieser methodische Punkt sollte allgemeine Gültigkeit so bin ich mir natürlich dessen bewußt, daß der Gebrauch
erlangen: Was auch immer die Gegenstände sein mögen, gewöhnlicher Wörter mit Bezug auf den Staat (Diebstahl,
so verlangt die Ausarbeitung einer Analyse, die die Wahr­ Kidnapping, Töten, Einsperren etc.) schockiert und An­
heit der Funktionsweise der gesellschaftlichen Welt zu Be­ stoß erregt.W ir sind nicht daran gewöhnt. Wenn man Be­
wußtsein bringt, daß man einen Bruch mit dem Bild von zeichnungen dieses Typs benutzt, scheint man eine exzes­
sich selbst vollzieht, das die Tätigkeiten aufweisen, und mit sive antistaatliche Regung zu verraten. Dem ist nicht so.
den Vorstellungen von sich selbst, die die Akteure ausbil­ Aber man könnte auch ebensogut die Wahrnehmung um ­
den. Die Welt der Gesellschaft ist durch vorkonstruierte kehren - und sich Fragen im Hinblick auf die verdunkeln­
Tatsachen konstituiert, und wir nehmen sie in dieser Form den Kräfte stellen, die wir erleiden, damit wir die Zwänge,
wahr. Das Denken darf daher diese Vorkonstruktion nicht die auf uns w irken, nicht auf diese Weise, in ihrer Wahrheit
billigen, sondern muß sie im Gegenteil auflösen und über empfinden.
die Mittel nachdenken, um deren mystifizierende Form zu Die Funktion des aufgeklärten Ansatzes besteht darin,
enthüllen. 15 uns mit den Mitteln zu versorgen, um uns der Mächte be­
Das ist übrigens eine der Hauptlektionen, die man dem wußt zu werden, denen w ir unbewußt ausgesetzt sind, da­
Gestus entnehmen kann, der den Ansatz Pierre Bourdieus mit wir uns in die Lage versetzen können, mit völliger Klar­
beseelt hat. Sein ganzes Werk hindurch - und das wurde heit zu beurteilen, inwieweit diese Situation erträglich oder
im Gegensatz dazu untragbar ist und daher eine Verände­
15 Vgl. Didier Eribon, La societe comme verdict, Paris, Fayard, 2013. rung erfordert. Sagen, was der Staat ist, zeigen, was er tut,

86 87
wie er es tut, das bedeutet gewiß die Entwicklung und Wie­
dergewinnung einer widerspenstigen Einstellung gegen­
über dem Staat. Aber vor allem ist es die Forderung nach Dr itter Tei l
einem Recht auf eine gewisse Unbeugsamkeit. Angesichts
des Einflusses, den die rechtlich-politische Ordnung auf Das System der Geri chts barkeit
unser Leben ausübt, ist es normal, bei der Bildung eines
hellsichtigen Blickes auf seine Operationen so weit wie
möglich zu gehen. Unter dieser Bedingung wappnet man
sich mit den notwendigen Instrumenten, um über seine
Wirklichkeit nachzudenken und folglich die Ansprüche,
die wir ihm gegenüber berechtigterweise formulieren kön­
nen, und natürlich auch die Macht, die wir ihm möglicher­
weise zugestehen wollen, auf rationale Grundlagen zu stel­
len.

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Jen seits der Ve rantwo rtun g

Es genügt, mehreren Gerichtsprozessen in Folge beizuwoh­


nen, um sich sehr schnell darüber klar zu werden, daß alle
sich auf dieselbe Weise abspielen. Die Verhandlungen fol­
gen einer wohlbegründeten Logik. Und obwohl im Laufe
der Niederschrift dieses Buchs eine Reform des Strafrechts­
verfahrens eingetreten ist, blieb doch die allgemeine Öko­
nomie der Prozesse völlig unverändert. Alles läuft absolut
monoton ab. Die Vorsitzenden, die Staatsanwälte wechseln,
die Angeklagten und ihre Anwälte natürlich auch, die zur
Last gelegten Verbrechen und ihre Umstände unterschei­
den sich, die Zeugen kommen aus ganz verschiedenen Mi­
lieus und erzählen spezifische Geschichten . . . Aber diese
Variabilität der strafrechtlichen Materie ändert nichts an
der Struktur des Systems der Gerichtsbarkeit. Die Ver­
handlungen sind einander sehr ähnlich, ohne daß diese
Einheitlichkeit übrigens den Richtlinien des Strafverfah­
rens zugeschrieben werden könnte, die im Grunde ziem­
lich vage im Hinblick darauf bleiben, was die Modalitäten
des Ablaufs der Debatten angeht.
In Frankreich laufen die Verhandlungen folgendermaßen
ab. Der Vorsitzende bittet den Angeklagten, seine Identität
anzugeben - Name, Vorname, Alter, Beruf und Wohnort.
Anschließend lost er die Geschworenen aus. Der Prozeß
im eigentlichen Sinne beginnt nun: Der Vorsitzende faßt
die Vorwürfe zusammen, die gegen den Angeklagten erho­
ben werden, und die Gründe für die Anklage gegen ihn.
Dann kommt jener so merkwürdige Augenblick, wo der

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Gerichtshof sich für das Leben und die Persönlichkeit des der Anträge. Die Nebenkläger, wenn es welche gibt, ergrei­
Angeklagten interessiert. Lange, manchmal über mehrere fen als erste das Wort; dann ist der Staatsanwalt an der Rei­
Stunden hinweg, wird dieser über seine Vorlieben, seine he und anschließend die Anwälte der Verteidigung. Ein Au­
Gewohnheiten, seinen Charakter befragt, noch bevor die genblick wird dann noch dem Angeklagten eingeräumt,
Tatsachen der Verhandlung unterbreitet worden sind und um sich ein letztes Mal zu äußern, wenn er es wünscht.
die Schuld des Beschuldigten untersucht wurde. Die Vor­ Schließlich ziehen sich der Gerichtshof und die Geschwo­
sitzenden von Schwurgerichten, die selten sehr intelligent, renen zur Beratung zurück - und nach der Wartezeit er­
aber dafür immer ganz stolz darauf sind, Phrasen auszu­ geht der Urteilsspruch.
sprechen, die sie für feinsinnig halten und mit Bezug auf Man muß wohl zugeben, daß, wenn man einem Gerichts­
welche die anderen sie glauben machen, daß sie es auch prozeß beiwohnt, man trotz der Langeweile sehr bald Ge­
wirklich sind, um sich ihrer Sympathie zu versichern, recht­ fallen daran findet. Ich sehe nicht, wie es möglich wäre,
fertigen diese Abfolge, in deren Verlauf man von allem au­ dem zu widerstehen, und auch nicht, wer dem widerstehen
ßer von dem »Verbrechen« oder der möglichen Beteiligung könnte, denn man übernimmt rasch eine subjektive Posi­
des Beschuldigten spricht, durch die Tatsache, daß »Urtei­ tion, die der des Richters ähnlich ist: Man stellt sich Fra­
len verstehen bedeutet« . Man bemüht sich also, den »An­ gen zur Schuld des Angeklagten, zum Grad seiner Ver­
geklagten« und seinen Lebenslauf zu »verstehen« - und antwortlichkeit oder Beteiligung, zur Vorsätzlichkeit oder
häufig beginnt ein Persönlichkeitsermittler oder eher eine Nicht-Vorsätzlichkeit seiner Tat, zur Wahrhaftigkeit seiner
-ermittlerin sein curriculum vitae zu erzählen und die Ein­ Erklärungen im Hinblick darauf, was die Zeugen oder die
zelheiten über seine Existenz auszubreiten. Gutachter behaupten, zu ihrer Vertrauenswürdigkeit. Am
Danach folgen die Zeugen und Gutachter, die über Tat­ Ende der Verhandlung, wenn der Vorsitzende die Fragen
sachen sprechen oder ihre Umstände erhellen : Polizisten vorliest, auf die er mit den anderen Richtern und den Ge­
oder Gendarmen, die die Untersuchung geleitet haben, Ge­ schworenen wird antworten müssen, um über die Schuld
richtsmediziner, Psychiater, Personen, die den inkriminier­ des Angeklagten zu entscheiden (»Ist X schuldig, Y absicht­
ten Tatsachen beigewohnt haben etc. Zwischen den Zeu­ lich getötet zu haben? « oder »Hat er vorsätzlich gehandelt? «
genaussagen zeigt der Vorsitzende manchmal Fotos von oder »Ist X schuldig, absichtlich ein Gut zerstört zu haben?
der Szene des Verbrechens oder liest Aussagen von Perso­ Wurde die Handlung im Rahmen einer organisierten Ban­
nen vor, die nicht als Zeugen geladen wurden. Zwei- oder de verübt? In Beziehung zu einer terroristischen Vereini­
dreimal (selten öfter: der Angeklagte spricht während ei­ gung? « oder auch »Ist der Angeklagte schuldig, einen Ak1:
ner Verhandlung sehr wenig) fordert der Vorsitzende die sexueller Penetration gegenüber Frau Y verübt zu haben? «,
beschuldigte Person auf, auf das zu reagieren, was gesagt »Wurden die Tatbestände unter Bedrohung durch eine
wurde, sich über ihre Beteiligung oder Nichtbeteiligung Waffe verübt? « etc.), wirken diese Formulierungen nicht
an dem, was ihr vorgeworfen wird, zu erklären, auf diesen schockierend. Es scheint logisch zu sein, die Fragen so zu
oder jenen Einspruch zu antworten. formulieren. Sie entsprechen der Wirklichkeit. Und auch
Schließlich kommt der Augenblick der Plädoyers und die Antworten kommen einem quasi von selbst in den Sinn.

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So stellen nicht nur die Fragen keinerlei Problem dar, son­ Veran twortung
dern in nahezu der Gesamtheit der Fälle auch die Antwor­
ten nicht. Mit anderen Worten, man sieht nicht, wie es Es gibt eine Geschichte der Theorie. Jeder geistige Ansatz
möglich wäre, darauf anders als mit »ja« zu antworten, entwickelt und bestimmt sich im Ausgang von Fragen, Prin­
wenn man sich an der Stelle der Geschworenen befände. zipien, präexistierenden Sichtweisen, die er aufnimmt. Selbst
Diese Erfahrung der Selbstverständlichkeit der Gerichts­ das Denken, das sich als das kritischste oder innovativste
bühne zeigt, daß die Verhandlung ein logisches Dispositiv ausgibt, fügt sich in Traditionen ein; es hantiert mit sedi­
darstellt, d. h. etwas, das nicht nur kohärent, sondern auch mentierten Begriffen und bringt seine Radikalität häufig
mit einer gnadenlosen inneren Rationalität ausgestattet ist: genau dadurch zum Ausdruck, daß es Problematisierungs­
Wenn man diese Bühne betritt, ist es bereits zu spät. Was weisen aufnimmt, die seine Zugehörigkeit zu diesem Sek­
sich der Wahrnehmung d arbietet, fügt sich in eine Archi­ tor der Theorie deutlich machen.
tektur ein, die ihre Wirkungen ohne unser Wissen ausübt, Jede Reflexion bildet sich nach Modalitäten aus, die ihr
und alles spielt sich dort dann problemlos ab. vorhergehen und ihr eine Richtung geben, oft auch unbe­
Bestimmte Rahmenbedingungen gestalten die Welt der wußt. Als ich mir die Frage nach der Analyse der Logiken
Justiz und unser Verhältnis zu ihr. Aber diese Rahmenbe­ gestellt habe, die das System der Gerichtsbarkeit gestalten,
dingungen sind im Augenblick der Gerichtsverhandlung als ich mir vorgenommen habe zu verstehen, was der Staat
nicht mehr sichtbar. Sie bestimmen die Logik des Straf­ aus uns macht, wie er uns behandelt, war daher die Katego­
rechts vorher. Sie konditionieren unsere Erfahrung. Zu ver­ rie, die mir sogleich als offensichtlich in Frage zu stellen er­
stehen, was sich während einer Verhandlung ereignet, setzt schienen ist, die mir von der kritischen Tradition gleich­
daher paradoxerweise voraus, daß man den Gerichtssaal sam zur Dekonstruktion nahegelegt wurde, die Kategorie
nicht betritt, um festzuhalten, was man dort sieht, sondern der Verantwortung. Die Theorie des Rechts und die Kri­
daß man ihn verläßt. Man muß mit der spontanen Wahr­ tik des Rechts teilen folgende Diagnose: Die Ordnung des
nehmung des Gerichts brechen, um eine kritische Rekon­ Rechts gründet sich auf die Einrichtung eines verantwort­
struktion unserer selbst zu entwickeln. Und so zu erfassen, lichen Subjekts. Ein Rechtssubjekt zu sein bedeutet, als ein
was die Interpretationsweisen der Welt und unser Verhält­ Wesen behandelt zu werden, dem eine Reihe von Verhal­
nis zu ihr sind, die die Logik des Strafrechts und unsere An­ tensweisen zugerechnet werden und das gegebenenfalls da­
hängerschaft gegenüber dieser Logik möglich machen. Wir für geradestehen muß, wenn diese die Gesetze verletzen.
müssen Abstand von uns selbst nehmen, wenn wir die Ka­ Wer Recht sagt, meint Einrichtung eines Dispositivs, das
tegorien, Ideologien und Erzählungen erfassen wollen, die das System der Sank'tionen und Strafen organisiert, das den
sich am Ursprung der Logik des Strafrechts und des Justiz­ Wesen Verhaltensweisen zurechnet, damit sie deren Folgen
mechanismus befinden und die dem, was man »die Justiz« hinnehmen. 1
nennt, Form verleihen.
1 Vgl. H. L. A. Hart, Punishment and Responsibility. Essays in the
Philosoplry of Law, Oxford, Clarendon Press, i968.

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Wenn man die Betonung auf die Institution der Verant­ statt uns die Mittel zu geben, uns davon zu befreien. Die
wortlichkeit legt, dann hebt man die Tatsache hervor, daß Kritik des Rechts bestand folglich h äufig darin, der Idee
die Funktionsweise des Vergeltungs- und Strafapparats vor­ der Person, der kohärenten Substanz ein inkohärentes, zer­
aussetzt, uns nicht so sehr an das Gesetz als an uns selbst splittertes, auseinandergebrochenes Wesen entgegenzuset­
zu binden, so daß wir als »Urheber« unseres Tuns und un­ zen - dem Gedächtnis der Spuren das Recht auf Vergessen
serer Taten betrachtet und somit der Bestrafung unterwor­ entgegenzusetzen. Nietzsche hat diesen Weg in Zur Genea­
fen werden können. Die Idee der Verantwortlichkeit scheint logie der Moral eröffnet: Das Recht ist Bestandteil eines
von sich selbst aus schon die Einrichtung eines Systems Prozesses der Domestikation des Menschen, der ihn als
der Gerichtsbarkeit zu eröffnen. Ebenso scheint die Immu­ mit sich selbst identisches Wesen erschafft, das mit einem
nität gegenüber Kritik, die das System der Gerichtsbar­ Willen ausgestattet ist, der es über die Zeit hinweg bindet -
keit genießt, sich zunächst von unserer Zustimmung zur d. h. als verantwortliches Wesen. Das Recht findet seine
Vorstellung eines verantwortlichen Subjekts abzuleiten. Es Quelle in der ökonomischen Logik der Schuld, des gegebe­
scheint nämlich schwierig zu sein, die Idee der Gerichts­ nen Wortes, des Versprechens. Es ist die Verbindung des
barkeit in Frage zu stellen, wenn man in Begriffen von Ver­ gegenwärtigen Ich mit dem vergangenen Ich und die Tatsa­
antwortung denkt: Von dem Moment an, wo man einer che, daß das gegenwärtige Ich für die Taten des vergange­
Figur des Subjekts als eines Wesens anhängt, das für sei­ nen Ich einstehen soll, wobei die beiden durch eine ungreif­
ne Handlungen verantwortlich ist, wie soll man sich da bare Substanz miteinander verknüpft sind, die man das
vorstellen, daß dieses Subjekt nicht für sie einstehen und verantwortliche Ich nennt und die souverän versprechen
deren Folgen akzeptieren kann? Die Existenz der Verant­ kann, was die Figur des Subjekts konstituiert, wie sie durch
wortung eines jeden für seine Handlungen legitimiert die das Recht geschaffen wird.2 Diese Analytik bildet ebenfalls
Handlung des Verurteilens. Außerdem gestattet sie, das einen der wesentlichen Aspekte der Kritik der Gewalt von
Repressionssystem als Instrument nicht nur der Sanktion, Walter Benj amin, wo die grundlegende Gewalt des Rechts
sondern auch der Abschreckung zu legitimieren: Das Indi­ darin besteht, das verantwortliche Subjekt dort einzuset­
viduum wird als bewusster, absichtlicher, willentlicher Ur­ zen, wo die Epoche der Revolution diese Operation der Un­
heber seiner Handlungen vorausgesetzt, so daß die Mög­ terwerfung unter die Ordnung der Verantwortung auflöst.
lichkeit der Bestrafung geeignet ist, es dazu zu bringen, auf Natürlich leugne ich keineswegs die Bedeutung der Re­
eine kriminelle Handlung zu verzichten. flexion auf die Verantwortung. Gewiß ist eine der Gewalt­
Es ist also kein Zufall, wenn die Kritik des Rechts, die samkeiten der Rechtsordnung in derj enigen Wirkung ver­
den Kern des Strafsystems anvisieren will, in ihr Zentrum ankert, durch die sie uns mit dem verknüpft, was wir getan
diejenige Operation gestellt hat, durch die das Gesetz das, haben, ohne uns die Möglichkeit zu lassen, dem zu entrin­
was wir sind, mit dem verbindet, was wir getan haben, mit nen, ohne Raum für das Vergessen, die Neuerfindung des
unserer Vergangenheit, und uns zwingt, dafür einzustehen. Selbst, die Flucht.
Das Gesetz fixiere die Identitäten, stabilisiere das Ich, ver­
pflichte uns, mit einer Vergangenheit zusammenzufallen, an- 2 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 49f.

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Dennoch scheint mir, daß das Beharren auf dieser Frage
oder zwar für verantwortlich erklärt, aber nicht zu einer
imstande ist, uns am Wesentlichen vorbeigehen zu lassen.
Strafe verurteilt wird.
Diese Darstellung ist ungenügend und ermöglicht nicht, Beispielsweise kann man das französische Strafgesetz­
weit genug im Verständnis dessen zu gehen, was sich in buch aufschlagen. Nach einigen allgemeinen Bestimmun­
der Rechtsordnung abspielt - und was sich bei einer Ge­ gen behandelt das Strafgesetzbuch zwar unmittelbar und
richtsverhandlung ereignet. Ich möchte der Vorstellung ausführlich die Definition der »strafrechtlichen Verantwor­
widersprechen, der zufolge der Begriff der Verantwortung tung«. Dieser Begriff scheint somit das ganze nachfolgende
den Knoten oder den Angelpunkt darstellt, um den herum Gebäude zu stützen. Aber in Wirklichkeit darf man nicht
sich unser Gerichtssystem anordnet, und folglich auch der vergessen, daß, auch wenn es stimmt, daß dieser Abschnitt
Triftigkeit der Theoretisierungen, die sie ins Zentrum der da rauf abzielt zu definieren, was »verantwortlich im straf­
Reflexion auf das Recht stellen. rechtlichen Sinne« bedeutet, er es gleichzeitig darauf an­
legt, die fehlende Verantwortlichkeit bestimmter Subjekte
begriffiich zu fassen und zu erklären. Mit anderen Worten,
Vom Recht zur Nichtverantwortlichkeit das System der Gerichtsbarkeit erkennt nicht nur verant­
wortliche Einzelpersonen an. Das Recht erschafft nicht nur
Es genügt, die Logik des Strafrechts zu kennen, um dazu ver­ verantwortliche Subjekte. Es regelt auch die fehlende Ver­
anlaßt zu werden, die Verbindung zwischen Strafbarkeit antwortlichkeit bestimmter Urheber unter bestimmten Um­
und Verantwortlichkeit zu dekonstruieren. In allen moder­ ständen. Das Kapitel des Strafgesetzbuchs über die Verant­
nen Strafrechtssystemen, beispielsweise in Europa oder in wortung legt die Bedingungen der Verantwortlichkeit und
den Vereinigten Staaten, gibt es Bedingungen, unter denen des Fehlens von Verantwortlichkeit fest.
ein Subjekt fü r seine Handlung für verantwortlich gehal­ Nachdem es erklärt hat, daß »niemand außer für seine
ten und I oder bestraft werden kann.3 Jedes Strafrechtssy­ eigene Tat strafrechtlich verantwortlich ist«, setzt das Straf­
stem sieht Fälle vor, in denen eine Person strafrechtlich gesetzbuch fest, daß es »kein Verbrechen oder Vergehen
nicht fü r sein Handeln verantwortlich gehalten wird oder ohne die Absicht gibt, es zu begehen«. Anschließend führt
nicht dafür bestraft werden kann: Die Bedingungen kön­ es im einzelnen die Ursachen »der fehlenden Verantwort­
nen sich auf das Subjekt selbst beziehen (z. B. auf seinen lichkeit oder eingeschränkten Verantwortlichkeit« auf und
Geisteszustand) oder auf die Umstände seiner Handlung gibt eine Liste an, die zeigt, wie das Recht auch die fehlende
(z. B. im Fall von Notwehr). Je nach System können diese Verantwortlichkeit erzeugt:
Fälle dazu führen, daß ein Subjekt, das eine widerrecht­ - Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer im Augen­
liche Handlung vollzogen hat, als im strafrechtlichen Sinne blick der Tat von einer psychischen oder neuropsychi­
nicht verantwortlich betrachtet wird, nicht verurteilt wird schen Störung befallen war, die sein Urteilsvermögen oder
die Kontrolle über seine Handlungen außer Kraft gesetzt
3 H . L. A. Hart, »Legal Responsibility and Excuses«, in: ders., Pu­ hat.
n ishment and Responsibility, S. 28 und i88ff. - Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer unter dem

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Einfluß einer Kraft oder eines Zwangs gehandelt hat, der
eine wesentliche Dimension des Staats, die die Reflexion
bzw. dem er nicht widerstehen konnte. auf die Operationen des Rechts unbedingt berücksichtigen
- Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer durch ei­ muß und die man allzu oft vernachlässigt oder vergessen
nen Irrtum mit Bezug auf das Recht, den er nicht zu ver­ hat anzuführen: die Fähigkeit des Staats, nicht zu rich­
meiden imstande war, nachweislich geglaubt hat, daß er ten oder nicht zu verurteilen, d. h. Einzelpersonen für ihre
die Handlung legitimerweise vollziehen könne. Handlungen nicht für verantwortlich zu halten. Mit ande­
- Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer eine Hand­ ren Worten, es ist nicht richtig zu sagen, daß der Staat uns
lung ausführt, die von einer legitimen Autorität befohlen an uns selbst bindet, da er ja gerade auch die Möglichkeit
wurde, außer wenn diese Handlung eindeutig rechtswid­ setzt, uns von dem zu entbinden, was wir getan haben. Das
rig ist. Recht erschafft ebensogut verantwortliche Subjekte wie
- Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer angesichts Subjekte mit fehlender Verantwortlichkeit. Der Begriff der
einer ungerechtfertigten Gefährdung seiner selbst oder ei­ Verantwortung spielt zwar eine wesentliche Rolle in der
ner anderen Person zur selben Zeit eine Handlung vollzieht, Rechtsordnung, aber er reicht nicht aus, um deren Wirken
die von der Notwendigkeit der legitimen Selbstverteidi­ zu verstehen.
gung oder der Verteidigung einer anderen Person gefor­ Aus diesem Grund könnte man vorschlagen, die gewöhn­
dert wurde, außer wenn es ein Mißverhältnis zwischen lichen Wahrnehmungen ziemlich radikal umzukehren und
den zur Verteidigung angewandten Mitteln und der Schwe­ die Operationen des Rechts anders als die klassische Staats­
re der Gefährdung gibt. theorie zu erfassen. Wenn man die Spezifität des Staats
- Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer zur Unter­ und des Rechts für sich angeben sollte, worin würde sie
bindung der Ausführung eines Verbrechens oder einer denn eigentlich bestehen? Würde sie nicht gerade darin
Straftat gegen ein Gut einen Akt der Verteidigung voll­ bestehen, im Gegensatz zu den Logiken der Rache und
zieht, der keine vorsätzliche Tötung ist, wenn dieser Akt Blutrache, im Gegensatz zu den spontanen Reaktionen ei­
für das verfolgte Ziel absolut notwendig ist, sofern die an­ nes Traumas, die um jeden Preis auf Bestrafung drängen,
gewandten Mittel der Schwere des Vergehens angemessen Schutzmaßnahmen und Sicherheiten einzuführen? So daß
sind. man legitimerweise die Auffassung vertreten kann, daß
- Nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer angesichts die Spezifität des Rechts tatsächlich nicht darin besteht,
einer aktuellen oder bevorstehenden Gefahr, von der er verantwortliche Subjekte zu schaffen, sondern im Gegen­
selbst, eine andere Person oder ein Gut bedroht wird, ei­ teil Subjekte mit fehlender Verantwortlichkeit zu schaffen -
nen Akt vollzieht, der für den Schutz der Person oder des die Kategorie der fehlenden Verantwortlichkeit zu schaffen.
Guts notwendig ist, außer wenn es ein Mißverhältnis zwi­ Wenn man nach einem Ausdruck für das »Wesen« der
schen den angewandten Mitteln und der Schwere der Be­ modernen Justiz suchen sollte, danach, was sie am besten
drohung gibt. charakterisiert, müßte man es gewissermaßen paradoxer­
Diese Liste ist, meine ich, ganz schön und wichtig, und weise aus diesem oder jenem Grund kraft dieser oder jener
es schien mir nützlich, sie in Gänze zu zitieren. Sie zeigt rationalen Forderung in jenen Momenten suchen, in de-

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nen sie sich entscheidet, jemanden nicht zu verurteilen fehlende Verantwortlichkeit anordnen und uns von dem
und/ oder zu bestrafen. entbinden, was wir getan haben. Daher müssen wir das,
Ein Theoretiker wie H. L. A. Hart behauptet sogar, daß was dem Gesetz unterworfen zu sein bedeutet, anders den­
es die fehlende Verantwortlichkeit ist, die im Grunde als ken und unseren Blick verlagern.
die fundamentale Kategorie in der Ordnung des moder­ Im Grunde versuchen die Theorien des Rechts und des
nen Rechts angesehen werden könnte. Denn niemals, so Staats, die den Begriff der Verantwortlichkeit in ihr Zen­
Hart, gibt das Recht, wenn man die Gesetzbücher und trum stellen, freizulegen, was auf der Ebene der Subjekte
Rechtssprechungen untersucht, eine klare und präzise For­ die Rechtsordnung hervorbringt. Sie konzentrieren sich
mulierung der Bedeutung von »strafrechtlich verantwort­ auf die Figur der Einzelperson, die von der rechtlich-politi­
lich«. Nie gibt es Bedingungen in Begriffen des Willens schen Ordnung geschaffen wird. Ich möchte vorschlagen,
und der Absicht an, die erfüllt sein müssen, damit das Sub­ den Staat im Ausgang von einem anderen Gesichtspunkt
jekt als verantwortlich gelten kann. Anders gesagt, die Ver­ zu denken: Das Gesetz bringt nicht zuerst eine Philosophie
antwortlichkeit wird nicht positiv definiert, sondern nega­ des Subjekts zur Geltung (es schafft ebensogut verantwort­
tiv. Erst, wenn eine Person das Gesetz verletzt hat, ohne liche Subjekte wie Subjekte mit fehlender Verantwortlich­
sich auf ein Prinzip der fehlenden Verantwortlichkeit beru­ keit). Noch bevor das Strafsystem auf einer bestimmten
fen zu können, wird sie als verantwortlich betrachtet.4 Aus Gestalt des Subjekts als eines verantwortlichen und seiner
diesem Grund gelangt Hart zu der Behauptung, daß man Handlungen bewußten Subjekts beruht, auf einer Philoso­
letztlich beinahe sagen könnte, daß das Gesetz voraussetzt, phie der Handlung und der Intention, beruht es auf einer
wir seien ohne Verantwortung, und daß wir nur dann, bestimmten Konstruktion der Wirklichkeit und einer be­
wenn die Klauseln der fehlenden Verantwortlichkeit nicht stimmten Wahrnehmungsweise der Welt. Das System der
erfüllt sind, als »verantwortlich« gelten: Das Fehlen der Gerichtsbarkeit ist an einen Typ von Vorstellung gekop­
fehlenden Verantwortlichkeit bestimmt die Verantwort­ pelt, dem wir anhängen: Die Handlungen, was jedem von
lichkeit. uns zustößt, sind einem Urheber zurechenbar. Die Justiz
versetzt uns in eine Wahrnehmungswelt oder fügt sich in
eine allgemeinere Ökonomie der Wahrnehmungen ein, in­
Handeln nerhalb welcher es offensichtlich zu sein scheint, einem In­
dividuum oder als einzeln betrachteten Individuen die ent­
Die Operationen des Rechts zu erfassen und zu verstehen, stehenden Schäden, Verletzungen, Angriffe zuzurechnen.
was dem System der Gerichtsbarkeit zugrunde liegt, erfor­ Die Ursache dessen, was in der Welt geschieht, was mir ge­
dert, über den Begriff der Verantwortung hinauszugehen. schieht, muß in einem Individuum und seinen Handlun­
Es stimmt nicht ganz, wenn man sagt, daß das Recht uns gen gesucht werden.
als verantwortliche Subj ekte erschafft. Es kann auch unsere Innerhalb des Dispositivs des Staats ist die Frage nach
der Verantwortung sekundär. Sie wird erst in einem zwei­
4 Ebd., S. 28. ten Schritt gestellt. Das System der Gerichtsbarkeit bewerk-

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stelligt zunächst eine individualisierende Konstruktion der geschrieben werden, der möglicherweise dafür wird einste­
Ereignisse. Es rechnet Individuen Tatbestände zu. Und erst hen müssen, was er (oder sie) getan hat, falls er (oder sie)
danach geht es darum, die mögliche strafrechtliche Vera nt­ als für seine (ihre) Handlungen verantwortlich betrachtet
wortung dieses Subjekts als Quelle der »kriminellen Hand­ wird.
lung« freizulegen und dann die Strafe zu bestimmen, die es Wenn man versucht, die wesentlichen Prinzipien unse­
verdient, wenn es denn eine verdient. res Strafrechtssystems zu bestimmen, verwendet man häu­
Die Nachrangigkeit der F rage nach der Verantwortung fig die Kategorie der »individuellen Verantwortung«: Jeder
erscheint übrigens in den Richtlinien des französischen ist für seine eigene Tat individuell verantwortlich oder, wie
Strafrechtsverfahrens selbst, wenn sie sich mit dem Fall be­ es das Strafgesetzbuch formuliert, »niemand ist strafrecht­
fassen, wo »als Mittel der Verteidigung die Existenz einer lich verantwortlich außer für seine eigene Tat«. Aber in der
der Ursachen für fehlende strafrechtliche Verantwortlich­ Wendung »individuelle Verantwortung« ist entgegen dem,
keit in Anspruch genommen wird« - anders gesagt, wenn was man meint, nicht das Wort »Verantwortung« am wich­
die Verteidigung bei einem Prozeß für die fehlende Verant­ tigsten, sondern das Adjektiv »individuelle«. Mit anderen
wortlichkeit des Angeklagten plädiert und verlangt, daß er Worten, das, was das Dispositiv der Bestrafung unterstützt,
nicht verurteilt werden kann. In diesem Fall, so die Richt­ was die Idee der Bestrafung und das bestrafende Handeln
linien (es handelt sich um den Artikel 349-1), müssen der der Macht ermöglicht, ist nicht in erster Linie eine be­
Gerichtshof und die Geschworenen »im Verlauf der Bera­ stimmte Gestalt des Subjekts (das als frei und für seine
tungen« die folgenden beiden Fragen beantworten: Handlungen verantwortlich gesetzt wird), sondern eine be­
»I. Hat der Angeklagte diese Tat begangen?« stimmte Wahrnehmung des Geschehens: Das System der
»2. Kommt dem Angeklagten für diese Tat die Ursache Gerichtsbarkeit unterstellt, daß wir die Welt auf eine be­
für fehlende strafrechtliche Verantwortlichkeit zugute, die stimmte Weise sehen, daß wir das, was dort geschieht, auf
vom Artikel [ „ . ] des Strafgesetzbuchs vorgesehen ist, dem eine spezifische Weise verstehen. Der Apparat des Straf­
zufolge nicht strafrechtlich verantwortlich ist, wer [ „ . ] ? « rechts bringt eine individualisierende Erzählung zur Gel­
Ein Prozeß kann sehr wohl auch dann stattfinden, wenn tung; wenn sich etwas ereignet, muß man die Ursache in
es dem Angeklagten an »Verantwortlichkeit fehlt« - oder der Handlung eines Individuums suchen. Sobald sich diese
vielmehr wenn er vom Gericht und den Geschworenen Wahrnehmung eingebürgert hat, entsteht die Möglichkeit
als nicht verantwortlich erklärt wird. Infolgedessen ist die des Verurteilens.
Logik des Gerichts jenseits der Frage der Verantwortlich­ Im Laufe der Gerichtsverhandlungen versteht man die
keit angesiedelt. Und sie zielt in erster Linie darauf ab, die Vergangenheit besser, wenn vom Leben des Angeklagten,
Tatbestände miteinander zu verknüpfen, die sich in der von seinem Charakter, seinen Freunden, seiner Biographie,
Welt der Individuen ereignen. Das System der Gerichts­ seinem Umgang etc. die Rede ist. Warum gibt es im Straf­
barkeit konstruiert und präsupponiert zugleich eine in­ rechtssystem immer noch diese Tendenz, sich auf biogra­
dividualisierende Erzählung des Geschehens. Was in der phische Einzelheiten zu konzentrieren, die uns nichts über
Gesellschaft geschieht, kann einem einzelnen Urheber zu- die Tatbestände lehren? Die Angabe biographischer Daten

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hat mehrere Funktionen, und ich werde auf diesen Punkt
zurückkommen. Aber eine davon besteht in der Schaffung
des Dispositivs des Verurteilens und des Bestrafens; das In­
teresse an der Biographie bereitet die Bühne, die es ermög­ 2
licht, daß das Strafrechtssystem in Gang gesetzt wird: auf Po litik der Wa h rnehmungen
der einen Seite eine Handlung, auf der anderen ein Indivi­
duum. Worum es bei einer Gerichtsverhandlung infolge­
dessen geht, wird die Entscheidung sein, ob die beiden mit­ Das System der individuellen Verantwortlichkeit oder bes­
einander verknüpft werden können oder nicht. ser der Individualisierung der Wahrnehmungen scheint
Ist es möglich, das Geschehen in einem nichtindivi­ selbstverständlich zu sein. Es organisiert unsere spontane
dualisierenden Rahmen zu denken ? Was würde passieren, Auffassung der Wirklichkeit. Übrigens ist es schwierig her­
wenn man diesen Wahrnehmungsrahmen auflöste, wenn auszufinden, ob es der Staat ist, der es konstruiert und
man andere Erzählungen konstruierte, wenn man die Lo­ durchsetzt oder ob dieser sich damit begnügt, es zu über­
giken, die im Geschehen am Werk sind, anders auffassen nehmen und zur Geltung zu bringen. Immerhin scheint
würde? Welche andere Konzeption des Verurteilens und die Verknüpfung einer Handlung und eines Urhebers, die
des Rechts würde daraus hervorgehen? Welche andere Wahr­ Frage, ob letzterer für das Geschehen verantwortlich gehal­
nehmung der Justiz, welcher neue Begriff dessen, was »ge­ ten werden kann, eine Operation zu sein, die nichts wei­
recht« ist, könnten in Erwägung gezogen werden? ter erfordert, als daß man eine unbestreitbare Wirklichkeit
zur Kenntnis nimmt.
Diese Auffassung drängt sich uns mit einer solchen
Kraft und einer solchen Evidenz auf, daß selbst ein Autor
wie Hans Kelsen sie wie ein Nichtproblem behandelt,
wie eine vorrechtliche und vorontologische Gegebenheit:
eine Tatsache. Das ist äußerst bedeutsam, da j a Kelsen in
Reine Rechtslehre normalerweise den Anspruch erhebt,
mit jedem Realismus zu brechen und die Autonomie der
Rechtssphäre gegenüber empirischen oder natürlichen Er­
wägungen zu behaupten - woraus sich die Idee ergibt, eine
reine Theorie des Rechts zu begründen, d. h. eine auto­
nome Rechtstheorie ohne Bezugnahme auf Elemente, die
der Sphäre des Rechts äußerlich sind oder die jedenfalls
in ihr nur dann einen Sinn annehmen können, wenn das
Recht sie als Rechtstatsachen qualifiziert. Dennoch be­
ruht die »Reinheit« seiner Theorie auf einer Unreinheit

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und scheint von einem naiven Empirismus infizie rt zu Kelsen präsentiert den Begriff der Individualhaftung als
sein. etwas Selbstverständliches, eine Tatsache, die sich der Ver­
Kelsen widmet einen Absatz seines Hauptwerks dem nunft aufdrängt - so daß jedes andere Dispositiv von ihm
Gegensatz zwischen »Kollektivhaftung« und »Individual­ mit dem »Sinnlichen«, dem »Spontanen«, mit einem »Man­
haftung«. \.Yir müssen die Tatsache unterstreichen, daß es gel«, mit fehlender Ausarbeitung assoziiert wird. Die Vor­
hier nicht um die Idee der Verantwortlichkeit geht, da stellung, daß eine Handlung auf Kollektive bezogen wer­
diese ja in beiden Systemen existiert, die er analysiert. Viel­ den könne, scheint ihm etwas Primitives zu sein, das mit
mehr geht es um den Übergang von einer kollektiven Auf­ unmittelbaren und irrationalen Trieben verknüpft ist:
fassung zu einer individuellen Auffassung von Verhaltens­ »Kollektivhaftung ist ein charakteristisches Element primi­
weisen und Tatbeständen. Kelsen interessiert sich für die tiver Rechtsordnung und steht in engem Zusammenhang
Rechtsordnungen, um zu bestimmen, worauf sich der Be­ mit dem identifizierenden Denken und Fühlen Primitiver.
griff der Verantwortung bezieht: auf ein Kollektiv oder Mangels eines hinreichend betonten Ich- Bewußtseins
auf ein Individuum, den Straftäter. fühlt sich der Primitive mit den Gliedern seiner Gruppe
Die Individualhaftung bezeichnet ein System, bei dem so sehr eins, daß er j ede irgendwie bemerkenswerte Tat
die Sanktion, wenn es eine geben sollte, auf ein Individuum eines Gruppenmitglieds als solche der Gruppe - als et­
abzielt: den Straftäter, der als Urheber der verbotenen Hand­ was, das >wir< getan haben - deutet; und daher ebenso
lung gesetzt wird. Im Rahmen der Kollektivhaftung richtet den Lohn für die Gruppe in Anspruch nimmt, wie die Stra­
sich die Sanktion nicht gegen ein Individuum, sondern ge­ fe als der ganzen Gruppe gebührend hinnimmt.« Das mo­
gen eine Gruppe - zu der der Straftäter die meiste Zeit, aber derne Recht bricht mit diesen Mängeln. Es befreit sich
nicht notwendig gehört. Kelsen nimmt das Beispiel der von fälschlichen und primitiven Empfindungen und zielt
Blutrache, wo eine ganze Familie das Ziel von Vergeltungs­ auf die »alleinigen« und »wahren« Urheber der Handlun­
maßnahmen gegen die Handlungen eines ihrer Mitglieder gen ab: »Dagegen liegt Individualhaftung vor, wenn sich
sein kann. Aber er erwähnt auch das internationale Recht, die Sanktion ausschließlich gegen den Delinquenten, das
die »Vergeltungsmaßnahmen und Kriege«, wo es vorkommt, ist denjenigen richtet, der durch sein Verhalten das Delikt
daß ein Staat oder ein Volk in seiner Gesamtheit für ein in­ begangen hat. « 1
ternationales Delikt, das von einem seiner Organe began­ Für Kelsen spiegelt das moderne Recht so etwas w i e ein
gen wurde, sanktioniert wird. Wirkliches wider, das unmittelbar gegeben ist. Der Ver­
Nun ist jedoch die Feststellung frappierend, daß Kelsen nunft drängt sich die Tatsache auf, daß es für jede Hand­
die Kollektiv- und die Individualhaftung nicht wie zwei lung einen singulären Urheber gibt, den Straftäter, und
Institutionen, zwei äquivalente und denkbare Optionen, daß er allein für verantwortlich gehalten werden soll. Jedes
zwei mögliche Organisationsmodi des Rechts behandelt.
I m Gegenteil bezeichnet er den Ü bergang von der einen
zur anderen als einen Fortschritt, als ein Zeichen der Mo­ 1 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien, Verlag Franz Deuticke,
deme. 1960, s. 227.

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andere System gilt gegenüber dieser »Evidenz« als Verblen­ stalten.2 Diese Studie stellt übrigens eine bedeutende De­
dung: Die Sanktion (oder die Belohnung) soll sich auf den monstration der destabilisierenden Kraft des soziologischen
Urheber der Handlung richten. Denkens dar, wenn es im Zusammenhang mit theoretischen
Problemen angewandt wird. Mittels der soziologischen
Analyse formuliert Fauconnet eine radikale Infragestel­
Für eine Geschichte der Wahrnehmungen lung unserer Denkweisen und unserer Wirklichkeitskon­
struktionen. Er zwingt uns, Abstand zu gewinnen gegen­
Dennoch gibt es auch eine Geschichte der Wahrnehmun­ über dem, was w i r sind, und gestattet uns, andere Arten
gen und eine Politik des Sehens. Aus diesem Grund ist es der gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen Organisa­
legitim, sich die Frage nach der Institution der individuel­ tion als möglich und denkbar vorzustellen. Sein Text ist
len Verantwortlichkeit zu stellen: Ist sie so selbstverständ­ von einem uneingeschränkten Antinaturalismus und Kon­
lich, wie es scheint? Ist sie nicht im Gegenteil von einer be­ struktivismus geprägt. Fauconnet gibt sich entschieden an­
stimmten Konstruktion der Wirklichkeit abhängig? Gibt tifundamentalistisch, oder besser, zeigt den antifundamen­
es nicht andere Möglichkeiten, sich das vorzustellen, was talistischen Charakter des soziologischen Denkens, wenn
in der Welt geschieht, was uns zustößt, und die Ursache es in seiner ganzen Leistungsfähigkeit in die Tat umgesetzt
dieser Ereignisse - Möglichkeiten, die im übrigen nicht un­ wird. So daß paradoxerweise die Soziologie als eine noch
bedingt im Gegensatz zueinander stehen, sondern viel­ stärker verkünstlichende Disziplin erscheint als Kelsens
leicht komplementär sind ? Um es ausdrücklich zu sagen, Rechtslehre. Es ist die S oziologie und nicht so sehr das
könnte man sich die individuelle und die kollektive Verant­ Recht, die die Fähigkeit zur Verkünstlichung der Wirklich­
wortung nicht als zwei gleichermaßen fiktionale Rahmen keit bietet. Im Gegensatz zu dem, was man meinen könnte,
vorstellen, die beide gleich künstlich sind ? Keine von bei­ und zu dem, was oft mit Bezug auf den abstrakten Charak­
den ist ein Abbild der Wirklichkeit. Beide sind eine Art ter der Rechtswissenschaft vorgebracht wird, könnte das
und Weise, sie zu konstruieren. Das würde den Weg für soziologische Denken tatsächlich mehr als das Recht im­
eine Hinterfragung des Sinns und der Funktion des Sy­ stande sein, die Wirklichkeit problematisch zu machen.
stems der Gerichtsbarkeit eröffnen. Könnte man das, was Ein Wesen als dasjenige zu bezeichnen, das bestraft wer­
uns zustößt, nicht anders erzählen, es anders auffassen, den soll, stellt eine »Tatsache der Verantwortlichkeit« dar.
es anders kodieren? Ist eine andere Ethik der Wahrneh­ Fauconnet analysiert die »Verantwortlichkeitsurteile« wie
mung als die individualisierende Wahrnehmung vorstell­ Institutionen, Erzählungen und Sichtweisen der Welt. In
bar? jeder Gesellschaft gibt es Regeln, die die Art und Weise ge­
Eine wenig bekannte Arbeit des französischen Soziolo­ stalten, wie eine Entität, ein Wesen oder ein Kollektiv, dazu
gen Paul Fauconnet bietet eine der schlagkräftigsten und gelangt, als »Symbol« des Verbrechens betrachtet zu wer­
originellsten A nalysen zur Verantwortung und allgemei­ den und damit als »Subjekt«, auf das die Strafe angewendet
ner zu den Rahmenbedingungen, die unsere Sichtweisen
der Welt und das Verstehen dessen, was in ihr geschieht, ge- 2 Paul Fauconnet, La Responsabilite, Paris, Alcan, i920.

110 111
werden soll, d. h. als »Urheber« der Handlung oder de­ ten, worauflün die »erste Ameise, die es überquert, die
ren »Ursache« und somit als »verantwortlich« aufgefaßt Richtung des Stammes angibt, der am Tod des Verbliche­
zu werden. nen schuldig ist«.5
Fauconnet bietet die Gesamtheit soziologischer oder an­ Die Tatsachen der Verantwortlichkeit können ganze
thropologischer Daten auf, über die er verfügt, um die Va­ Gruppen betreffen - das ist das System der Kollektivhaftung,
riabilität der Reaktionen auf das Verbrechen deutlich zu das exemplarisch von der Blutrache verkörpert wird - oder
machen, d. h. Tatbestände der Verantwortlichkeit entspre­ aber ausschließlich Einzelpersonen - das ist das System der
chend den Kontexten und Epochen: Manchmal können Individualhaftung.
diese Tatbestände auf Dinge, Tiere, Kinder abzielen, manch­ Im Gegensatz zu dem, was man meinen könnte, bezieht
mal nur auf Erwachsene; manchmal haben sie abstrakte sich Fauconnets Buch weder vor allem auf den Begriff der
Entitäten zum Gegenstand, aber auch Geister. »Verantwortung« noch auf die Bedeutung dieses Begriffs.
Für jede Gesellschaft, sei sie nun »traditionell« oder »mo­ Es gibt keine Analyse dieses Begriffs als solchen. Die Studie
dern«, kommt es im wesentlichen darauf an, in der Lage zu konzentriert sich auf die Richtung der Verantwortlichkeit.
sein, jemanden oder etwas als ein »Zeichen« zu interpretie­ Sie stellt eine kritische Untersuchung unserer Sichtweisen
ren, d. h. als ein »Wesen, das als Substitut für das Verbre­ der Welt und der Interpretation des Ursprungs des Gesche­
chen fungieren kann«: Die »Zerstörung« oder »Bestrafung« hens sowie dessen dar, was uns zustößt: Wer kann wofür
des Symbols »ersetzt die Zerstörung des Verbrechens« und für verantwortlich gehalten werden? Woher stößt mir das
ermöglicht den Ausdruck der kollektiven Mißbilligung des zu, was mich schmerzlich berührt? Auf welche Weise stelle
Vergehens.3 ich mir den Ursprung der Verletzungen vor, die ich erleide?
Die Bezeichnung des verantwortlichen Subjekts kann Was sind die Ursachen der stattfindenden Ereignisse, die
zwar genauen Regeln folgen. Aber es kommt auch vor, daß mich berühren?
sie zufällig stattfindet. Fauconnet zitiert beispielsweise Be­ Fauconnet lehnt die Vorstellung ab, der zufolge die indi­
obachtungen von Anthropologen in Daghestan, die »völlig viduelle Verantwortung ein objektives und selbstverständ­
richtungslose« Rachesysteme wiedergeben, eine Blutrache, liches Dispositiv wäre: Die Tatsache, daß man eine ganze
die sich auf beliebige Personen bezieht: »Im Falle eines To­ Gruppe für die Handlung eines ihrer Mitglieder für verant­
des ohne bekannte Ursache erklären die Eltern des Toten, wortlich halten kann, darf nicht als Verirrung, Absurdität
nachdem sie sich vor der Moschee versammelt haben, ir­ oder Verblendung betrachtet werden. Individuelle und kol­
gendeine Person zum Mörder und rächen sich an ihr.«4 lektive Verantwortung stellen zwei gleichermaßen gülti­
Fauconnet erzählt, daß in bestimmten Gesellschaften Au­ ge Wahrnehmungsweisen dar, die beide zugleich ebenso
straliens die Clanmitglieder nach der Beerdigung eines To­ »künstlich« oder »willkürlich« und folglich auch ebenso
ten die Oberfläche seines Grabes sorgfältig fegen und glät- vorstellbar sind. Warum? Weil Fauconnet zufolge das Ur­
teil über die Verantwortlichkeit ein »synthetisches« Urteil
3 Ebd., S. 233-234.
4 Ebd., S. 235. 5 Ebd., S. 236-237.

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ist. Es gibt keine direkte, offensichtliche Verbindung zwi­ einer Handlung zu der Behauptung, daß ein singuläres In­
schen einem Verbrechen - oder einer Handlung im allge­ dividuum deren Kausalakteur ist, und zu dem Versuch,
meinen - und der Person oder der Gruppe, die dafür ver­ ihn zu identifizieren: Ein Individuum hat die Handlung
antwortlich ist. »Wenn die Darstellung eines Verbrechens verursacht. Es ist verantwortlich. Es kommt darauf an zu
gegeben ist, läßt sich die des Verbrechers daraus nicht ana­ verstehen, daß diese Erzählung, dieser Bericht, dieses Kau­
lytisch ableiten. Es gibt eine Unbestimmtheit in der Aus­ salitätsurteil entgegen dem Anschein dem Urteil über die
richtung der Strafe: Während sie sich zunächst auf das Ver­ Verantwortlichkeit nicht vorausgeht. Es leitet sich von
brechen richtet, verbreitet sie sich ganz um es herum, ohne ihm ab. Nicht weil X die Handlung verursacht hat, halten
daß ihre Natur sie dazu zwänge, eher hier als dort zuzu­ wir ihn für verantwortlich, sondern weil sich in Gesell­
schlagen. Der Verantwortliche erscheint als das Symbol schaften wie der unseren das Dispositiv der individuellen
des Verbrechens; zwischen dem Verbrechen und ihm wird Verantwortung eingebürgert hat, konstruieren wir diesen
eine Brücke geschlagen, die die Strafe vom einen zum an­ Typ von kausalem Szenario, der von einem Individuum
deren führt. AberVerbrechen und Verantwortlicher bleiben zu einer Handlung übergeht. In den Gruppen, in denen
dennoch zwei heterogene Glieder. Der Patient wird als Re­ sich die kollektive Verantwortung eingebürgert hat, wird
präsentant des Verbrechens behandelt. Aber diese Fähig­ eine andere Erzählung konstruiert, die eigentümliche Merk­
keit, es zu repräsentieren, wurde ihm notwendigerweise male der gesellschaftlichen Gruppe (ihren Geist, ihre Funk­
durch ein Urteil verliehen. In diesem Urteil besteht die Tat­ tionsweise, ihre ·werte etc.) als Ursachen der beanstande­
sache der Verantwortlichkeit. Die Wahl hätte auch anders ten Handlung bezeichnet.
ausfallen können. Nichts in der kollektiven Repräsentation Nicht die Existenz einer objektiven Kausalität erklärt,
des Verbrechens, nichts im Bedürfnis nach einer Bestra­ daß wir von der Verantwortlichkeit dieser oder jener Per­
fung dieses Verbrechens implizierte notwendig, daß er ein son für diese oder jene Handlung sprechen. Im Gegenteil
solcher Repräsentant sei. Jemanden beschuldigen und zu­ ist es die Setzung der Verantwortlichkeit, die spontane Ver­
rechnen, bestrafen und zurechnen sind verschiedene Ope­ innerlichung einer kollektiven oder individualisierenden
rationen. «6 Weltsicht, die die Vorstellungen bestimmt, die wir zur Gel­
Das Dispositiv der individuellen Verantwortung scheint tung bringen, und die Art und Weise, wie wir diese oder
uns selbstverständlich zu sein. Aber diese Selbstverständ­ Die Ur­
jene Entität als Ursache des Geschehens auffassen.
lichkeit ist eine Folge der Tatsache, daß wir Teil eines Dis­ sachen und die Erzählungen, die ihnen zugrunde liegen,
positivs der Macht sind, das uns dazu führt, eine Erzäh­ sind Wirkungen.
lung des Geschehens in Form eines Kausalitätsurteils zu Mit anderen Worten, es ist möglich, mehrere Erzählun­
konstruieren, das von einem singulären Akteur zu einer gen des Geschehens, seiner Ursache und darüber zu kon­
Handlung übergeht - d. h., es führt uns beim Auftreten struieren, wer oder was dafür verantwortlich ist. Diese
Erzählungen sind alle legitim. Und kein Tatbestand der
Verantwo rtlichkeit ist rationaler als ein anderer, da eine
6 Ebd. , S. 240, meine Hervorhebung. Zurechnung der Verantwortlichkeit die Kausalität (zwischen

1 14 115
einem Akteur oder einer Entität und einem Akt) konstru­ außen kommt, dann ist das der Beweis dafür, daß es sich
iert, die sie festzustellen vorgibt.7 um eine äußere Setzung gegenüber dem Subjekt handelt,
Fauconnets Arbeit zwingt uns, uns anders zu dem zu die variabel und folglich hinterfragbar ist - genauso wie
verhalten, was uns als selbstverständlich erscheint. Sie das System, auf dem sie beruht.8
bringt eine Entnaturalisierung hervor, eine Verkünstli­ Die Stärke von Fauconnets Überlegungen gründet in
chung des Dispositivs der Verantwortlichkeit. Die Frage seinem Gebrauch des soziologischen Denkens als Instru­
nach meiner Verantwortung, nach der Verantwortung ei­ ment der Verkünstlichung und Problematisierung: Die
ner anderen Person oder die Frage nach der Feststellung kausalen Erzählungen, die wir konstruieren, fügen sich in
einer Kausalverknüpfung zwischen einem Akt und einem spezifische, veränderliche Dispositive ein, so daß die So­
Akteur weisen nichts Selbstverständliches auf. Es gibt kein ziologie eine Möglichkeit bietet, unsere Wahrnehmungs­
System der Verantwortlichkeit, das wirklicher oder wahr­ weisen zu hinterfragen und die Möglichkeit zu erproben,
haftiger als andere ist: Einen Verantwortlichen zu bezeich­ die Welt anders zu sehen: »Die Strafe richtet sich auf das
nen, zu urteilen, zu sanktionieren stellen Operationen dar, Verbrechen. Nur weil sie es nicht selbst erreichen kann,
die auf symbolischen Systemen beruhen. Die Verknüpfung springt sie auf ein Substitut des Verbrechens über. In die­
eines Aktes mit Gruppen oder mit singulären Personen, sem zweiten Moment kann sie viele unterschiedliche Rich­
mit kollektiven Strukturen oder mit einer individuellen tungen einschlagen. Es scheint, daß nichts die Gesellschaf­
Absicht verweist auf zwei mögliche Weisen der Konstruk­ ten dazu zwingt, den Kreis, in dem sie das Wesen suchen
tion der Wirklichkeit und dessen, was jedem von uns zu­ werden, das als Substitut für das Verbrechen dienen und
stößt. zum Ansatzpunkt der Strafe werden wird, eng zu ziehen.
In Das Prinzip Verantwortung unterstreicht auch Hans Das Verhältnis zwischen dem Symbol und der symbolisier­
Jonas die wesentlich künstliche Natur des Dispositivs der ten Sache ist völlig unbestimmt. Nur das Bewußtsein, das
Verantwortlichkeit Die »Bedingung« der Existenz der »Ver­ es setzt, nimmt es wahr und hält es für gültig.«9
antwortung« ist die Existenz einer »kausalen Macht« : Um Soziologisch zu denken, die Dispositive des Urteils zu
ein Subjekt für verantwortlich zu halten, muß man es kau­ rekonstruieren führt somit dazu, die Vorstellung zu akzep­
sal mit Handlungen verknüpfen. Aber diese Bestimmung, tieren, daß »alle Wesen geeignet sind, gegebenenfalls die
fügt Jonas sogleich hinzu, ist formal. Sie kommt dem Sub­ Rolle von Verantwortlichen zu spielen«.10
jekt immer von außen zu. Dieses wird für verantwortlich Diese Entnaturalisierung, diese Verkünstlichung des
gehalten. Mit anderen Worten, der Begriff der Verantwor­ Dispositivs der Verantwortlichkeit gestatten Fauconnet,
tung ist mit der Frage nach der Art und Weise verknüpft, mit einer kritischen Reflexion zu schließen. Das sind die
wie eine Sichtweise des »kausalen Wirkens« sich aufdrängt,
das Subjekt zu einem Individuum macht, von dem man Re­
8 Hans Jonas, Das Prinzip Veran t wortung, Frankfur t / M„ Suhr­
chenschaft verlangt. Und wenn die Verantwortlichkeit von kamp, 2003, S. 172.
9 Fauconnet, La Responsabilite, S. 234.
7 Ebd„ S. 222 - 223. 10 Ebd., S. 224.

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schönsten Seiten des Buchs. Er geht vom Fundament der sollen schuldige Subjekte geschaffen werden? Was ist der
Soziologie aus: Wenn es stimmt, daß so etwas wie die Ge­ Sinn des Systems der Gerichtsbarkeit und der Verantwort­
sellschaft existiert, daß wir alle durch die Beziehungen lichkeit?
und sozialen Gruppen konstituiert werden, denen wir an­ Im Grunde könnte es so sein, daß die wesentliche Funk­
gehören, dann müssen wir die Idee akzeptieren, daß wir tion der Individualisierung der Wahrnehmungsweisen nicht
alle in das verstrickt sind, was jedem von uns zustößt. Eine darin besteht, die »Verantwortlichen« und ausschließlich
solche Idee auszusprechen bedeutet nicht, eine revolutio­ sie zu bestrafen. Vor allem geht es darum, nicht alle ande­
näre Haltung einzunehmen, nicht einmal eine radikale oder ren zu bestrafen. Es geht darum, jedem von uns die Mög­
unsinnige. Es handelt sich bloß darum, die Konsequenzen lichkeit einzuräumen, sich nicht für das verantwortlich
aus der Existenz der sozialen Welt zu ziehen. Wenn man zu fühlen, was in der Welt geschieht. Das Ziel ist, uns zu er­
die Gültigkeit dieser Aussage leugnet, dann würde das auf möglichen, uns als Subjekte mit fehlender Verantwortung
die Leugnung der eigentlichen Idee der Gesellschaft hin­ zu schaffen und es zu bewerkstelligen, daß man für das, was
auslaufen. Nun zwingt diese Verstricktheit eines jeden in ein Individuum vollbringt, nicht das Kollektiv, in das es
die Welt aber zu einer radikalen Folgerung: »Die gesamte eingebunden ist, für verantwortlich hält - d. h. jedermann:
Gesellschaft, Menschen und Dinge, müßte immer für alle »Die fehlende Verantwortlichkeit ist die Regel, die Ver­
Verbrechen verantwortlich sein.«11 Man könnte sich sehr antwortlichkeit ist die Ausnahme.« 12 Die Funktion des
wohl eine »nahezu unbegrenzte« Verantwortlichkeit vor­ Strafrechtssystems bestünde dann darin, uns unserer Ver­
stellen, die für alle Mitglieder der Gesellschaft für alles, antwortlichkeit zu entledigen, indem das System der Be­
was in ihr geschieht, gelten würde. strafung und des Rechts individualisiert wird. Der berühm­
Wenn man von der Idee der Gesellschaft und der wech­ te Artikel 121-1 des französischen Strafgesetzbuchs, der das
selseitigen Verstricktheit ausgeht, um daraus die Mög­ Prinzip der individuellen Verantwortung förmlich nieder­
lichkeit einer nahezu unbegrenzten Verantwortlichkeit legt - »Niemand ist strafrechtlich verantwortlich außer für
abzuleiten, ermöglicht das, das moderne Recht, die Indivi­ seine eigenen Taten« -, darf in diesem Sinne nicht allein
dualisierung der Institution der Verantwortlichkeit mit als Schutzmaßnahme verstanden werden, die jedem die
neuen Augen anzusehen. Das Strafrechtssystem in Frage Gewißheit gibt, daß ihm nicht die Handlungen der ande­
zu stellen zwingt dazu, die Gründe dafür freizulegen, daß ren vorgeworfen werden. Wenn wir Fauconnets Sichtweise
es angesichts eines Ereignisses, angesichts dessen, was übernehmen, sehen wir, daß die Funk'iion eines solchen
einem zustößt, diesen Willen, zu identifizieren, zu singula­ Artikels vor allem darin besteht, uns gegen die unbeding­
risieren, zu verurteilen, gibt, anstatt zu verstehen, zu verall­ te Verantwortlichkeit zu verteidigen, die potentiell droht,
gemeinern, zu politisieren : Wozu dienen die individualisie­ über uns hereinzubrechen. Kurz, es geht darum, der kollek­
rende Wahrnehmung des Geschehens und die Zuweisung tiven Verantwortlichkeit zu entrinnen: Niemand soll sich
der Verantwortlichkeit zu singulären Subjekten? Warum für die Handlungen der anderen verantwortlich fühlen.

n Ebd., S. 331. 12 Ebd., S. 331.

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Die Eröffnung von Möglichkeiten Staat ist der große Gegner der Blutrache und der kollekti­
ven Verantwortung. Um sich zu konstituieren, muß er die
Fauconnets Studie hat am Ende des Buches die Tendenz, engen Bindungen lockern, die die Individuen an die Fami­
sich selbst zu beschränken und ihre Radikalität zu verlie­ lien ketten; sein Kampf gegen die kollektive Verantwortung
ren. Fauconnet pfropft nämlich seiner soziologischen Ana­ ist ein Sonderaspekt seines Kampfes gegen die Autonomie
lyse der verschiedenen Urteils- und Verantwortlichkeits­ inländischer Gruppen. Er emanzipiert das Individuum und
systeme ein historisches Schema auf: Die Geschichte der zugleich isoliert er es : Im Gegensatz zu dem, was man er­
Moderne sei die Geschichte der immer größer werdenden warten könnte, zieht das Anwachsen der individuellen Frei­
Vorherrschaft der individuellen Verantwortung zu Lasten je­ heit zunächst eine Verringerung an Verantwortung nach
des anderen Systems. Aus diesem Grund sei es unmöglich, sich. Denn das befreite Individuum ist nur noch für seine
sie künftig in Frage zu stellen - sowohl theoretisch als auch persönlichen Akte verantwortlich; es entzieht sich der kol­
praktisch. Das Dispositiv der individuellen Verantwortung lektiven Verantwortung.«13
stelle das System dar, das von der zeitgenössischen Gesell­
schaftsordnung verlangt wird. So verkündet Fauconnet ein
»Gesetz der Entwicklung der Verantwortlichkeit«: von ei­ Die Bedeutung des Sozialstaats
ner kollektiven und kommunizierbaren werde sie zu einer
persönlichen und individuellen. Selbst wenn Fauconnet Recht hätte, selbst wenn die Mo­
Die Individualisierung der Verantwortlichkeit sei ein Ef­ deme tatsächlich an einen Prozeß der Individualisierung
fekt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Diversifizie­ der Verantwortlichkeit gebunden wäre, würden wir nicht
rung der Gesellschaft und der Stärkung des Staats. Die Ge­ dazu verdammt sein, die Schlußfolgerungen seines Buchs
schichte der Verantwortlichkeit folge der Geschichte der zu akzeptieren. Es wäre möglich, einen politischen Ge­
Individualisierung; sie füge sich in jene Wesensdynamik brauch von seinen Analysen zu machen und die Wahrneh­
der Modeme ein, die Durkheim offengelegt hat und die mungsrahmen in Frage zu stellen, die dem System der Ge­
in der Behauptung der Autonomie des Subjekts gegenüber richtsbarkeit, wie wir es kennen, zugrunde liegen.
den Gruppen, denen es zugehört, bestehe. Dieser soziologi­ Aber zum Glück ist die Geschichte nicht so linear, wie
sche und historische Prozeß werde darüber hinaus durch es scheint. Es ist falsch, jede Konzeption einer nichtindi­
politische und rechtliche Mechanismen verstärkt, nämlich viduellen Verantwortung der Vergangenheit, der Prämo­
durch die Entstehung des modernen Staats: Der Staat setzt derne zuzuweisen - als ob das Leben in der Gegenwart not­
die individuellen Rechte, bürgert sie ein und überwacht de­ wendig bedeuten würde, im Zeitalter der individuellen
ren Anwendung. Aus diesem Grund gibt es keinen Wider­ Verantwortung zu leben. Zwar fungiert im Bereich des Straf­
spruch zwischen Staat und Individuum. Der Staat setze ein rechts der Begriff der individuellen Verantwortung wie ein
individuelles Recht ein, um den Einfluß partieller und lo­ unübersteigbarer Horizont. Man stellt sich nicht mehr vor,
kaler Gruppen auf die Subjekte aufzulösen, der mit seiner
Rechtmäßigkeit und seiner Vorherrschaft konkurriert: »Der 13 Ebd„ S. 33 4-33 5 .

1 21
1 20
sie in Frage zu stellen. Es scheint unvorstellbar, ein Kollek­
vom Sozialstaat und vom Wohlfahrtsstaat spricht. Er ver­
tiv oder etwas Kollektives für einen Akt für verantwortlich wendet alle drei Bezeichnungen. Aber meines Erachtens
zu halten und damit die Möglichkeit nahezulegen, nicht je­ muß man seinen Text als Reflexion auf die Grundlagen
manden für einen kausalen Akteur und gegebenenfalls für des Sozialstaats verstehen, d. h. auf die Sozialversicherung.
verantwortlich zu halten, was wiederum der Möglichkeit Die wesentliche Anschauung, für die Pierre Bourdieu
den Weg eröffnen würde, nicht zu verurteilen. Doch die eintritt, ist, daß es eine Verbindung zwischen der Soziolo­
Geschichte des Staats ist nicht ein und derselben Bahn ge­ gie und dem Sozialstaat gibt. Die Soziologie schlägt eine
folgt. Es gibt Bereiche, wo die Moderne im Gegenteil darin Konstruktion der Wirklichkeit in Begriffen des Kollektivs,
bestand, aus der individuellen Verantwortung im Namen der Solidarität vor. Aus diesem Grund habe ihr Auftreten
einer kollektiven Wahrnehmung der Phänomene auszubre­ eine wesentliche Rolle beim Aufbau des Sozialstaats ge­
chen und einer umgekehrten Bewegung gegenüber der von spielt. Die Begriffe des »Sozialen«, des »Öffentlichen<<, des
Fauconnet angesprochenen zu folgen: der Sozialstaat. »Kollektiven« haben das Projekt des Aufbaus des Sozial­
Ich möchte sofort klarstellen, daß der Sozialstaat und sei­ staats unterstützt. Die Sozialwissenschaften hätten ein ge­
ne Grundlagen mich nicht als solche interessieren. Ich möch­ meinsames Interesse an der Konstruktion einer Philoso­
te sie vielmehr als Instrumente verwenden, die uns ermög­ phie, eines Geisteszustands, die wesentlich mit der Idee
lichen können, die Frage der Verfehlung, der Schuld, der des Wohlfahrtsstaats verbunden sind. Der Wohlfahrtsstaat
Wiedergutmachung anders zu problematisieren. Der So­ hat nur deshalb ab dem Ende des i9. Jahrhunderts entste­
zialstaat stellt ein Dispositiv dar, dessen Konstruktions­ hen und sich durchsetzen können, weil die Sozialwissen­
prinzipien uns die Gelegenheit geben, über die Art und schaften sein Aufkommen symbolisch ermöglicht haben.
Weise nachzudenken, wie wir Erzählungen des Gesche­ Worum es bei der Entstehung des Staats im 19. Jahrhun­
hens in der Welt konstruieren können, wie wir Schuldzu­ dert wesentlich geht, ist die Art und Weise, wie man der
weisungen machen können, wie wir de facto bereits in be­ Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit gegenübertritt:
stimmten Bereichen die Ursachen der Ereignisse anders Wer ist schuld? Wer ist verantwortlich? Der Staat entstand
zuschreiben, als es im Bereich des Strafrechts und der Be­ durch eine neue Art und Weise, über diese Fragen nachzu­
handlung von Straftaten üblich ist. Das eröffnet den Weg denken. Das spontane Denken individualisiert: Es sucht
zu einem besseren Verständnis des Systems der Gerichts­ die Schuld in den Handlungen und ihren Motiven. Es weist
barkeit. den einzeln genommenen Akteuren die Verantwortung für
Die Vorlesung über den Staat, die Pierre Bourdieu am das zu, was ihnen zustößt. Das soziologische Denken sozia­
College de France gehalten hat, gestattet, diese Reflexion lisiert dagegen. Es lehnt die Kategorien der Schuld oder
auf die Einsätze des Sozialstaats zu vollziehen. Bourdieu der Intention ab. Es lehnt die Vorstellung ab, der zufolge
ist zwar manchmal ungenau oder unentschlossen in seinen die einzelnen Handlungen voneinander isoliert und indi­
Formulierungen. So ist es beispielsweise schwierig zu ent­ viduell durch lokale Gründe erklärt werden können. Diese
scheiden, ob er vom Staat im allgemeinen, vom modernen Handlungen bringen im Gegenteil jedes Mal eine kollek­
Staat, wie er im 19. Jahrhundert in Erscheinung trat, oder tive Tendenz zum Ausdruck, die ihnen entgeht. vVas ge-

1 22 1 23
schieht, muß als Aktualisierung einer Potentialität gedacht Aber das stärkste und relevanteste Beispiel ist das der
werden, die in den sozialen und kollektiven Strukturen ver­ Arbeitsunfälle - für die man in den meisten Rechtssyste­
wurzelt ist - so daß das Individuum, das dessen Akteur ist, men Äquivalente findet. Diese wurden als das Resultat ei­
nicht zugleich auch die Ursache davon ist. ner Unvorsichtigkeit, einer Fehlleistung oder einer Diszi­
Das soziologische Denken schlägt somit eine andere plinlosigkeit des Arbeitnehmers angesehen. Am Ende des
Sichtweise der »Verantwortlichkeit« vor (ich behalte vor­ 19. Jahrhunderts werden sie vom französischen Recht als
erst diese Benennung bei, aber wir werden uns später die das »Resultat einer Gesamtheit [objektiver] Faktoren, die
Frage stellen, ob die Soziologie für sich den Begriff der Ver­ durch Verhütungsmaßnahmen beherrscht werden kön­
antwortung übernehmen kann) : Diese ist nicht individuell, nen«,15 neu charakterisiert. Remi Lenoir hat einen bedeu­
sondern kollektiv, und ihr Ort befindet sich in den Bezie­ tenden Aufsatz veröffentlicht, der den symbolischen Kampf
hungssystemen, in die die individuellen Akteure verstrickt im Umfeld von Arbeitsunfällen beschreibt und wie dieser
sind. Der Soziologe ersetzt »eine Erklärung in Begriffen Kampf zwei Gruppen in Opposition zueinander brachte:
von direkter Verantwortlichkeit, die dem freien Individu­ jene, die darin eine Verfehlung sahen, die einem Arbeit­
um zurechenbar wäre, [durch] ein System komplexer Fak­ nehmer zugerechnet werden konnte, und jene, für die es
toren [ . . . ] , die zu gewichten wären«.14 Das soziologische sich um ein Risiko handelte, das mit den materiellen Struk­
und soziale Denken ist der individuellen Logik entgegen­ turen, mit den Arbeitsbedingungen verbunden ist und wo­
gesetzt, die vom Liberalismus verkörpert wird und heute, für die Verantwortung folglich kollektiv übernommen wer­
Bourdieu zufolge, vom Neoliberalismus und die zur Ab­ den mußte: »Wenn der Begriff des Arbeitsunfalls heute so
dankung und zum Rückzug des Staats führen würde, in­ selbstverständlich ist, dann verdankt man das wohl zum
dem sie die Figur des freien, autonomen und für das ihm Teil dem Rechts- und Finanzsystem, das durch das Gesetz
Zustoßende verantwortlichen Individuums schafft. vom 9. April 1898 eingerichtet wurde, welches den Begriff
Pierre Bourdieu spricht mehrere Beispiele symbolischer der objektiven Verantwortung im Namen des Risikos fe­
Revolutionen an, die die Wahrnehmung bestimmter Wirk­ stigt, das den materiellen Bedingungen der Industriearbeit
lichkeiten verwandelt, sie in kollektive Logiken anstatt in innewohnt (Maschine, Werkzeug, Rohstoff etc.).«16 Man
individuelle eingefügt und dadurch ihre gesellschaftliche versteht hier leicht, daß der Kampf nicht nur symbolisch
Behandlung ermöglicht haben. In erster Linie die Krank­ ist. Er knüpft an sehr unterschiedliche konkrete Folgen an:
heit, die in Begriffen des kollektiven Risikos und öffent­ Im einen Fall soll der Arbeitnehmer die Schuld wiedergut­
lichen Interesses anstatt in Begriffen der Vernachlässigung machen und sich um seine Verletzungen kümmern, wäh-
und der Schuld gedacht wurde - woher die Schaffung einer
Krankenversicherung rührt, wo die Erkrankungen, an de­
nen ein j eder leidet, als Folgen sozialer Risiken gesehen
15 Ebd.
werden anstatt als Resultate individueller Entscheidungen. 16 Vgl. Remi Lenoir, »La notion d'accident du travail, un enjeu de lut­
tes«, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 32-33, April­
14 Bourdieu, Über den Staat, S. 633. Juni 1980, S. So und 82.

1 24 1 25
rend er im anderen gegen das Risiko und den Schaden ver­ lichkeitsproduktion, zwei vorstellbare Erzählungen des Ge­
sichert ist, den er erleidet und verursacht. schehens. Im Bereich des Strafrechts hat die Moderne auf
Indem er die Geschichte der Entstehung des Sozialstaats die Individualisierung des Straf- und Gerichtsbarkeitssy­
schreibt, will Pierre Bourdieu der Idee Nachdruck verlei­ stems hingewirkt; aber im sozialen Bereich hat sie umge­
hen, der zufolge es eine theoretische Dimension des Auf­ kehrt auf die »Kollektivierung« der Phänomene hingewirkt.
baus des Staats gibt. Der Staat ist keine Institution, deren Der Sozialstaat beruht auf einer soziologischen Sichtweise:
Genese und Form ausschließlich in politischen, admini­ Was einem jeden zustößt, wurzelt in kollektiven Tendenz­
strativen oder ökonomischen Logiken verwurzelt wären. en, die sich durch uns aktualisieren. Dagegen wirkt der
Der Staat, wie wir ihn kennen, wäre ohne die Einführung Strafrechtsstaat auf die Individualisierung hin, auf die Ein­
und Verbreitung neuer Seh- und Denkweisen nicht mög­ setzung der Individuen als kausale Akteure.
lich gewesen. Er setzt ein bestimmtes Verhältnis zur Welt, Die Tatsache, daß diese beiden Pole existieren, zeigt,
eine bestimmte Sichtweise der Welt voraus. Und seine Exi­ daß schon in der zeitgenössischen rechtlichen und politi­
stenz trägt im Gegenzug zur Verstärkung einer bestimm­ schen Wirklichkeit die Möglichkeit existiert, die Welt der
ten Wahrnehmung der Wirklichkeit und der Gesellschaft Gesellschaft dem Schema der individuellen Verantwortung
bei. Der Staat ist nicht ausschließlich eine materielle Gege­ zu en treißen und das, was geschieht, anders aufzufassen.
benheit. Er ist eine Idee - oder besser eine Art institutionel­ Aus diesem Grund ist das Beispiel der Arbeitsunfälle so in­
ler Konkretisierung einer vorangegangenen symbolischen teressant. Es gestattet zu verstehen, wie der Übergang von
Revolution. Der Staat ist die Bestimmung dessen, inwie­ einer individualisierenden Erzählung zu einer strukturel­
weit die intellektuellen und theoretischen Kämpfe, die sich len Erzählung die Entkriminalisierung der Handlung von
auf unsere Vorstellungen auswirken, unmittelbar politisch Arbeitnehmern ermöglicht hat.
sind.
Der Staat ist eine komplexe, inkohärente, widersprüch­
liche Instanz. Nicht alle seine Handlungs- und Eingriffsbe­ Spezifität
reiche haben dieselbe Geschichte und unterstehen derselben
Logik. Aus diesem Grund hat eine allgemeine »anarchisti­ Bevor ich fortfahre, möchte ich unterstreichen, daß ich
sche« Position keinen großen Sinn mehr, da sich ja die Kri­ durch den Aufweis eines Antagonismus zwischen den Prin­
tik eines Aspekts des Staats häufig im Namen von Werten zipien des Sozialstaats und denen des Strafrechtsstaats mit
vollzieht, die andere staatliche Praktiken leiten. der Sichtweise des Sozialstaats breche, die ein Großteil der
Der Strafrechtsstaat und der Sozialstaat stellen zwei Or­ politischen Philosophie oder der liberalen - oder sozial-libe­
ganisationsweisen dar, die sich an zwei widersprüchliche ralen - Theorie in der Regel vorschlägt und die zur Folge
Wahrnehmungsweisen anlehnen: den Diskurs der indivi­ hat, die Dispositive der Sozialversicherung und der kollek­
duellen Verantwortung und den der objektiven Verantwor­ tiven Versicherung ihrer radikalen Implikationen zu ent­
tung. Das sind zwei Institutionen, die in theoretischen leeren.
Konstruktionen wurzeln, zwei mögliche Weisen der Wirk- Die liberale Tradition versucht nämlich, eine Sichtweise

1 26 1 27
des Sozialstaats zu propagieren, die die individuellen Wer­ knüpft sind, in die wir alle eingetaucht sind, insofern wir
te bewahrt, auf denen ihr Denken aufbaut. Infolgedessen in Gesellschaft leben. Folglich ist es die Gesellschaft, die
stößt man beispielsweise bei John Rawls oder Amartya Sen kollektiv und objektiv im Geschehen am Werk ist, und
(und diese Überlegungen lassen sich schon bei Friedrich nicht dieses oder jenes Individuum. Ein Arbeitsunfall, eine
Hayek in Der Weg zur Knechtschaft feststellen) nicht selten Krankheit sind nicht die »Schuld« derer, denen sie zusto­
auf die Vorstellung, daß die Umverteilung die Funktion hat, ßen, sondern die Konsequenz eines sozialen Risikos, das
die Kapazitäten oder Fähigkeiten der gesellschaftlichen Ak­ kollektiv übernommen und berücksichtigt werden muß.
teure zu vergrößern. Der Sozialstaat würde jedem eine Art Wie sollte man übrigens nicht anhand des Falls der Schwan­
von Minimum bereitstellen und ihm gerade dadurch er­ ger- und der Mutterschaft einsehen, inwiefern die Auffas­
möglichen, zu einem verantwortungsvollen Individuum zu sung solcher Ereignisse als soziale Risiken, die kollektiv
werden. In dieser Perspektive wird die soziale Logik als Be­ versichert sind, ein künstliches Dispositiv, eine Erzählung -
dingung der Strafrechtslogik konzeptualisiert: Die Dispo­ eine Errungenschaft der soziologischen und politischen
sitive der Hilfe, Versicherung und Fürsorge versichern die Vernunft, der Großzügigkeit gegen die spontane Wahrneh­
Individuen gegen die hauptsächlichen »Risiken« des Lebens, mung in Begriffen individueller Entscheidungen, persönli­
wodurch sie zum großen Teil der Not entkommen und cher Verantwortung und somit der Nichtfürsorge darstellt?
über ihre Existenz entscheiden können. Da sie voll versi­ Mit der Folge, daß andere Errungenschaften in anderen Be­
chert sind, sind sie auch voll verantwortlich. In diesem reichen, die sich heute wohl an der spontanen Wahrneh­
Denkrahmen würde der Sozialstaat den Strafrechtsstaat mung stoßen, nicht als unmöglich dekretiert werden kön­
beinahe legitimieren und wäre ihm jedenfalls komplemen­ nen.
tär: Die Sanktionierung der Individuen ist um so legitimer,
als sie nicht mehr die Entschuldigung der Not haben, da
ja der Staat ihnen einen gewissen Fähigkeitszustand zusi­
chert.
Tatsächlich verhindert eine solche Wahrnehmung zu
verstehen, was es im Sozialstaat an völlig Neuem, Spezifi­
schem, Singulärem gibt. Die Idee des Wohlfahrtsstaats be­
ruht auf der Annullierung der Problematik des Individu­
ums und folglich auch der individuellen Verantwortung
im Namen einer Sozialisierung, einer Objektivierung und
Kollektivierung der Probleme: Was in der Welt in einem
bestimmten Augenblick geschieht, ist nicht die Tat eines
Individuums, sondern die Aktualisierung einer kollektiven
Kraft an einem bestimmten Ort, einer Tendenz, eines Risi­
kos, die mit den sozialen und materiellen Strukturen ver-

1 28 1 29
Fühlen wir uns wohl mit dem, was in den Gerichten ge­
schieht?
Die Texte von Hannah Arendt, die den Begriffen der Ver­
3 antwortung, des Urteilens und der Schuld gewidmet sind,
Eine ind i v i dua lisieren de Erz ä h lun g verdeutlichen, inwiefern jede Operation des Urteilens als
Bedingung der Möglichkeit eine Praxis der Leugnung er­
fordert, die darin besteht, die kontextuellen Elemente, die
Zu sagen, daß es einen Strafrechtsstaat und einen Sozial­ sozialen Kräfte in den Hintergrund zu drängen, um das,
staat gibt, zu sagen, daß jeder von beiden sich auf eine theo­ was geschehen ist, einem singulären Akteur zuzurechnen.
retische Dimension und eine Sichtweise verpflichtet, die Arendt hat bekanntlich viel über den Begriff der kollekti­
antagonistisch sind, bedeutet, daß jede dieser Sichtweisen ven Verantwortung vor allem mit Bezug auf den Nazismus
die Pflicht hat, mit der Möglichkeit der anderen zu rech­ und Eichmann nachgedacht, aber auch mit Bezug auf die
nen und mit ihr zu verhandeln. Jede dieser Auffassungswei­ Rassentrennung in den Vereinigten Staaten. Und ich bin
sen kann sich nur behaupten, indem sie die andere Mög­ mir dessen wohl bewußt, daß es schwierig ist, eine Ausein­
lichkeit leugnet und verwirft. Anders gesagt, ebenso wie die andersetzung mit ihr zu beginnen, da die Themen, die sie
Konstruktion des Sozialstaats auf der Ablehnung beruht, behandelt, so traumatisierend, schwierig und bedrückend
in Begriffen der individuellen Kausalität und damit der sind.
Schuld zu denken, beruht die strafrechtliche Konstruktion Arendt hat den Gebrauch des Begriffs der »kollektiven
der Wirklichkeit auf der Zurückweisung der soziologischen Verantwortung« - oder der »Kollektivschuld« - heftig an­
und strukturellen Analytik. gegriffen. Zwar verdammte sie einen solchen Begriff nicht
Diesen Konflikt und Antagonismus auszusprechen be­ völlig und erkannte an, daß es möglich sei, die Vorstellung
deutet nicht, wie man schon ahnt, zu behaupten, daß die einer politischen Verantwortung zu fassen: Insofern ich
Annahme eines soziologischen Gesichtspunkts dazu füh­ einer politischen Gemeinschaft angehöre, bin ich de facto
ren sollte, daß man für so etwas wie die Abschaffung der für die Akte verantwortlich, die in meinem Namen von
Gerichte oder des Strafrechtssystems plädiert. Ein solcher der Nation oder von der Regierung, die mich vertritt, voll­
Vorschlag wäre absurd und ohne großen Nutzen. Dagegen zogen wurden.1 Arendt zufolge kann man dieser politi­
ermöglicht es, daß wir uns all dessen bewußt werden, was schen Verantwortung nur unter der Bedingung entgehen,
wir implizit voraussetzen, wenn wir verurteilen, all dessen, daß man »die betreffende Gemeinschaft verläßt«.2
was wir verdrängen. Die gesellschaftliche Kritik der straf­
rechtlichen Vernunft gestattet, das System der Gerichts­
i Hannah Arendt, Responsabilite et jugement, Paris, Payot, 2003,
barkeit in seiner Positivität zu verstehen, seine Grundla­
s. 202f.
gen und seine Funktionen, und somit zu sehen, wie es sich 2 Ebd. Karl Jaspers wird seinerseits im selben Sinne von »politi­
in eine allgemeinere Ökonomie der Mächte einfügt. Sie scher Schuld« sprechen, in: Die Schuldfrage, München; Zürich,
zwingt uns auch, eine bestimmte Frage an uns zu stellen: Piper, 2012.

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Aber Arendt fügt sogleich hinzu, daß dieser Begriff der setzt die Verschiebung von allem, was den allgemeinen Ho­
kollektiven, politischen Verantwortung keinesfalls mit der rizont bildet, in den sich jede Individualität einfügt, in den
rechtlichen oder »persönlichen« Verantwortung verwech­ Hintergrund voraus. Die Strafjustiz verlangt, daß man mit
selt werden dürfe. Ihre Texte zielen auf die Bekämpfung den sozialisierenden und politisierenden Denkweisen bricht.
des Arguments ab, demzufolge die Existenz einer politi­ Arendt äußerst diese Schlußfolgerung in Form eines Lobs:
schen Verantwortlichkeit die Unmöglichkeit implizieren »Es ist die unleugbare Größe des Gerichtlichen, daß es die
würde, Einzelpersonen für ihre Handlungen zu beurteilen. Aufmerksamkeit auf die individuelle Person lenken muß,
Sie spricht von »unangebrachten Empfindungen«, wenn selbst im Zeitalter der Massengesellschaft, wo jedermann
sie an die Deutschen oder die weißen Liberalen erinnert, versucht ist, sich als ein einfaches Zahnrad in einer Maschi­
die behaupten: »Wir sind alle schuldig« und auf diese Wei­ ne zu betrachten. [ . . . ] Die nahezu automatische Verlage­
se eine Schuld allein von der Tatsache ableiten, Deutsche rung der Verantwortung, die gewöhnlich in der modernen
oder Weiße zu sein.3 Ihres Erachtens stellt dieser Typ von Gesellschaft stattfindet, hört plötzlich auf, wenn man ein
Überlegung in erster Linie eine Art von »Solidaritätserklä­ Gericht betritt. Alle abstrakten und ungenauen Rechtferti­
rung mit den Ganoven«4 dar (was für ein merkwürdiges gungen finden ein Ende.«5
Argument!). Aber vor allem gründet sich diese Sichtweise So stellt Arendt die Tatsache fest und begrüßt sie, daß in
auf eine Verwechslung zwischen dem Politischen, dem Mo­ einem Gericht jede Beschwörung eines Systems, einer hi­
ralischen und dem Rechtlichen. Für Arendt existiert zwar storischen Tendenz, einer sozialen Umgebung wertlos ist.
eine Verantwortung der politischen Gemeinschaft. Aber Die Justiz verurteilt »Personen«. Bei der Besprechung des
dieser Typ von Veran twortung ist moralischer Natur. Er Falls Eichmann unterstreicht sie, daß ein Beamter sich
sollte keinesfalls das funktionieren des Systems der Ge­ nicht hinter der Tatsache verstecken darf, daß er hierarchi­
richtsbarkeit und der rechtlichen Verantwortung verhin­ schen Befehlen gehorchte: »Wenn der Angeklagte zufällig
dern. Denn die Schuld ist rein individuell. Sie beruht auf ein Beamter sein sollte, wird er gerade deshalb angeklagt,
den Handlungen, die von Personen unabhängig von jegli­ weil selbst ein Beamter ein Mensch ist, und im Hinblick
chem Kontext, von jedem Bezug auf das System vollzogen auf dieses Vermögen macht man ihm den Prozeß.« Und
wurden, in das die Einzelpersonen eingetaucht sind oder sie fährt fort: »Die Frage, die der Gerichtshof an den Ange­
wurden. Arendt sagt es ausdrücklich: Das Justizsystem igno­ klagten stellt, ist also >Haben Sie, Herr oder Frau Soundso,
riert aus Prinzip Überlegungen, die kollektiver Natur sind. mit einem Namen, einem Geburtsdatum und -on ausge­
Aus diesem Grund kann der Begriff der kollektiven Verant­ stattete Einzelperson, die identifizierbar und somit unaus­
wortlichkeit nicht gegen die Ordnung der Gerichtsbarkeit tauschbar ist, das Verbrechen begangen, dessen man sie an­
dienen. klagt, und warum? < Wenn der Angeklagte antwortet >Ich
Um es anders zu sagen, der Aufbau einer Gerichtsbühne war nicht derjenige, der es begangen hat, ich hatte weder
den Willen noch die Macht, irgend etwas aus eigener Initia-
3 Arendt, Responsabilite et jugement, S. 199.
4 Ebd., S. 200. 5 Ebd., S. 102 .

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tive zu tun: ich war ein einfaches Zahnrad, ich war aus­ wieder, um die Fragen, die sie stellen, zu rechtfertigen: »Ur­
tauschbar; jeder andere an meiner Stelle hätte es getan; teilen, das heißt verstehen.« Oft scheinen sie auf diese pa­
ich bin vor diesem Gericht nur aus Zufall erschienen<, wür­ thetische Phrase sehr stolz zu sein. Nun muß man aber ge­
de diese Antwort als grundlos abgelehnt werden.«6 nau das Gegenteil behaupten: Die Bedingung des Urteilens
Arendts Argument hat das Verdienst der Klarheit und ist, daß man die Tatsachen in ihrer Totalität nicht versteht.
Ehrlichkeit. Es macht tatsächlich die Grundlagen des Straf­ Die Strafjustiz gründet sich auf eine atomistische Sicht­
rechtssystems, ihre Bedingungen der Möglichkeit explizit: weise der Wirklichkeit. Das System der Gerichtsbarkeit und
Wenn man verurteilen will, muß man die singulären Exi­ der individuellen Verantwortung kann nur unter der Be­
stenzen abstrahieren und die kriminellen Handlungen als dingung funktionieren, daß jegliche Überlegung in Begriffen
ein Reich innerhalb eines Reiches auffassen. Man muß die sozialer Kausalitäten, kollektiver Strukturen oder histori­
sozialen und politischen Analysen unterbrechen oder zu­ scher Logiken abgelehnt wird.
mindest in den Hintergrund schieben. Das Aufgebot der Die Analyse eines Prozesses muß sich auf die Opera­
Justiz setzt die Ablehnung jeder Wahrnehmung in politi­ tionen beziehen, durch die er seine eigene Materie erfindet
schen, soziologischen oder strukturellen Begriffen voraus; und fabriziert: Ein Prozeß ist ein Dispositiv, durch das der
man muß die Relevanz dieser Elemente leugnen, damit Bestrafungsapparat des Staats eine bestimmte Weltsicht
»Gerechtigkeit« widerfahren kann, damit ein Prozeß und einbürgert und die Außenwelt leugnet - die unter den Au­
ein Urteil stattfinden und einen S inn haben können. gen der Richter jedoch da ist, und wenn auch nur aufgrund
der Tatsache der sozialen Rekrutierung der vorgeladenen
Individuen, die die Kraft der sozialen Logiken bei der De­
Handlung termination der Rechtsverletzungen zeigt.
Mein Ziel ist es zu rekonstruieren, wie das Wirkliche
Von hier aus versteht man, warum ein Prozeß nicht vor al­ konstruiert und bezeichnet werden muß, wenn man verur­
lem eine Institution ist, wo man Nachforschungen anstellt, teilen will, damit man verurteilen kann. Mit anderen Wor­
wo man feststellt, was geschehen ist und wo man dann ur­ ten, was sich in den französischen Gerichten abspielt, stellt
teilt. Er ist eine Handlung. Der Prozeß greift in den Raum für mich eine Gelegenheit dar, über die Logik nachzuden­
der Vorstellungen ein. Er ist ein Augenblick der Ausübung ken, die in jedem System am Werk ist, das verurteilen und
symbolischer Gewalt, in deren Verlauf eine nichtsoziolo­ strafen will, und die Funktionsweise dieser Logik zu de­
gische oder gar antisoziologische Wahrnehmung der Welt konstruieren, die sich uns aufdrängt, die sich unserer be­
herausgebildet wird. Die Strafjustiz stellt einen Ritus der mächtigt und der wir auch recht häufig zum Erfolg ver­
Entpolitisierung, der Enthistorisierung, der Entsozialisie­ helfen.
rung dar.
In Gerichtsprozessen wiederholen die Richter immer

6 Ebd., S. 72.

1 34 1 35
Ent-totalisieren
es aus. Vielleicht muß man die Dinge auch anders sagen :
Die Idee des Verurteilens selbst, die Auffassung, der zufol­
Die strafrechtliche Konstruktion der Wirklichkeit gründet ge es in diesem Zusammenwirken etwas zu verurteilen
sich i n erster Linie auf die Weigerung, in Begriffen der To­ gibt, erfordert und setzt voraus, daß man von diesem gan­
talität zu denken. Für den Blick des Richters gibt es keine zen Interaktionskontext abstrahiert, um die Wirklichkeit
soziale Situation, in der die Individuen gefangen sind und anders zu rekonstruieren. Der Prozeß läßt diese kollektive
die ihre Handlungen determiniert. Die Vorstellung einer Szene und diesen Interaktionskontext zerspringen. Verur­
Interaktion, deren Rahmenbedingungen sich den Akteu­ teilen ist nur möglich unter der Bedingung, daß man die
ren aufdrängen und die sich nach einer eigentümlichen sozialen Situationen in getrennte Elemente zergliedert, die
und autonomen Logik entfaltet, ist sinnlos. Man kann den mit ihren eigenen Individualitäten und Intentionalitäten
strafrechtlichen Blick als einen analytischen und antisyn­ ausgestattet sind.
thetischen Blick definieren: Es gibt nur Individuen, die ato­ Die Anhörung der Zeugen und die Fragen, die ihnen ge­
mistisch handeln. Das strafrechtliche Denken (das vom stellt werden, die Art und Weise, wie die Debatten geführt
Vergeltungstrieb bestimmt wird und ihn nährt) läßt die werden, zeigen, daß die Logik des Strafrechts sich von da
Totalitäten zerplatzen, um die Individuen zu isolieren. Es an bemüht, die Szene auf eine ganz andere Art zu rekon­
individualisiert die Ordnung der Ursachen. struieren, sie nicht als Schlägerei zu verstehen, in die vier
So habe ich im Oktober 2 010 dem Prozeß eines polni­ Personen verwickelt sind, sondern als eine Summe indivi­
schen Obdachlosen beigewohnt, der für Schläge und Ver­ dueller, isolierter Handlungen, die sich gegenseitig entspre­
letzungen verurteilt wurde, die ohne Tötungsabsicht zum chen. Was geschehen ist, wird als zusammengesetzte Folge
Tod führten. Der Kontext ist einfach, b anal - übrigens singulärer und isolierbarer Persönlichkeiten aufgefaßt, die
kehrt dieser Typ von Prozeß bei den Schwurgerichten sehr in einzelnen Schritten abläuft - Schlag auf Schlag -, was die
häufig wieder: Es handelt sich um eine Schlägerei zwischen Möglichkeit einer Untersuchung eröffnet, deren Funktion
vier besonders alkoholisierten Obdachlosen, in deren Ver­ darin besteht, die jeweiligen Rollen eines jeden zu entwir­
lauf einer von ihnen an den erlittenen Schlägen und einem ren. Ein ganzes Analyseunternehmen bringt sich so in Stel­
Sturz stirbt. lung, um zu versuchen, die individuellen Verantwortlich­
Im Grunde hätte jedes beliebige Mitglied der Gruppe keiten herauszuarbeiten: Wer hat als erster provoziert? \Ver
das Opfer des anderen sein können. Jeder h ätte übel fal­ hat als erster zugeschlagen? Als zweiter? Was für ein Schlag?
len, einen bösen Schlag einstecken und sterben können. Wie ? In welchem Moment? Mit welcher Kraft? Wo ? Wel­
Mit anderen Worten, hier ist ganz offensichtlich eine Logik che Reaktion hat das hervorgerufen? Usw. Bei diesem Ver­
der Interaktion am Werk, eine Gruppendynamik, die be­ such der sequentiellen Rekonstruktion einer gemeinsam
rücksichtigt werden muß, um zu verstehen, was geschehen hervorgebrachten Handlung stellt das Vorstrafenregister
ist. des Angeklagten (im vorliegenden Fall ist dieser schon für
Die Logik des Strafrechts verhindert jedoch eine solche Gewalttaten verurteilt worden) eines der entscheidenden
Auffassung. Sie verbietet ein derartiges Vorgehen und schließt Elemente dar, um die Anklage zu stützen, das Porträt der

1 36 1 37
Protagonisten zu zeichnen - und dann anschließend die
seiner Persönlichkeit wird je nach Strafrechtssystem durch
mögliche Schuld zu erklären. das Zeugnis des Angeklagten selbst oder die Zeugnisse sei­
Die eigentliche Idee, eine solche Situation in Begriffen ner Familie, seiner Freunde, seiner Nächsten oder gar durch
der individuellen Verantwortung und Absicht vorzustel­ Persönlichkeitsermittler und Psychologen oder Psychiater
len, stellt eine sehr besondere, willkürliche Lesart dar, der geleistet. Diese Rekonstruktion der Biographie wird gerecht­
man ansieht, daß sie nicht offensichtlicher ist als die sozio­ fertigt, indem man behauptet, ihre Funktion sei, dem Ge­
logische Lesart. Vielleicht ist sie es in diesem Fall sogar we­ richt zu ermöglichen, den Mann oder die Frau »kennenzu­
niger (also nicht in allen Fällen, aber hier schon). Wie sollte lernen«, den oder die es verurteilen wird, ihn oder sie und
man nicht von der Gewaltsamkeit betroffen sein, die sich seine Motive kennenzulernen, zu wissen, wer er oder sie ist
in der Art und Weise ausdrückt, wie das Justizsystem sich und was er oder sie tut. Mit anderen Worten, dieser Mo­
dieser Typen von Handlungen bemächtigt, sie neu deutet ment wird häufig als der Vollzug einer »humanen« Justiz
und diejenigen, die es konstruiert, als »Urheber« behan­ präsentiert, die die verurteilten Personen zu verstehen
delt? Es gibt keine Bezugnahme auf die Lebensweise von und das Individuum nicht auf seine Handlungen zu redu­
Obdachlosen, auf das Verhältnis zur Gewalt, das diesen Mi­ zieren versucht.
lieus eigentümlich ist, auf den Alkoholismus etc. All diese Die Art und Weise, wie das französische System die­
Elemente werden geleugnet, verdunkelt. Als ob sie irrele­ ses Erfordernis der biographischen Rekonstruktion erfüllt,
vant wären. Diese Art von Überlegung ist verständlicher­ nimmt die Gestalt einer Befragung des Angeklagten an:
weise nicht allein theoretisch, da ja der Obdachlose zu fünf Nach der Eröffnung der Verhandlung geht der Vorsitzende
Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, von denen eines auf des Schwurgerichts zu einer Befragung des Angeklagten
Bewährung ausgesetzt wurde. über, die sich nicht auf die Tatbestände und seine Beteili­
gung bezieht, sondern ganz einfach auf sein Leben, seinen
Werdegang. (Häufig tritt auch ein Persönlichkeitsermittler
Was ein L eben ausmacht als Zeuge auf, um das Leben des Angeklagten zu erzählen.)
Der Moment der Befragung des Angeklagten hat mich
Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß man relativ leicht immer verblüfft: Die einfache Tatsache, einen Angeklagten
einen Einwand gegen das Argument erheben könnte, dem aufzufordern, von sich zu sprechen, bevor man seine even­
zufolge es eine grundlegend antisoziologische Dimension tuelle Schuld anspricht, d. h. die Rechtmäßigkeit seiner
des Strafrechtsstaats und der analytischen Leidenschaft Anwesenheit vor Gericht, läßt es so aussehen, als ob es
gibt, die die »Justiz« beseelt. Schließlich könnte die Kritik selbstverständlich sei, daß die Sache ihn betrifft, und legt
an der Leugnung der Kollektivkräfte seitens der Justiz die Vorstellung nahe, daß er eine Beziehung zu ihr hat -
durch die Tatsache widerlegt werden, daß dem Leben des und folglich an ihr beteiligt ist.
Angeklagten und seiner Persönlichkeit bei allen Verhand­ Die Fragen, die der Vorsitzende stellt, beachten immer
lungen doch immer Aufmerksamkeit geschenkt wird. dieselbe Reihenfolge, immer dieselbe Logik. Ihre Formulie­
Die Rekonstruktion der Biographie des Angeklagten und rungen und ihre Verkettungen sind interessant, denn sie

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gestatten zu sehen, wie der Staat das Leben eines Menschen kungen auf den Angeklagten sein, ohne daß die Beziehung
wahrnimmt, wie er es konstruiert, was er als wichtig erach­ der Ursache zur Wirkung thematisiert wird - oder auch
tet, um es zu »verstehen« - kurz, was ein Leben ausmacht. nur thematisierbar ist. Mit anderen Worten, die Justiz wird
Außerdem ermöglicht es zu sehen, wie eine nichtsozio­ Charakterzüge, von denen man sich vorstellen kann, daß
logische Verwendung sozialer Kategorien möglich ist: Die sie eher Folgen der sozialen Konditionierung ebenso wie
Klassen-, Geschlechts-, ethnischen Zugehörigkeiten etc. las­ der verurteilte Akt sind, d. h. daß sie sich auf derselben Ebe­
sen sich im Rahmen eines antisoziologischen Räsonnements ne befinden wie der verurteilte Akt, in die »Ursache« des
verwenden. Akts umwandeln.
Das »Leben« wird reduziert auf die aufeinanderfolgende Als Beispiel möchte ich den Prozeß gegen einen serbi­
Besetzung von Positionen, die institutionell definiert wer­ schen Obdachlosen betrachten, der ebenfalls im Oktober
den oder nicht und die die rituellen Etappen einer Biogra­ 2014 wegen Gewalttätigkeiten verurteilt wurde, die den
phie bilden. Wann und wo sind sie geboren? Was war Ihr Tod zur Folge hatten, ohne daß er beabsichtigt war. Nach
Vater von Beruf? Lebt er noch? Welchen Beruf übte Ihre den rituellen Fragen zu seinem Werdegang schneidet die
Mutter aus? Lebt sie noch ? Hatten Sie Brüder und Schwe­ Vorsitzende andere Aspekte seines Lebens an, indem sie
stern? Wo gingen Sie zur Schule? Wie war das ? Wann ha­ ihn zunächst über sein Temperament befragt. Sie fragt
ben Sie die Schule verlassen? Vvelche Anstellungen hatten ihn, ob er ein Schläger ist, ob er mit dem Zeugnis von Be­
Sie? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder? Und am Ende kannten einverstanden ist, die ihn als »cholerisch« be­
natürlich, haben Sie schon Ärger mit der Justiz gehabt oder schreiben, ob, wie die serbische Polizei angibt, er Mitglied
im Gefängnis gesessen ? Sind Sie bei der Polizei bekannt? von Hooligangruppen war. Sie befragt ihn dann nach sei­
Warum ? Diese Abfolge von Fragen bringt trockene Ant­ nem Verhältnis zu Alkohol und Drogen (das ist eine Zwangs­
worten seitens des Angeklagten hervor, die sich häufig auf vorstellung der Richter) : Trinkt er? Was? Wieviel am Tag?
»Ja« oder »Nein« beschränken. Würde er seinen Konsum als exzessiv beschreiben ? Und da
Aber das Interessanteste ist zu sehen, wie der strafrecht­ er mit »Nein« geantwortet hat, fährt sie mit Nachdruck
liche Prozeß die gesammelten biographischen Elemente be­ fort: »Und nicht einmal ab und zu ? « - »Doch«, antwortet
handelt und nutzt. Sie werden nicht genutzt, um soziale Lo­ er. - »Ach, sehen Sie ! «
giken, Bedingtheiten, Existenzweisen zu enthüllen, die den Das ist eine klassische Situation der Persönlichkeitsbe­
Angeklagten zu dem geführt haben könnten, was er ist, sprechung bei Schwurgerichtsprozessen: Diese haben prak­
und zu dem, was er getan hat. Sie treten als Elemente auf, tisch immer den Zweck, die gelieferten biographischen Ele­
die es gestatten, seine »Persönlichkeit« zu erfassen. Daher mente zu nutzen, um den »Charakter des Angeklagten«,
dient die Kenntnis der Biographie des Angeklagten dazu, seinen Alkohol- und Drogenkonsum und ganz häufig auch
eine Operation der Mystifizierung zu vollziehen, in deren sein »Verhältnis zur Arbeit« zu rekonstruieren. Diese Tatsa­
Verlauf die soziale Welt nie als solche in ihren verschie­ chen werden als Informationen über den Angeklagten be­

denen Erscheinungsweisen oder als Ursache gegenwärtig trachtet, die es gestatten, die Gründe seiner Handlung zu
sein wird: Sie wird es nur vom Gesichtspunkt ihrer Wir- erfassen.

1 40 141
Nun ist das in Wirklichkeit ein sehr besonderer Vor­ Endogenisieren
gang, den die Richter vollziehen, wenn sie das »Tempera­
ment« oder den »Alkoholkonsum« als Elemente geltend Der Ausschluß jeglicher soziologischen oder politischen
machen, die es ermöglichen, den Angeklagten zu verstehen Erkenntnis, der das System der Gerichtsbarkeit begründet,
und die verurteilte Handlung zu erklären. Für den, der sich erklärt die Stellung des psychologischen oder psychiatri­
ein bißchen Mühe gibt, darüber nachzudenken, ist es tat­ schen Wissens im Gerichtsverfahren. Es gibt kein System
sächlich selbstverständlich, daß diese Phänomene Mani­ der Gerichtsbarkeit, das nicht zum einen oder anderen
festationen der Lebensweise des Angeklagten sind, die auf Zeitpunkt die Konstruktion einer Erzählung darüber ver­
derselben Stufe stehen wie die Tatbestände, für die er verur­ langt, was geschehen ist, und einer Erklärung dessen, daß
teilt wird. Mit anderen Worten, es sind keine Ursachen, der Angeklagte zur Tat schritt: Warum hat diese Person
sondern Wirkungen. Es sind keine erklärenden Prinzipien. diese Tat begangen ? Das erklärt, warum eine Beziehung be­
Im Gegenteil stellen sie gerade das dar, was erklärt werden steht zwischen dem System der Gerichtsbarkeit und der
müßte. Psychiatrie, der Psychologie oder der Psychoanalyse. Der
Die Aufmerksamkeit, die man der Biographie des Ange­ »Psy«-Diskurs stützt das System der Gerichtsbarkeit. Er lie­
klagten schenkt, ist eine List der strafrechtlichen Vernunft. fert die narrativen Elemente, die für sein Funktionieren we­
Während man sich ein gutes Gewissen unter dem Vor­ sentlich sind.
wand des »Verstehens« verschafft, bezieht man die ver­ Die Notwendigkeit der Konstruktion einer psychologi­
urteilte Handlung auf eine Reihe anderer individueller schen Erzählung der Wirklichkeit, um verurteilen zu kön­
Merkmale, ohne je all diese Elemente auf ihre objektiven nen, kann je nach Land verschiedene Formen annehmen.
Ursachen zu beziehen oder auf ihre Verankerung im kon­ In manchen Systemen kann sie informelle und implizite
kreten sozialen und politischen Leben. Die verurteilte Hand­ Formen aufweisen. Die Richter, die Rechtsanwälte, die
lung wird also ohne weiteres nicht mit dem sozialen, öko­ Staatsanwälte, die Experten, die Zeugen nutzen dann Ele­
nomischen, politischen Kontext in Verbindung gebracht, mente der psychiatrischen Sprache, psychologische Begrif­
in dem sie sich ereignet hat und in dem die Akteure mit an­ fe, um zu versuchen, Gründe für das anzugeben, was ge­
deren zusammen eingebettet waren. Sie wird auf das Leben schehen ist, und daraus eine Erzählung zu konstruieren.
des Angeklagten bezogen; sie wird so wahrgenommen, daß In Frankreich treten bei jedem Strafprozeß ein Psych­
sie sich in eine Reihe von Verhaltensweisen der verurteil­ iater und ein Psychologe offiziell als Zeugen auf. Die we­
ten Person einfügt. Die fragliche Handlung wird mit der sentliche Verbindung zwischen dem »Psy«-Diskurs und
beschuldigten Person und ihrer Biographie verknüpft und dem Strafrecht wird hier also vollkommen akzeptiert. Das
nicht mit der gesellschaftlichen Struktur, innerhalb welcher ist übrigens der Grund, warum das französische System be­
diese Biographie Gestalt angenommen hat. Kurz, sie wird sonders interessant ist: Es ist ein Vergrößerungsspiegel, der
entsoziologisiert. gestattet, das psychische Leben der strafrechtlichen Macht
so zu sehen, wie es sich in allen modernen Justizsystemen
entfaltet.

1 42 1 43
Die Zeugenaussage der psychiatrischen und psychologi­
sehen Expertentums in die Institution der Justiz dazu bei­
schen Experten ist bei einer Gerichtsverhandlung wahr­ getragen hat, die Vorstellung vom und die Behandlung des
scheinlich einer der bedeutendsten Vorgänge. Es ist die Verbrechers radikal umzuwandeln. Dieser wird nicht mehr
Sequenz, in deren Verlauf die Aufmerksamkeit am ange­ als ein einfacher »Gesetzesbrecher« begriffen, unter dem
spanntesten ist: Richter, Geschworene, Rechtsanwälte schei­ Foucault eine Person versteht, die durch ihre Handlungen,
nen sich im Glauben an die Wahrheit des Wortes des Ex­ durch das, was sie tut, definiert wird. Der psychologische
perten zu suhlen und suchen in seinen Äußerungen die Sachverstand zwingt die Idee auf, daß das Verbrechen
Erklärungen für das, was sie zu beurteilen haben, um die auch, und vielleicht sogar vor allem, die Manifestation ei­
Unstimmigkeiten, die noch rätselhaften Elemente, die un­ nes perversen Lebens ist, von abweichenden Tendenzen, von
eingestandenen Beweggründe usw. zu verstehen. Die Psych­ unmoralischen Trieben und chaotischen Neigungen, die
iater genießen diese Situation buchstäblich und setzen sich insbesondere während der Kindheit erworben werden. In­
als wichtige Personen in Szene, als diejenigen, die bei der folgedessen beschränkt es sich nicht mehr auf einen sim­
Verhandlung das Wissen und die Erkenntnis verkörpern - plen Akt der Gesetzesübertretung. Es ist ein Verhalten, das
was besonders unangenehm ist, wenn man weiß, daß ihre in einer Psychologie verwurzelt ist. Der Verbrecher wird
Zeugenaussage fast immer dazu neigt, ein beunruhigendes nicht mehr als ein normaler Mensch verstanden, der mit
Bild des Angeklagten zu zeichnen und damit zweifellos den anderen identisch ist; er wird als eine »Sonderpersön­
seine Strafe zu erhöhen. Die gesellschaftlich orchestrierte lichkeit« gedeutet. So erklärt Foucault in Die A normalen:
Verbeugung vor der Zeugenaussage des Experten ist um so »Zunächst ermöglicht es das psychiatrische Gutachten, das
beunruhigender, als auch nur ein wenig kritische Distanz vom Gesetz definierte Delikt durch eine weitere Serie von
genügt, um den pseudogelehrten Charakter dieser Zeugen­ Dingen zu doppeln, die nicht das Delikt selbst sind, durch
aussagen festzustellen, die Äußerungen, welche häufig ziem­ eine Serie von Verhaltensweisen, Seinsweisen, die selbst­
lich traurig sind, mit technischen Wörtern auskleiden, wel­ verständlich in dem Diskurs des psychiatrischen Gutach­
che dazu bestimmt sind, Leute einzuschüchtern, die weniger tens als Ursachen, Ursprung, Motivation und Ausgangs­
kultiviert sind als sie selbst. punkt des Delikts vorgebracht werden. In der Wirklichkeit
Das Bestehen einer Verschränkung zwischen der psych­ der Rechtspraxis werden sie tatsächlich die Substanz und
iatrischen Logik und der Logik des Strafrechts stand in den die strafbare Materie abgeben.«7
197oer Jahren im Zentrum der Reflexion von Michel Fou­ Die historische Bedeutung dieses Dispositivs besteht
cault. In seinen Vorlesungen am College de France Die darin, die Vorstellung vom Verbrecher und damit auch
Macht der Psychiatrie und Die A normalen und danach na­ die Bedeutung dessen, was ein Verbrechen ist, völlig neu
türlich in Überwachen und Strafen analysiert Foucault die definiert zu haben. Das Verbrechen wird zu etwas mehr
Metamorphosen des Strafrechtssystems und der Vorstel­ als einem gesetzwidrigen Verhalten. Es ist die Folge und die
lung vom Verbrecher seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Eines der Ziele, die seine Reflex ion durchziehen, besteht 7 Michel Foucault, Die Anormalen, übers. v. M. Ott und K. Hanse!,
darin zu zeigen, inwieweit das Eindringen des psychiatri- Frankfurt / M., Suhrkamp, 2003, S. 32.

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Manifestation einer Unregelmäßigkeit mit Bezug auf ethi­
ganz genauso wichtig -, daß der Verbrecher gewisserma­
sche Normen. »Kurz, das psychiatrische Gutachten macht
ßen schon vor seinem Verbrechen existiert (und letzten En­
es möglich, ein psychologisch-ethisches Doppel des De­
des außerhalb davon), wobei dieser Akt nur die letzte Mani­
likts zu erstellen. Das heißt das Vergehen, wie es im Geset ­ festation präexistierender psychologischer oder moralischer
zestext formuliert wird, aus dem Gesetz herauszunehmen,
Störungen darstellt.9
um hinter ihm sein Double auftauchen zu lassen, welches Foucault hebt hervor, inwieweit diese Psychologisierung
ihm wie ein Bruder, oder, was weiß ich, wie eine Schwester, des Bereichs der Kriminalität dazu beigetragen hat, die ei­
gleicht und aus ihm nicht mehr unbedingt ein Vergehen gentliche Funktion der Strafe und der Institution der Justiz
im gesetzlichen Sinn des Terminus macht, sondern eine zu verändern: Beide bemühen sich nicht nur, eine Tat zu
Abweichung im Hinblick auf eine geringe Anzahl von Re­ bestrafen oder eine Wiedergutmachung des Schadens durch­
geln, die physiologisch, psychologisch oder moralisch sein zusetzen. Sie fügen sich in ein Dispositiv der Betreuung
können.«8 und der Erziehung des Verbrechers ein. Denn der »Anor­
Mit anderen Worten, die Entstehung der Psychiatrie, der male« muß nicht nur im strafrechtlichen Sinn des Begriffs
Macht der Psychiatrie, hat dazu beigetragen, den durch bestraft werden. Er muß umerzogen, korrigiert, umgewan­
das Gesetz begründeten Aufteilungen eine neue Dichte zu delt werden. Die begriffliche Neufassung des Verbrechens
geben. Die Trennung zwischen dem Zulässigen und dem durch die Psychiatrie mündete somit in der Einrichtung
Unzulässigen wurde von einer ganzen Menge anderer Be­ eines neuen Typs von Macht, der sich an der Schnittstelle
deutungen doubliert. Sie unterscheidet von nun an auch des Medizinischen und des Juristischen befindet: die Macht
das Moralische vom Unmoralischen, das Normale vom der »Normalisierung« . Und diese Macht ist natürlich nicht
Anormalen usw. Das Justizsystem hat es nicht mehr mit aus heiterem Himmel oder selbständig aufgetaucht: Sie
einem » Gesetzesbrecher« zu tun, sondern mit einem »De­ stellt eine der Modalitäten der Entstehung von Disziplinen
linquenten«. Die Kriminalität wird nicht mehr von einem als moderne Techniken zur Kontrolle und Abrichtung der
rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, sondern von einem Individuen dar.
psychologisch -moralischen. Die Macht der Psychiatrie fa­ Foucault will zeigen, wie die psychologische oder psych­
briziert in diesem Sinne einen neuen Typus von Mensch, iatrische Analyse zur Konstruktion der strafrechtlichen
den Homo criminalis, der sich durch die Tatsache auszeich­ Materie beiträgt, d. h. zu dem, worauf die Strafe angewen­
net, daß es sein Leben ist, mehr als seine Tat, das für seine det wird. Die psychologische Interpretation darf nicht als
Bestimmung relevant ist. Daraus folgt nicht nur, daß es un­ eine Erklärung gesehen werden, die man den Tatsachen
mögl ich wird, ihn zu begreifen, ohne seine B iographie und gibt, sondern als eine Produktion der Tatsachen und ihres
seine Existenzweise zu kennen (man begnügt sich nicht da­ Sinnes: »Tragischer ist in der Tat, daß vom Psychiater in
mit, den Delinquenten zu fragen, was er getan hat, man be­ diesem Moment nicht die Erklärung des Verbrechens ange-
fragt ihn nach dem, wer er ist), sondern auch - und das ist
9 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, übers. v. W. Seitter,
8 Ebd., S. 34. Frankfurt/ M., Suhrkamp, i976, S. 3 24.

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boten wird: In Wirklichkeit soll die Sache selbst bestraft ken. 11 Mit anderen Worten, meiner Ansicht nach sollte »das
werden, in welche sich der Justizapparat verbeißt und auf psychiatrische Wissen« nicht, wie es Foucault tat, in erster
welche er Zugriff hat.«10 Und Foucault zufolge ist das, was Linie als ein Dispositiv gesehen werden, das eine Identität
durch die psychologische Interpretation hervorgebracht erzeugt, die das Subjekt an sich selbst bindet und es mit
wird, vor allem eine Grenze. Sie gestaltet ein Bild des Ver­ einem festen Wesen ausstattet, das seine Akte übersteigt.
brechers als »anormaler« Persönlichkeit, die zurechtge­ Vor allem ist es ein Wissen, das sich im Kriegszustand mit
rückt und normalisiert werden muß. dem soziologischen Wissen, mit der gesellschaftlichen und
Foucaults Analyse ist sehr wichtig. Es stimmt in der Tat, politischen Sichtweise befindet und das sich als Aufgabe
daß das Universum des moralischen Urteils das Strafrechts­ vornimmt, alternative Erzählungen gegenüber der sozio­
system sättigt und sogar auf recht peinliche Weise. Der Dis­ logischen Erzählung in Umlauf zu bringen, indem es be­
kurs der Psychiatrie schreibt das Verbrechen in eine Rei­ hauptet, daß das, was in der Welt geschieht, in Kräften
he von zu korrigierenden Unregelmäßigkeiten ein. Aber wurzelt, die im Innern des Subjekts wirken, und nicht in
gleichzeitig glaube ich, daß es noch eine andere parallele äußeren und kollektiven Kräften, die sich ihm aufgedrängt
Funktion der Psychiatrie gibt, die darin besteht, der Welt­ haben, wie sie sich auch uns hätten aufdrängen können.
anschauung Konsistenz zu verleihen, auf die sich das Sy­ Der psychologische Ansatz geht per definitionem davon
stem der Gerichtsbarkeit und der strafrechtliche Ansatz aus, daß das Individuum eine relevante Analyseeinheit ist.
stützen. Aus diesem Grund kann er die individualisierende Erzäh­
Die Psychiatrie zielt nicht hauptsächlich darauf ab, Anor­ lung über die Welt bestätigen, wie sie beispielsweise der
male, Abweichende, delinquente Persönlichkeiten zu pro­ Strafrechtsstaat konstruiert, und kann sich dieser Erzäh­
duzieren, wie Foucault behauptete. Ich persönlich glaube, lung auch so leicht einfügen. Um verurteilen zu können,
daß ihre Funktion vor allem darin besteht, sich an die Stelle sucht die Justiz die Ursache des Akts im Individuum. In­
jeglicher soziologischen, historischen oder politischen Er­ dem sie sich bemüht, einen Urheber und ein Verbrechen
kenntnismodalität zu setzen und diese zu blockieren. Wie miteinander in Verbindung zu bringen, bestätigt der »Psy«­
Didier Eribon gezeigt hat, gibt es nämlich eine radikale Diskurs diese staatliche Konstruktion der Welt, die die han­
Gegnerschaft zwischen dem psychologischen und dem so­ delnden Individuen isoliert und sie direkt mit dem verbin­
ziologischen Wissen, so daß die Weigerung, zur Konstruk­ det, was in der sozialen Welt geschieht.
tion einer Theorie des Subjekts auf letzteres zurückzugrei­ In einem bestimmten Sinne könnte man die Inflation
fen, notwendig dazu zwingt, sich auf ersteres zu berufen. des psychiatrischen Diskurses in der Welt der Justiz als
Die Weigerung, in Begritfen sozialer Kräfte zu denken, die eine Antwort auf die Soziologie ansehen, eine Reaktion
dem Subjekt äußerlich sind, zwingt dazu, in Begriffen von auf die Entstehung und die wachsende Öffentlichkeitswir­
inneren Trieben und individuellen Abweichungen zu den- kung dieser Disziplin. Es geht darum, die destabilisieren-

n Didier Eribon, Une morale du minoritaire, Paris, Flammarion,


10 Foucault, Die Anormalen, S. 34. Reihe »Champs«, 2015, S. 293-295.

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den Wirkungen abzuwenden, die eine solche Analytik her­ so vollziehen können, daß man das Geschehene auf gesell­
vorbringen könnte. Jedenfalls ermöglicht das den Gedan­ schaftliche und politische Umstände bezogen hätte, indem
ken, daß der radikalste kritische Diskurs über das Straf­ man von der Frage nach dem System des Eigentums, der
recht vielleicht nicht, wie Foucault glaubte, derjenige ist, Klassenverhältnisse, der Einwanderung (sein Vater war Al­
der gegen die Idee einer »Persönlichkeit« des Verbrechers gerier und seine Mutter Deutsche), des schulischen Ab­
die Reduktion desselben auf seine Akte vornimmt und sei­ stiegs, der Gewalt in der Familie etc. ausgegangen wäre.
ne Auslöschung als Mensch vorschlägt. Vielmehr ist es je­ Aber die Logik des Strafrechts will eine alternative Erzäh­
ner, der die Instrumente und Begriffe der Soziologie mobi­ lung. Sie bedarf einer solchen, um zum Leben zu erwachen,
lisiert - der ein soziologisches Verständnis des Werdegangs um in Gänze ausgeübt zu werden, um zu verurteilen. Aus
des Angeklagten, seiner Kindheit, seines Verhältnisses zur diesem Grund stellt die Aussage des psychiatrischen Ex­
Welt vorschlüge, anstatt, wie es Foucault tat, solche Begriffe perten den Schlüsselmoment der Verhandlung dar. Dieser
schlichtweg abzulehnen. wird nämlich die Persönlichkeit des Angeklagten so kon­
Ein bestimmter Prozeß hat mich besonders in diesem struieren, daß sie so erscheint, als hätte sie nur in dem Ver­
Standpunkt bestärkt: Es handelte sich um einen Raubüber­ brechen münden können, als ob das Verbrechen immer
fallsprozeß, der am Pariser Schwurgericht vom 17. bis 2i. schon da gewesen wäre, hervorgerufen durch grundlegen­
Oktober 2011 stattfand. Der 54jährige Mann wurde zweier de psychische Strukturen, die zu ihrer Korrektur eine Er­
bewaffneter Raubüberfälle und der Freiheitsberaubung in ziehung und eine Arbeit an sich selbst erfordern und die
zwei Pariser Juwelierläden angeklagt, einer im Jahr 2005, angeblich keine Beziehung zu den ökonomischen und so­
der andere 2009. Er bekannte sich zu der Tat - es gab Vi­ zialen Strukturen haben. Alles geschieht so, als ob die Hand­
deos, auf denen man ihn identifizierte. lung des Räubers nicht als Akt eines Individuums ohne
Hier sind alle Elemente einer klassischen soziologischen Geld, der nach einem Mittel sucht, leicht zu Geld zu kom­
Erklärung des Werdegangs des Angeklagten vorhanden. Er men, wahrgenommen werden sollte - oder dem eines Indi­
wurde in einer extrem armen Einwandererfamilie geboren. viduums, das sich in dieser Art von Tätigkeit gewisserma­
Er ist in Saint-Denis in Baracken ohne Wasser und Strom ßen »professionalisiert« hätte. 12 Die Arbeit des Psychiaters
aufgewachsen (die nächste Wasserstelle war 300 Meter ent­ besteht umgekehrt darin, die Raubüberfälle in eine Reihe
fernt). Er hatte vier Brüder und vier Schwestern - drei psychologischer Abweichungen einzuzeichnen, die dem
seiner Brüder sind gestorben, zwei an AIDS, der dritte an Räuber rein innerlich sind. Es ist die Gegenüberstellung
Alkoholismus. Die familiären Konflikte, die Armut, die Ent­
behrung usw. haben ihn dazu gebracht, seine Familie und
12 Edwin Sutherland hat den Begriff des Berufs und den der Lehre in
die Schule schon sehr jung zu verlassen, mit etwa 16 Jahren.
die Soziologie des abweichenden Verhaltens eingeführt. Edwin
Von da an beginnt für ihn ein Leben, das aus einem Hin Sutherland, White Collar Crime, New York, Holt, Rinehart & Win­
und Her zwischen Gefängnis, Diebstählen, Einbrüchen oder ston, 1949. Zur Wiedergabe und Analyse der verschiedenen sozia­
Raubüberfällen besteht. len Theorien abweichenden Verhaltens vgl. Albert Ogien, Sociolo­
Die Erzählung der Handlungen dieser Person hätte sich gie de la deviance, Paris, P U F, 2012.

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1 50
mit sich selbst, die die Ursache seiner widerrechtlichen einer »positiven Polarität des Habens« »organisiert«, die
Handlungen ist, und zwar unabhängig von jedem sozialen seinen Trieb zur Handlungsausführung formen würden.
Faktor. Um dieses innere Dilemma aufzulösen, begeht er Raub­
Der Experte ist recht bekannt, sein Name ist Frantz überfälle - und, so der Psychiater, treibt viel Sport.
Prosper. Er beginnt seine Aussage, indem er den Angeklag­ Der Psychiater beharrt darauf: Die kriminellen Tätigkei­
ten als einen »paradoxen Menschen« präsentiert: »Im Grun­ ten des Angeklagten ließen sich keinesfalls durch seine
de seines Wesens entspricht er nicht dem, was er zeigt.« Er wirtschaftlichen Probleme erklären. Das Dilemma zwi­
habe die »Fähigkeit, anders zu erscheinen, als er ist«. Als schen dem Mangel und dem Wunsch zu haben, das ihn
er auf die Kindheit des Angeklagten zu sprechen kommt, charakterisiert, ist rein innerlich. Der Psychiater zerstreut
hebt der Psychiater die materiellen Schwierigkeiten her­ jegliche gesellschaftliche Kausalität, um den Angeklagten
vor, denen er begegnet ist, und die extreme Armut, in der nachdrücklich in ein Dilemma einzuschließen, das streng
er gelebt hat. Diese Situation sei bei ihm in einen wahren psychologisch und innerlich ist. Seiner Ansicht nach sei
»Prekaritätswahn« und in einen »Entbehrungswahn« ge­ das wesentliche Problem dieses »Delinquenten« seine Nei­
mündet. Das ist der erste bedeutende Zug seiner Persön­ gung zur »mythomanen Selbstsuggestion«. Er verbringt
lichkeit. seine Zeit damit, sich einzureden: »Ich bin nicht der, der
Der zweite Zug sei eine Reaktion auf diesen Wahn: Der ich bin.« Er ist nie zufrieden. Er ist in einer strukturellen
Angeklagte habe eine »Phantasievorstellung vom Erfolg«. Mangelsituation. Er will immer mehr. Mit anderen \.Vor­
Er verbringe seine Zeit damit, sich anders, als er ist, vorzu­ ten, der »Mangel, den er empfindet, ist nicht wirklich. Er
stellen und anders erscheinen zu wollen. Er fertige also ein ist in seine Psyche, in seine Funktionsweise eingebettet«.
Bild von sich selbst als einer »unternehmerischen« und »dy­ Um seinen Trieb zur Straffälligkeit zu stoppen, sollte der
namischen« Persönlichkeit. Diese fungiere als »narzißtische Angeklagte folglich »an sich selbst arbeiten«, um zu lernen,
Genugtuung« und als »mythomane Selbstsuggestion« und die Wirklichkeit, in die er eingetaucht ist, nicht abzuleh­
mache aus ihm einen »Unreifen«, »fragilen« Menschen, der nen : »Er muß seine Wahrnehmung der Wirklichkeit, des­
sich nicht »mit der Wirklichkeit auseinandersetzt«, son­ sen, worin Erfolg besteht, ändern.« Der Psychiater wird so­
dern ständig versucht, sie zu »umgehen« und »ihr zu ent­ gar noch deutlicher: »Er muß sich mit dem begnügen, was
kommen«. er durch sich selbst zu erreichen in der Lage ist. [ . „] Er
Die lange Erfahrung der Straffälligkeit des Angeklagten muß lernen, demütig zu sein.« Kurz, er muß seine wirt­
erkläre sich durch eine »Spannung«. Aber diese Spannung schaftliche und soziale Situation akzeptieren, anstatt sie
ist nicht objektiv. Sie ist eine geistige Struktur, die ihn in­ im Modus des Mangels zu erleben.
nerlich durchdringt. Seine Persönlichkeit bringt nämlich Die Psychologisierung des Verbrechens und die Nega­
zwei Einstellungen in Konflikt miteinander: die Feststel­ tion der soziologischen Weltsicht sind ein und dasselbe.
lung seines sozialen Mißerfolgs einerseits und seine Phan­ Das psychiatrische Wissen entsozialisiert. Es verwandelt
tasievorstellung des Erfolgs andererseits. Der Angeklagte die gesellschaftlichen Kräfte in innere Triebe des Subjekts
sei zwischen einer »negativen Polarität des Mangels« und und leugnet die Wirksamkeit struktureller Mechanismen

1 52 1 53
(es gibt keine Enteignung, es gibt einen Mangel), es sei
denn in Form psychischer Mechanismen, die mit einer ge­
wissen Selbständigkeit versehen sind. Man könnte also in
einem gewissen Sinne sagen, daß das psychologische Wis­ 4
sen die Welt der Gesellschaft endogenisiert. Durch diesen A n d e rs rea g i e re n
Gewaltstreich macht es das System der Gerichtsbarkeit
möglich. Die Welt verschwindet nämlich darin. Alles, was
äußerlich ist, wird innerlich. Das Verbrechen ist nicht mehr Das System der Gerichtsbarkeit lehnt sich a n eine narra­
der Ausdruck einer Beziehung zur Welt, sondern die Ver­ tive Konstruktion der Wirklichkeit an, die auf einer dreifa­
äußerlichung eines Selbstverhältnisses. chen Operation beruht: enttotalisieren, biographisieren, en­
dogenisieren. Das Ziel dieser Operationen ist deutlich: ein
spezifisches Bild des Geschehens in der Welt zu erzeugen,
die Tatbestände mit besonderen Lebensgeschichten zu ver­
binden, die sozialen Kräfte, in die wir verstrickt sind, zu
verinnerlichen - kurz, die Wahrnehmung der ·welt zu ent­
politisieren. Wenn die Individualisierung der Welt einmal
vollzogen ist, öffnet sich die Bühne der Gerichtsbarkeit:
Du bist die Ursache für das, was geschieht, an dich muß
man sich wenden, um die Kränkung, die geschehen ist,
reinzuwaschen und zu verhindern, daß sich das von neu­
em ereignet, du bist schuldig, du hast schlecht gehandelt,
ich werde dich verurteilen.

Das sch öne Wort »En tschuldigung«

Natürlich weiß ich, daß man sich dem Vorwurf aussetzt,


»soziologische Entschuldigungen« für die »Verbrecher« an­
zubieten, sobald man eine soziale Kritik des Strafrechts
vorschlägt, sobald man hervorhebt, inwieweit das System
der Gerichtsbarkeit auf Operationen der Verdunkelung so­
zialer Kräfte, kollektiver Kontexte oder Strukturen beruht.
Dieser Ausdruck wirkt wie eine Vogelscheuche. Er scheint
eine Klippe zu bezeichnen, die jeden kritischen Diskurs

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der Justiz bedrohen würde, eine Falle, in die vor allem die konnte. Auch wenn sie keine Entschuldigung darstellten,
Soziologen nicht tappen dürften, wenn sie versuchen, den boten sie doch eine Erklärung für ihre Handlungen von
Werdegang von Straftätern zu verstehen oder zu erklären, i968 [das ist das Jahr der Morde] .«1 Und so weiter.
weil sie sich sonst unglaubwürdig machten. Ich verstehe zwar die rhetorische Strategie, die in dieser
Viele von denen, die über das Verbrechen schreiben, füh­ Wiederholung in Form einer Leugnung am Werk ist: Sie
len sich häufig gehalten, die Möglichkeit zurückzuweisen, zielt darauf ab, sich gegen die heftigen und boshaften An­
daß ihre Arbeit als Angebot von »Entschuldigungen« zu­ griffe zu schützen, zu denen der soziologische Ansatz An­
gunsten der Beschuldigten gelesen werden könnte. Ein Bei­ laß geben kann, wenn er ein solches Thema aufgreift. Aber
spiel für diese Obsession, »Entschuldigungen zu vermei­ man kann sich die Frage nach den Gründen stellen, aus de­
den«, hat mich in den letzten Jahren besonders berührt: der nen es unmöglich, undenkbar oder unerträglich erscheint,
Bericht der Journalistin Gitta Sereny mit dem Titel Une si den soziologischen Ansatz zu nutzen, um anders über
jolie petite fille. Dieses Buch befaßt sich mit Mary Bell, einer Handlungen nachzudenken, die die Justiz anhand des Dis­
elfjährigen Engländerin, die zwei Kinder von drei und vier positivs der individuellen Verantwortung behandelt, und
Jahren getötet hat (oder vielmehr der Tötung für schuldig um die Urteilsimpulse zu hemmen, die uns durchdringen.
befunden wurde, denn es bestehen weiterhin Zweifel an ih­ Die Untergrabung der Glaubwürdigkeit des Begriffs der
rem Grad der Beteiligung). Die Autorin war fasziniert von Entschuldigung scheint mir nämlich eine wenig verständ­
dieser Geschichte und hat beschlossen, Untersuchungen liche Einstellung zu sein. Zunächst kann man betonen,
über Mary Bell anzustellen. Sie hat lange Gespräche mit daß es nichts Undenkbares daran gibt, Entschuldigungen
ihr, ihren Nachbarn, ihren Bekannten geführt; sie hat ver­ für Individuen und ihre Taten zu finden. Schließlich ist
sucht, ihr Familienleben, ihre Kindheit, ihre Beziehungen die »Entschuldigung« ein Dispositiv, das bereits im zeitge­
zu den Nachbarn, zu ihren Freunden in der Schule, ihre nössischen Strafrecht existiert. Wie ich zu Beginn dieses
materiellen Existenzbedingungen etc. zu rekonstruieren. Teils gezeigt habe, darf man sich das Recht nicht wie ein Sy­
Nun wird diese ganze Unternehmung, die sehr notwendig stem vorstellen, dessen Wirkung einfach nur darin bestün­
und wichtig zugleich ist - das Buch ist sehr gut -, regelmä­ de, uns als für unsere Taten verantwortlich auszuweisen.
ßig unterbrochen von Proklamationen der Autorin, die Die Größe des modernen Staates und des Strafrechts liegt
wiederholt und zwanghaft versichert, daß das Buch nicht vielmehr tatsächlich in ihrer Fähigkeit, Subjekte mit feh­
so gelesen werden dürfe, daß es Mary entschuldigen wür­ lender Verantwortlichkeit zu schaffen. Der Staat akzeptiert
de. So schreibt sie auf S. 23: »Es ist wichtig, die eigene Ver­ bereits die Vorstellung der fehlenden Verantwortlichkeit be­
antwortung zu übernehmen. Nichts von dem, was Mary stimmter Subjekte oder der Minderung ihrer Verantwort­
Bell mir gesagt hat, nichts von dem, was ich hier schreiben lichkeit im Hinblick auf den Bestrafungsapparat. Man kann
werde, darf als Entschuldigung für ihre Tat interpretiert hier natürlich an die Entschuldigung der Minderjährigkeit
werden.« Auf S. 40 wiederholt sie: »Ich war schon immer denken, die die Strafen für Minderjährige verringert. Aber
davon überzeugt, daß die ersten Jahre ihres Lebens schlim­
mer waren als das, was ihre Familie mir darüber berichten 1 Gitta Sereny, Une si jolie petite fille, Paris, Plein Jour, 2014.

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das gleiche gilt, wenn der »Fortfall« oder die »Zerrüttung« mulierungen können den Eindruck erwecken, daß es sich
des Urteilsvermögens als Mittel der Verteidigung in An­ um zwei äquivalente Dispositive handelt, die beide gleich
spruch genommen werden : Diese psychologischen Stö­ künstlich sind und zwischen denen man wählen könnte.
rungen fungieren als Prinzip der Entschuldigung. Ihre In­ Aber das stimmt nicht ganz. Die sozialen Kräfte existieren.
anspruchnahme gestattet es, die Verantwortlichkeit eines Die objektiven Determinationen sind wirklich. Infolgedes­
Akteurs zu mindern und ihn sogar von jeglicher Verant­ sen leitet sich der repressive Charakter des Systems der Ge­
wortung überhaupt freizusprechen. richtsbarkeit von der Tatsache ab, daß es die Individuen
Mit anderen Worten, der Staat hat schon jetzt Systeme dazu zwingt, sich für ihre Handlungen zu verantworten ge­
der Entschuldigung eingerichtet. Mit der Folge, daß man mäß einer Logik, die gegenüber der Logik der Wirklichkeit
sich schlecht vorstellen kann, wie etwas Illegitimes an sich verschoben ist. Es gibt eine Gewaltsamkeit des Staats, die
daran sein sollte, wenn man die Anwendung einer solchen aus seiner Verneinung und seiner Leugnung der soziologi­
Kategorie fordert. Bloß scheint der Staat nur die Entschul­ schen Sichtweise der Welt stammt - so daß nichts »Groß­
digungen als gültig zu betrachten, die von Psychologen zügiges« daran ist, wenn man die Ausübung dieser ur­
und Psychiatern geliefert werden. Warum sollte es unmög­ sprünglichen Gewalt ein klein wenig aufheben will. Die
lich sein, sich dieselbe Errungenschaft für die Soziologie Handlung des Entschuldigens fällt nicht unter ein Prinzip
vorzustellen ? Warum sollte man nicht die Ergebnisse der der Großzügigkeit, sondern unter ein Prinzip der Wirk­
Soziologie nutzen, um den Begriff der strafrechtlichen Ver­ lichkeit.
antwortlichkeit komplexer zu gestalten, um anders über In ihren Analysen der Vorstellung der Kollektivschuld
die Praxis des Urteilens nachzudenken? Wäre es nicht ge­ behauptete Hannah Arendt, daß die Größe der Justiz in
rade die Rolle des Staats, eine Neuerung dieser Art zu erlau­ ihrem Gestus der Abgeschlossenheit liege, in der Tatsache,
ben? Inwiefern wäre es absurd, eine solche Möglichkeit zu daß sie die Relevanz kontextueller Elemente leugne, daß
fordern? sie jeden Wert der Berufung auf strukturelle Kräfte im Au­
Dieses Argument ist um so triftiger, als das, was im Grun­ genblick der Entwicklung von Urteilen über die Verant­
de an der Kategorie der Entschuldigung am problematisch­ wortung und Schuld ablehne: Verurteilen bedeutet, Perso­
sten erscheinen könnte, darin bestünde, daß sie dazu neigt, nen zu verurteilen unter Absehung von ihrer Umgebung.
die Berücksichtigung der sozialen Kräfte, die auf den Ak­ Aber, so könnte man erwidern, die Leugnung der Existenz
teuren lasten, als Akt der »Großzügigkeit« aufzufassen. Ist objektiver sozialer Kräfte hindert nicht daran, daß sie exi­
jedoch wirklich der Akt problematisch, der in der Suche stieren, daß sie eine Rolle gespielt haben und das auch wei­
nach Entschuldigungen besteht? Ist es nicht vielmehr je­ terhin tun. Man müßte also letztlich mit Arendt und mit
ner, der es aus Prinzip ablehnt, sich deren Möglichkeit vor­ der Art und Weise, wie sie auf diesem Gebiet die geistige
zustellen? Praxis aufgefaßt hat, recht streng ins Gericht gehen. Was
Weiter oben habe ich vom Gegensatz zwischen zwei mög­ sie als »Größe« beschreibt, könnte ebensogut als irratio­
lichen Erzählungen des Geschehens gesprochen, der indi­ nale Praxis und Gewalt begriffen werden. Worin besteht
vidualisierenden und der kollektiven Erzählung. Diese For- denn die Relevanz und Legitimität einer solchen Geste

1 58 1 59
der Leugnung, die so tut, als ob es das, was existiert, nicht
die Idee des »Kampfes gegen die Abhängigkeit vom Sozial­
gäbe? Ist es nicht merkwürdig, eine Intellektuelle wie Arendt staat« in ihr Projekt aufzunehmen. Didier Eribon erwider­
zu sehen, die gewöhnlich so fähig und so originell ist und te, daß man umgekehrt »das schöne Wort der Fürsorge«
nun gewaltsame Operationen der Mystifizierung billigt, in­ zur Geltung bringen müsse: »Es genügt, daß ich mir die
dem sie sich auf eine vorgebliche »offensichtliche Notwen­ Präsidentschaftskampagne von 2007 ins Gedächtnis zu­
digkeit« des Verurteilens beruft, ein Bedürfnis nach einer Ju­ rückrufe, wo das Glaubensbekenntnis der sozialistischen
stiz, das nie als solches in Frage gestellt wird? Die Rolle des Kandidatin von der zweiten Zeile an darauf hindeutete,
Intellektuellen besteht darin, bis zum Ende dessen zu ge­ daß man Schluß machen müsse mit der Gesellschaft >der
hen, was die Reflexion vorschreibt, anstatt sein Denken Abhängigkeit vom Sozialstaat< (was für ein scheußliches
im Namen der Bewahrung eingebürgerter sozialer Riten Wort!), damit meine damalige Wut ungebrochen wieder­
ohne Rechtfertigung plötzlich anzuhalten. Arendt hört auf aufflammte. Sollte ein Projekt der Linken sich nicht die
zu denken, wenn sie einen Gerichtssaal betritt. Nun ist es Entwicklung und Vervielfältigung der Fürsorgesysteme
aber nicht die Funktion des Theoretikers, die gesellschaft­ (welch schönes Wort ! ) als Aufgabe vornehmen ? «2
lichen Institutionen in ihrer jeweiligen Beschaffenheit um Genauso möchte ich, daß dieses Buch der Ausgangs­
jeden Preis zu bewahren. Sie besteht darin, die Analyse punkt einer Gegenoffensive im Raum der Sprache und
als Instrument zur Destabilisierung des Selbstverständ­ der Praxis sein kann: Gegen die Kritik am soziologischen
lichen zu gebrauchen. Diskurs müssen wir das schöne Wort der Entschuldigung
Vor dem Wort »Entschuldigung« und den Konsequen­ in Anspruch nehmen. Ist es schließlich keine Errungen­
zen, die es beinhaltet, braucht man keine Angst zu haben. schaft der Vernunft, wenn man es erreicht, die Möglichkeit
Man sollte sich nicht durch die Operationen einschüch­ zu akzeptieren, in bestinlmten Fällen die voreilige Zurech­
tern lassen, die daraus ein Vogelscheuchenwort gemacht nung einer Handlung zu einem Bewußtsein aufzuheben,
haben. Vielleicht könnte man sich sogar zum Ziel setzen, um die kollektiven Determinationen zu berücksichtigen,
es für uns zu übernehmen, es in Anspruch zu nehmen, es die darin verwickelt sind und deren Verlängerung sie ist?
als positiven Begriff im theoretischen und politischen Raum Hier haben wir die Vorwegnahme eines soziopolitischen
mit einer neuen Bedeutung zu versehen. Projekts, das es ermöglichen könnte, mehr Rationalität in
In einem in der Zeitung Liberation veröffentlichten Text die Praktiken des Verurteilens und des Strafens hineinzu­
hat Didier Eribon die Tatsache angesprochen, daß das fort­ bringen, um sie ihres rituellen Charakters zu entleeren, der
schrittliche Denken allzuoft die Tendenz habe, sich von sie häufig dazu führt, sich automatisch und reuelos zu Sym­
den Angriffen der konservativen Sektoren des Geistesle­ bolen hinzuwenden, um unter Verachtung der Wahrheit
bens besiegen zu lassen, was manchmal so weit geht, daß einen Impuls der Sühne und Ordnung zu befriedigen.
man deren Wahrnehmungen und Vokabular übernimmt.
Er bezog sich auf die Frage der Abhängigkeit vom Sozial­ 2 Didier Eribon, »Voyous et fantömes«, in: Liberation, 6. Dezember
staat und auf die Tatsache, daß ein Großteil der offiziellen 2009, <http: 11 www.liberation. fr I chroniques/ 2009 / 12 / 05 /voy
Linken sich seit den 198oer Jahren darangemacht habe, ous-et-fantomes_5 97405}.

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Die Konstruktion von Totalitäten
Auge fassen, der eine politische Kritik der Justiz anbietet.
In einer Vorlesung mit dem Titel »Justice et Etat« greift
Aber man geht noch nicht weit genug bei der Behauptung Sartre die Funktionsweise des Strafrechtssystems an. Er
eines soziologischen Gesichtspunkts, wenn man auf der will zeigen, daß die Richter aus Prinzip die Natur der Fälle,
Rolle der sozialen Strukturen oder der kollektiven Ge­ die man ihnen zu beurteilen gibt, ignorieren. Sie kennen sie
schichten für Handlungen beharrt und so die Wahrneh­ nicht.3
mung derselben als individuelle und die Urteilsimpulse, Sartre erwähnt den Prozeß des Aktivisten Roland Ca­
die sich davon ableiten, in Frage stellt. Wie wichtig die­ stro, der der »Gewalt gegen Staatsbeamte« angeklagt wur­
se Behauptung auch sein mag, so neigt sie doch dazu, die de. Er faßt die Situation zusammen: Um gegen den Tod
soziale Sichtweise auf die Rolle zu beschränken, die dar­ von fünf eingewanderten Arbeitern zu protestieren, die von
in besteht, der Aufteilung der Wirklichkeit, die das Dis­ mit Gas betriebenen Maschinen vergiftet wurden, die sie
positiv des Strafrechts bewerkstelligt, gewissermaßen eine benutzten, um sich zu wärmen, hatten Aktivisten und In­
neue oder zusätzliche Dichte zu geben. Die Soziologie tellektuelle (darunter Genet, Leiris, Sartre . . . ) beschlossen,
scheint gegenüber den Handlungen des Staats auf eine die Geschäftsstelle des CNPF (Conseil National du Patro­
zweitrangige Position reduziert zu sein, indem sie erst nach nat Frarn;ais, der Arbeitgeber- und Industrieverband) zu
der Erfassung der Wirklichkeit eingreift, die dieser vor­ besetzen. Diese symbolische Besetzung hatte Sartre zufol­
nimmt. ge zum Ziel, »der Öffentlichkeit die wahren Schuldigen
Nun muß uns das soziologische Denken noch tiefgrei­ an diesen Toden zu zeigen, die französische Arbeitgeber­
fender dazu führen, die staatliche Konstruktion des Wirk­ schaft« .4 Die Spezialeinsatzkräfte der Polizei (CRS) haben
lichen und die Aufteilungen, die das System der Gerichts­ ziemlich brutal eingegriffen, um sie zu vertreiben. Manche
barkeit erzeugt, zu bestreiten, unsere Wahrnehmung neu wurden verhaftet. Beim Versuch zu entkommen habe Ro­
zu konfigurieren und das, was in der Welt geschieht, anders land Castro zwei Polizeibeamte weggestoßen, daher seine
zu benennen. Die Frage, die sich für jede kritische Analyse Anklage.
der Gerichtsbarkeit notwendig stellt, wird daher zu einer Sartre geht von dieser Anekdote aus, um über die Ope­
Frage der Sichtweise: Wodurch läßt sich die Sicht des Straf­ rationen zu reflektieren, die bei der Strafjustiz am Werk
rechts ersetzen? Was könnte es bedeuten, das, was uns sind - oder besser über die Operationen, die notwendig
zustößt, anders zu verstehen und unseren Blick anders aus­ sind, damit so etwas wie die Strafjustiz überhaupt existie­
zurichten? Wie können wir eine andere Wirklichkeit er­ ren kann. Für die Richter war das Problem auf der Grund­
zeugen, das, was geschieht, in andere Geschichten einschrei­ lage der Tatsachen, die ihnen vorgelegt wurde, einfach: Hat-
ben und uns folglich auf neue Weisen darauf beziehen und
darauf reagieren?
Es ist zwar schwierig, sich vorzustellen, worin neue Prin­ 3 Jean-Paul Sartre, »Justice et Etat«, in: ders., Situations X, Paris,
zipien der Wahrnehmung bestehen könnten. Aber man Gallimard, i976.
kann es im Ausgang von einem Text Jean-Paul Sartres ins 4 Ebd., S. 69.

1 62 1 63
te Roland Castro Polizeibeamte weggestoßen oder nicht? oder ein Trunkenbold sein können, der wegen nächtlicher
Was im Laufe der Verhandlung zu der Frage zusammenge­ Ruhestörung verhaftet wurde.«5
faßt wurde: Befanden sich Polizeibeamte an der Tür des Im Gegensatz zu dieser individualisierenden Logik des
Kastenwagens, von dem Roland Castro zu fliehen versucht Strafrechts ermöglicht die Rekonstruktion des Kontexts
hatte, oder nicht? Das war die Wahrheit, die die Richter in seiner Ganzheit ein anderes Verständnis des Zusammen­
von den Zeugen verlangten: \Varen diese beiden Beamte stoßes. Was ihn ausgelöst hat, ist nicht der singuläre Wille
an jenem Ort? Castros. Es ist die Politik der Arbeitgeberschaft und ihr
Es ist die Reduktion dessen, was bei dieser möglichen Verhältnis zu den Immigranten, es ist der Tod mehrerer
Interaktion zwischen Castro und den Polizeibeamten ge­ von ihnen, es ist der Wille, gegen die Existenzbedingungen
schah, was ermöglicht, das System der Gerichtsbarkeit in zu protestieren, die ihnen aufgezwungen werden. Es ist
Gang zu setzen, dem Aktivisten eine Verantwortung in ei­ auch das Eingreifen der Spezialkräfte der Polizei, um den
ner möglichen Gewaltaffäre gegen Staatsbeamte zuzuschrei­ Sitz des CNPF zu schützen. Kurz, es ist eine politische, öko­
ben. Aber daran erkennt man gut, was die Bedingung der nomische und soziale Gesamtheit, die im Grunde für das
Möglichkeit eines solchen Systems der Gerichtsbarkeit ist, richterlich beurteilte Ereignis »verantwortlich« ist und die
nämlich die Weigerung, das Ereignis in seiner Ganzheit auf­ durch dieses Ereignis hindurch im Spiel ist. Das Individu­
zufassen. Die Rempelei zwischen Castro und den Polizeibeam­ um Castro aus diesem ganzen Komplex zu abstrahieren
ten fügt sich in einen allgemeineren Kontext ein. Zunächst heißt, eine Erzählung zu konstruieren, die entpolitisiert
der Kontext der Gewalt des Eingreifens der Spezialkräfte und entsozialisiert: »Der Richter wollte die ganze Wahrheit
gegen die Besetzer, der Sartre zufolge den Fluchtversuch über ein unendlich kleines Ereignis: Waren diese beiden
hätte rechtfertigen können. Aber vor allem wird die Frage Männer an jenem Ort? Und wir alle, wir konnten nicht ver­
nicht gestellt, warum es eine Auseinandersetzung zwischen stehen, daß man das Ereignis nicht in seiner Ganzheit ins
den Besetzern und den Polizeibeamten gegeben hat - d. h. Auge faßt, d. h. im A usgang von der Politik der Regierung
warum Aktivisten und Intellektuelle den Sitz der Arbeitge­ und der Arbeitgeberschaft. Die ganze Wahrheit über einen
berschaft besetzt haben. unendlich kleinen Augenblick zu sagen ist ein reiner Wi­
Was den Protest ausgelöst hat (dessen richterlich beur­ derspruch. Die Wahrheit entwickelt sich in der Zeit. In ei­
teiltes Ereignis nur eine weitere Deklination ist), ist die Po­ nem beschränkten Augenblick, der auf sich selbst begrenzt
litik der Arbeitgeberschaft gegenüber den Immigranten, ist, gibt es keine Wahrheit. Aber wenn man die Wahrheit
die Art und Weise, wie die Arbeitgeber sie mit der Mitwis­ wiederhergestellt und vom Tod dieser schwarzen Arbeiter
serschaft der Regierung behandeln. Nun wird dieses Da­ und der Besetzung des CNPF gesprochen hätte, wäre der
tum aber von der Justiz völlig ignoriert. Der Kontext des Prozeß ein politischer gewesen, was weder die Regierung
Zusammenstoßes wird aus Prinzip geleugnet: »Das Pro­ noch ihr Vertreter, der Staatsanwalt, noch der Richter woll-
blem wird ganz einfach: Gab es draußen Polizeibeamte
oder nicht [ . . ] und hatte Castro sie beim Aussteigen weg­
.

gestoßen? Dieser Aktivist hätte durchaus auch ein Dieb 5 Ebd., S. 70.

1 64 1 65
ten. Infolgedessen - diese Schlußfolgerung drängt sich zieht und dazu zwingt, den Akt in eine andere narrative
auf - wurde Castro verurteilt.«6 Folge, eine andere Geschichte einzuzeichnen.
Sartres Überlegung steht in einem politischen Kontext Die rechtliche Konstruktion schneidet Handlungen her­
und im Rahmen einer Reflexion über politische Prozesse. aus. Sie definiert sie und erfaßt sie unabhängig von der Si­
Er will zeigen, daß die bürgerliche Justiz sich an der Auf­ tuation, in der sie sich abspielen, und zwingt ihnen eine
rechterhaltung des Systems des Kapitalismus und der Aus­ andere Bedeutung als die auf, die die Akteure ihr geben
beutung beteiligt, indem sie politische Ereignisse so behan­ könnten. Die Akte, die den Verwaltungsbeamten vorgelegt
delt, als handle es sich um Straftaten des Gemeinrechts. und dann beurteilt werden, werden also insofern beurteilt,
Die Justiz leugnet den Impetus dieser Ereignisse, ihre Be­ als sie von jedem wirklichen Sinn entbunden sind.
deutung für den Protest und verhindert folglich die Be­ Wo die Justiz einen Zusammenstoß zwischen einem Ak­
wußtwerdung. Sie verhält sich so, daß sie die Protestde­ tivisten und einem Polizeibeamten sieht, erkennt Sartre
monstrationen gegen die Handlungen des Staats nicht als die Entfaltung eines Kampfes gegen die Behandlung, die
politische anerkennt, indem sie Kategorien des Gemein­ vom Staat und der Arbeitgeberschaft den Fremdarbeitern
rechts zu ihrer Behandlung verwendet, weil das Akzeptie­ vorbehalten wird. Der Sichtweise des Strafrechts setzt Sar­
ren des politischen Charakters dieser Demonstrationen tre eine politische Sicht der Ganzheiten entgegen. Mit an­
darauf hinausliefe, die Existenz einer Alternative zum libe­ deren Worten, es geht hier keineswegs darum, die Hand­
ralen System einzugestehen. lungen Castros soziologisch zu erklären, die sozialen Kräfte
Jedenfalls ist die Absicht Sartres weit davon entfernt, auf zu suchen, die gestatten würden zu verstehen, was ihn da­
diesen Kontext reduzierbar zu sein, und er stellt, wie mir zu geführt hat, das zu tun, was er getan hat. In Begriffen
scheint, wesentliche Fragen. Seine Analyse ist aufgrund sei­ von Ganzheiten zu denken bedeutet, die strafrechtliche
nes Erfindungsreichtums und seiner Radikalität das ge­ Konstruktion der Wirklichkeit abzulehnen, um das, was ge­
naue Gegenteil des Ansatzes von Hannah Arendt, den ich schehen ist, die Bedeutung, die dieses Geschehen annimmt,
weiter oben erwähnt habe. Sartre zeigt, inwieweit die Lo­ und die Erzählung, in die es sich einfügt, anders zu denken.
gik des Strafrechts abstrakt und künstlich ist und inwie­
weit sie im Gegensatz zu einer politischen und sozialen
Sichtweise der Welt steht: Sie stellt eine »Wahrheit« dar, Geschichte der Gewalt
sie isoliert Elemente, sie sucht nach Präzedenzfällen, aber
sie erfüllt all diese Aufgaben im Ausgang von einer Verken­ Zwischen dem 31. Oktober und dem 7. November 2011 fand
nung der Ganzheit der Situation, die sie vorgeblich zur am Schwurgericht von Paris ein Prozeß statt, der genau
Kenntnis nimmt. Es geschieht etwas anderes als das, was diese Art von Frage aufwarf. Drei Inder - auch hier Ob­
der Richter sieht und herausschneidet: Es gibt eine Logik dachlose - wurden wegen Mordes und versuchten Mordes
der Ganzheiten, die sich dem strafrechtlichen Blick ent- vorgeladen.
Der ganze Prozeß bestand darin, daß man folgende Fra­
6 Ebd., S. 70-71. gen gestellt hat: Was war vor drei Jahren an der Porte de

1 66 1 67
Montreuil geschehen? Für den Vorsitzenden des Gerichts, die Justiz zur Kenntnis nimmt, materialisiert? Die Konstruk­
die Rechtsanwälte und den Staatsanwalt waren der Sinn tion des Strafrechts isoliert diese Szene und sucht nach
dieser Frage und die möglichen Antworten selbstverständ­ einer Kategorie, durch die sie charakterisiert werden kann:
lich. Es ging darum, sich die Frage zu stellen, ob man es mit Sie führt ein System von Problematisierungen ein, das zu
einem Totschlag, einem Mord oder Raubmord zu tun habe, der Frage führt, ob es sich um einen Mord, Raubmord oder
wie der Untersuchungsrichter erklärte. Gab es Ressenti­ Totschlag handelt, was die Absichten des Beschuldigten wa­
ments zwischen den Protagonisten, Schuldenprobleme oder ren, die Eigenart ihrer wechselseitigen Bekanntschaft . . .
Eifersucht? Kannten sie sich gut? Oder war es ganz einfach Aber die Soziologie entwickelt eine andere Wahrnehmung.
eine Schlägerei zwischen Pennern, die einen unglücklichen Sie führt dazu, daß man diese Schlägerei als Verkörperung
Verlauf genommen hatte? Und dann natürlich: Wer hat oder gar Ausdruck einer Totalität zu einer bestimmten Zeit
die Schläge ausgeteilt? Mit welcher Stärke? Waren sie be­ problematisiert, bei der die Mechanismen der ökonomi­
waffnet auf der Szene erschienen ? schen Enteignung, des sozialen Elends, des Fehlens eines
Am Ende der viertägigen Debatte stellte sich heraus, daß Dachs über dem Kopf, der gegenseitigen Abhängigkeit, der
die Charakterisierung der Tatsachen, für die die Angeklag­ nicht gewollten Nähe usw. am Werk sind. Was man in die­
ten an das Gericht überwiesen wurden, extravagant war. sen »willkürlichen schweren Gewalttaten, die ohne Absicht
Einer von ihnen wurde freigesprochen, und die beiden an­ zum Tod geführt haben«, sehen sollte, ist die Form, die ei­
deren wurden wegen schwerer willkürlicher Gewalt, die ne allgemeinere Geschichte der Gewalt annimmt (um den
ohne Absicht zum Tod geführt hat, verurteilt. Titel des Romans von Edouard Louis aufzunehmen, der
Dieser Fall spielte sich in einem besonderen Milieu ab: zeigt, wie die verschlossenen Türen, hinter denen sich Dieb­
dem der Verkäufer heißer Kastanien, die sich im Winter stahl, Vergewaltigung und Mordversuche abspielen, eine
in Paris verteilen, vor allem an den Ausgängen der Metro. Bühne darstellen, auf der sich die Geschichte der Migra­
Die Schlägerei, die zum Tod eines Mannes geführt hat, tion, der Ungleichheiten zwischen den Klassen, der Sozia­
war Teil dieses ganz spezifischen Universums, das fast aus­ lisierung in der Kindheit etc. entfalten und andere Formen
schließlich aus Männern besteht, die zum größten Teil in­ der allgemeineren Logiken annehmen).7 Eine politische Les­
dischen Ursprungs sind, die zusammen unter den Brücken art der Totalitäten vorzuschlagen bedeutet, eine Beobach­
schlafen und jeden Abend exzessiv trinken (bis zu fünf Fla­ tungssprache in Anschlag zu bringen, die das, was das
schen pro Person). Im Laufe der Verhandlungen konnte Strafrechtssystem auf eine Schlägerei zwischen Pennern re­
man auch die Tiefe der Abhängigkeitsbeziehungen verste­ duziert und auffaßt, anders bezeichnet: Dadurch wird die
hen, die diese Männer miteinander vereinten: Einige von Wirklichkeit nicht nur soziologisch erklärt. Dadurch wird
ihnen vermieten die Einkaufswagen und Grills an die an­ eine andere Wirklichkeit konstruiert und das, was ge­
deren, die sie brauchen, garantieren ihren Standort, liefern schieht, anders benannt: Dort, wo der Strafrechtsstaat ei-
die Kastanien im Tausch für einen Teil der Tageseinnah­
men usw. 7 Edouard Louis, Histoire de la violet1ce, Paris, Seuil, 2016; dt.: Im
Welche Sequenz wird nun also von der Schlägerei, die Herzen der Gewalt, Frankfurt/M., S. Fischer, 2017.

1 68 1 69
nen Mord »sieht«, müssen wir die Gewalt des prekären Le­ zieht das System der Gerichtsbarkeit Ablenkungsoperatio­
bens sehen, die Gewalt der Auswanderung/ Einwanderung, nen, die dazu dienen, unsere Aufmerksamkeit von den so­
die Gewalt der männlichen Geselligkeit, die Gewalt des zialen Logiken abzuwenden, aus denen sich unsere singulä­
Staats, die Gewalt des wirtschaftlichen Abstiegs. ren Handlungen ergeben - um diese Logiken dadurch gegen
Kritik zu immunisieren.
Die Idee, der zufolge der Bestrafungsapparat eine Funk­
Was die Soziologie vermag tion der Aufrechterhaltung der Ordnung erfüllt, wurde
von Michel Foucault entwickelt. Seiner Ansicht nach zielt
Das System der Gerichtsbarkeit und des Strafrechts muß das Strafrechtssystem darauf ab, die Bedrohung durch auf­
als ein Dispositiv und eine Machtpraxis verstanden wer­ rührerische Massen, Proteste, die von unten kommen, zu
den, die sich in eine allgemeinere politische Ökonomie ein­ bannen. Es hat sich im Rahmen des Kampfes gegen Volks­
fügen. Die Art und Weise, wie es sich der Wirklichkeit be­ aufstände gebildet, um die Kontrolle des Schlachtgetüm­
mächtigt und die Probleme konstruiert, formt unseren mels zu ermöglichen: Es überwacht, es unterdrückt den
Blick und unser Verhältnis zu dem, was geschieht. Allein kleinsten Aufruhr, es sperrt die aufwieglerischsten Perso­
schon seine Existenz billigt und verfestigt eine Wahrneh­ nen ein, die dadurch der beherrschten Gruppe entzogen
mung, die uns dazu führt, wenn ein Ereignis - eine Aggres­ werden, es erzeugt ein Milieu von Straftaten, das es von
sion, ein Diebstahl etc. - stattfindet, dessen Ursache einem der Politik abwendet, es schärft die Bereitschaft zur Gefü­
Individuum zuzuschreiben. Infolgedessen genügt es, die­ gigkeit ein, es spaltet die Volksklassen in Verbrecher und
ses Individuum zu bestrafen, es zu unterdrücken, damit ehrliche Arbeiter. Das Strafrechtssystem sollte also nicht
das Ereignis abgeschlossen ist und man das Gefühl hat, in erster Linie als Antwort auf die Kriminalität verstanden
die - wie man sagt - entsprechenden Konsequenzen aus werden. Vor allem bildet es einen »Schutz vor Aufruhr« in
ihm gezogen zu haben. der Gesellschaft : »Das Paar Strafrechtssystem-Delinquenz
Mir scheint, daß man die Bedeutung eines solchen Sy­ ist eine Folge des Paares Repressionssystem-Aufrührer.«8
stems auf zwei verschiedene Weisen verstehen kann, die Persönlich war ich nie besonders überzeugt von dieser
wahrscheinlich alle beide wahr sind und sich gegenseitig Rhetorik, die von dem Hirngespinst eines Volksaufstands
ergänzen. Zunächst kann man sagen, daß der Strafrechts­ geplagt wird, der immer schon da ist und den zu zerschla­
staat uns der Fähigkeit zur Politisierung enteignet. Er schärft gen, zu verzögern, zu zerstören die Macht sich bemühen
uns die Bereitschaft ein, die Szenen, die sich in der Welt er­ würde. Aber es stimmt, daß man gleichzeitig auf einer an­
eignen, als lokal und in biographischen Werdegängen ver­ deren Ebene die Strafjustiz als ein Dispositiv beschreiben
ankert zu betrachten und sie so aus historischen Mechanis­ kann, das Kämpfe verhindert und die Erhaltung der Ord­
men herauszulösen, von denen sie nicht nur bedingt und nung begünstigt. Dennoch wird diese Wirkung eher durch
verursacht werden, sondern deren Verkörperungen und
Manifestationen sie in einem bestimmten Moment tatsäch­ 8 Michel Foucault, 71uiories et institutions pena/es. Cours au College
lich sind - und das ist noch wichtiger. In diesem Sinne voll- de France, i97J-J972, Paris, Gallimard-Seuil, 2015, S. 102.

1 70 171
einen Eingriff auf der Ebene der Vorstellungen vermittelt: wöhnlichen Denkweisen verkörpert. Die Soziologie löst
Das System der Gerichtsbarkeit ist ein System der Entpoli­ die Erzählung auf, die die staatliche und juristische Kon­
tisierung; es schärft Kategorien ein - oder unterstützt struktion der Welt stützt, und schlägt eine andere vor. Aus
einen Wahrnehmungsrahmen -, die die Politisierung des­ diesem Grund beinhaltet sie eine virtuelle Macht zur De­
sen, was uns geschieht, verbieten, unsere Aufmerksamkeit stabilisierung des Strafrechtsgebäudes. Die soziologische
von den Strukturen abwenden und infolgedessen die Fä­ Sichtweise könnte somit das Instrument für die Befreiung
higkeiten zur Problematisierung, zur Mobilisierung und gegenüber der Rechtsordnung, gegenüber dem System der
zum Protest beeinträchtigen. Unser Blick wird zu den In­ individuellen Verantwortung sein.
dividuen hingezogen - und dadurch werden wir dazu ge­ Die Frage, die sich für uns stellt, besteht darin, über die
bracht, Verurteilungs- und Vergeltungsimpulse zu empfin­ Möglichkeit der Erzeugung neuer Erzählungen nachzu­
den. denken. Es geht darum, das Geschehen mit neuen Bedeu­
Aber vielleicht könnte man die Bedeutung der Straf­ tungen zu versehen, um neue Protokolle der Wirklichkeit
rechtsmaschinerie auch ganz anders auffassen und sich auszuarbeiten, die uns dazu führen würden, die Ursache
vorstellen, daß es gerade das Ziel ihrer Existenz ist, uns des Geschehens nicht Akteuren in ihrer Individualität zu­
diese entpolitisierende Betrachtung der Welt zu ermögli­ zuweisen, sondern v ielmehr kollektiven Logiken zuzurech­
chen. Mit ihr und durch sie geben wir uns die Mittel an nen, die in konkreten Situationen verwurzelt sind. Es wür­
die Hand, uns aus dem Geschehen herauszustehlen, die de darum gehen, unsere Verurteilungsimpulse in Frage zu
Konsequenzen daraus nicht zu ziehen. Die Funktion eines stellen, unsere Energie auf die Umwandlung politischer To­
solchen Dispositivs bestünde also darin, uns die Möglich­ talitäten auszurichten anstatt auf die Unterdrückung indi­
keit zu geben, eben kein Gefühl der Betroffenheit zu emp­ vidueller Handlungen, die nur deren zufällige und lokale
finden, wenn etwas geschieht, uns nicht tangiert und zum Manifestation sind. Was würde es bedeuten, aus den Op­
Handeln aufgerufen zu fühlen, um die Dinge zu ändern - fern nicht Kläger, sondern Aufständische zu machen ?
und dadurch der bedin gungslosen Verantwortung zu ent­ Das Projekt, kollektive Logiken zu rekonstruieren, an­
gehen, die jeden Augenblick über uns hereinzubrechen statt verantwortliche Individuen zu identifizieren, stellt eine
droht, wenn wir eine soziologische Weltsicht zu Lasten ethische Aufgabe dar. Es verlangt eine Rekonfiguration un­
einer individualisierenden Weltsicht einnehmen.9 serer Erfahrung und insbesondere unseres Verhältnisses
Vielleicht ist man im Hinblick darauf, was die Soziologie zur Politik. Wir sind nämlich, wie mir scheint, zu wenig
vermag, nie bis zum Ende gegangen. Vielleicht hat man sensibel für das, was unser Gebrauch des politischen Voka­
nie empfunden, inwieweit sie einen Bruch mit unseren ge- bulars verrät, besonders dann, wenn wir einen Begriff wie
»Politisierung« verwenden: 'Wir stellen uns die Einnahme
eines politischen Gesichtspunkts auf uns selbst oder auf
9 Über die Idee einer bedingungslosen Verantwortung für das, was
die Ereignisse und den Entwurf einer politischen Hand­
in der Welt geschieht, und deren Verbindung mit der Betroffen­
lung immer wie etwas vor, das danach kommt, eine Errun­
heit und mit dem Einbrechen des anderen vgl. Judith Butler,
A m Scheideweg, übers. v. R Ansen, Frankfurt / M., Camp us, 2013. genschaft oder eine Anstrengung oder eine Bemühung

1 72 1 73
gegenüber unseren ersten Wahrnehmungen und unserem
gesunden Menschenverstand. Nun ist eine solche Situation
aber weder selbstverständlich noch notwendig. Sie ist das Vierter Tei l
Ergebnis dessen, daß wir Teil eines Dispositivs der Macht
sind, das uns entpolitisierende Wahrnehmungskategorien Das Bestrafu n g ssystem
einschärft. Wenn die Politik unsererseits eine Bemühung
um Politisierung voraussetzt, ist das dann nicht der Beweis
dafür, daß wir ein nichtpolitisches Verhältnis zur Welt un­
terhalten? Die Soziologie würde uns zwingen, mit einer
solchen Einstellung zu brechen, um das zu empfinden, was
man ein unmittelbar politisches Verhältnis zur Welt nen­
nen könnte.
Die Konsequenzen wären viel weitreichender, als wir
uns vorstellen können.

1 74
1
A n kl a g e n u nd strafen

Neutralität

Wenn man sich eine Institution wie die Justiz zum Gegen­
stand nimmt, erscheint eine Gesamtheit von Begriffen, von
Problemen, von Bildern, die uns durchdringt und umgibt
und die sehr weitgehend die Form möglicher Untersu­
chungen vorschreibt. Die Kultur ist ein durch Vorstellun­
gen sedimentierter Raum, in dem sich unser Blick und un­
sere Sicht der Welt konstituieren. Sprachen bemächtigen
sich unser, drängen sich uns auf und haben eine vorbestim­
mende Wirkung bis hin zu den Modi, anhand deren sich
die Perspektiven entwickeln, die sich als kritische darstel­
len - und sei es nur, dass sie sich als kritische bezeichnen.
In unseren Vorstellungswelten ist wie in der politischen
oder theoretischen Reflexion die Frage nach der Justiz
nicht nur mit den Problemen der Gerichtsbarkeit, der Ver­
antwortung oder der Zurechnung von Handlungen ver­
bunden. Sie ist auch stark mit der Problematik der Unpar­
teilichkeit und der Unabhängigkeit verknüpft, mit dem
Streben nach etwas, das sich in den Horizont der Neutrali­
tät, der Universalität, der Objektivität - mit einem Wort,
des Gerechten - einzeichnen würde. Die Idee des Rechts
verweist auf die Errichtung einer Ordnung, deren Beru­
fung darin besteht, gerecht zu sein, d. h. transzendent im
Hinblick auf den Bereich des Sozialen und nicht reduzier­
bar auf diesen Bereich. Die Form des Gerichts gründet sich
auf den Ehrgeiz, das Gesetz neutral und objektiv anzuwen-

1 77
den, Konflikte, die ohne sie willkürlich, unlauter, ungleich, festgelegt ist, daß es nach der Ermittlung durch Anhörung
nur in Abhängigkeit von Verhältnissen der Stärke, der Herr­ der beiden Parteien gemäß einer bestimmten Wahrheits­
schaft, von Partikularinteressen etc. ablaufen würden, ra­ norm und einer gewissen Anzahl von Vorstellungen über
tional zu lösen. das Gerechte und das Ungerechte begründet werden wird,
In Esquisse d'une phenomenologie du droit hebt Alexan­ und drittens, dass ihre Entscheidung Befehlskraft haben
dre Kojeve die Tatsache hervor, daß der Begriff des Rechts wird.«2
voraussetzt, daß eine Instanz eingesetzt wird, die die Rolle Die Idee einer Macht, die die miteinander streitenden
eines Dritten gegenüber den Streitparteien und gegenüber Kräfte aussetzt und universell geteilte Kategorien oder Nor­
dem Bereich der Macht spielt. 1 Der Begriff des Gesetzes, men des »Gerechten« und des »Wahren« verwendet, die
der Rechtsordnung hat nur dann Sinn und Geltung, wenn folglich weder partikular noch willkürlich sind, begründet
er sich auf ein Dispositiv bezieht, dessen Funktion darin das moderne Strafrechtssystem. Diese Vorstellung ist so
besteht, die Kriege und Sonderkonflikte zu stoppen und mächtig, daß sie sich sogar in die soziale Geographie und
sie zu schlichten. Das Justizsystem erscheint wie eine äu­ die städtische Topographie einschreibt. Die Zentralität und
ßere, spezifische Instanz, die nicht in die privaten Sozial­ Überlegenheit, die der gerichtliche Raum verkörpern soll,
sphären verstrickt ist und ihnen gegenüber die Rolle eines manifestieren sich in der Art und Weise, wie beispielsweise
Schiedsrichters spielt. in Frankreich bis in die jüngste Zeit die Justizpaläste ge­
Man kann weder das moderne Dispositiv des Rechts baut und entworfen wurden. Der gerichtliche Raum stellt
noch die Bühne des Gerichts verstehen, ohne auf diesen sich als ein »Zentrum vor, das den profanen Raum ordnet«,
Anspruch auf Unparteilichkeit Bezug zu nehmen. So unter­ schreibt der Historiker Frederic Chauvaud in seinem Werk
streicht Michel Foucault in einem Gespräch über die Justiz, über das Schwurgericht. Mit der Folge, daß die Justizpalä­
daß die Ideologie der Neutralität in der räumlichen Anord­ ste » in der Stadt abgetrennte Räume sind, die häufig von
nung der Form des Gerichts durchscheint und sie erklärt einem Gitter umgeben und in die Höhe gebaut sind«. Dar­
(Foucault glaubt zwar nicht an die Wirklichkeit dieses An­ über hinaus »befindet sich die Eingangstür eines ]ustiz­
spruchs, aber er präzisiert dennoch, daß er es ist, der die palasts nie auf derselben Höhe wie die Straße«.3
Form und Organisation des Gerichts ermöglicht). Wie sind
nämlich die Gerichtssäle eingerichtet? »Ein Tisch; hinter
diesem Tisch, der sie auf Distanz von den beiden Prozess­
parteien hält, die Dritten, nämlich die Richter.« Diese Po­
sition soll zunächst die Vorstellung aufdrängen, daß die 2 Michel Foucault, »Sur la justice populaire«, in: ders„ Dits et Ecrits,
Bd. i, Paris, Gallimard, 1994, S. 1213-12.14; dt.: »über die Volksju­
Richter gegenüber den Prozeßbeteiligten neutral sind; zwei­
stiz« , übers. v. H.-D. Gondek, in: ders„ Dits et Ecrits. Schriften
tens »impliziert [sie], daß ihr Urteil nicht von vornherein in vier Bänden, Bd. 2, Frankfurt/ M„ Suhrkamp. 2002, S. 432.
3 Frederic Chauvaud, La Chair des pretoires. Histoire sensible de la
1 Alexandre Koj eve, Esquisse d'une phenomen ologie du droit, Paris, cour d'assises. 1881 -1932, Rennes, Presses universitaires de Rennes,
Gallimard, 2007. 2010, S. 39, meine Hervorhebung.

1 78 1 79
Oie kritisch e Theorie des Rechts
um ihre objektive Beteiligung an der Reproduktion und Le­
gitimation der Kräfteverhältnisse zu beweisen, die in der
Die Wahrnehmung der Justiz als Institution, die in ihrer gesellschaftlichen Welt am Werk sind. Das Gesetz und das
offiziellen Definition darauf abzielt, den Ort der Neutrali­ Gericht stellen keine Instanzen dar, die außerhalb der Ge­
tät, der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit zu ver­ sellschaft und außerhalb ihrer Einsätze angesiedelt wären.
körpern, bestimmt sehr weitgehend den Raum der Debat­ Im Gegenteil stellen sie Orte dar, an denen sich Taktiken
ten über die Frage nach dem Recht und dem Strafrecht. der Herrschaft und der Reproduktion der Herrschaft ent­
Sie erklärt - und das interessiert mich hier besonders - falten.
die Form dessen, was seit Marx die kritische Theorie des Die Kritik der Justiz hat somit eine bestimmte Weise der
Rechts darstellt: Diese setzt sich beinahe ausschließlich Charakterisierung dessen geformt, was man die »Gewalt«
zum Ziel, einzuschätzen, in welchem Maße das Strafrechts­ des Rechts nennen könnte. Sie würde hauptsächlich in ih­
system mit seinen Ambitionen und Ansprüchen überein­ rer Parteilichkeit und ihrem Partikularismus wurzeln, in
stimmt. Was bedeutet, daß die Position der Kritik gegen­ der Art und Weise, wie die universalen Prinzipien, die sie
über dem Staat mehrdeutig ist, da sie sich sehr häufig in eigentlich begründen sollen, in Wirklichkeit zugunsten des
eine reaktive Position zu begeben und aus der Ambition Fortbestands und der Legitimation von Herrschaftssyste­
zu entstehen scheint, das, was der Staat als wahr setzt, zu men wirken: die Justiz als Klassenjustiz, Instrument der Un­
dekonstruieren. Daher rührt die Schwierigkeit, sich vorzu­ terwerfung, der Minorisierung, des Ausschlusses, der Dis­
stellen, was eine erfinderische Kritik sein könnte. kriminierung, der Abschiebung. Diese Wörter und Begriffe
In der Vielzahl der Diskurse, die die Kritik des Rechts stellen die strukturierenden Elemente jedes Ansatzes dar,
betreffen, sind eine geteilte Ambition und eine gemeinsa­ der das Recht zum Gegenstand nimmt und sich als Kritik
me Absicht am Werk: die Werte der Neutralität, Überlegen­ definiert, sei es bei Marx, Althusser oder auch Bourdieu.
heit und Universalität zu dekonstruieren, auf denen ver­ Als typische Illustration der klassischen Modalität der
meintlich das Strafrechtssystem beruht, und ihre Relevanz Justizkritik möchte ich jenen Artikel zitieren, in dem Sar­
zu verwerfen. Die rechtlich-politische Ordnung zu kriti­ tre sich mit den Beziehungen zwischen Justiz und Staat
sieren besteht darin, die Justiz wieder in die Kräftever­ auseinandersetzt, während ein Strafverfahren gegen ihn ein­
hältnisse einzuzeichnen, das Gesetz in die Auseinanderset­ geleitet wird wegen Verunglimpfung der Polizei.Was bedeu­
zungen wiedereinzubinden, von denen es sich angeblich tet es für ihn, das System der Gerichtsbarkeit in Frage zu
befreit hat, den Staat als Akteur und Beteiligten an den so­ stellen? Welchen Modus der Kritik benutzt er spontan? Sei­
zialen Auseinandersetzungen neu zu charakterisieren und ne Analyse besteht darin, dem Dispositiv des Strafrechts die
ihm dadurch die Rolle eines gerechten Schiedsrichters zu Charakterisierung als universelle und egalitäre Institution
bestreiten. zu bestreiten, um es als Klassenveranstaltung zu bezeich­
Die Aufgabe der Kritik in ihrem Verhältnis zur Rechts­ nen.
und Staatsordnung besteht darin, die Gründungsmythen Sartre konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die ideo­
zu verwerfen (Transzendenz, Allgemeinheit, Neutralität etc.), logische Ausbildung der Richter. Er will zeigen, wie diese

1 80 1 81
jegliche Unparteilichkeit ihrerseits unmöglich macht: »Der Justiz zeigt deren Abhängigkeit von den Werten und der
Richter ist ganz allgemein ein Bourgeois, Sohn eines Bour­ Ideologie der herrschenden Klasse und damit ihre Beteili­
geois, der vom zartesten Alter an eine elitäre Ausbildung gung am Fortbestand der Herrschaft. Was zu der Untersu­
genossen hat. Er wurde einer selektiven Unterweisung un­ chung der Frage führt, auf welchen Grundlagen man eine
terzogen, er hat bei bestimmten Wettbewerben triumphiert, andere Justiz begründen könnte, eine »Justiz des Volkes«,
er ist also zugleich ein Produkt der Selektion und ein die sich in die Richtung der Interessen der Beherrschten
Mann, der im Hinblick auf seine Ideologie, seinen Charak­ bewegen würde.
ter und seinen Beruf ausgewählt wurde. Montesquieu woll­ Obwohl die Vokabulare verschieden und die Ansätze
te, daß die Angeklagten durch ihresgleichen im vollsten unvergleichbar sind, ist das dieselbe Perspektive, die Fou­
Sinne des Begriffs gerichtet werden sollten. Man sieht wohl cault in seinen Schriften über das Strafrecht, die Macht
ein, daß das unmöglich ist: Hervorgegangen aus einer Se­ und den Staat einnimmt. Auch er wollte zeigen, wie die for­
lektion, deren Ursprung die Seltenheit ist und die die bür­ malen Rechte und die Dispositive des Strafrechts Teil des
gerliche Idee verbreitet, daß die schönen Dinge selten sind, Krieges sind, den sich die verschiedenen Gruppen liefern:
meint der Richter, daß er seine Macht aufgrund seiner Sel­ Sie sind viel mehr Produkte dieses Kriegs, als sie sich, wie
tenheit selbst verdient. Er ist ein wichtiges Mitglied der sie vorgeben, jenseits davon ansiedeln. In Die Strafgesell­
bürgerlichen Hierarchie, und die Angeklagten, die er ver­ schaft sagt Foucault daher ausdrück.lieh, daß sein Ansatz
urteilt, erscheinen ihm als unter ihm stehend. Foucault be­ gegen die politische Philosophie darin bestehe, den Begriff
merkte, daß die topographische Analyse eines Gerichts, die des Bürgerkriegs ins Zentrum der Analyse zu stellen. Eine
Kanzel, die den Vorsitzenden von den Angeklagten und Untersuchung des Strafrechts muß den Begriff des Bürger­
den Zeugen trennt, der Höhenunterschied, der zwischen kriegs, der Kämpfe im Innern einer Gesellschaft, zum Aus­
dem einen und den anderen besteht, genügt, um zu kenn­ gangspunkt nehmen. »Ich möchte sagen, wenn man die
zeichnen, daß der Richter ein anderes Wesen besitzt. Was Analyse eines Strafsystems vornehmen möchte, ist das, was
auch immer seine Unparteilichkeit sein mag, er wird jene, es zuerst herauszuarbeiten gilt, die Beschaffenheit der Kämp­
die der Gerichtsbarkeit unterworfen sind, als Objekte be­ fe, die in einer Gesellschaft rund um die Macht stattfin­
handeln und nicht versuchen, die subjektiven Motive ihrer den.«5
Handlungen zu erkennen, wie sie jedem von ihnen erschei­ Foucaults Vorgehensweise nimmt die Analytik, die den
nen mögen. [ . ] Diese Bemerkungen beziehen sich nicht
. .
kritischen Ansatz gegenüber dem Recht bestimmt, wieder
nur auf die Gegenwart. Ihr Zweck ist zu zeigen, welche auf und radikalisiert ihn : die Tatsache hervorzuheben, daß
Art von Unparteilichkeit ich vom Richter erwarten darf. das Gesetz eine der Modalitäten darstellt, in denen sich
Sagen wir, daß es sich um eine Klassenunparteilichkeit han­ der gesellschaftliche Krieg abspielt. Wie Deleuze schreibt:
delt, was auch natürlich ist, da ich ja vor der bürgerlichen Ju­
stiz erscheinen werde. «4 Diese Art von Infragestellung der 5 Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am College de
Fmnce 1972-1973, übers. v. A. Hemminger, Berlin, Suhrkamp,

4 Sartre, »}ustice et .ftat«, S. 65·66, meine Hervorhebung. 2015 , s. 28.

1 83
1 82
»Foucault zeigt, daß das Gesetz sowenig ein Friedenszu­ Die inneren Gegensätze der kritischen Tradition beziehen
stand wie das Resultat eines gewonnenen Krieges ist: es sich auf die Modalitäten dieser Gewalt und auf das Wesen
ist der Krieg selbst, die Strategie dieses aktuell stattfinden­ des gesellschaftlichen Kriegs. In jüngster Zeit betrafen die
den Kriegs, genauso wie die Macht kein erworbener Besitz wichtigsten Debatten die Frage, ob es die Universalität
der herrschenden Klasse, sondern die aktuelle Anwendung des Rechts selbst ist, die es dazu verurteilt, die Ungleichhei­
ihrer Strategie ist.((6 Die Begriffe der Neutralität, der Un­ ten zu reproduzieren, oder ob es im Gegenteil das Fehlen
parteilichkeit, der gemeinsamen Normen stellen Instrumen­ der Universalität ist, nämlich die differenzierten und dis­
te dar, die Teil einer politischen Praxis sind: »Alle diese kriminierenden Praktiken, die trotz der formalen Gleich­
Ideen sind Waffen, deren die Bourgeoisie sich in ihrer Aus­ heit fortbestehen, oder der partikulare Charakter - der
übung der Macht bediente.«7 aber als solcher geleugnet wird - der rechtlichen Begriffe,
der in Frage gestellt werden muß.8
Ich verstehe diese Kritiken und diese Analytik sehr gut.
Anders vorgehen Tatsächlich glaube ich, daß eine der Aufgaben des kriti­
schen Denkens darin besteht, die Dispositive zu dekonstru­
Die traditionelle Kritik der Operationen des Rechts ver­ ieren, die Neutralität, Unparteilichkeit und Universalität
sucht, die Mythen des Rechtsnormativismus und der po­ für sich beanspruchen, um die konkreten Wirkungen der
litischen Philosophie aufzulösen. Die rechtlich-politische Abschiebung und Herrschaft zu zeigen, die sie ausüben.
Ordnung funktioniert nicht als Instanz für die kollektive Aber diese Analysen müssen, glaube ich, künftig als gesi­
Integration und Organisation. Sie ist ein Kampfinstrument, chert betrachtet werden: Sie zeigen die inegalitäre Wahr­
eine Waffe, ein System, das auf falsche Weise neutral so­ heit des abstrakten liberalen Rechts, und es ist nicht nö­
wie auf falsche Weise transzendent ist und das Teil der po­ tig, darauf zurückzukommen. Die kritische Theorie muß
litischen Konflikte ist und die sozialen Kräfteverhältnisse darauf achten, nicht zu stagnieren, nicht immer dieselben
reproduziert. Die Begriffspaare neutral / gewalttätig, unpar­ Aussagen zu wiederholen, so treffend sie auch sein mögen.
teiisch I parteiisch, universal/ partikular, Gleichheit I Ungleich­ Fortschritt ist möglich, und es ist notwendig, die Wahrhei­
heit gestalten die Rhetorik der Dekonstruktion des Rechts. ten und die Angriffswinkel zu vermehren.
Das Handeln der Justiz ist durch eine radikale Diskrepanz Ich frage mich, ob man nicht versuchen muß, in der Kri­
zwischen den Werten der Neutralität, der Unparteilichkeit, tik des Strafrechtsstaats viel weiter zu gehen, oder genauer,
der Gleichheit und der Wirklichkeit dieser Wirkungen ge­ ob es nicht möglich ist, anders vorzugehen. Ist die Analytik
kennzeichnet. Es handelt sich also um eine Institution, die der Neutralität und des Kriegs ausreichend? Ist es möglich,
das verdeckt, was sie vollbringt - daher rührt ihre Gewalt.
8 Über die Debatten, die die kritische Theorie mit dem Recht unter­
6 Gilles Deleuze, Foucault, Paris, Minuit,1986, S. 38; dt.: Foucault, hält, vgl. Joan W. Scott, »Quelques autres reflexions sur le genre et
Frankfurt / M „ Suhrkamp, 1987, S. 46-47. la politique«, in: dies„ De l'utilite dll genre, Paris, Fayard, 2012,
7 Foucault, »Über die Volksjustiz«, S. 451. s. 112-119.

1 84 1 85
die Frage des Rechts und des Strafrechtsapparats jens eits nen. Aber die Person, die die Institution, ihre Werte und ih­
des Problems des Universalen und der Neutralität, der Dis­ re Funktion am besten zu verkörpern scheint, ist der Rich­
kriminierung und Herrschaft anzugehen? Anders gesagt, ter. Er erscheint als am wichtigsten. Sartre greift die Rich­
verdunkelt diese Gestaltung der Sphäre der Debatte nicht ter und ihre Ausbildung an, als er den Prozeß in Frage
eine andere mögliche kritische Auffassung? Neigt die Kri­ stellt, der ihm gemacht wird. In Gides Aus dem Schwurge­
tik der »liberalen« Justiz im Namen einer »gerechteren« richt ist der Vorsitzende des Schwurgerichts allgegenwär­
Justiz (die manchmal die Form eines Plädoyers für die Ein­ tig. Gide macht auf fast allen Seiten Notizen über ihn, wäh­
setzung einer »Justiz des Volkes« oder einer Justiz »der rend die anderen Figuren der Gerichtsinstitution in seiner
Klasse« angenommen hat) nicht dazu, manche der wesent­ Erzählung nahezu fehlen. Raymond Depardon konstruiert
lichen Grundlagen des Strafrechtsstaats ungedacht zu las­ seinen Dokumentarfilm über das in Strafsachen tätige Land­
sen ? Und zwar bis zu einem Grad, daß man sich fragen gericht von Paris, we chambre, instan ts d'a udience, gänz­
kann, ob die kritische Theorie des Rechts zusammen mit lich nach dem Modus eines Streitgesprächs zwischen der
dem Rechtsnormativismus nicht manchmal zugleich be­ Richterin, die immer dieselbe ist, und den Beschuldigten.9
stimmte Wahrnehmungen bekämpft - was erklären wür­ Aber diese Wahrnehmung führt dazu, eine andere Per­
de, daß man in der Idee der »Klassenjustiz«, die Sartre son im Schatten zu lassen, die ebenfalls wesentlich ist und
mit anderen in den i97oer Jahren häufig der »bürgerlichen eine entscheidende Stelle im Gerichtsprozeß und im Ab­
Justiz« entgegensetzt, beunruhigende repressive Impulse lauf der Verhandlung einnimmt: den Staatsanwalt.
wiederfindet, die denen, die den liberalen Strafrechtsappa­ Es stimmt zwar, daß der Staatsanwalt in anderen Syste­
rat beseelen, merkwürdig nahekommen. men eine sehr wichtige symbolische Stellung einnimmt,
zum Beispiel im amerikanischen oder englischen System.
Aber es bleibt auch wahr, daß der Großteil der zeitgenössi­
Stra frecht und Anklage schen Arbeiten in der Philosophie, der kritischen Theorie
oder Kognitionswissenschaft mit Bezug auf die Justiz sich
Die Ausarbeitung einer neuen kritischen Analytik des Rechts auf Entscheidungsprozesse der Richter und/ oder Geschwo­
erfordert, daß wir unsere Sicht der Gerichtsbühne verän­ renen bezieht, auf das Gesetz und seine Neutralität, auf
dern oder genauer unseren Blick anders auf sie, auf das, seine ungleiche und diskriminierende Anwendung usw.
was dort geschieht, auf das, was wichtig ist, lenken. Es geht Als ich dieses Buch begonnen habe und als ich daran
hier also zunächst um die Sichtweise und die Aufmerksam­ dachte, Gespräche zu führen, schien es mir selbst am wich­
keit. tigsten, sie mit den Richtern und den Geschworenen zu
Wenn man an die Justiz denkt, wenn man einer Ver­ führen.
handlung beiwohnt, ist die Figur, die unmittelbar am mei­ Die Person des Staatsanwalts ist in vielen Hinsichten am
sten Aufmerksamkeit erheischt, die des Richters. Ich leu­
gne zwar nicht, daß die Rechtsanwälte, die Angeklagten 9 Raymond Depardon, 10• chambre, instants d'audience, Arte Edi­
oder die Opfer auch Interesse und Neugier erwecken kön- tions, 2005.

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unsympathischsten. Jeder seiner Redebeiträge ist von einer beim Handeln nicht nur - und vielleicht nicht einmal in er­
Gewalt, von einer Boshaftigkeit, von einer seltenen Aggres­ ster Linie - die Einzelpersonen verletze, denen ich unmit­
sivität gegenüber den Angeklagten geprägt. In seinem Ver­ telbaren Schaden zugefügt habe: Ich schädige zunächst »die
halten und seinen Reden verrät alles den Willen zu be­ Gesellschaft«, so daß der Staat Ermittlungen gegen mich
strafen, zu vergelten, zu verurteilen, zu verschärfen, und anstellen kann nach einem Verfahren, das relativ autonom
zwar auch dann, wenn man sich in einem Kontext radika­ gegenüber dem zivilrechtlichen Verfahren abläuft - sogar
ler Unsicherheit bezüglich der Beweise für die Schuld be­ ohne Zivilverfahren, ohne privates Opfer: Das ist das Straf­
findet. rechtsverfah ren. Das Dispositiv des Strafrechts wird als Sy­
Aber jenseits der Modalitäten, nach denen diese Funk­ stem, bei dem die Anklage von einem Staatsanwalt geführt
tion ausgeübt wird, liegt das Wichtigste in der Bedeutung wird, in fast allen Rechtsstaaten der Welt praktiziert, jeden­
dieser Person. Es ist merkwürdig, daß die Figur des Staats­ falls ebensogut im französischen Recht wie im amerika­
anwalts gegenüber der des Richters in den kritischen Dis­ nischen und angelsächsischen, so daß die Analyse, die ich
kursen über die Justiz so wenig präsent ist. Denn sie setzt hier vorschlage, ebenso für beide Systeme gilt. In den Ver­
ein äußerst starkes ideologisches und politisches Disposi­ einigten Staaten ist der Staatsanwalt der Anwalt des Vol­
tiv voraus. Sie sagt etwas darüber, wie der Staat sich meiner kes - »the Peopb< -, und ein Strafprozeß stellt das Volk
bemächtigt, über das Spiel des Gesetzes und die Logik der eines Staats einem Angeklagten gegenüber, zum Beispiel:
Bestrafung, darüber, was es bedeutet, zu einem Rechtssub­ »the People of the State of New York« versus »X«.
jekt gemacht zu werden. Wenn man sich für die politische Konstruktion der Hand­
Der Staatsanwalt vertritt nämlich im Verlauf einer Ver­ lungen interessiert, die in der Logik des Strafrechts am
handlung die »Generalstaatsanwaltschaft<{. Er verteidigt die Werk sind, bietet das ein sehr leistungsfähiges Mittel, um
»Interessen der Gesellschaft«. Er unterstützt die Anklage. nicht nur das Justizsystem zu verstehen, sondern auch die
Anders gesagt, es genügt, einer Gerichtsverhandlung beizu­ Machtoperationen zu erfassen, die der Staat mittels des
wohnen, um sich darüber klarzuwerden, daß die Vorstel­ modernen Rechts auf uns anwendet. Es ist nicht so sehr
lung der Justiz als Schiedsrichter zwischen Parteien, die der Akt des Verurteilens, der hier in den Vordergrund ge­
doch so weitgehend die Reflexion über diese Institution be­ stellt wird, als vielmehr der Akt der Anklage: Wofür muß
stimmt, falsch ist. Denn - und das gilt ebenso für das fran­ man einstehen? Wessen ist man angeklagt? Von wem? Was
zösische System wie für das angelsächsische - der Strafpro­ wirft man mir vor, getan zu haben, wenn man mir etwas
zeß stellt nicht einen Angeklagten und ein Opfer, das vor strafrechtlich vorwirft? Was tue ich, wenn ich etwas tue?
die Richter käme, um sich über einen Schaden zu bekla­ Es geht weder um die Frage, wie ich verurteilt werde, noch
gen, einander gegenüber. Das Bestrafungssystem konstru­ darum, ob ich »schuldig« bin oder »nicht«, sondern darum,
iert eine Szene, in der das Individuum vor dem erscheint, über die staatliche Konstruktion des Verbrechens nachzu­
was »die Gesellschaft« genannt wird, die von ihrem An­ denken, dessen man mich anklagt, meiner Handlungen
walt, dem Staatsanwalt verteidigt wird. Der Bestrafungsap­ und ihrer Bedeutungen.
parat des Staats beruht auf der Vorstellung, der zufolge ich Diese Fragen eröffnen den Weg für eine Reflexion über

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die Souveränität, die Logik der Bestrafung, die Gewalt des
Gesetzes, den politischen Gebrauch des Rechts - und ich
glaube sogar noch tiefer auch über das, was in der zeitge­
nössischen Form der Rechtsstaaten antidemokratisch bleibt. 2
D i e Log ik d e r Ve rg e ltu n g

Tra uma und Reaktion auf das Tra uma

Die Frage nach dem Verbrechen, nach dem Recht, nach


dem Strafrecht konfrontiert uns mit der Frage nach dem
Trauma und nach der Reaktion auf die erlittene Aggressi­
on. Es gibt eine psychische Ökonomie der Verletzung, die
dazu drängt, die Gewalt durch Gewalt zu beantworten,
den Schock des Traumas in eine Kraft zu verwandeln, die
sich auf den anderen (oder andere) richtet, um Leiden zu
verursachen.
In Zur Genealogie der Moral beschreibt Nietzsche die
Art und Weise, wie die Institution der Justiz sich an die Lo­
gik des Traumas und der Entschädigung anlehnt und sich
von ihr ableitet: In Mitleidenschaft gezogen zu werden er­
zeugt die Neigung, Leiden zufügen zu wollen. Es ist die psy­
chische Notwendigkeit, diesen Reaktionszyklus zu vollen­
den, die dazu drängt, zu strafen, zu vergelten und somit
nach einem Verantwortlichen zu suchen. Mit anderen Wor­
ten, die Justiz beruht nicht in erster Linie auf der Institu­
tion der Logik der Verantwortlichkeit. Sie gehört zu einer
Ökonomie der Verletzungen. Am Ursprung des Strafrechts
findet man die Überzeugung, der zufolge es möglich wäre,
eine Äquivalenz zwischen Schaden und Schmerz zu fin­
den: Der erlittene Schaden scheint als gerechten Ausgleich
die Verabreichung eines Schmerzes an einen Dritten erfor­
derlich zu machen. Und im Grunde spielt es keine Rolle,
ob dieser Dritte der wirkliche Urheber des Schadens ist,

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1 90
ob er ihn absichtlich verursacht hat oder nicht. Die Verlet­ es diese billigt und ihnen einen Platz im Spiel des Gesetzes
zung erfordert, daß jemand bestraft wird, und die Kon­ anweist.
struktion des Strafrechts und die Institution der Justiz lei­ Nun muß man sich aber von diesem Gesichtspunkt aus
ten sich von diesem Erfordernis ab. Nicht weil eine Person fragen, ob es im Strafrechtssystem, in dem wir aufwachsen
als verantwortlich angesehen wird, will man sie bestrafen, und das sich unserer bemächtigt, nicht etwas Merkwürdiges,
sondern weil man bestrafen will, weil man Leid zufügen etwas Paradoxes gibt. Die Figur des Staatsanwalts, die sich
will, bezeichnet man j emanden als verantwortlich: »Es ist im Prozeß an die Stelle des Opfers setzt, stellt nämlich un­
die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch bestreitbar gewissermaßen eine wichtige Institution und
durchaus nicht gestraft worden, weil man den Übelanstif­ sogar einen Fortschritt dar. Sie ist fest verbunden mit ei­
ter für seine That verantwortlich machte, also nicht un­ nem Rahmen, der die Reaktion auf das Verbrechen auf ra­
ter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen tionale und leidenschaftslose Weise gegenüber den sponta­
sei: - vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder stra­ nen Reaktionen der Opfer oder den ihnen Nahestehenden
fen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden [ . . . ] . « 1 regeln will. Es handelt sich um die Einsetzung eines Filters
Persönlich bin ich von der überaus großen Kraft der zwischen die Logik des Gerichts und die leidenschaftliche
psychischen Ökonomie überzeugt, die Nietzsche beschreibt. Logik des Traumas und der Reaktion auf die Verletzung.
Sie befindet sich an der Wurzel der Dynamik der Vergel­ Das ist häufig bei Fällen von Notwehr von Bedeutung, wo
tung und Bestrafung. Eine Kritik des Strafsystems und die Forderungen nach Sanktionen seitens der Nebenkläger
des Bestrafungsapparats muß sich daher die Frage nach durch die Anklage aufgrund von rechtlichen oder rationa­
der Beziehung jener Dispositive zu diesem Spiel der Trie­ len Imperativen nicht aufgegriffen werden können.
be stellen. Denn eine Rechtsordnung hat im Grunde nur Aber eigenartigerweise scheint der Strafrechtsapparat
dann Sinn und Zweck, wenn sie ein Instrument der Ratio­ nur mit den spontanen Leidenschaften zu brechen, die von
nalisierung darstellt, das die spontanen Wahrnehmungen unten kommen, um seinerseits zu einer phantasmatischen
filtert, wenn sie als Subjektivierungstechnik funktioniert, Behandlung der Straftaten überzugehen, was eine Leiden­
die uns gestattet oder gar dazu zwingt, von uns selbst und schaft der Vergeltung verrät, die von einem rationalen Ge­
unseren Primärtrieben einen Schritt zurückzutreten, um sichtspunkt aus wenig gerechtfertigt ist. Was bedeutet näm­
die Welt zu beruhigen. Die Ausarbeitung einer Kritik der lich die Logik des Strafrechts? Sie bedeutet, daß, wenn ein
Vergeltung und vergeltender Impulse besteht darin, daß Verbrechen geschieht, der Staat die Stelle des Opfers des
man sich die Frage stellt, in welchem Maß das System des Geschehens einnimmt; er tritt selbst auch als Opfer auf -
modernen Strafrechts eine rationalere - oder gar, wie wir und überdies sogar als Hauptopfer. Mit anderen Worten,
sehen werden, demokratischere - Ordnung gegenüber den er fügt dem begangenen Verbrechen ein Verbrechen hinzu.
spontanen Logiken der Leidenschaften begründet oder ob Er fügt ein Opfer hinzu. Aus einem Gewaltakt macht er
zwei: den einen, der sich auf der zivilrechtlichen Ebene ab­
spielt, und den anderen, der sich parallel dazu auf der straf­
1 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 54. rechtlichen Ebene vollzieht. Der Strafrechtsstaat erzeugt

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zwei Verbrechen, wo es nur eines gab: das eine gegen das und die Macht zeigen kann, die er durch das Vergeltungs­
Opfer, das andere gegen den Staat. system uns gegenüber zur Anwendung bringt.
Wie sollen wir diese Praxis verstehen, durch die der Durkheim unterscheidet in seinem Werk zwei Typen
Staat zwei Verbrechen konstruiert, wo es nur eines gab? von Recht: das repressive und das restitutive Recht.2 Das
Das Verbrechen als Verbrechen gegen die öffentliche Ord­ repressive Recht ist das Strafrecht: Es hat eine Sühnefunk­
nung aufzufassen, jeden strafbaren Akt als Aggression ge­ tion ; es fügt dem Schuldigen durch ein organisiertes Sank­
gen »die Gesellschaft« zu bezeichnen - bedeutet das, eine tionssystem ein Leid zu: eine Verringerung seines Vermö­
rationale Ordnung einzurichten? Oder bedeutet es nicht gens, seiner Ehre oder seiner Freiheit. Es geht darum, ihm
vielmehr, einen Zyklus der Gewalt zu reproduzieren und etwas zu entziehen. Das restitutive Recht ist dagegen vor
uns zu benutzen, um diesen Zyklus zu betreiben? Bedeutet allem im Zivilrecht verkörpert: Es hat die Wiedergutma­
es nicht, mit Gewalt auf die Gewalt zu antworten und mit chung der Schäden zum Ziel. Die Ziviljustiz beschränkt
einem Trauma auf das Trauma? Kann dieses Dispositiv sich darauf, die interindividuelle Wiedergutmachung der
nicht folglich auch Gewalt und Traumata gegenüber den durch die strafbare Handlung verursachten Schäden zu or­
Opfern ausüben, indem es sie in eine Situation der Ver­ ganisieren, um die ursprüngliche Situation wiederherzu­
zweiflung und Enteignung versetzt ? Ich kritisiere hier stellen, während die Strafjustiz etwas hinzufügt: Sie ahndet
nicht das Recht als solches. Es gibt unterschiedliche Auffas­ die Handlung und bestraft den Urheber. Es handelt sich
sungen des Gesetzes und der Justiz, und nicht alle sind von also um zwei völlig verschiedene und autonome Systeme
einer solchen Konstruktion abhängig. Ich stelle mir Fragen und Auffassungen, die manchmal zusammen existieren
zur Logik des Strafrechts, zum Vergeltungssystem, um zu (Zivilverfahren können parallel zu Strafverfahren wegen
beurteilen, ob diese Institutionen dem emanzipatorischen ähnlicher Delikte ablaufen) und manchmal völlig entkop­
Gebrauch treu sind, den man von ihnen machen könnte - pelt sind (es kann ein Strafverfahren ohne Zivilverfahren
oder ob sie im Gegenteil von anfechtbaren Logiken regiert geben). Das bevorzugte Instrument der strafrechtlichen
werden, deren Natur man beurteilen, deren Wirkungen Sanktion ist in den zeitgenössischen Gesellschaften der
man verstehen und deren Zwecke man erkennen muß. Freiheitsentzug; das Instrument der zivilrechtlichen Wie­
Dient das Recht dazu, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? dergutmachung ist der Schadensersatz.
Durkheim demonstriert, daß der Typ von Recht, der in
jeder Gesellschaft vorherrscht, und folglich auch die Art
Logik des Strafrech ts und Weise, wie man auf das Verbrechen reagiert, mit den
Epochen variieren: Sie hängen von der Strukturierung der
In Über soziale A rbeitsteilung schlägt Emile Durkheim eine Gesellschaft und der Bedeutung ab, die sie dem kriminel­
Analyse vor, deren Prinzipien wir übernehmen können, len Akt zuweist. In Gesellschaften oder Gruppen, in denen
um über die Logik des Strafrechts, die Operationen, die
bei der Konstruktion des Rechts am Werk sind, nachzuden­ 2 f'..mile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, übers. v. L. Schmidts,
ken und darüber, was uns dies im Hinblick auf den Staat Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1996.

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die Bindungen und die Integration stark sind, in denen das tungen auf der lokalen und nicht auf der globalen Ebene
Kollektivbewußtsein einen bedeutenden Einfluß ausübt, in
verhandelt. Die Schäden werden wiedergutgemacht, und
denen die Arbeitsteilung schwach ist, wird jedes Verbre­ eine Bestrafung erscheint nicht als notwendig.
chen als ein Verbrechen gegen alle wahrgenommen, das je­ Das Ziel Durkheims ist im Grunde soziologisch und hi­
den von uns als Mitglied der Gesellschaft betrifft. Das Ver­ storisch. Es geht darum, ein Gesetz der Entwicklung des
brechen greift den sozialen Zusammenhalt an, indem es Strafrechts aufzustellen : Die Individualisierung und Diffe­
die Regeln durcheinanderbringt, in denen jeder sich wie­ renzierung der Gesellschaften gingen Hand in Hand mit
dererkennt. Es löst daher eine Reaktion der Gesellschaft einem Wandel ihrer Art und Weise, das Verbrechen und
aus, deren Ziel es ist, den sozialen Zusammenhalt und das die kriminelle Handlung zu konstruieren und sich die Re­
kollektive Bewußtsein intakt zu halten. Die Wiedergutma­ aktion auf Gesetzesübertretungen vorzustellen. Die Bewe­
chung zwischen den Parteien genügt nicht. Die Gesellschaft gung der Geschichte verläuft in Richtung eines immer stär­
will in ihrer Gesamtheit ebenfalls ihre Unzufriedenheit ker werdenden Gewichts des Zivilrechts gegenüber dem
zum Ausdruck bringen und die Kränkung reinwaschen. Ei­ Strafrecht: Der dezentralisierte Ausgleich nimmt zu Lasten
ne Bestrafung ist notwendig: Das ist die strafrechtliche, re­ der kollektiven Vergeltung zu, da, je unterteilter und hete­
pressive, sühnende Sanktion. Das Strafrecht bringt einen rogener eine Gesellschaft ist, um so mehr das, was in ihr ge­
gesellschaftlichen Zustand zum Ausdruck, innerhalb des­ schieht, so wahrgenommen wird, daß es nur lokale und
sen das Verbrechen als eine Schädigung der Gesellschaft er­ partielle Folgen hat. Das bedeutet natürlich nicht, daß die
lebt, wahrgenommen, d. h. konstruiert wird. Strafbarkeit verschwindet. Das Strafrecht bleibt in den mo­
Umgekehrt herrscht die Logik der Restitution vor, wenn dernen Gesellschaften sehr präsent. Dennoch gebe es eine
die gesellschaftliche Solidarität durch einen Prozeß der Ar­ Tendenz zur Entkrirninalisierung zahlreicher Handlungen,
beitsteilung, der Individualisierung geprägt wurde, d. h. wobei das Strafrecht für die schwersten Vergehen aufrecht­
wenn der Einfluß des kollektiven Bewußtseins auf die Ak­ erhalten wird, die auch weiterhin das, was Durkheirn das
teure abgeschwächt wurde. Eine komplexere Gesellschaft, »Kollektivbewußtsein« nennt, verletzen und beleidigen.
in der die Individuen differenzierter und sich weniger ähn­ Tatsächlich - und das ist in der Soziologie häufig der
lich sind, gleicht weniger einem integrierten Raum, in dem Fall - wird Durkheims Studie interessanter und erlangt ih­
sich jeder von dem, was jemand anderem geschieht, be­ ren vollen Wert, wenn man von ihr einen kritischen und
troffen fühlt, als einem System, in dem unterschiedliche politischen Gebrauch macht. Man muß die Analysen Durk­
und partielle Sektoren koexistieren, die mehr oder weni­ heims transponieren, sie umwandeln, sie von der histori­
ger miteinander verbunden sind. Das restitutive Recht gilt schen auf die begriffliche Ebene verlagern. Denn was zeigt
dann für die meisten Handlungen, deren Tragweite als lo­ Durkheims Analyse? Sie gestattet, daß man sich der Tatsa­
kal wahrgenommen wird. Die individuellen Handlungen che bewußt wird, daß die Behandlung des Verbrechens,
betreffen nicht die »Gesellschaft« in ihrer Gesamtheit, son­ die Reaktion auf Gesetzesübertretungen weder etwas Spon­
dern nur eingeschränkte und besondere Teile derselben. In tanes noch etwas Natürliches aufweist. Es handelt sich um
diesem Rahmen werden die Folgen von Gesetzesübertre- Institutionen, die offen für den Wandel sind, oder, um eine

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kritische Sprache zu verwenden, es handelt sich um Dispo­ Umgestaltung
sitive der Macht. Mit anderen Worten, es gibt immer eine
symbolische und narrative Konstruktion an der Basis des­ In der Geschichte der strafrechtlichen Theorie und Praxis
sen, was man die Justiz nennt - was sie für die Geschicht­ gibt es im Grunde nur zwei große Modi der Rechtfertigung
lichkeit und die Diskussion öffnet. Das Strafrecht und und Unterstützung der Logik der Vergeltung. Die erste be­
das restitutive Recht sind Praktiken der Macht. Sie verkör­ steht darin zu behaupten, daß jeder singuläre Akt eine
pern unterschiedliche Weisen, auf das Trauma der Aggres­ Aggression gegen »die Gesellschaft« oder »die Nation« ist.
sion zu reagieren, das Regiment der Vergeltung und der Aus diesem Grund genügt die »Wiedergutmachung« nicht,
Gewalt zu gestalten, das zu konstruieren, was bei einem wenn ich jemanden verletze, wenn ich jemanden bestehle.
Verbrechen auf dem Spiel steht und was davon betroffen ist. Denn dadurch hätte ich jedermann getroffen. Ich hätte
Durkheims Analyse gibt uns Instrumente, um eine kriti­ »die öffentliche Ordnung gestört«. Also muß ich für diese
sche Untersuchung unserer selbst zu führen sowie der Lo­ Aggression gegenüber jenem anderen Opfer meiner Hand­
gik des Strafrechts und der Vergeltung. Durkheim ermög­ lung einstehen, das der Staat oder die Gesellschaft wäre.
licht es, die Gegenwart einer Person wie des Staatsanwalts Diese Auffassung bringt Cesare Beccaria in Über Verbre­
bei einem Prozeß als mysteriös erscheinen zu lassen. Er for­ chen und Strafen zum Ausdruck, dem Gründungswerk
dert zum Nachdenken auf und dazu, einen Abstand gegen­ des modernen Strafrechts: »Jedes auch nur gegen eine Pri­
über dieser merkwürdigen Praxis zu gewinnen, der zufolge vatperson gerichtete Verbrechen verletzt auch die Gesell­
der Logik der Wiedergutmachung die Logik der Vergel­ schaft«, so daß der »wahre Maßstab der Verbrechen [ . . . ]
tung hinzugefügt werden soll - d. h. daß zu der Sanktion der der Gesellschaft zugefügte Schaden [ist].«3 In der Lite­
gegen den Straffälligen für seine Handlung gegen eine an­ ratur findet man Dutzende äquivalenter Formulierungen.
dere Person eine Sanktion für seine vorgebliche Handlung Insbesondere kann man die berühmten Erklärungen Durk­
gegen die »Gesellschaft(< hinzutritt. Warum sollte ich, wenn heims über das Verbrechen als Akt anführen, der das kol­
ich etwas stehle, zusätzlich zu der Wiedergutmachung ge­ lektive Bewußtsein verletzt, und über das Strafrecht als In­
genüber meinem »Opfer« gegenüber dem Staat etwas zah­ stitution, die den Zweck hat, den sozialen Zusammenhalt
len und Zeit im Gefängnis verbringen ? Was ist der Zweck gegen die Kräfte des abweichenden Verhaltens zu schüt­
dieses rituellen Teils der Sanktion? Was ist die Wirklich­ zen, die dazu neigen, ihn zu schwächen. Die Handlungen,
keit des Schadens, der dem Staat zugefügt wurde? Warum die das Strafrecht »verbietet und als Verbrechen charakteri­
sollte man der Strafe eine weitere Strafe hinzufügen ? Das siert«, sind Durkheim zufolge von zweierlei Art: »Entweder
Verständnis der Rechtsordnung, unter der wir leben, zwingt sie weisen unmittelbar eine zu heftige Unähnlichkeit zwi­
so dazu, über die Begriffe, die Dispositive, die Konstruktio­ schen dem Akteur auf, der sie vollzieht, und dem Typ des
nen nachzudenken, die die Logik des Strafrechts stützen - Kollektivs, oder sie verletzen das Organ des gemeinsamen
und von da aus die Wirkungen der Macht zu erfassen, die
diese rechtliche Praxis und die politische Rationalität aus­ 3 Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, übers. v. K. Essel­
üben, deren Teil diese Praxis ist. born, Aalen, Scientia Verlag, 1990, S. 133 und i29.

1 98 1 99
Bewußtseins.« In beiden Fällen ist die »Kraft, die durch das ne der gesellschaftlichen Verhältnisse abspielt, sondern in
Verbrechen erschüttert wird« und aus der die Notwen­ eine Handlung, die in jener abstrakten Wirklichkeit statt­
digkeit einer strafrechtlichen Reaktion hervorgehen wird, findet, die »die Gesellschaft« genannt wird. Das moderne
dieselbe. Sie ist ein »Produkt der wesentlichsten sozialen Strafrecht ist ein System, in dem die interindividuellen
Ähnlichkeiten, und ihre Wirkung ist, den sozialen Zusam­ Handlungen durch den Staat als Handlungen gegen »die
menhalt aufrechtzuerhalten, der sich aus diesen Ähnlich­ Gesellschaft« eine neue Bedeutung erlangen.
keiten ergibt. Diese Kraft schützt das Strafrecht vor jegli­ Es gibt eine sehr starke Verbindung zwischen dem Be­
cher Schwächung.«4 strafungsapparat des Staats als System der Macht und es­
Es versteht sich von selbst, daß man von einer kritischen sentialistischen Begriffen wie dem der Nation oder der Ge­
Perspektive aus die Erklärungen Beccarias oder Durkheims sellschaft. Die Sichtweise individueller Handlungen, die
nicht als Tatsachenbehauptungen betrachten darf. Im Ge­ diese Begriffe formen, ist mit dem Dispositiv des Straf­
genteil handelt es sich um Erkenntnispraktiken, die in den rechts verwandt. In vielen Hinsichten begründen es diese
Dienst der Dispositive der Macht gestellt wurden. In bei­ Begriffe. Sie legitimieren es. Sie sind es, die den Weg für
den Fällen geht es darum, die Logik des modernen Straf­ die Möglichkeit öffnen, sich vorzustellen, daß ein »Verbre­
rechts möglich und denkbar zu machen, sie zu aktivieren chen« sich dem Paar Opfer/ Aggressor entzieht, daß es
und zu festigen. Durkheims Definition, der zufolge eine etwas Zusätzliches betrifft, das sich jenseits dieser horizon­
»Handlung kriminell ist, wenn sie die festen und bestimm­ talen Ebene befindet, und daß es daher eine separate Reak­
ten Zustände des Kollektivbewußtseins verletzt«, was er­ tion erfordert, die die Form der Sühne und Vergeltung an­
klärt, daß er »gegenüber der einfachen Wiedergutmachung nehmen muß. Eine radikale Kritik des Strafrechts und der
eine höhere Sanktion fordert«, 5 muß durch die Vorstellung Leidenschaften der Vergeltung verläuft folglich über die In­
ersetzt werden, daß der Begriff des »Kollektivbewußtseins« fragestellung substantialistischer Kategorien (Nation, öffent­
eine rhetorische Strategie darstellt, die dazu dient, eine liche Ordnung, Gesellschaft) und ihre juristische und poli­
Praxis der Macht und repressive Handlungen zu legitimie­ tische Verwendung.
ren.
Das Strafrecht beruht auf einer performativen Konstruk­
tion des Verbrechens als gesellschaftlicher Handlung. Es Abstraktion
setzt eine Bewegung voraus, die jede individuelle Hand­
lung nicht in eine Handlung umwandelt, die sich gegen an­ Die Logik des Strafrechts und die Dynamik der Vergeltung
dere Individuen richtet und sich auf der horizontalen Ehe- gründen nicht ausschließlich auf einer solchen Konstruk­
tion der Handlungen, daß sie »die Gesellschaft« berühren.
Vielleicht müßte man eher sagen : Die Rechtfertigung des
4 :fmile Durkheim, »Definitions du crime et fonction du chatiment«,
repressiven Eingreifens durch den Staat verwendet nicht
in: ders., Deviance et crim inalite, hrsg. v. Denis Szabo in Zusam­
menarbeit mit Andre Normandeau, Paris, Armand Colin, 1970. ausschließlich sozialisierende Überlegungen. Die politische
5 Ebd. Philosophie stellt ebenfalls einen der großen Bereiche dar,

200 201
in dem Vorstellungen entwickelt werden, die die Idee des repräsentiert, den der Bürger will, und die Einheit des po­
Strafrechts erzeugen und sie stützen. litischen Körpers sichert. Indem er so handelt, negiert sich
Rousseaus Gesellschaftsvertrag liefert ein Beispiel, wo man der Verbrecher als Bürger und schließt sich aus der politi­
eine theoretische und symbolische Logik am Werk sieht, schen Gemeinschaft aus: »Überdies wird jeder Missetäter,
eine Weltsicht, die das Dispositiv der Vergeltung möglich der das Recht der Gesellschaft angreift, durch seine Gewalt­
macht. Er bietet eine Gesamtheit von diskursiven und rhe­ taten Empörer und Verräter am Vaterland; wenn er seine
torischen Operationen auf, die darauf abzielen, den Appa­ Gesetze verletzt, hört er auf, sein Mitglied zu sein, und er­
rat des Strafrechts zu rechtfertigen - was zeigt, inwieweit klärt ihm sogar den Krieg. Nun ist die Erhaltung des Staa­
dieser auf symbolischen Grundlagen beruht, die alles ande­ tes unvereinbar mit seiner Erhaltung; einer von beiden
re als selbstverständlich sind und die wir zu Unrecht als sol­ muß zugrunde gehen, und der Schuldige stirbt weniger
che betrachten. Rousseau konstruiert das Verbrechen als als Staatsbürger, sondern als Feind. Der Prozeß und das
viel mehr und sogar als etwas ganz anderes als die Aggres­ Urteil sind die Beweise und die Feststellung, daß er den
sion eines Individuums gegen ein anderes. Aber er macht Vertrag der Gesellschaft gebrochen hat und folglich nicht
daraus dennoch keinen Angriff auf »die Gesellschaft«. Er mehr Mitglied des Staates ist.«6
sieht darin das Moment einer Gegnerschaft zwischen dem Es ist frappierend festzustellen, daß man genau dieselbe
»Verbrecher« und dem »allgemeinen Willen«. Rhetorik und dieselbe Auffassung in Kants Rechtslehre fin­
Die politische Einrichtung der Gesellschaft als Körper det. Auch Kant begreift das Verbrechen als Verbrechen ge­
vollzieht sich durch die Einführung des Gesetzes. Mitglied gen den Staat und daher den Verbrecher als Verräter und
der politischen Gemeinschaft zu sein, Bürger zu sein be­ öffentlichen Feind.7 Für ihn macht die »Übertretung des
deutet, sich den allgemeinen Willen zu eigen zu machen öffentlichen Gesetzes« denjenigen, der sie begangen hat,
und dadurch die eigene Zugehörigkeit unter seiner Gesetz­ »unfähig [ . ] , Staatsbürger zu sein«.8
. .

gebung anzuerkennen. Aus diesem Grund läuft die Über­ Kants Text ist völlig auf das Lob der Vergeltung ausge­
tretung des Gesetzes darauf hinaus, kundzutun, daß man richtet, das die Form einer radikalen Kritik an Auffassun­
außerhalb des Gesetzes und folglich auch außerhalb der gen der Justiz im Sinne der Wiedergutmachung oder an
politischen Gemeinschaft steht. Man konstituiert sich ge­ zweckorientierten Interpretationen der Strafe annimmt.
genüber dem allgemeinen Willen als abtrünniges Subjekt. Die Rolle der Strafe besteht niemals nur darin, die Schä­
Man befreit sich von seinem Einfluß und schwächt ihn. Da­ den wiedergutzumachen, die die Privatpersonen aufgrund
her ist ein Verbrechen keine Privatangelegenheit. Es ist ei­ des Vergehens erlitten haben. Wenn eine Straftat begangen
ne politische Angelegenheit. Die Übertretung erschüttert
das Gesetz, schwächt den allgemeinen Willen und bedroht
6 Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. v. W. Tieze,
den Zusammenhalt des ganzen politischen Körpers.
München, Kluger, 1948, S. 84.
Kriminell zu sein, dem Gesetz nicht zu gehorchen, be­ 7 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Hamburg, Felix Meiner,
deutet, einen Willen geltend zu machen, der sich vom allge­ 32009, s. 154-161.
meinen Willen unterscheidet, welcher zugleich den Willen 8 Ebd., S. 154.

202 203
wurde, kann die Wiedergutmachung nicht genügen. Etwas tung des Rechts drückt die Anerkennung des Staats, seiner
Zusätzliches ist notwendig (es ist immer dieses Zusätzliche, Autorität und seiner Legitimität aus. Die Übertretung stellt
das die strafrechtliche Vergeltung darstellt) : Es ist notwen­ daher einen Akt der Widersetzlichkeit und Abtrünnigkeit
dig zu sühnen, es ist notwendig zu vergelten, d. h. zu stra­ dar, eine Störung, die es verdient,
unabhängig von jeder an­
fen: »Richterliche Strafe [ . . . ] kann niemals bloß als Mittel, deren möglichen Erwägung bestraft zu werden. Die Frage
ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, nach den konkreten, wirklichen Schäden ist bar jeder Rele­
oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jeder­ vanz. Die Einrichtung eines Strafrechts setzt voraus, daß
zeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbro­ jedes Verbrechen als eine Herausforderung von etwas kon­
chen hat.«9 struiert wird, einer Entität (die öffentliche Ordnung, die
Kants Position steht im Gegensatz zu j eglicher Anwen­ Gesellschaft, der Staat), die sich jenseits der Ebene befin­
dung zweckorientierter Überlegungen auf die Justiz. Für det, die dem gesellschaftlichen und interpersonalen Leben
ihn ist es undenkbar, die Frage nach der Strafe in Begriffen immanent ist. Daher muß die Justiz diese Verletzung, die
von Kosten und Nutzen, Zweck oder Nützlichkeit in An­ sich nicht auf die dem Opfer zugefügte Verletzung redu­
griff zu nehmen. Die Bestrafung eines Verbrechens muß zieren läßt, dadurch sanktionieren, daß der Staat sich die
bedingungslos sein - der Nutzen dieser Strafe und ihre Güter des Schuldigen aneignet (Geldstrafe) und dieser be­
möglichen Kosten spielen keine Rolle. Er betrachtet das straft wird (Gefängnis).
Beispiel des Diebstahls: Man muß den Diebstahl über den Die Lektüre der Texte von Rousseau, Kant oder auch
Schaden hinaus bestrafen, der dem Bestohlenen zugefügt Durkheim zeigt, inwieweit die Auffassung der Handlung
wurde. Sich damit zu begnügen, das Opfer zu entschädi­ und ihrer Wirkungen, auf der der Bestrafungsapparat des
gen, genügt niemals. Warum? Weil es die Gesellschaft in ih­ Staats beruht oder die der Bestrafungsapparat des Staats in
rer Gesamtheit ist, die den Verbrecher sühnen muß, weil Anspruch nimmt, um sich zu konstituieren, alles andere als
dieser durch seine Untat die rechtlichen Strukturen, die gegeben oder selbstverständlich ist. Sie kommt einem Kunst­
die gesellschaftliche und politische Ordnung stützen, ver­ griff, einer Konstruktion, einer politischen Technik gleich.
unsichert hat: »Wer da stiehlt, macht aller Anderer Eigen­ Das Strafrecht bringt eine Art von Verstaatlichung unse­
tum unsicher.« In diesem Sinne zerstört er das System res Lebens zum Ausdruck: Es erweckt den Anschein, als ob
des Eigentums in seiner Gesamtheit: » [Er] beraubt sich al­ das, was uns zustieß, zugleich auch dem Staat zustieße, so
so [ . . . ] der Sicherheit alles möglichen Eigentums.«10 daß der Staat sich im Recht fühlt, darauf auf eigene Rech­
Die Rechtfertigung des Strafrechts setzt voraus, die nung zu reagieren und als ob er in Wirklichkeit das Haupt­
Übertretung des Gesetzes als ein autonomes Problem und opfer sei.

als Problem für sich aufzufassen. Das Gesetz verkörpert Die Idee der Vergeltung setzt eine Umwandlung der Hand­
die öffentliche Ordnung, den Willen des Staats; die Ach- lungen voraus, wobei die Akte, durch die die Individuen
sich gegenseitig verletzen, in Akte verwandelt werden, die
die ganze Gesellschaft verletzen - gleichgültig, ob sie nun
9 Ebd., S. 155, Hervorhebung im Text.
10 Ebd., S. 157. als »allgemeiner Wille«, »öffentliche Angelegenheit« oder

204 205
als »Kollektivbewußtsein« bezeichnet wird. Es gibt eine Be­
ziehung zwischen der Logik der Bestrafung und der Logik
der Enteignung unserer selbst und unserer Handlungen
durch den Staat. 3
Der Strafrechtsstaat bringt außerdem eine Bewegung Wa s i st e i n Ve rb rech e n ?
der Abstraktion und Universalisierung jedes Verbrechens
zur Geltung, die es in eine allgemeinere Dynamik der Her­
ausforderung des Gesetzes einzeichnet. Aus diesem Grund Die fiktiven Rahmenbedingungen des Stra frech ts
wird in einem Prozeß beispielsweise nie ein Raubüberfall
in seiner Besonderheit abgeurteilt. Rasch wird die zu be­ Ein Justizsystem zeichnet sich durch seine Art und Weise
handelnde Frage die nach dem Raubüberfall, dem Dieb­ aus, zwei verschiedene Dispositive, die relativ autonom
stahl und folglich auch der Sicherheit, des Grundrechts auf voneinander sind, die aber dennoch selten als solche in
Eigentum - als ob eine lokale Handlung die Gesamtheit der kritischen Literatur analysiert werden, gemeinsam zu
der Rechtsstrukturen und des Gesetzesgebäudes tangierte betreiben: einerseits ein System der Gerichtsbarkeit, an­
und schwächte. dererseits ein Bestrafungssystem. Es handelt sich um zwei
Die Tradition, die von Rousseau über Kant bis Hegel verschiedene Pole, die jeweils einer eigenen Logik gehor­
versucht, die Logik des Strafrechts zu rechtfertigen, neigt chen - so daß der Strafrechtsstaat eine komplexe Institu­
somit dazu, eine Art dramatischer (ich bin beinahe ver­ tion ist, die sich jeder binären Sichtweise entzieht.
sucht zu sagen: phantasierender) Szene einzurichten, in­ Das System der Gerichtsbarkeit begründet eine bestimm­
nerhalb deren jedes Verbrechen, selbst das geringste, selbst te Art zu erklären, was in der Welt geschieht, das Verhalten
das allersingulärste, schließlich als ein kritischer Moment der Akteure und die Ursachen ihrer Handlungen zu erfas­
vorgestellt und gedacht wird, in dem die Möglichkeit des sen: Wer ist verantwortlich? Wer hat was getan? Aus wel­
Rechts selbst, die Autorität des allgemeinen Willens und chen Gründen? Und wie läßt es sich erklären? Das Bestra­
der Zusammenhalt der politischen Ordnung auf dem Spiel fungssystem hakt in einem zweiten Schritt ein: Es gestaltet
steht. Daher rührt die Tatsache, daß diese Autoren der die Reaktion auf die Handlung und die Bestimmung der
Strafe eine wesentliche Rolle zuerkennen und ihre Strenge Sanktion entsprechend der Wahrnehmung des Vergehens
würdigen, da ja ihre Funktion jedes Mal in nichts weniger und seiner Folgen.
besteht als darin, die Ordnung der Gesellschaft, die Macht Der moderne Strafrechtsstaat funktioniert auf paradoxe
des Souveräns, die Autorität des politischen Körpers wie­ Weise. Wie wir im vorangehenden Teil gesehen haben, zeich­
derherzustellen und aufrechtzuerhalten. Es ist eine merk­ net sich das System der Gerichtsbarkeit, das auf uns ange­
würdige Auffassung der Rolle des Intellektuellen, die darin wendet wird, durch eine grundlegend antisoziologische
besteht, die Leidenschaften zu nähren und die Obrigkeiten Dimension aus: Die Justiz konstruiert eine individualisie­
zu rechtfertigen. rende Erzählung der Ursachen der Handlungen, sie entso­
zialisiert und enthistorisiert die Akteure; sie weigert sich,

206 207
die soziale Determiniertheit der Handlungen zu berücks ich­ Ziel, sich selbst und die strafrechtliche Konstruktion der
tigen. Das Bestrafungssystem ist jedoch seinerseits merk­ Wirklichkeit zu rech tfertigen. Jeder Schwurgerichtsprozeß ­
würdigerweise an sozialen Begriffen ausgerichtet. Wenn übrigens auch jeder Strafprozeß vor dem Landgericht -
es um die Bestrafung geht, verwendet der Staat Kategorien stellt einen Augenblick der Umwandlung dar. Es geht dar­
(»Gesellschaft «, »Nation «, »öffentliche Ordnu ng«), die die um, die Handlungen als Verhaltensweisen neu zu deuten,
Handlungen 11om Gesichtspunkt ihrer Folgen aus sozialisie­ die eine größere Gesamtheit tangieren würden, so daß die
ren und auf diese Weise den Eindruck erwecken, daß die Konsequenzen, die man daraus ziehen sollte, notwendiger­
einzelnen Verhaltensweisen immer und notwendig etwas weise dem Strafrecht zugehören und die Akteure, d. h. das
Zusätzliches durcheinanderbrächten: »die ganze Gesell­ Zivilrecht, den Bereich der Wiedergutmachung, des Resti­
schaft« oder »die öffentliche Ordnung« oder »die gesamte tutiven, übersteigen. Die implizite Funktion der Gerichts­
Nation«. verhandlung besteht darin, die Logik der strafrechtlichen
Im Gegensatz zu dem, was sie vorgeben, bringen diese Sanktion zu legitimieren und die Vergeltungsimpulse zu
diskursiven Operationen keine Wirklichkeit zum Ausdruck. schärfen.
Sie treffen keine wahre Feststellung: Sie erzeugen Fiktio­ Diese Zweckbestimmung zu erfassen ermöglicht es, sich
nen, die die Funktion der Unterwerfung haben - und da­ der Zentralität der Figur des Staatsanwalts (oder des Bun­
her müssen sie von der Soziolo gie dekonstruiert werden. desanwalts in den Vereinigten Staaten) auf Kosten der Fi­
So verwendet, stellen die Begriffe der »Gesellschaft«, der gur des Richters bewußt zu werden. Denn er ist es, der die
»Nation« oder der »öffentlichen Ordnung« abstrakte und »Gesellschaft«, die »Öffentliche Ordnung« repräsentiert -
sinnleere Begriffe dar, die die Bedeutung der Handlungen der die Logik des Strafrechts verkörpert. Seine Interventio­
phantasmatisch überdeterminieren, um die Ausübung der nen spielen daher eine wesentliche Rolle. Ihre Funktion ist
Wirkungen der Macht zu legitimieren - so daß wir es mit nicht in erster Linie, wie man häufig meint, die »Schuld«
etwas zu tun haben, was man als einen antisoziologischen des Angeklagten zu »beweisen« (in der Mehrzahl der Fälle,
Gebrauch sozialisierender Begriffe bezeichnen könnte. Nach­ deren Behandlung ich gesehen habe, wirft diese kaum ei­
dem er die Akteure entsozialisiert hat, »sozialisiert« der nen Zweifel auf). Ihr Ziel ist es, die Handlungen und ihren
Strafrechtsstaat die Handlungen, als ob er jeden von uns Sinn zu konstruieren. Sie zielen darauf ab, den Fragen »Wes­
potentiell noch mehr verantwortlich machen wollte als nur sen bin ich schuldig? «, »Was habe ich getan? « einen neuen
für das, was wir wirklich getan haben, um seinen Einfluß Sinn zu geben. In einem Prozeß spielt sich alles so ab, als
auf uns zu verstärken. ob die Hauptsache des Dispositivs darin bestünde, den An­
Man versteht nicht, was bei einer Gerichtsverhandlung geklagten öffentlich zu sagen: Ihr habt mehr getan, als ihr
geschieht, wenn man sich auf die Frage nach dem Urteil glaubt, eure Handlungen sind schwerwiegender, als ihr denkt;
oder nach der - neutralen oder differenzierten - Anwen­ ihr habt nicht nur gestohlen, überfallen etc., ihr habt die
dung des Gesetzes konzentriert. Etwas anderes, Subtile­ Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gefährdet, die Rechtsord­
res ist hier am Werk, nämlich die Konstruktion der straf­ nung erschüttert, den Staat herausgefordert.
rechtlichen Materie selbst. Ein Prozeß hat zunächst zum Anhand von zwei Beispielen, von zwei Schwurgerichts-

208 209
prozessen, denen ich beigewohnt habe, möchte ich die ge­ ten gebeten z u überprüfen, was geschehen war, und gegebe­
waltsamen Operationen der Überdetermination und ihre nenfalls die Zündungsmechanismen wiedereinzuschalten.
politischen und psychischen Folgen zum Gegenstand der Was mich hier interessiert, ist nicht die Frage nach der
Reflexion machen. Zwei ganz unterschiedliche Prozesse, Schuld der Angeklagten. Vielmehr geht es darum zu sehen,
zwei unvergleichbare Rechtssachen. Aber in beiden Fällen wie der Prozeß vollständig darin bestand, eine Vorstellung
kann man die Operation der Steigerung der Allgemeinheit von diesen drei Sprengkörpern und den beurteilten Hand­
sehen, die die beurteilte Handlung in eine Reihe stellt, zu lungen zu konstruieren. Es war sehr verblüffend zu sehen,
der sie nicht mehr gehört. Anhand dieser Beispiele möchte wie von der Anklageerhebung bis zur Anklagerede des Staats­
ich die rhetorischen Techniken, die abstrakten Kategorien, anwalts Politik und Geschichte benutzt wurden, um zu dra­
die sozialisierenden Überlegungen freilegen, die die repres­ matisieren, indem die Handlungen, die das Gericht zur
sive Handlung unterstützen : Welche Verfahren wendet der Kenntnis nehmen sollte, überdeterminiert wurden. Die Er­
Staat an, um die Wirklichkeit zu rekonstruieren und das zu hebung der Anklage, die vom Protokollführer bei der Eröff­
dramatisieren, was auf dem Spiel steht? Inwiefern belastet nung der Verhandlung vorgelesen wurde, beginnt - was
er die Handlung mit einer ganzen Reihe Bedeutungen, die mir ganz sonderbar zu sein schien - mit einer Erzählung
von ihr unabhängig sind, um zum Angeklagten sagen zu über die Entwicklung der nationalistischen korsischen
können: Du mußt bestraft werden, und du wirst streng be­ Bewegung seit Beginn der 2oooer Jahre. Sie bringt eine
straft werden? Und auf welche Weise muß uns eine Kritik Vielzahl von Handlungen zur Sprache, die diesem Milieu
der Vergeltung dazu führen, andere Sprachen zu konstruie­ zugeschrieben wurden: Beschießung der Polizei oder öf­
ren, andere Weisen, uns zur Wirklichkeit zu verhalten und fentlicher Gebäude, Morde, Vergeltungsakte, Schmuggel,
sie zu konstruieren? Attentate, Tätlichkeiten etc. Mit anderen Worten, sie spricht
nicht zunächst über die Tatsachen in ihrer Wirklichkeit.
Sie benutzt die Geschichte - die Erzählung einer Abfolge
Terrorismus von Ereignissen, die in die Kategorie des korsischen Natio­
nalismus eingeordnet werden -, die Politik - die Idee einer
Der erste Rechtsstreit wurde im September 2011 am Pari­ »terroristischen«, »independistischen« Bewegung, die die
ser Schwurgericht entschieden. Es handelt sich um einen Autorität des Staats in jeder seiner Handlungen in Frage
Anschlagsversuch im Zusammenhang mit einer terroristi­ stellt -, um einen transzendenten Rahmen in Stellung zu
schen Vereinigung - aus dem korsischen nationalistischen bringen, mit Bezug auf welchen das Wirkliche bestimmt
Milieu. Zwei junge Männer werden angeklagt, Komplizen werden wird. Es gibt eine Konfrontation zwischen der Au­
dieses Versuchs gewesen zu sein : Drei Sprengkörper wur­ torität des Staats und dem korsischen Nationalismus, der
den eines Nachts vor einem leerstehenden Zweitwohnungs­ selbst als Sonderfall der Frage des Terrorismus und des
komplex deponiert; keiner von ihnen hat funktioniert. Als Kampfes gegen den Terrorismus aufgefaßt wird. Der Sinn
die Gruppe, die sie deponiert hat, merkte, daß sie nicht wie der beurteilten Handlungen wird rekonstruiert und im Ver­
vorgesehen explodiert waren, hat sie die beiden Angeklag- hältnis zu dieser soziopolitischen Wirklichkeit bestimmt.

210 21 1
Die phantasmatische Logik, die die strafrechtliche Pra­ person als Nebenkläger aufgetreten. Infolgedessen hatten
x is begründet, erscheint im Augenblick der Anklagerede die Staatsanwältin und im weiteren Sinne der Prozeß eine
der Staatsanwältin in ihrem ganzen Umfang und auch in ganz besondere und merkwürdige Funktion: einen Scha­
ihrer ganzen Gewalt. Hier spürt man, inwieweit die ab­ den zu erzeugen, Entitäten zu erfinden, die durch diese Spreng­
strakten Begriffe eine Beziehung zu den Ordnungs- und körper verletzt worden seien die Gesellschaft, die öffent­
-

Vergeltungsimpulsen unterhalten. Die Staatsanwältin ent­ liche Ordnung, die Demokratie, »die Sicherheit von uns
faltet nämlich eine Rhetorik, deren Ziel es ist, die zu be­ allen«. Diese Sprengkörper, die keine physischen oder ma­
urteilenden Handlungen als Signifikanten des Terrorismus teriellen Kosten (d. h. überhaupt wirkliche Kosten) hervor­
im allgemeinen zu konstruieren. Was ihr gestattet, den gerufen haben, und diese beiden jungen Angeklagten, die
Richtern zu sagen: Ihre Entscheidung, die Strafen, die Sie sich am Rand der nationalistischen Bewegung aufhielten,
verhängen werden, stellen Interventionen in dem Krieg gelangen dazu, die Bedrohungen zu verkörpern, die auf
dar, den die Staaten gegen den Terrorismus führen müs­ der Sicherheit von jedermann (»wenn man eine Bombe
sen. Die Gewalt der strafrechtlichen Vergeltung stützt sich legt, weiß man nicht, was geschehen wird«), auf den Frei­
auf die symbolische Konstruktion der drei kleinen Spreng­ heiten der Bürger und auf der Funktionsweise der Demo­
körper als Dispositive, die die heutigen Gefahren verkör­ kratie lasten.
pern, die auf den demokratischen Gesellschaften lasten. Die Dramatisierung der beurteilten Handlungen stellt
Die Staatsanwältin beginnt ihre Anklagerede, indem sie die wesentliche Vorkehrung für die Logik der Vergeltung
auf die 197oer Jahre zurückgeht: Sie erwähnt die Geschich­ dar. Die historischen oder politischen Begriffe dienen nie
te der nationalistischen Bewegung; sie hebt die »10 ooo« dazu, die Angeklagten und ihren Werdegang zu erklären
Anschläge hervor, die auf Korsika seit »dreißig Jahren« ver­ oder zu verstehen. Sie erscheinen als Instrumente, die dazu
übt wurden; sie dramatisiert; sie erinnert an die »feige Er­ dienen, die Handlungen und ihre angeblichen Folgen von
mordung des Präfekten Erignac«. Sie ruft: »All das muß Grund auf zu erschaffen: die Destabilisierung des Staats.
gestoppt werden ! « Daraus ergibt sich eine Strafe, die in keinem Verhältnis
Dasselbe Vorgehen i m Hinblick auf die Angeklagten, de­ zu den objektiv verursachten Schäden steht (es gibt keine),
nen sie zugesteht, daß sie »keine großen Fische« sind, daß aber zugeschnitten ist auf die imaginären Schäden, die die
sie keine bedeutenden Persönlichkeiten des Milieus sind. Gesellschaft anhand der Erzählung der Staatsanwältin für
Aber ihres Erachtens »gehören sie zur Organisation«. Aus sich erfunden hat, um einer Vergeltungslogik zu genügen.
dieser Perspektive sind sie »SO wie diejenigen, die han­ Einer der Angeklagten wird zu fünf Jahren Zuchthaus ver­
deln«, auch wenn sie nur wegen Komplizenschaft belangt urteilt, der andere zu acht Jahren.
werden. Sie repräsentieren die Organisation in ihrer Ge­
samtheit.
Dieser Rechtsstreit ist äußerst lehrreich. Denn die Spreng­
körper sind nicht explodiert. Mit anderen Worten, es ist
kein Schaden entstanden, und außerdem ist keine Privat-

21 2 213
Psychologie und Gesellsch a ft die sie liefern, sondern i n der Beschreibung, die sie von den
Beziehungen zwischen dem Straftäter, seinen Handlungen
Die zweite Gerichtsverhandlung, die ich analysieren möch­ und der ihn umgebenden Welt geben. Die Einlassungen
te, ist eine Vergewaltigungs- und Freiheitsberaubungssa­ der Experten stützen die Vergeltungslogik, indem sie ein
che: Ein Mann wird angeklagt, eine Frau in seinem Zim­ Bild des Verbrechens und des Verbrechers als konkrete Be­
mer eingesperrt und sie im Laufe einer Nacht mehrmals drohung schaffen, die auf der gesamten Gesellschaft lastet.
vergewaltigt zu haben. In einem bestimmten Sinne könnte In dieser Vergewaltigungs- und Freiheitsberaubungssa­
man sich vorstellen, daß die Verletzung, die dem Opfer zu­ che präsentieren eine Psychologin und ein Psychiater dem
gefügt wurde, d. h. die Handlung in ihrer Singularität, hin­ Gericht und den Geschworenen die Ergebnisse ihrer Gut­
reichend wäre, um die Sanktionen zu begründen und zu achten.
rechtfertigen. Es ist nun aber erstaunlich festzustellen, daß Die Psychologin kommt als erste dran. Sie erklärt zu­
auch hier der Gerichtsprozeß Operationen der Neudeu­ nächst, wie die Untersuchung abläuft und bemerkt, daß
tung einsetzen wird. Eine Vergewaltigung ist nicht nur der Angeklagte Angst hat, daß man »seine Absichten ver­
eine spezifische Angelegenheit, in deren Verlauf eine Per­ zerrt« : Er weigert sich, über seine Geschichte und seine
son eine andere überfallt. Sie ist mehr als das. Die besonde­ Persönlichkeit zu sprechen. Der Angeklagte rechtfertigt
re Vergewaltigung, die das Gericht zur Kenntnis nimmt, ist diese Einstellung durch die Behauptung, daß er »mißtrau­
nur eine singuläre Aktualisierung allgemeiner Tendenzen, isch{< ist und daß die Erinnerung an seine Kindheit und sei­
die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit stören würden - nen Werdegang ihm »Tränen in die Augen treiben«. Aber
und die Vergewaltigung wird hauptsächlich im Namen die­ die Expertin wird aus dieser Weigerung, sich ihren Forde­
ses sozialen Anteils verurteilt und bestraft. rungen zu beugen, Folgerungen über die Persönlichkeit des
Im Fall des Terrorismus werden die Geschichte und die Beschuldigten ziehen. Die Weigerung würde zeigen, daß
Politik beschworen, um eine Verallgemeinerung der Hand­ letzterer ein »entwertetes Selbstbild« habe. Außerdem wür­
lung zu erzielen und sie in ein größeres Ganzes einzu­ de sie zeigen, daß er »frustrationsintolerant« ist: Da die
ordnen, die ihre Bedeutung verschlimmert. Hier sind die Tests (ich glaube, daß es sich um Rorschachtests handelte)
psychiatrische und psychologische Konstruktion des Ver­ lange dauern, etwas mühselig und anstrengend sind, wei­
brechens entscheidend. gert er sich.
Wie ich im vorangehenden Kapitel gezeigt habe, sind Nachdem sie einmal ihre beiden Diagnosen zum Aus­
Psychiatrie und Psychologie Teil des Dispositivs der Indivi­ druck gebracht hat, »entwertetes Selbstbild« und »Frustra­
dualisierung; sie dienen dazu, die sozialen Kräfte zu ver­ tionsintoleranz« - ohne natürlich je die Fragen der Immi­
innerlichen und das Verhältnis jeder Person zur Welt in gration, des Rassismus, seiner Beziehung zur Schule oder
Form eines Verhältnisses zu sich selbst zu kodieren. Aber zur Sprache (er ist Dyslexiker), seiner wirtschaftlichen Pre­
ihre Komplizenschaft mit dem Strafrechtsstaat beschränkt karität, seiner Streitigkeiten mit der Verwaltung etc. ange­
sich nicht darauf. Sie spielen nämlich eine zusätzliche Rol­ sprochen zu haben -, gerät die Psychologin außer Rand
le, die nicht in den Erklärungen des Verbrechens erscheint, und Band. Sie reiht eine Folge von Bezeichnungen aneinan-

214 21 5
der, um den Angeklagten zu charakterisieren: mißtrauisch, Einstellung der Psychiater gegenüber dem Gericht etwas
fordernd, ängstlich, Fehlen eines Elternbildes, sehr unbe­ Unangenehmes: Sie benutzen mehr oder weniger bewußt
ständig, schlecht strukturiert, sehr karges Sexualleben, nie­ ihre »symbolische Autorität« und was sie für ihr »Wissen«
mals sexuelle Beziehungen mit einer Person seines Al­ halten, um auf die Angeklagten Gewalt auszuüben, die Stra­
ters . . . fe zu erhöhen, härtere Sanktionen und mehr Strenge zu
Diese apokalyptische Beschreibung ist nicht unmoti­ fordern. Sie scheinen nie das geringste schlechte Gewissen
viert. Im Dispositiv des Prozesses ist sie alles andere als zu haben und auch nicht von der ethischen Minimalsorge
neutral. Sie gestattet, die beurteilte Vergewaltigung als Ma­ motiviert zu sein, Abstand gegenüber der Machtausübung
nifestation eines strukturell gestörten Weltverhältnisses zu zu wahren. Im Gegensatz zu dem, was man berechtigter­
präsentieren, gegen das sich die Gesellschaft als ganze zur weise von Personen erwarten könnte, die sich als »intel­
Wehr setzen muß. Die Vorsitzende des Gerichts ergreift lektuell« oder »wissenschaftlich« präsentieren, unterwer­
diese Gelegenheit übrigens, um die Expertin zu fragen: »Ist fen sie sich dem Bestrafungsapparat des Staats und stellen
er in der Lage, andere als gewalttätige Beziehungen zu Frau­ sich in den Dienst seiner Mechanismen.
en zu haben ? « Die Psychologin antwortet: »Er hat große Auch der Experte Roland Coutanceau erzählt den Ab­
Schwierigkeiten, auf den anderen zuzugehen. Beziehungen lauf der Unterhaltung, die er mit dem Angeklagten hatte.
zu Frauen sind für ihn aufgrund der Angst, abgelehnt zu Er spricht das geistige Niveau des Beschuldigten und seine
werden, sehr beängstigend. Und daher ist es für ihn außer­ Vorgeschichte an. Dann kommt er zu dem Punkt, der ihn
o rdentlich beängstigend, sich einer Frau zu nähern, um interessiert: die Diagnose der »Persönlichkeit« des Ange­
mit ihr eine einvernehmliche Beziehung zwischen Erwach­ klagten - d. h. seine »strukturierenden Züge«. Natürlich be­
senen zu haben.« harrt er auf der Existenz einer »khstörung«, die durch drei
Einige Stunden später macht der Psychiater seine Aussa­ Hauptmerkmale gekennzeichnet ist: eine »grundlegende
ge. Er ist ziemlich bekannt. Sein Name ist Roland Coutan­ Unreife«, eine »Tendenz zur Paranoia« und schließlich ein
ceau. Seine Aussage stellt einen peinlichen Moment dar: »egozentrisches Mitteilungsbedürfnis«. Die Person sei vom
Man sieht das Vergnügen, das er an seiner Anwesenheit »Fehlen elterlicher Orientierung« geprägt worden. Daher
empfindet und daran, die symbolische Macht zu gebrau­ handelt es sich um ein instinktbetontes, impulsives und in­
chen, die ihm seine Expertenstellung verleiht. Außerdem fantiles Wesen, das einer »Bedürfnissexualität« gehorcht.
ist es unmöglich, von der ziemlich schwachen Art und Wei­ Außerdem ist er ein angespanntes Wesen - er verhält
se, sich als mit Autorität ausgestatteter Gelehrter in Szene sich, so der Psychiater, wie ein »Chamäleon«. Einerseits
zu setzen, um seine Rede in den Augen der Geschworenen sagt uns der »Experte«, indem er auf ein Bild zurückgreift,
beeindruckend zu machen, nicht peinlich berührt zu sein das er im Hinblick auf die Geschworenen für ziemlich ein­
(er sagt ständig »Ich sage es Ihnen zunächst in meiner fach hält, daß er ein bißchen wie »Belmondo in manchen
Fachsprache und dann erkläre ich es Ihnen« oder auch Filmen« sei : extravertiert, entspannt, aufreißerisch - das
»Ich benutze eine Wissenschaftssprache und anschließend ist seine unreife Seite. Aber innerlich verdammt ihn seine
übersetze ich es Ihnen«). Im allgemeinen hat übrigens die Paranoia dazu, verschlossen, starr, mißtrauisch, depressiv

216 217
zu sein; er bringt ein Gefühl des Verfolgtseins zum Aus­ psychiatrische Diskurs ist nicht nur individualisierend. Er
druck, das dem Psychiater zufolge eine klassische Strategie isoliert zwar den Urheber von der Welt, indem er die Ursa­
von Paranoikern ist, um ihre Aggressionen zu rechtfertigen che seiner Handlungen als Ausdruck einer Beziehung zu
(»Ich hatte den Eindruck, daß man mich schlecht behan­ sich selbst präsentiert. Aber gleichzeitig sozialisiert er die
delt hat, also habe ich mit Gewalt reagiert«). Die Mischung Handlungen und ihre Folgen : Er schildert das Verbrechen
aus Mitteilungsbedürfnis / Unreife / Paranoia unterhält ei­ als Bedrohung, die auf der ganzen Gesellschaft lastet. In
nen Zyklus der Gewalt, der nie beherrscht wird und auch diesem Sinne wird jede Straftat als Aggression gegen »die
nicht beherrschbar ist, so daß der Angeklagte eine »erwie­ Gesellschaft« aufgefaßt.
sene Bedrohung« darstellt, wenn es keine Bestrafung und Wir erinnern uns daran, daß bei Rousseau jedes Verbre­
anschließend medizinischen Gewahrsam gibt. chen den Moment eines Krieges zwischen dem devianten
Anläßlich dieser Vergewaltigungs- und Freiheitsberau­ Individuum und der Gesellschaft darstellte. Die Konse­
bungssache haben der Psychiater und die Psychologin das quenzen der psychiatrischen Sichtweise sind davon nicht
geschildert, was sie als klinisches Bild der Persönlichkeit besonders weit entfernt. Das Verbrechen wird als die zum
des Angeklagten schildern. Diese Sprachelemente könnten Vorschein gekommene Spitze und als Augenblick der Ak­
als sekundär oder anekdotisch erscheinen. Sie nehmen je­ tualisierung einer strukturellen Asozialität dargestellt, die
doch im Gegenteil eine wesentliche Stellung im Dispositiv die Gesellschaft bedroht und verletzt. Die Existenz des Ver­
des Prozesses ein. Sie stützen und akzentuieren die Logik brechers stellt eine Aggression dar, die jedermann betrifft.
der Vergeltung: Diese Züge werden nämlich von der Staats­ Sie bringt das Gesellschaftsleben durcheinander. Daher ist
anwältin bei ihrer Anklagerede wieder aufgenommen wer­ hier auch eine implizite Vorstellung des Verbrechers als
den. Entsprechend der typischen Vorgehensweise wird sie eines Wesens am Werk, das sich im Krieg gegen die Gesell­
denjenigen, der verurteilt werden soll, als abweichende schaft befindet. Diese Vorstellung begründet die Idee, der
Persönlichkeit konstruieren, die »außerhalb ihres Verbre­ zufolge die Gesellschaft Krieg gegen ihn führen muß. Die
chens« existiert - um die Formulierung Foucaults aufzu­ Logik des Rechts, die abstrakte Logik und die psychiatri­
greifen. Sie schildert ihn anhand der Züge eines »sexuellen sche Logik stellen drei wesentliche Stützen der Logik der
Raubtiers«, das eine »äußerste kriminologische Bedrohung« Vergeltung dar. Und dem psychiatrischen Diskurs gelingt
darstellt. es auf diese Weise, mit dem Strafrechtsstaat in ein Verhält­
Wozu hat der Prozess gedient? Was ist während der drei­ nis der Wesensverwandtschaft einzutreten, und zwar so­
tägigen Anhörung geschehen? Es handelte sich weder um wohl vom Gesichtspunkt des Systems der Gerichtsbarkeit
Schuld noch um Verantwortung. Die Vergangenheit des als auch von dem des Bestrafungssystems.
Angeklagten, die Untersuchungen seiner Persönlichkeit, das In ihrem Buch La Vie ordinaire des assises, wo sie von
Strafregister, die medizinischen und psychologischen Gut­ acht Anhörungen erzählt, denen sie beigewohnt hat, gibt
achten etc. haben sich allmählich angesammelt, um aus der auch Marie-Pierre Courtellemont die inklusive Logik und
ganz bestimmten Vergewaltigung, um die es ging, ein allge­ die Technik der D ramatisierung wieder, die die Logik des
meineres Verhalten zu machen. Mit anderen Worten, der Strafrechts struktur ieren und sich im Zentrum der Einlas-

218 219
sungen des Staatsanwalts befinden. Sie erwähnt beispiels­ ihrer Eltern, und das ist eine kollektive Gefahr. Sind diese
weise einen Prozeß wegen bewaffneten Raubüberfalls am Angeklagten also schuldig? Ich sage: Ja.«2
Schwurgericht von Versailles. Der Staatsanwalt macht dar­
aus den Prozeß gegen Raubüberfälle und bewaffnete Dieb­
stähle: »Meine Damen und Herren, während Sie sich bera­ Schlußfolgerung
ten, bitte ich Sie, zwei Minuten lang die Augen zu schließen
und sich die Szene vorzustellen. Die Schreie, die Gewalt Drei Sprengkörper, die als Dinge konstruiert wurden, die
sich vorzustellen. Außer daß wir hier nicht im Kino sind, die Demokratie in Gefahr gebracht haben; eine Vergewalti­
dies ist keine Fiktion. Im Departement Yvelines hat es in gung, die als Aktualisierung einer Aggressivität behandelt
den letzten zwei Monaten sechshundert bewaffnete Dieb­ wird, die die Gesellschaftsordnung bedroht; ein Raubüber­
stähle gegeben. Das ist viel. Verharmlosen Sie nicht die be­ fall, der in ein Symbol der Unsicherheit umgewandelt wird;
waffneten Diebstähle.«1 Etwas später im Buch erzählt die eine Vergewaltigung Minderjähriger, die das Inzestverbot
Autorin einen anderen Fall: ein Prozeß wegen Vergewal­ schwächt und eine kollektive Gefahr darstellt . . . Diese rhe­
tigung Minderj ähriger, wobei die Angeklagten der Vater torischen Maßnahmen veranschaulichen die Art und Wei­
der Opfer und ein Freund der Familie waren. Auch hier be­ se, wie die Logik des Strafrechts einer Praxis der Überdeter­
stehen die Anträge darin, diese Ereignisse als Sonderfälle mination entspricht. Im Strafrecht wird ein Verbrechen im
einer kollektiven Gefahr zu beschreiben. Sie ordnen sie in Grunde niemals als das beurteilt, was es wirklich ist. Die
eine globale Reihe ein und stellen den Prozeß als wesent­ Handlung wird systematisch so konstruiert, als würde sie
lichen Moment in der Reaktion der Gesellschaft auf die eine globale Wirklichkeit betreffen, die durch das Recht
Schwächung des Inzesttabus dar, die die Kindheit in Ge­ und im Verlauf des Prozesses performativ konstruiert wird.
fahr bringt: »Ich bin beauftragt, den gesellschaftlichen Es wäre nicht falsch zu sagen, daß die Angeklagten in
Frieden regieren zu lassen, zu verhindern, daß es eine Pri­ einem gewissen Sinne immer auf die eine oder andere Wei­
vatjustiz gibt. Nun kann die Gesellschaft aber nicht existie­ se für H andlungen bestraft werden, die sie nicht begangen
ren, ohne daß es ein Inzestverbot gäbe [die Staatsanwälte haben - das Wesen und die Bedeutung dieser Handlungen
warten ständig mit Sätzen dieses Typs auf, die sie anschei­ werden vom Staat nachträglich und im Verlauf des Prozes­
nend sehr intelligent finden] . Die Kinder haben ein Recht ses geschaffen. Man könnte beinahe wagen, die Dinge fol­
auf Schutz, weil sie zerbrechlich sind, weil sie sich in voller gendermaßen zu beschreiben: Man wird immer für etwas
Entwicklung befinden. Vergewaltigungen Minderjähriger stel­ bestraft, was man nicht getan hat. Die Idee der Bestrafung
len heute die Hälfte der Rechtsangelegenheiten dar, die von setzt eine Neudeutung der Handlungen durch die Institu­
den Schwurgerichten unseres Departements Seine-Saint-De­ tion des Gerichts voraus, die sie gegenüber der Wirklich­
nis abgeurteilt werden. Diese Kinder bezahlen für die übel keit ihrer Zugehörigkeit zu lokalen Situationen und singu­
lären Kontexten umwandelt. Die Gewalt der Strafjustiz

1 C ourtellemont, La Vie ordinaire des assises, S. 205. 2 Ebd„ S. 309.

220 221
leitet sich zum großen Teil aus dieser Praxis der Überdeter­
mination ab. Sie ist es, die eine Bestrafung der Handlungen
möglich macht, die in keinem Verhältnis zu den objektiven,
verursachten Schäden steht und tatsächlich eher propor­ 4
tional zur Gewalt ist, d ie das Strafsystem selbst ihnen zuge­ Strafrecht, Souverä n ität u n d D e m o k ratie
wiesen und in sie hine ingelegt hat.3
Aufgrund dessen erscheint die so geläufige und in der
juristischen Theorie so weitgehend verwendete Unterschei­ Das Problem, das sich für jede Kritik des Bestrafungssystems
dung zwischen gemeinrechtlichem und politischem Ver­ stellt, besteht darin herauszufinden, auf welchen Grundla­
brechen, zwischen gewöhnlicher und Ausnahmejustiz ver­ gen und wie das Dispositiv des Strafrechts in Frage zu stel­
schwommener und unsicherer denn je. Die eigentliche len ist. Es ist schwierig, sich etwas anderes vorzustellen,
Idee des Strafrechts setzt voraus, daß jedes Verbrechen sich vorzustellen, was ein anderes Recht, das weniger re­
oder jedes Delikt, selbst das allergewöhnlichste oder alltäg­ pressiv und gewalttätig wäre, bedeuten könnte. Aus diesem
lichste, selbst das bestimmteste als Verbrechen oder Delikt Grund ist es ebenfalls schwierig zu erfassen, was es in dem
gegen die Gesellschaft oder gegen den Staat - und folglich System, das wir kennen, an Problematischem und folglich
als politisches Verbrechen - ausgelegt und dann verurteilt Veränderlichem gibt.
wird. Und die Logik der Sanktion selbst, der zufolge der Ich möchte darüber nachdenken, was den symbolischen
Staat eine spezifische Bestrafung für diesen Angriff auf den Konstruktionen, die den Bestrafungsapparat des Staats stüt­
»Gesellschaftskörper« und diese Herausforderung der Ge­ zen, entgegengestellt werden könnte. Wie gesagt, geht es
setzesordnung einführt, muß als Repräsentant eines politi­ mir keineswegs darum, eine Position zu verteidigen, die
schen Rituals verstanden werden, durch das der Souverän auf die eine oder andere Weise die Idee des Gesetzes, des
seine Autorität öffentlich wiederherstellt und die Krän­ Staats oder gar der Sanktion angreifen würde. Aber gleich­
kung auslöschen w ill, die seiner A nsicht nach ihm gegen­ zeitig ist es nicht legitim, die Form und Richtung, die eine
über begangen wurde - um sich als Staat zu behaupten. kritische Untersuchung annehmen und einschlagen könnte,
a priori zu begrenzen. Ich möchte versuchen zu verstehen,
welche anderen Vorstellungen des Verbrechens, der Strafe,
der Sanktion entwickelt werden könnten, welche anderen
Auffassungen des Gesetzes gefördert werden könnten, um
durch den Vergleich die Grundlagen des modernen Justiz­
systems zu erfassen.
Über eine alternative Form der Auffassung der Justiz
3 In La Justice en proces gibt Jean Berard auf sehr interessante Weise
und darüber nachzudenken, was eine gerechtere Justiz be­
femi nistische Trad itionen der Kritik der strafrechtl ichen Behand­
deuten könnte, ist keine bereichsspezifische Frage. Sie fuhrt
lung von Vergewaltigungen und der Art und Weise wieder, wie
die Staatsanwälte und Richter sich mit dieser Frage befassen. zur Begegnung mit allgemeinen Fragen, natürlich auch zur

222 223
Neuentwicklung des Begriffs des Verbrechens, aber vor al­ spektive schließt sich der liberale Ansatz der kritischen So­
lem in einem allgemeineren Sinne zur Neugestaltung der ziologie bei ihrem Unternehmen an, die Dispositive der
Begriffe der Nation, der Gesellschaft, der Totalität, der po­ Macht in Frage zu stellen.
litischen Gemeinschaft, des Staats oder des Gesetzes. Im Wen n man beispielsweise die ganz wichtigen Texte des
Grunde erfordert die Infragestellung des heutigen Straf­ Ökonomen Gary Becker über Verbrechen und Strafen1 liest,
rechtssystems die Erfindung einer neuen Sprache, um un­ stellt man fest, daß ihr Hauptziel darin besteht, die Rele­
sere Weisen des Verstricktseins in die Welt und unsere vanz transzendenter Totalitäten (»öffentliche Ordnung« ,
Handlungen zu verstehen, eine Sprache, die sich der Ana­ »Staat « , »Gesellschaft«) , die den vergeltenden Gebrauch
lytik Rousseaus, Kants und Durkheims entzieht. Wir müs­ des Rechts begründen, abzulehnen und die Handlungen
sen den Gebrauch hinterfragen, den diese Autoren und der und ihre Wirkungen auf das zurückzuführen, was sie wirk­
Staat von den Kategorien des Sozialwissenschaften oder lich sind, d. h. auf ihre Singularität: Ein krimineller Akt ist
der politischen Philosophie machen. eine interpersonelle Beziehung, in der ein Individuum ei­
nem anderen ein Unrecht zugefügt hat. Ein Verbrechen ist
eine laterale und lokale Angelegenheit. Es setzt Opfer und
Das Strafrecht auflösen Schuldige in Beziehung zueinander und nicht, wie das zeit­
genössische Recht glauben macht, Individuen und den
In der neoliberalen und libertären Tradition findet man Staat, Individuen und die Gesellschaft oder Individuen und
Werkzeuge für die Entwicklung eines Gegenangriffs auf das Recht.
die Idee des Strafrechtsstaats und des B estrafungsapparats. Gary Becker schlägt eine neue Definition des Verbre­
Diese Behauptung mag zwar auf den ersten Blick über­ chens vor, eine ökonomische Definition, die im Gegensatz
raschen und vielleicht sogar schockierend sein. In einem zur strafrechtlichen Definition steht. Ich bin fast versucht
gewissen Sinne ist nämlich der Neoliberalismus eine indi­ zu sagen, daß er eine Wahrheit ausspricht, die mit der ver­
vidualistische Tradition, die der Idee des verantwortungs­ fälschenden Vorstellung vom Verbrechen bricht, die der
vollen Individuums anhängt, die ich im vorangegangenen Bestrafungsapparat des Staats geltend macht: Das Verbre­

Teil erwähnt habe. Aus diesem Grund unterstützt er eine chen ist keine ö ffentliche Angelegenheit, die so etwas wie
der Komponenten unseres Justizsystems, das System der »die Gesellschaft« oder das Gesetz verletzen würde. Es ist
Gerichtsbarkeit. eine Privatangelegenheit. Im Grunde, so Becker, könnte

Aber wenn man sich in den Rahmen einer Reflexion auf man sagen, daß die Opfer nichts weiter als Gläubiger sind,

jene andere Komponente stellt, die im Bestrafungssystem die diesen Status nicht akzeptiert haben. Die Konsequenz

besteht, bringt diese Analytik kritische Wirkungen hervor.


Ihre Ablehnung substantialistischer und abstrakter Kate­ i Gary Becker, 1he Economic Approach to Human Behavior, Chi­
gorien gestattet ihr, eine Auffassung des Handelns vorzu­ cago, Chicago University Press, i976, S. 39-85; <lt.: Der ökonomi­
schlagen, die im radikalen Gegensatz zu derjenigen steht, sche A nsatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen,
Mohr, 1982, S. 39-87.
die den Apparat des Strafrechts begründet. Aus dieser Per-

225
224
dieser Sichtweise ist logisch: Die »Sanktion«, die vom Recht Sanktion, ihrer Definition und ihrer Implikationen auf in­
bestimmt wird, muß zum alleinigen Ziel die Rückzahlung novative und, wie ich sagen muß, besonnene Weise anzu­
dieses »Kredits« haben, d. h. die Wiedergutmachung des gehen, ist mit seiner Zugehörigkeit zur neoliberalen Tradi­
verursachten Schadens. Die j uristische Reaktion auf das tion verbunden, deren wesentliches Ziel die Ablehnung
Verbrechen soll die Form einer Verpflichtung zur Wieder­ totalisierender und transzendenter Ansätze und Souverä­
gutmachung des objektiven und subjektiven Schadens an­ nitätsprinzipien ist.3 Die liberale Rationalität gründet sich
nehmen, den das Opfer erlitten hat. Zur bevorzugten »Stra­ auf die Weigerung, die Gültigkeit einer Wirklichkeitsebene
fe« wird also der Schadensersatz. anzuerkennen, die der disharmonischen Vielheit der Indi­
Diese Auffassung führt zu einer sehr scharfen Kritik der viduen und der interindividuellen Beziehungen überge­
Bestrafungspraxis, der repressiven Auffassung des Geset­ ordnet wäre. In dieser Sichtweise gibt es nur Individuen
zes und daher insbesondere jener zusätzlichen und süh­ und individuelle Beziehungen.
nenden Strafe, die das Gefängnis (und in manchen Fällen Natürlich führt die liberale Sichtweise nicht zur Ableh­
sogar die Geldstrafe) darstellt. In einem 2011 veröffentlich­ nung der Begriffe des Staats, des Rechts, der Sanktion, des
ten Text antwortete Gary Becker auf die Frage, ob es im Verbots oder des Gerichts. Es geht keineswegs darum, die­
Gefängnis zu viele Leute gäbe, mit »Ja«. Er bleibt zwar se Kategorien, diese Handlungsregister abzulehnen, als ob
maßvoll und vorsichtig - und er hat Recht. Das Gefängnis es in einer neoliberalen Gesellschaft weder Verbrechen noch
scheint ihm für bestimmte Verbrechen oder bestimmte Aggression noch Recht noch Sanktionen noch Gerichte gä­
Verbrecher notwendig zu sein. Trotzdem sind zu viele be. Im Gegensatz zu vielen anarchistischen Utopien stellt
Menschen inhaftiert. Dieser Überschuß läßt sich durch sich die neoliberale Utopie nicht vor, eine harmonische Ge­
zwei Hauptgründe erklären: Einerseits gibt es zu viele sellschaft der Zukunft zu schaffen. Die Gesellschaft wird
Handlungen, die als Verbrechen bestimmt werden, obwohl immer durch Gegensätze, Konflikte, Schädigungen ande­
sie es nicht sein sollten und folglich auch keine Vergeltung rer etc. geprägt sein.
seitens des Staats hervorrufen sollten (Gary Becker denkt Aber dieses System gibt der Kriminalität und der Justiz
an die »Verbrechen ohne Opfer« und insbesondere an die eine neue Definition. Diese Definition ist der staatlichen
Drogenfrage), andererseits wird das Gefängnis exzessiv Konstruktion der Kriminalität und Justiz, die man in der
als Sanktionsinstrument genutzt. Bei den Verbrechen oder modernen Justiz am Werk sieht, entgegengesetzt. Die libe­
Vergehen, die wenig Schaden verursachen und bei denen rale oder l ibertäre Rationalität ist individualisierend. Sie
die Schädigung leicht wiedergutzumachen ist, stellt der nimmt eine Vergewaltigung, einen Diebstahl, eine Beleidi­
Schadensersatz eine viel angepaßtere - und für die Gesell­ gung, eine Aggression als das wahr, was sie sind: private,
schaft viel weniger kostspielige - Sanktion dar. 2 singuläre Angelegenheiten zwischen zwei Akteuren, die je­
Die Fähigkeit Beckers, die Frage des Verbrechens, der weils spezifisch sind. Die Funktion der Justiz sollte es sein,

2 <http : // www.becker-posner-blog.com / 2011 / 12 / does-america­ 3 Vgl. Geotfroy de Lagasnerie, La derniere lefon de Michel Fo ucault.
imprison -too-many-people -becker.html). Sur le neoliberalisme, la theorie et la politique, Paris, Fayard, 2012.

226 227
die Sanktion und die Wiedergutmachungfür die verursach­ dem Ende der i97oer Jahre einer Transformation der Rolle
te Verletzung zu verwalten. Das Strafrecht und das verti­ des Staates beiwohnten. Nach und nach, Maßnahme um
kale Recht ersetzt sie durch die Idee eines horizontalen, Maßnahme sähen wir in Europa wie in den Vereinigten
kompensatorischen oder rekonstruktiven Rechts. Daher Staaten einer Intensivierung des repressiven Handelns der
wird hier in keinem Fall die Vorstellung akzeptiert, die für Staaten zu beim Übergang vom »Sozialstaat« zum »Straf­
den Staatsapparat wesentlich ist und der zufolge die Verge­ rechtsstaat«. Dieser Wandel wird als eine Folge des Abbaus
waltigung, der Diebstahl, die Beleidigung, die Aggression der sozialen Sichtweise der Welt zugunsten einer indivi­
vor allem Störungen der öffentlichen Ordnung darstellten, dualisierenden Sichtweise präsentiert: der liberalen oder
H andlungen, die gegen die Interessen der Gesellschaft ge­ neoliberalen Sichtweise.
richtet sind und die genau aus diesem Grund bestraft wer­ Der Neoliberalismus stelle eine Utopie auf dem Weg zur
den sollten. Die Sichtweise des Verbrechens als Handlung, Verwirklichung dar, deren Prinzipien die Wirkung der von
die die Gesellschaft stört, und infolgedessen der Glaube Pierre Bourdieu so genannten »linken Hand« des Staats dis­
an die Legitimität von strafrechtlichen Verfolgungen, die qualifizieren würden: soziale Gerechtigkeit, Umverteilung,
von der Staatsanwaltschaft parallel zu den zivilrechtlichen Interventionismus, kollektive Solidarität, Fürsorge . . . Der
Klagen des Opfers und sogar trotz der Weigerung des Op­ Neoliberalismus lehne sich an eine Logik des Individuums,
fers oder auch, wenn es überhaupt kein Opfer gibt (das Bei­ der Verantwortlichkeit und des individuellen »Verdiensts«
spiel der Drogen wird in dieser Hinsicht am häufigsten ge­ an. Er löse die Bindungen der Solidarität und die Empfin­
nannt), in die Wege geleitet werden können, erscheinen dungen gemeinsamer Zugehörigkeit auf, die die Möglich­
wie künstliche Konstruktionen, durch die der Staat eine be­ keit einer Intervention im Namen der sozialen Gerechtig­
stimmte politische Ordnung festigt und das Recht behaup­ keit begründen. Der Neoliberalismus bevorzuge den Abbau
tet, das er sich herausnimmt, nämlich Einfluß auf unser Le­ der Dispositive der Versicherung, der Umverteilung im
ben auszuüben. Ausgang von einer ökonomischen oder moralischen Kritik
(zum Beispiel bei Friedrich Hayek oder Robert Nozick) der
Steuern, der Fürsorge im Namen der angeblichen Überle­
Sozialstaat, Strafrechtssta a t, neoliberaler Staat genheit einer Gesellschaft, in der jeder frei über seinen Kör­
per und seine Arbeit verfügen könne und in der der Staat
Wenn man die Verbundenheit der neoliberalen Rationali­ nicht das Recht habe, die Individuen dessen zu enteignen,
tät mit der Kritik am Dispositiv des Strafrechts heraus­ was sie frei erworben hätten.
stellt, dann führt das zu einer ziemlich radikalen Infrage­ Diese individualistische Logik im Bereich der Ökono­
stellung einer Analytik, die sich bei der Untersuchung der mie führe zum Verfall des Sozialstaats. Das Erklärungs­
Transformationen der Ökonomie der Macht der heutigen schema ist hinreichend bekannt und wurde bereits von Ge­
Gesellschaften massiv festgesetzt hat. org Rusche und Otto Kirchheimer in ihrem klassischen
Einer der Diskurse, die sich heute am stärksten etabliert Werk über die Strafe formuliert: Die Zunahme der Armut,
haben, besteht nämlich in der Behauptung, daß wir seit des Elends, das durch den Abbau der sozialen Dispositive

228 229
hervorgerufen wird, bringt anomische Phänomene hervor Vor kurzem hat Bernard Harcourt eine etwas andere
- Vermehrung kleiner oder großer Vergehen, Chaos, Schmug­ Art und Weise vorgeschlagen, das Bestehen einer Entspre­
gel jeglicher Art - und damit eine Zunahme der Krimina­ chung zwischen der (neo-)liberalen Logik und der Praxis
lität und folglich der Repression.4 des Strafrechts und der Masseninhaftierung zu verstehen.
Aber der Neoliberalismus münde nicht nur in einer nu­ Er behauptet, daß die Vorstellung, der zufolge die Ökono­
merischen Zunahme von Straftaten. Vor allem trage er da­ mie mittels der Form des freien Markts organisiert und
zu bei, die Idee der Sanktion zu legitimieren und die Inten­ ohne Eingreifen des Staats dezentralisiert werden soll, not­
sivierung der Bestrafung von Vergehen und Verbrechen zu wendig von einem Diskurs begleitet würde - und daß
unterstützen: Die Sichtweise im Sinne der individuellen sie historisch immer von einem solchen begleitet worden
Verantwortung führe zu dem Gedanken, daß es keine »Ent­ sei -, der das Eingreifen des Staats wertschätzt und daran
schuldigung« für die Kriminalität gebe und daß es normal appelliert, die Personen zu bestrafen, deren Handlungen
sei, zu strafen. Um G esetzesübertretungen zu bekämpfen, die Handelsordnung gefährden. Der Straftäter oder der
bestünde die Lösung darin, die Menschen zu zwingen, den Kriminelle wird als eine Person wahrgenommen, die die
rechten Weg zu wählen, indem man die Kosten des Verbre­ normativen Fundamente einer Marktgesellschaft gefährdet
chens erhöht: Erhöhung der Strafen, Ablehnung jeglicher (Eigentum, Respekt vor dem Willen des anderen, Gewalt­
Milde, Verhängung von mehr Prügelstrafen. Ein verstärkter losigkeit) : Ihre Handlungen brächten den Wettbewerb zwi­
Bestrafungsapparat würde die Kriminellen abschrecken. schen den Akteuren durcheinander oder zerrütteten ihn;
Daraus folgt das Bestehen auf der Notwendigkeit, einen sie bedrohten das reibungslose Funktionieren des Liberalis­
starken Strafrechtsstaat zu garantieren, um die soziale Ord­ mus. I hre Neutralisierung ist folglich notwendig, wenn man
nung zu garantieren.5 die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung wünscht. Die
In diesem Analyserahmen hätte der Neoliberalismus we­ Idee des Laisser-faire und die Idee des Strafrechts, der
niger zu einer Verkümmerung des Staats als vielmehr zu (neo-)liberale Staat und der Strafrechtsstaat seien also in­
einer Wandlung seiner Funktionen geführt: vom Sozial­ nerlich miteinander verbunden: Sie stellen die beiden Sei­
staat zum Strafrechtsstaat, von der linken Hand zur rech­ ten derselben Gouvernementalität dar, die die Technik
ten Hand des Staats, von der sozialen zur strafrechtlichen des freien Markts wertschätzt. Aus diesem Grund spricht
Behandlung des Elends (Bestrafung der Armen) .6 Harcourt von einem »neoliberalen Strafrecht«.7
Die Sichtweise der Geschichte, die den Sozialstaat und

4 Vgl. Georg Rusche und Otto Kirchheimer, Sozialstruktur und


Strafvollzug, Frankfurt /M., Europäische Verlagsanstalt, 1981.
5 Zu einer nützlichen Synthese und einer knappen Zusammenstel­ Welt, Konstanz, UVK, 1997, S. 207-215 ; sowie »De l'Etat social a
lung der anglo-amerikanischen Arbeiten über das Thema vgl. Lo'ic !'Etat penal«, in: Actes de /a recherche en sciences sociales,
Wacquant, Les Prisons de la misere, Paris, Raisons d'agir, 1999. Nr. 124, September 1998.
6 Vgl. Pierre Bourdieu, »La demission de !'Etat«, in: ders., La Misere 7 Bemard Harcourt, 111e Illusion of Free Markets. Punishment a11d
du monde, Paris, Seuil, 1993, S. 337-350; dt.: »Die Abdankung des the Myth ofNatural Order, Cambridge, Harvard University Press,
Staates«, übers. v. A. Pfeuffer, in: Pierre Bourdieu, Das Elend der 2011.

230 231
den Strafrechtsstaat in Opposition bringt und das Straf­ präzis. Beim Staat gibt es Widersprüche, unterschiedliche
recht und den (Neo-)Liberalismus miteinander assoziiert, Handlungsprinzipien. Mit der Folge, daß, auch wenn die
ist überzeugend. Sie fügt ein System von begriffiichen Ge­ Opposition Sozialstaat/ Strafrechtsstaat relevant ist, um das
gensätzen mit einer historischen Erzählung zusammen, und System der Gerichtsbarkeit zu verstehen, sie doch nicht
sie erfaßt gut die Art und Weise, wie die Handlungen des die kritischen Werkzeuge liefert, die ausreichen, um jene
Staats an widersprüchliche theoretische Konstruktionen andere Dimension zu erfassen, die in der Praxis der Vergel­
anknüpfen können. Diese Sichtweise beschreibt einen Kon­ tung besteht.
flikt zwischen der Individualisierung und der Sozialisie­ Wenn man den Sozialstaat dem Strafrechtsstaat entge­
rung, zwischen der Logik der Verantwortlichkeit und der gensetzt, indem man letzteren mit der Zerstörung von So­
Logik der Solidarität. Die liberale Politik bringe die Preka­ lidaritäten, mit dem Individualismus, dem Neoliberalismus
risierung und die Entwicklung von Ungleichheiten hervor. etc. assoziiert, so setzt das voraus, daß man völlig ausblen­
Die soziale Politik bevorzuge die Versicherung und die det, was die Idee der strafrechtlichen Vergeltung nährt und
soziale Gerechtigkeit. Mit der Konsequenz der Wahl zwi­ möglich macht: die »hegelsch-durk.heimsche« Sicht der Ge­
schen einem starken Strafrechtsstaat auf der einen Seite sellschaft oder die »rousseausch-kantische« Sicht des Staats
und einem Sozialstaat auf der anderen. als transzendente Instanzen. Die Bestrafungspraktiken set­
Im vorangehenden Teil habe ich selbst eine Analyse vor­ zen die Idee der »Gesellschaft(< voraus. Ohne diese sozialisie­
gelegt, die zeigt, wie die theoretischen Rahmenvorstellun­ renden Abstraktionen gibt es kein Strafrecht. Wenn die heuti­
gen des Sozialstaats als Gegenspieler der Rahmenvorstel­ gen Umwandlungen des Staats wirklich durch eine liberale
lungen bestimmt werden können, die den Strafrechtsstaat Logik motiviert wären, hätten sie nicht die Form der Er­
unterstützen, so daß auch ich eine Opposition zwischen starkung des Strafrechtsstaats angenommen. Die individua­
Sozialstaat und Strafrechtsstaat geltend gemacht habe. Ich lisierende, neoliberale Logik funktioniert wie eine Kritik
behaupte, daß wir es hier vom Gesichtspunkt der Auffas­ des Strafrechts und der Begriffe, die diese Praxis begrün­
sung des Handelns und aus der Sicht dessen, was in der den (wie man in den Texten Gary Beckers sieht), wohinge­
Welt geschieht, mit zwei antagonistischen Dispositiven zu gen ein gewisser Gebrauch einer kollektiven Sichtweise den
tun haben, die einen unterschiedlichen Blick auf die Welt Bestrafungsapparat stützt. Daher haben wir es hier mit Kor­
formen, die mit unterschiedlichen Weisen verbunden sind, relationen zu tun, die gegenüber den herkömmlicherweise
sich um das Geschehen zu kümmern und darauf zu reagie­ vorausgesetzten umgekehrt sind. Der Strafrechtsstaat ist
ren, die das System der Gerichtsbarkeit möglich machen ein Sozialstaat. Er stützt sich auf soziale Kategorien. Infol­
oder im Gegenteil dazu zwingen, es in Frage zu stellen. gedessen kann man den Strafrechtsstaat und den Sozial­
Aber die Dinge sind immer kompliziert, und diese Op­ staat nicht in einen strikten Gegensatz bringen oder den
position läßt sich abstufen. Denn von einem anderen Ge­ Strafrechtsstaat mit dem Neoliberalismus verbinden. Denn
sichtspunkt aus kann die Opposition zwischen Sozialstaat der Neoliberalismus begünstigt nicht die Prinzipien des
und Strafrechtsstaat in Frage gestellt und kritisiert werden. Strafrechtsstaats, sondern seinen Abbau.
Sie ist weder hinreichend differenziert noch hinreichend Pierre Bourdieu hat nicht unrecht, wenn er sagt, daß

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der Neoliberalismus die Zerstörung der Kollektive als Pro­ Man muß sich jedes Mal die Frage nach den Wirkungen
gramm enthält.8 Dieses Projekt des Abbaus transzendenter
der Inklusi on und der Schaffung von Dispositiven der So­
Instanzen, die an theoretische Fiktionen und an politische zialisierung und Zugehörigkeit stellen.
Gefahren assimiliert wurden, knüpft an eine erneute In­ Eine emanzipatorische Praxis muß strategisch vorge­
fragestellung des Sozialstaats an - aber nicht jeder mög­ hen. Je nach Fall und Situation kann sie sich daher veran­
lichen Spielart. Dennoch fordert diese individualisieren­ laßt sehen, auf Instrumente zurückzugreifen, die auf den
de Sichtweise auch zu einer erneuten Infragestellung des ersten Blick widersprüchlich zu sein scheinen. Da der Straf­
Strafrechtsstaats und der Logik der Vergeltung auf. Anders rechtsstaat die Ursachen individualisiert, um verurteilen zu
gesagt: Wenn es stimmt, daß der Neoliberalismus ein Pro­ können, erfordert die Kritik der Operationen des Rechts
gramm der Zerstörung der Kollektive darstellt, muß man die Reflexion auf die Wirkungen der Gewalt, die diese Ver­
hinzufügen, daß umgekehrt die Soziologie ein Programm dunkelung der sozialen Kräfte hervorbringt. Aber anderer­
zur Konstruktion des Kollektiven darstellt. Und diese Hand­ seits ist es auch notwendig, ihm eine libertäre Sichtweise
lungen können, je nach dem, positive oder negative Effekte entgegenzustellen, die die Wahrnehmungen auflöst, die
haben. von totalisierenden Begriffen wie denen der Gesellschaft,
Infolgedessen darf die politische Frage nicht auf die des Kollektivbewußtseins etc. verfestigt werden, da ja der
nach dem Kollektiven gegenüber dem Individuellen, der Staat die interindividuellen Handlungen und ihre Wirkun­
» Soziologie« gegenüber dem »Neoliberalismus « , der sozia­ gen zum Zwecke der Vergeltung sozialisiert. Einerseits geht
len Sichtweise gegenüber der liberal-strafrechtlichen Sicht­ es also darum, eine soziologische Sichtweise gegen eine in­
weise reduziert werden. Man muß sich bemühen, sich Fra­ dividualisierende Sichtweise in Anschlag zu bringen, und
gen nach dem Sinn, den Wirkungen, den Konsequenzen andererseits eine libertäre gegen eine sozialisierende Sicht­
des Aufbaus oder der Zerstörung dieses oder jenes Kollek­ weise.
tivs z u stellen. Warum soll man eines aufbauen, und war­ Man kann sich diese unbequeme Situation klarmachen,
um soll man es so aufbauen? Wie ? Und welche Wirkungen indem man die Tatsache heranzieht, daß die Welt (und in
ergeben sich daraus? Kurz, wir brauchen eine Praxis der diesem Fall der Staat) nicht kohärent geordnet ist, daß sie
Bewertung des Sinnes des Kollektiven. Es gibt Verwendun­ widersprüchlichen Logiken gehorchen kann, so daß auch
gen des Begriffs des »Kollektiven«, die befreien, absichern, die emanzipatorische Praxis sich entlang von Achsen ent­
schützen. Aber es gibt auch andere, die entfremden, Zwän­ falten muß, die untereinander als antagonistisch erschei­
ge ausüben, versehren, unterdrücken. Die meisten tun all nen mögen, aber die tatsächlich dasselbe strategische Ziel
dies zugleich. Es hat nicht viel Sinn, »für« oder »gegen« anvisieren : die Bewertung der Dispositive der Macht und
die Zerstörung oder den Aufbau von Kollektiven zu sein. die Verringerung des allgemeinen Ausmaßes an Gewalt.
Jedenfalls könnte man auch geltend machen, daß wir
hier in der Tat die beiden großen Sichtweisen wieder fin­
8 Pierre Bourdieu, »L'essence du neoliberalisme«, in: Le Monde di­
plomatique, März i998; wiederabgedruckt in ders., Contre-Jeux, den, die sich aus einem soziologischen Ansatz ergeben -
Paris, Raisons d'agir, i998, S. 108-119. Sichtweisen, die manchmal widersprüchlich scheinen mö-

234 235
gen und die die Spannungen erklären, die bei den politi­ lieh, und scheint jedenfalls im Hinblick auf jene Verletzun­
schen Praktiken am Werk sind, welche sich auf soziolo­ gen eines praktischen Sinnes zu entbehren, die Aggressio­
gische Analysen berufen. Die Soziologie zeigt nämlich ei­ nen und Vergehen gegenüber Personen betreffen : Verge­
nerseits die Stärke der sozialen Determinationen und die waltigungen, Schläge und Verletzungen, erst recht Morde,
präskriptive Kraft der Sozialisationsmechanismen. Von die­ Raubmorde etc. Denn durch welche Kompensationen könn­
sem Gesichtspunkt aus ist jeder individualisierende Diskurs ten solche Schädigungen »wiedergutgemacht« werden? Mit
gewaltsam, weil er verhindert, sich das, was in der Welt ge­ anderen Worten, ich sage hier keineswegs, daß die einzige
schieht und was wir vollbringen, als die Aktualisierung struk­ legitime Justiz die zivile Justiz der Wiedergutmachung zum
tureller und globaler Prozesse vorzustellen (die Kritik des Nachteil der Strafrechtsjustiz ist - um so mehr, als eines der
Systems der Gerichtsbarkeit geht auf diesen Typ von Re­ Ziele gerade darin bestehen könnte, sich einen Typ von Ju­
flexion zurück). Aber die Soziologie hebt andererseits die stiz vorzustellen, der sich diesen bekannten Formen entzie­
Zwänge deutlich hervor, die die gesellschaftlichen Gruppen hen könnte und sich jenseits der Logik von Wiedergutma­
und die aufgezwungenen Zugehörigkeiten auf uns ausüben, chung und Vergeltung befände.
die Kämpfe, die innerhalb der Gesamtheit der Beziehun­ Was ich vielmehr zeigen will, ist, daß es möglich ist, von
gen am Werke sind, die wir eingehen, familiäre, freund­ dieser Fik"tion und vielleicht sogar von diesem Streben nach
schaftliche, wirtschaftliche etc. Aus dieser Perspektive sind einer lateralen Justiz auszugehen, wo der Staat einzig und
es die sozialisierenden Diskurse, die gewaltsam sind, da sie allein als Schiedsrichter eingreifen würde, der Privatkon­
uns daran hindern, daß wir die Mittel in die Hand nehmen, flikte bewertet und entscheidet, und nicht als anklagende
um uns vom Einfluß der Kollektive zu befreien, deren Mit­ Partei, um die Prinzipien freizulegen, die die Konstruktion
glieder wir sind, oder die Wirkungen der Macht aufzulösen, des strafrechtlichen Dispositivs stützen. Die Idee eines zivi­
die sich aus unserer Unterwerfung unter transzendente Lo­ len, horizontalen, singulären Rechts gibt Werkzeuge an die
giken ergeben (die Kritik des Bestrafungssystems gehört Hand, um das zu enthüllen, was im Gegensatz dazu bei der
zu diesem Register) . Logik der Vergeltung auf dem Spiel steht und diese unter­
stützt: Wie läßt sich diese Konstruktion erklären? Im Dien­
ste welches Systems der Macht steht sie? Ich möchte zeigen,

Strafrecht und So uveränität wie die Frage nach dem Strafrecht den Weg für eine Refle­
xion auf die heutige p olitische Ordnung, auf den Staat er­

Die Idee des Rechts, die von der libertären Sichtweise un­ öffnet, so daß es unsere politische Verfaßtheit als Rechts­

terstützt wird, nämlich die eines Rechts, das rundweg nicht subjekte und Staatssubjekte ist, die im Justizsystem auf dem

strafrechtlich ist, eines Rechts, das sich damit begnügte, Spiel steht.

Dispositive der interindividuellen Wiedergutmachung und Die libertäre Auffassung des Rechts ermöglicht es zu er­

Entschädigung zu verwalten, und daher die Idee einer nicht­ kennen, inwiefern der Strafrechtsstaat eine Technik dar­

repressiven Justiz ohne »Repräsentant der Gesellschaft«, stellt, deren Zweck es ist, einen Gesetzesfetischismus zu er­

ohne Staatsanwalt, ist schwer vorstellbar, vielleicht unmög- zeugen und uns Subjekten Dispositionen zum Gehorsam

237
236
und zur Unterwerfung einzuimpfen. Das Ve rbrechen wird öffentlichen Ordnung zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt
zwar sowohl nach der liberalen Auffassung als auch nach wird, weil sie 45 ooo Euro bei einem Raubüberfall erbeutet
der strafrechtlichen Auffassung als eine Handlung der Über­ hat, mit der Begründung, daß, da es sich um eine Wieder­
tretung definiert. Aber die Definition des Gesetzes und da­ holungstat handelte, die Person das Gesetz verachten wür­
mit auch die seiner Übertretung sind nicht identisch; sie de, das eine exemplarische Sanktion und eine Ermahnung
sind einander sogar entgegengesetzt. Nach der liberalen erfordern würde.9
Auffassung wird das Gesetz nicht wie ein autonomes und Der wesentliche Einsatz einer libertären - und, wie ich
für sich selbst geltendes System verstanden. Es ist bloß eine glaube, demokratischen - Auffassung ist die Behauptung,
juristische Umschreibung des Schutzes der Eigentumsrech­ daß es einzig und allein deshalb ein Verbrechen gibt, weil
te jedes einzelnen im Hinblick auf seinen Körper und sei­ es ein Opfer gibt, denn es ist die Existenz eines Opfers,
ne Güter. Die Ü bertretung des Rechts w irft daher als sol­ die die Existenz eines Verbrechens beweist, so daß es die
che kein Problem auf. Es ist in keiner We ise schlimm, das tatsächliche Eigenart des zugefügten Schadens ist, und nur
Recht zu übertreten. Das Problematische besteht darin, daß sie allein, die die Eigenart und das Gewicht der Sanktion
diese Übertretung einer anderen Person einen Verlust oder bestimmen soll. Das Gesetz und das Justizsystem kommen
eine Verletzung zufügt. nur sekundär ins Spiel, als Dispositive, die für die Gestal­
Was die strafrechtliche Auffassung betrifft, so ist sie mit tung der Sanktionen und der Wiedergutmachung der Schä­
einer autoritären Ethik verbunden : Sie schätzt eine reine den zuständig sind: Sie sind Instrumente, die im Dienste
Ethik der Konformität, eine Einstellung des Gehorsams um der Individuen und ihrer Rechte stehen. Die strafrechtli­
seiner selbst willen. Sie stellt das Verbrechen als eine Her­ che Sicht setzt dagegen das Gesetz als erste Instanz. Weil
ausforderung des Gesetzes dar, die aufgrund dieser Übertre­ es ein Gesetz gibt, gibt es ein Verbrechen - und es gibt so­
tung selbst bestraft werden muß. Die Verletzung des Geset­ gar nur ein Opfer, weil es ein Gesetz gibt, da ja der Staat als
zes ist demgemäß ein Problem an sich. Dieses Dispositiv Opfer der Überschreitung des Gesetzes auftritt. Kurz, das
begreift folglich die Ve rurteilung als eine Wiederherstel­ Gesetz gilt hier nicht, weil es die Individuen beschützt, son­
lung der Autorität des Gesetzes gegenüber Individuen, die dern einzig und allein, weil es aus dem Staat hervorgeht.
als rebellisch oder widerspenstig bezeichnet werden. Die Diese Vorstellung des Gesetzes dient dazu, den Staat und
strafrechtliche Praxis macht sich gegenüber einer Berück­ die juristisch-politische Ordnung als überragende Instan­
sichtigung der Handlungen in ihrer Objektivität und Wirk­ zen einzuführen, die mit einer eigenständigen Bedeutung
lichkeit selbständig, um das Spiel der Vergeltung in eine ausgestattet sind. Aus diesem Grund kann man, glaube
Szene einzuordnen, die nach dem Modus des Krieges den ich, die Bedeutung der Strafjustiz nur unter der Bedingung
Staat und seine Autorität einerseits und die Individuen verstehen, daß man sie in eine allgemeinere Ökonomie der
und ihre Neigungen zur Dissidenz andererseits in Opposi­ Macht einordnet. Um das Strafrecht zu denken, darf man
tion bringt. Was nur zu extravaganten und irrationalen
Konsequenzen führen kann wie, um ein Beispiel zu nen­ 9 <http:// www.politis.fr/ Pour-des-vols-de-survie-Philippe, 25460.
nen, wenn eine Person im Namen der Erfordernisse der html).

238 239
sich nicht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt beschrän­ findet, nicht immer noch eine souveräne Macht - oder
ken oder sich auf die Frage des Verbrechens und der Ge­ kämpft sie nicht darum, sich als souveräne Macht zu erhal­
setzesübertretungen konzentrieren. Man muß in Begriffen ten? Müßte man nicht nach und trotz Foucault erneut eine
der politischen Rationalität denken. Theorie des Staats als Zentrum und Ort der Macht behaup­
Wenn Foucault in Überwachen und Strafen die traditio­
ten ?
nelle Ökonomie der Konstruktion und Bestätigung der Das Strafrecht konfrontiert die Individuen mit einer
Macht des Königs analysiert, hebt er hervor, an welchem transzendenten Instanz (der Gesellschaft, dem Staat) und
Punkt in der Dialektik des Verbrechens und der Züchti­ lehnt sich an eine Rationalität an, die der Ordnung der pri­
gung dieses System sich am deutlichsten manifestiert. Die vaten Interaktionen völlig entgeht. In einer Gerichtsver­
Logik der Souveränität koppelt sich an die Vorstellung ei­ handlung symbolisiert die Gegenwart des Staatsanwalts,
ner Macht, die sich selbst als transzendent, als überlegen der als Opfer auftritt und im Namen »der Gesellschaft«
versteht und die sich als solche den Subjekten aufdrängen spricht, die Tatsache, daß die Welt des Strafrechts gegen­
will. Aus diesem Grund ist die Souveränität an die Kon­ über der Welt der Interaktionen autonom ist und sich auf
struktion einer neuen Definition der Kriminalität geknüpft. einen Bruch mit der Ordnung der Einzelwillen gründet:
Jede Gesetzeswidrigkeit erscheint hier als Akt, der die Au­ Es kann eine strafrechtliche Handlung ohne zivile Hand­
torität des Königs - den König selbst - herausfordert. Der lung geben oder ein Verbrechen ohne Opfer, und ebenso
König kann daher den Vergehen gegenüber nicht gleich­ ist die Vergebung unmöglich, die Einwilligung setzt das
gültig sein. Diese müssen eine heftige Reaktion seinerseits Vergehen nicht außer Kraft etc. Das Recht wird errichtet,
hervorrufen. Das Strafrecht hat eine rechtlich-politische indem es sich als mit einer eigenen Rationalität ausgestat­
Funktion : »Es handelt sich um ein Zeremoniell zur Wieder­ tet behauptet. Es funktioniert wie ein transzendentes Sy­
herstellung der für einen Augenblick verletzten Souveräni­ stem, das sich uns von außen aufdrängt. Das Dispositiv des
tät.« Bevor sie ein Justizakt ist, ist die Marter eine politische Strafrechts, der Bestrafungsapparat des Staats, wie wir sie
Handlung, die die Souveränität »erneuert [ . . . ] , indem sie kennen, stellen keine selbstverständlichen oder natürlichen
ein Feuerwerk ihrer Macht abbrennt « . 10 Rahmenbedingungen dar: Sie repräsentieren Modalitäten
Bekanntlich wird in einem wesentlichen Teil der Analy­ der Ausübung einer besonderen und historisch situierten
sen von Überwachen und Strafen behauptet, daß die Moder­ Macht, der souveränen Macht. Durch sie bringt der Staat
n e in einer Bewegung des Verschwindens der Souveränität Wirkungen der Unterwerfung, der Herrschaft und des
bestand zugunsten einer neuen Ökonomie der Macht, die Zwangs hervor.
lateral und verstreut, horizontal und lautlos ist: die Diszi­ Der Soziologe Nils Christie hat nicht unrecht, wenn er
plin. sagt, daß der Staat uns durch die Logik des Strafrechts
Aber sind wir wirklich aus dem Zeitalter der Souveräni­ bestiehlt. Oder besser, er bestiehlt die Individuen ihrer
tät herausgetreten ? Ist die Macht, die auf uns Anwendung Konflikte: Wen n es zu einer privaten Auseinandersetzung
kommt, wenn eine Aggression stattfindet, macht der Staat
10 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 64. sie sich zu eigen. Er enteignet die Parteien des Konflikts, in

240 241
den sie verstrickt waren. Er vertreibt das Opfer und tritt
manente Auffassung des Staats und des Rechts bezeichnen
selbst als Opfer auf; er setzt seine j uristischen Kategorien
kann : Sie beruht auf der Bestrebung, eine Regierung von
durch, seine Wahrnehmungsmodi, seine Charakterisierun­
sich selbst durch sich selbst einzurichten. Nun setzt aber
gen; und er bestimmt einen Modus der Regelung, den die
die Regierung von sich selbst durch den Staat die Auflö­
beiden Parteien zu akzeptieren gezwungen sind, dem sie
sung der transzendenten Substanzen, die Absetzung des
sich beugen müssen, und zwar unabhängig von ihrem Wil­ Souveräns und die Dekonstruktion der Idee voraus, der
len. Dieser Regelungsmodus (Verfahren, Strafe etc.) miß­ zufolge er »uns« gegenüber eigene Interessen hätte.12 In ei­
fällt möglicherweise den beiden Parteien. Er macht die ner Demokratie zu sein bedeutet abzulehnen, daß unser
Entfaltung anderer Logiken unmöglich, wie beispielsweise Verhältnis zur Politik und zum Recht ein Verhältnis der
jener der Vergebung, der Wiedergutmachung, des Einver­ Enteignung sei. Das zwingt zu einer Ablehnung aller Dis­
nehmens, die den Akteuren die Möglichkeit ließen, den positive, die dazu führen können, daß der Staat Logiken ge­
Ausgang des Konflikts selbst zu verhandeln - und viel­ horcht, die sich den Subjekten oder ihrer Kenntnis entzie­
leicht vor allem,
selbst zu bestimmen, was »aus diesem Kon­ hen. Die Logik der Demokratie schreibt den Aufbau einer
flikt herauszukommen« bedeuten würde. Die Justiz des zweckorientierten Auffassung des Staats und einer instru­
Strafrechts impliziert, daß der Staat die privaten Konflikte mentellen Auffassung des Gesetzes vor. Der Staat soll die
vereinnahmt, und sie enteignet die Akteure der Fähigkeit Form eines Werkzeugs im Dienste der Menschen anneh­
zur Verhandlung und zur Bestimmung der »Sanktionen« men, dessen einziger Zweck darin besteht, ihre Rechte zu
nach ihren eigenen Begriffen, ihrem eigenen Willen, ihren garantieren und zu schützen.
eigenen »Bedürfnissen«. So beschreibt Christie die Staats­ Aber der Staat hat nicht auf die Souveränität verzichtet;
anwälte und Richter als »professionelle Diebe« und die ju­ er entfaltet auch weiterhin Strategien zur Aufrechterhal­
ristischen Kategorien als Instrumente zur Enteignung un­ tung dieses Typs von Autorität und zum Fortbestand des
serer Erfahrung durch den Staat. 11 Typs von Bild des Gesetzes und des Verhältnisses zum Ge­
setz, an das sich diese Rationalität anlehnt. Die Existenz
eines vergeltenden Rechts und einer strafrechtlichen Pra­
Demokratie xis läßt sich als eine Strategie des Staats oder des Staatsap­
parats interpretieren, deren Ziel es ist, den Erfordernissen
Aus diesem G rund kann man sich die Frage stellen, in wel­ der D emokratie Widerstand zu leisten, um eine vordemo­
chem Maß das D ispositiv des Strafrechts nicht mit den Er­ kratische Funktionsweise der Macht aufrechtzuerhalten.
fordernissen der Demokratie und den rechtlichen Trans­
formationen, die diese vorschreiben, in Konflikt gerät. Die
12 Zum Verhältnis zwischen Demokratie, Kritik und Immanenz vgl.
Idee der Demokratie ist an etwas geknüpft, was man als im-
Didier Eribon, D'une revolution conservatrice et de ses ejfets sur Ia
gauchefranr;aise, Paris, Leo Scheer, 2007 und »Reponses et princi­
11 Nils Christie, »Conflicts as Property«, in: British Journal of Crimi­ pes« in: »Autour de Didier Eribon: Class and Sexuality«, Sonder­
nology, Bd. 17, Nr. i, 1977, S. 1 -15. nummer von French Cultural Studies, Bd. 23, Nr. 2, Mai 2012.

242 243
Wir verstehen daher erneut, warum man das Argument
(von Geld, Freiheit) , die Bestrafung und möglicherweise
bezweifeln kann, dem zufolge die heutige Autblähung des
die Inhaftierung. Und doch sind das Strafrecht und die
Strafrechts und der Vergeltung als eine Konsequenz der li­
Strafjustiz keineswegs unantastbare Systeme. Sie sind Teil
beralen Ideologie angesehen werden könnte. In vielerlei
eines spezifischen Moments. Sie sind mit einer besonderen
Hinsicht muß sie folgendermaßen analysiert werden: als
politischen Rationalität verknüpft. Wenn es infolgedessen
eine Handlung der Staaten zur Erneuerung der Dispositive
stimmt, daß die Technologie des Strafens eine der Erschei­
der Souveränität in dem Moment, in dem sie von den Er­
nungsweisen dieser historischen Praxis der Macht dar­
fordernissen der Demokratie in Frage gestellt werden soll­ stellt, die die Souveränität ist, daß sie eine ihrer Facetten
ten und auch de facto in Frage gestellt werden. Die Logik bildet, dann verlangt das Erfordernis der Demokratie not­
des Strafrechts und der Repression erscheint, wenn der
wendigerweise, insofern sie die Politik und den Staat neu
Staat weiterhin als eine völlig eigenständige Entität auftre­ definiert, die Vorstellung eines neuen Typs von Recht und
ten will, die die Legitimität besitzt, die Anwendung eines eines neuen Typs von Justiz.
Rechts zu verordnen und anschließend zu verteidigen, das Es würde, wie man einsieht, nicht darum gehen, auf Sy­
manchmal den Individuen selbst zum Trotz, ja sogar ge­ steme der Privatjustiz zurückzufallen, sondern ganz im
gen sie angewendet werden kann - was dazu führt, daß Gegenteil darum, den Staat einzusetzen, um lateralere, sin­
der Justiz eine Sühne- und nicht bloß eine Wiedergutma­ gulärere Modi des Umgangs mit Reaktionen auf Aggres­
chungsfunktion zugewiesen wird. sionen zu erfinden, die sich in das Register der Rekonstruk­
\Venn Demokrat zu sein bedeutet, die Souveränität auf­ tion einordnen ließen und den Akteuren die Fähigkeit
zulösen, und in einem allgemeineren Sinne, die Disposi­ überlassen würden, dem, was ihnen zugestoßen ist, auto­
tive, die dazu neigen, unser Verhalten zu steuern, so weit nome Bedeutungen zuzuweisen, die die Möglichkeit der
wie möglich abzubauen, so muß uns das dazu bringen, in Vergebung, der Verhandlung, der Wiedergutmachung, der
der Auflösung des Strafrechtsapparats - und in der Ent­ Wortergreifung behaupten würden. Für das Opfer sowie
strafrechtlichung des Rechts und der Justiz - so weit wie für den Schuldigen könnte dieses neue System zur Entste­
möglich zu gehen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Tat­ hung eines anderen Verhältnisses zur Welt, zu sich selbst,
sache der Behauptung der Notwendigkeit und der Mög­ zu den Verletzungen führen im Vergleich zu demj enigen,
lichkeit, sich einen Umgang mit Gesetzesübertretungen das uns das System der Strafe aufzwingt. Es könnte eine Ju­
vorzustellen, der sich von der Logik des Strafrechts und stiz hervorbringen, die nicht mehr völlig den klassischen
der Vergeltung befreien würde. Logiken der Restitution und der Vergeltung gehorchen
Wie ich nur zu gut weiß, fällt es uns zwar sehr schwer, würde und die sogar - warum nicht? - je nach Fall und
uns die Formen vorzustellen, die eine Gestaltung einer an­ dem Willen eines jeden unterschiedliche Formen anneh­
deren Reaktion auf die Aggressionen oder Vergehen an­ men könnte.
nehmen könnte als die, die das System der Gerichtsbarkeit Diese demokratische und plurale Auffassung des Rechts
und der Vergeltung einsetzt: die Anklage durch die Staats­ und der Justiz könnte die Spannung überwinden, auf die
anwaltschaft, das Erscheinen vor Gericht, die Wegnahme Jacques Derrida in Gesetzeskraft die Aufmerksamkeit lenk-

244 245
te.13 In diesem Buch unterstreicht Derrida nämlich, daß es
immer ein Übermaß der Justiz gegenüber dem Gesetz gibt,
eine »Spannung« zwischen den Prinzipien des Gesetzes Fü nfter Tei l
und dem Handeln der Justiz: Das Gesetz entfaltet sich im
Register der Abstraktion, des Universellen, des Allgemei­ D i e Welt sehe n .
nen, während die Justiz immer eine Sache von Singularitä­ D i e k riti sche Soziolog ie neu de n ken
ten, von konkreten Fällen, von besonderen Situationen ist,
die als solche behandelt werden müssen.
Aber tatsächlich erscheint diese Spannung Derrida -
und spontan vielen von uns - nur deshalb als unüberwind­
bar, weil er die Formen des Rechts so errichtet, wie wir sie
kennen und wie sie sich uns als Formen des Rechts über­
haupt aufdrängen. Was würde es bedeuten, ein anderes
Recht zu erfinden, das nicht im Sinne der Abstraktion, der
Generalisierung funktionieren und das die Formen und
Vokabulare nicht vereinheitlichen würde? Können wir uns
nicht ein gerechtes Recht vorstellen - d. h . ein Recht, das
unmittelbar plural und verstreut ist und das, anstatt ein
einziges Verfahren durchzusetzen, den Akteuren die Mög­
lichkeit gäbe, durch sich selbst zu bestimmen, was gesche­
hen ist, wie sie es erleben und was Gerechtigkeit widerfah­
ren lassen bedeutet? Es würde darum gehen, sich auf den
Weg des Aufbaus dessen zu begeben, was ein im vollen
Sinne demokratisches Recht sein könnte - d. h. ganz ein­
fach, eines Staats und eines Justizsystems, die nicht mehr
im Sinne der Souveränität funktionieren würden.
So etwas haben wir noch nie erlebt.

13 Jacques Derrida, Gesetzeskraft, übers. v. A. G. Düttmann, Frank­


furt/ M., Suhrkamp, i996.

246
Als ich begonnen habe, über dieses Buch nachzudenken,
mich mit dieser Arbeit über die Justiz und die Kategorien
des Strafrechts zu befassen, war meine Absicht »ethnogra­
phisch« im gebräuchlichen Sinne des Begriffs. Ich wollte von
Gerichtsverhandlungen erzählen, den Ablauf der Verhand­
lungen beschreiben, Rechenschaft ablegen von der Art und
Weise, wie Menschen verurteilt werden, und davon, was
diese Situation im Sinne erlebter Erfahrung bedeutet; ich
wollte die Art und Weise vorstellen, wie sich die Interaktio­
nen zwischen den Angeklagten, Rechtsanwälten, Staatsan­
wälten, Zeugen, dem Vorsitzenden und den Geschwore­
nen abspielen; ich wollte diese Akteure befragen und ihren
Standpunkt wiedergeben. Mein Projekt hatte sich daher
im Rahmen der klassischen Definition der empirischen So­
ziologie ausgebildet: einen Gegenstand umreißen, (qualita­
tive oder quantitative) Methoden zur Untersuchung ver­
wenden (hier Beobachtung und Gespräch), um dann die
Ergebnisse der Untersuchung in Form einer wissenschaft­
lichen Analyse der Wirklichkeit wiederzugeben.
Wie man erkennen konnte, habe ich auf dieses ur­
sprüngliche Proj ekt völlig verzichtet. Ich habe mich von
den gebräuchlichen Forschungsmethoden der Sozialwissen­
schaften distanziert. Diese Untersuchung hat mich in me­
thodologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht ge­
lehrt, inwieweit der kritische Ansatz unvereinbar ist mit
dem, was man in den Human- und Sozialwissenschaften
unter Ethnographie, Felduntersuchungen oder auch Beob-

249
achtung versteht, gar noch mit einer gewissen Verwendung
konstruiert sind und der Forschung dargeboten werden:
von Statistiken. Diese Verfahren, die sich als Mittel ausge­
dieses oder jenes gesellschaftliche oder historische Phäno­
ben, um die Wirklichkeit zu erreichen, stellen Hindernisse
men, dieser oder j ener Typ von Akteuren oder diese oder
dar, die das Erreichen der Wahrheit verhindern: Sie ver­
jene Kategorie, diese oder jene Institution oder diese oder
hindern nicht nur die Erklärung oder das Verstehen der jene Tätigkeit. Das möchte ich Denken im Sinne von Ob­
Wirklichkeit, sondern ganz einfach, sie zu sehen. Meiner
jekten nennen.
Ansicht nach muß jede Vorgehensweise, die die Welt so er­ Gewiß ist die Befürwortung eines naiven Empirismus
fassen will, wie sie ist, und ihre Mechanismen zu dekon­ oder des Glaubens an die Möglichkeit einer »reinen« Fest­
struieren versucht, mit der Definition brechen, die eine be­ stellung, die frei von jeglicher »Präkonstruktion« ist, zum
deutende Tradition der Sozialwissenschaften sich selbst Glück nicht mehr möglich, und niemand wagt es mehr,
gibt. solche Positionen zu verteidigen. Aber dennoch wird der
Ich habe also beschlossen, einen Teil einer Reflexion auf Theorie oder gar der Spekulation keine Rolle bei der Ent­
die Konstruktionsbedingungen einer klarsichtigen Wahr­ wicklung der Untersuchung zuteil, sondern der »Metho­
nehmung der Wirklichkeit zu widmen, d. h. einer kriti­ de«, deren Abhandlungen rasch zunehmen - oder dem, was
schen und nichtmystifizierenden Wahrnehmung. Was be­ in den anglo-amerikanischen Sozialwissenschaften das theo­
deutet Untersuchung und was bedeutet, die Welt zu sehen? retical framework genannt wird. Die Methode verleiht der
Wie muß man vorgehen, um zu erfassen, was geschieht, empirischen Untersuchung den Anschein der Konstruk­
und um den eingebürgerten Mystifi.zierungen und Ideolo­ tion und Kohärenz. Sie dient dazu, die Untersuchung ein­
gien zu entgehen? zurahmen, ihr eine Struktur zu geben, aber nie dazu, die
Wirklichkeit und das Wirkliche zu befragen.
Ich möchte darlegen, warum ich glaube, daß man ein ex­
Forschung tremes Mißtrauen gegenüber diesem Typ von Vorgehens­
weise an den Tag legen muß. Ich will zeigen, daß ein Ant­
Die traditionelle Praxis der soziologischen Forschung stützt agonismus zwischen der Erforschung der Wahrheit und
sich auf eine naive Wahrnehmung dessen, was Beschrei­ der Idee von Untersuchungen besteht, die ihr Projekt als
bung der Welt bedeutet. Sie stellt in einem gewissen Maß Beschreibung und Verstehen einer Parzelle der Gesellschaft
eine einfache Verlängerung des gesunden Menschenver­ definieren. Mit anderen Worten, die Stellung der Ethnogra­
stands dar und übernimmt die spontane Art und Weise, phie, der Feldforschung oder der Beobachtung in der kriti­
wie jede Person vorginge, die von der Welt Rechenschaft schen Tradition müssen neu bewertet werden.
ablegen wollte : hingehen und sehen, befragen, wiederge­ Auch wenn ich mich hier auf die Ethnographie und die Be­
ben. Die Forscher geben sich selbst als Forschungsgegen­ obachtung konzentrieren werde, gilt meine Kritik genauso
stand Parzellen der Wirklichkeit, die sie vorgeben zu be­ für die Arbeiten, die qualitative oder quantitative Metho­
schreiben und deren Untersuchung sie uns vorschlagen. den verwenden, denn das, was ich in Frage stellen möchte,
Die Forschungsgegenstände sind wirkliche Objekte, die vor- ist in allgemeinerer Hinsicht eine bestimmte Art und Wei-

250 251
se der Definition und der Praxis der Sozialwissenschaften genständen verurteilt zur Vermehrung von Analysen, die
als einer Arbeit, die, um Rechenschaft von der Welt abzu­ die Welt verdoppeln.
legen, die spezifischen Wirklichkeiten begrenzen und par­ Die Notwendigkeit, mit der ethnographischen Versu­
tielle Objekte der sozialen Welt untersuchen müßte. Mit chung zu brechen und die Gültigkeit jeder partiellen Unter­
anderen Worten, mir geht es nicht darum, das Besondere suchung in Frage zu stellen, ergibt sich zunächst aus der
und das Allgemeine einander entgegenzusetzen oder das Notwendigkeit, die soziale Welt in Begriffen des Systems
Feld und die Theorie: Es versteht sich von selbst, daß es und der Totalität zu erfassen. Die Gültigkeit der Wirklich­
überall und in allen Formen von Untersuchungen Lokales keit, die durch jede partielle deskriptive Untersuchung
und Globales, Feld, Methode und Theorie gibt. Mir geht es wiedergegeben wird, kann wieder in Frage gestellt werden,
darum, zwei Formen des Denkens in Opposition zu brin­ weil die »Tatsachen« niemals als solche und für sich selbst
gen : Dem Denken im Sinne von Objekten setze ich das einen Sinn haben können. Sie existieren nicht schon vor ih­
Denken im Sinne von Systemen und das Denken im Sinne rer Konstruktion in Abhängigkeit und im Ausgang von
von Problemen entgegen. einer allgemeinen Theorie, weil es letztere ist, die es ge­
stattet, sie zu begründen und zu sagen, was als Tatsachen
zählen wird. So schreibt Adorno, daß die »Fakten nicht je­
Struktur nes Letzte und Undurchdringliche sind, als welches die
vorherrschende Soziologie nach dem Muster der sinn­
Die ethnographische Haltung behauptet, ein Programm der lichen Daten der älteren Erkenntnistheorie sie betrachtet.
Wahrnehmung zu verkörpern ; sie möchte die Wirklichkeit In ihnen erscheint etwas, was nicht sie selbst sind.« 1 Was er­
»zeigen« . Sie legitimiert sich immer, indem sie ihre Beru­ scheint und hinter ihnen und durch sie hindurch wirkt, ist
fung und ihre Ambition geltend macht, das Wirkliche zu die gesellschaftliche Totalität (konstituiert durch das Sy­
bezeugen. Auf diese Weise versucht sie, sich als Kritik aus­ stem der Klassen, der Ausbeutung, des Markts usw.), die
zugeben: Sie würde das gesellschaftliche Leben in seiner »notwendig deren zerstreute Tatsachen [transzendiert]«2
Objektivität gegen die überzeugungen, die spontanen Wahr­ und die »nicht bruchlos durch empirische Befunde ein­
nehmungen, die Ideologien, die Medienartefakte usw. wie­ zulösen [ist] «.3 Dieser Rahmen entzieht sich dem empiri­
dergeben. Tatsächlich stellt diese Vorgehensweise ein Pro­ schen Sinn und muß ausgearbeitet - und, so könnte man
gramm für Blindheit dar. Sie funktioniert w ie ein blind sagen, theoretisch behauptet - werden. Im Ausgang von
machendes und neutralisierendes Prinzip, das die Abwe­
senheit derj enigen Elemente betreibt, die für ein Verstehen
1 Theodor W. Adorno, »Einleitung«, in: ders. u. a„ Der Positivismus­
und eine Erklärung der sozialen Welt notwendig sind. Sie
streit in der deutschen Soziologie, Neuwied, Luchterhand, i970,
ist mystifizierend und nicht kritisch, und sie bringt über­ s. 18.
haupt keine wirkliche und verständliche Sicht der Kräfte 2 Theodor W. Adorno, »Soziologie und empirische Forschung«, in:
hervor, die im Gesellschaftsleben am Werk sind. Sie beob­ ders. u. a„ Der Positivismusstreit, S. 82.
achtet, um nichts zu sehen. Das Denken im Sinne von Ge- 3 Ebd.

253
252
ihm müssen die Beobachtungsprotokolle bestimmt wer­ jekten nenne -, kann per definitionem weder diese globale
den. Andernfalls verdammt sich der Soziologe dazu, weder Bühne erfassen, auf der sich die Interaktionen abspielen,
die Bedeutung der Tatsachen, die er beobachtet, zu verste­ noch die Struktur, in der j ede besondere Szene situiert ist
hen noch ihre O rganisation oder ihre Logik. und aus der sie ihre objektive Bedeutung bezieht. Diese
Die Vorstellung, der zufolge das soziologische Denken Vorgehensweise ist daher dazu verurteilt, oberflächliche
nur struk"tural und ganzheitlich sein kann und folglich die Untersuchungen vorzuschlagen, die am Wesentlichen vor­
Gültigkeit von partikularisierenden Untersuchungen nicht beigehen und die Aufmerksamkeit von den einzig relevan­
akzeptieren kann, die notwendig an dem vorbeigehen, was ten Elementen ablenken.
sie zu beschreiben vorgeben, erscheint in Bourdieus Die Mir persönlich hat sich die Idee, der zufolge die Durch­
feinen Unterschiede. Bourdieu zeigt dort, inwieweit die all­ führung einer kritischen Untersuchung einen Bruch mit
täglichsten und unbedeutendsten Handlungen, die beson­ der »Beschreibung« und der »Feldforschung«, wie die So­
dersten Geschmäcker in ihrer Bedeutung nur dann verstan­ ziologie sie bestimmt, erfordern würde, auf etwas andere
den werden können, wenn sie wieder in den allgemeinen Weise, nach einem anderen Modus aufgedrängt. Mir scheint
Raum der Geschmäcker und H andlungen eingeschrieben nämlich, daß der Ausgang von dem, was sich als Wirk­
werden, der selbst zum Raum der gesellschaftlichen Klas­ liches darbietet, um das Wirkliche zu beschreiben, es ver­
sen in Beziehung gesetzt werden muß, mit den allgemeinen bietet, die Konstruktionsprinzipien der Wirklichkeit wie­
Logiken der Herrschaft, der Funktion des Schulsystems, derzugeben, die Logiken, aus denen die eingebürgerten
der Verteilung und Weitergabe von Kapitalien (ökonomi­ Formen ihre Existenz schöpfen, und so zu verstehen ver­
schen, kulturellen, gesellschaftlichen), der Beziehung zur hindert, was an dem, was sich als das Wirkliche darbietet,
Zeit usw. tatsächlich am Werk ist. Diese Sorge ist besonders wichtig,
Infolgedessen beziehen die kulturellen Praktiken, die je­ wenn man sich Institutionen als Gegenstände vornimmt.
der Gruppe eigentümlich sind und die lokalisierte Unter­
suchungen getrennt voneinander hätten untersuchen kön­
nen, ihre Bedeutung und ihren Seinsgrund nur dadurch, Das Wirkliche hinterfragen
daß sie zu einem System gehören, dessen P rodukte sie sind
und das auf verborgene Weise wirkt. Daher ist es dieses Sy­ Das Strafrechtssystem, wie wir es kennen, ergibt sich aus
stem, das man im Ausgang von einer theoretischen Arbeit einer besonderen Art und Weise, auf das Problem der Ju­
wiedergeben, konstruieren muß, wenn man verstehen will, stiz zu reagieren, die Begriffe des Verbrechens, der Verant­
was in dem, was man Wirklichkeit nennt, auf dem Spiel wortung, des Urteils, des Opfers, des Gesetzes oder auch
steht. Die Bühne und die Strukturen sind wirklicher als des Zivilklägers zu bestimmen. Die Tätigkeit des Verur­
die alltäglichen und lokalen Interaktionen; sie bestimmen teilens, wie sie sich alle Tage in den Gerichten vollzieht,
und stützen sie. Daher sind sie es, die man wiedergeben bringt einen Begriff von Verantwortung zur Geltung, ei­
muß. \Vas sich als »Feldforschung« darstellt, qualitativ oder nen Begriff des Strafrechts, einen Begriff der Neutralität,
quantitativ - und was ich selbst Denken im Sinne von Ob- einen Begriff des Verbrechens, einen Begriff der Justiz, ei-

254 255
nen Begriff des »Opfers<< oder auch einen Begriff der Strafe. pien bezieht, die per definitionem weder als solche sichtbar
Nun spielen aber gerade diese Begriffe bei der Verhandlung noch als solche gegenwärtig sind. Die empirische Vorge­
keine Rolle. Sie spielen keine Rolle mehr. Eine Verhandlung hensweise kann daher die Grundlagen, auf denen die beob­
kann nur dann stattfinden, weil diese Fragen geklärt wur­ achtete Szene beruht, weder problematisieren noch hinter­
den, weil diesen Begriffen spezifische Bedeutungen zuge­ fragen . Und keine Methode, wie streng sie auch sein mag,
wiesen wurden. Die Art und Weise, wie diese Begriffe de­ kann diesen ursprünglichen und prinzipiellen Mangel kor­
finiert wurden, verleiht der Verhandlung, wie sie sich der rigieren. I n einem gewissen Sinne sieht es so aus, als ob die
unmittelbaren Erfahrung darstellt, ihre empirische Aus­ Unternehmung von »Feldforschung« darauf hinausläuft,
richtung. Die Form der Gerichtsverhandlung stellt die Ma­ daß man es akzeptiert, sich innerhalb eines vom Staat zuge­
terialisierung der Art und Weise dar, wie eine Gesellschaft standenen und vorbestimmten Rahmens zu bewegen (bei­
auf die Probleme, die der Idee der Justiz und des Straf­ spielsweise das Gericht, wie es ist, wie es sich herausgebil­
rechts innewohnen, reagiert und daraus eine spezifische det hat), und sich die Mittel versagt, eine Untersuchung
Vorgehensweise abgeleitet hat. Nun stellen sich aber diese der Fundamente durchzuführen, d. h. die staatliche Kon­
Probleme bei einer Verhandlung per definitionem nicht struktion der Wirklichkeit umzustürzen (die Begriffe des
mehr. Die Weltanschauung, die dem Prinzip der Institu­ Strafrechts, der Verantwortung, der Bestrafung, der Verur­
tion der Justiz wesentlich ist und die dafür verantwortlich teilung).
ist, daß die Verhandlung ist, was sie ist, wird niemals als sol­ Ich möchte gerne ein Beispiel betrachten, um die Sack­
che explizit, bewußt, thematisch gemacht. Alle Akteure gassen aufzuzeigen, die jedem »ethnographischen« Ansatz
spielen innerhalb des festgesetzten rechtlichen, politischen und der Art und Weise innewohnen, wie dieser zur Pro­
und juristischen Rahmens. Sie debattieren, indem sie ge­ duktion von Untersuchungen zwingt, die die staatliche
teilte Kategorien handhaben und von diesen ausgehen. Die Konstruktion der Wirklichkeit und die eingebürgerten
Durchführung einer Verhandlung erfordert den Konsens Ideologien bestätigt. Ich denke an die jüngsten Arbeiten
der Parteien im Hinblick auf die staatliche und juristische von Didier Fassin, die mich als Symptom und Illustration
Konstruktion der Gerichtsbühne, im H inblick auf die Be­ eines allgemeineren Problems interessieren, das ich hervor­
griffe, auf denen diese Bühne beruht. heben will. Bei der Vorbereitung dieses Buchs lag es mir
Die Wirklichkeit dieses Systems und dessen, was sich natürlich nahe, die letzten Bücher dieses Autors zu lesen,
auf dieser Bühne abspielt, zu erfassen kann nicht darin be­ insbesondere das über das Gefängnis (L'Ombre du monde)
stehen, daß man »hingeht und sieht«, um zu erzählen, was und das über die Polizei und die Antikriminalitätsbrigade
man wahrnimmt. Denn die Beobachtung, die ethnogra­ (La Force de l'ordre).4 Was zeigt, wie schwierig es ist, eine
phische Arbeit sind dazu verdammt, sich in den Rahmen selbständige Reflexion zu vollziehen, die den Vorschriften
der Interaktionen einzufügen, wie er institutionell zu ei­ der kulturellen und akademischen Doxa entkommt, den
nem bestimmten Zeitpunkt durchgesetzt wurde. Die »Be­
obachtungsverfahren« treffen auf eine Wirklichkeit, die 4 Didier Fassin, La Force de /'ordre, Paris, Seuil, 2011 und ders.,
ihre empirische Konkretisierung aus Konstruktionsprinzi- L'Ombre du monde, Paris, Seuil, 2015.

256 257
Zwängen, die sie ausüben, und somit auch den blinden gen durchzuführen. Die Studien laufen auf das Projekt hin­
Flecken, die sie arrangieren, da umgekehrt viele Bücher aus, deutlich hervorzuheben, wie die wirklichen Praktiken
oder Aufsätze, die für mein Denken wesentlich sind, mir »Dysfunktionalitäten« gegenüber den offiziellen Aufträgen
als solche erst sehr spät in den Blick gerieten. Es war für darstellen, warum die Institutionen daran scheitern, ihre
mich selbstverständlich, daß ich die Bücher von Didier Fas­ Ziele zu verwirklichen, und auf welche Weise die Akteure
sin lesen mußte und daß sie mir bei meinem Unternehmen für sich selbst Rechtfertigungssysteme erfinden, um die Tat­
helfen würden. Das war ein Irrtum und die Lektüre dieser sache zu erklären, daß ihre konkreten Handlungen nicht
Untersuchungen stellt für mich eine Enttäuschung dar, wo­ dem entsprechen, was sie zu tun beabsichtigten (das ist die
bei es mir wichtig erscheint, den Grund dafür zu verste­ Soziologie der »moralischen Ökonomien«). Mit der Fol­
hen, um darüber nachzudenken, was das Verfassen einer ge, daß der normative Horizont der Ethnographie sich auf
kritischen Sozialwissenschaft erfordert. eine soziale und politische Orthopädie reduziert: Man
Didier Fassin praktiziert eine Beobachtungssoziologie: richte es so ein, daß die Institutionen das tun, was sie tun
Er begibt sich in ein Gefängnis oder auf eine Polizeistation sollen.
und versucht, die Ethnographie dieser Einrichtungen zu be­ Das Buch über das Gefängnis will darlegen, inwiefern
treiben. Auf diese Weise will er die öffentliche Kenntnis der die diskriminierenden Praktiken des Verurteilens und der
Wirklichkeit erweitern. Sein Ansatz stellt sich zwar auch Inhaftierung deutlich zeigen, daß die »Bestrafung nicht
als von einer »kritischen« Ambition beseelt dar, wird aber darauf abzielt, auf faire Weise zu bestrafen«,5 und daher da­
trivialerweise auf die Tatsache reduziert, »\Vahrheiten« ans zu neigt, die Strafe ihres »Sinnes« zu »entleeren«, weil sie
Tageslicht zu bringen und damit die Arbeit der öffentli­ als willkürlich und ungerecht erlebt wird. Die Bestrafung
chen Beratung und der Reform der Institutionen zu er­ wird niemals als solche in Frage gestellt und erscheint auch
möglichen. Aus diesem Grund gibt es Fassin zufolge eine nie als Untersuchungsgegenstand. Sie wird als positiv und
Verbindung zwischen Ethnographie und Demokratie. notwendig begriffen. Ihre Grenze besteht einzig darin, daß
Was mich jedoch im Gegenteil verblüfft hat, war das sie auf ungleiche Weise angewendet wird. Fassin behauptet
Ausmaß, in dem seine Praxis der »mobilen Soziologie« - auch, daß die Bedingungen in den Gefängnissen (Überbe­
die nicht spezifisch für ihn ist, weil sie eine der konventio­ legung, Interaktionen zwischen Wächtern und Gefangenen,
nellen Modi der Feldforschung darstellt - ihn dazu verur­ Nichtstun) das heutige Gefängnis daran hindern, seine
teilt, selbst von der Ideologie der Institutionen eingesperrt »Rolle« der Wiedereingliederung und Besserung zu spie­
zu werden, die er sich vermeintlich zum Gegenstand setzt. len - deren offizielle Darstellung er somit bekräftigt. So
Er übernimmt die offizielle Definition der Institutionen; schreibt der Soziologe über die Langeweile, die in den
er akzeptiert ihre Konstruktion, die Werte, die sie sich Gefängnissen herrscht, und über das »strukturelle Tätig­
selbst zuweisen. Die Polizei ist da, um die Ordnung der Re­ keitsdefizit«, das die meisten Häftlinge zum Nichtstun ver­
publik zu garantieren; das Gefängnis dient zur Bestrafung, dammt: »Das Gefühl der Inhaltsleere der Strafzeit unter-
der Arbeit an sich selbst und der Wiedereingliederung. Fas­
sin geht von diesen Ideologien aus, um seine Untersuchun- 5 Fassin, L'Ombre du monde, S. 500.

258 259
gräbt daher den Auftrag, der dem Gefängnis zugewiesen
Würde dar, der die eigentliche Möglichkeit des Zusammen­
ist, sei es vom Standpunkt der moralischen Umerziehung
lebens beeinflußt.«7
oder der gesellschaftlichen Wiedereingliederung.«6 (Wie
Man könnte zweifellos meinen, daß der nichtkritische
ist der Gebrauch von Kategorien wie »moralische Umer­ und konservative Charakter der Arbeit Didier Fassins we­
ziehung« oder »gesellschaftliche Wiedereingliederung« in niger mit seiner Methode verknüpft ist als mit der Welt­
einem Buch möglich, das sich als wissenschaftliche Arbeit anschauung, der er anhängt und die zwischen den Zeilen
präsentiert? Persönlich war ich schon immer von der An­ in den Vorstellungen durchscheint, die vom sozialen Chri­
zahl von Begriffen und ideologischen Blöcken verblüfft, die stentum und von der bürgerlichen Philanthropie des »Zu­
möglicherweise bei Untersuchungen am Werk sind, die sich sammenlebens«, der »moralischen Gemeinschaft«, der
dennoch als »rational«, »empirisch« präsentieren und die »moralischen Umerziehung«, der »gesellschaftlichen Wie­
sich somit in das Register der Feststellung und der Wissen­ dereingliederung«, der »Würde« geerbt wurden. Aber auf
schaft einzugliedern glauben, welche fälschlicherweise der einer tieferen Ebene glaube ich, daß es nicht möglich ist,
Kritik entgegengesetzt werden.) den ethnographischen Ansatz und die konservative Welt­
Dasselbe Schema findet man auch in dem Buch über die sicht voneinander zu unterscheiden, weil der Ansatz der
Antikriminalitätsbrigade. Hier zielt die Beobachtung dar­ Feldforschung voraussetzt, daß man es akzeptiert, die Rah­
auf ab zu enthüllen, wie die Polizei ungleiche Praktiken an­ menbedingungen, die dem gesellschaftlichen Leben Gestalt
wendet (je nach Hautfarbe oder sozialer Erscheinung), die geben, zu bekräftigen und zu bewahren. Diese beiden Ein­
der republikanischen Forderung nach Gleichheit widerspre­ stellungen sind fest miteinander verbunden und aufeinan­
chen: Die Polizei sollte die öffentliche Ordnung garantie­ der angewiesen.Wodurch die Frage entsteht, ob eine kritische
ren. Das Problem ist einfach, daß sie in Wirklichkeit die Ethnographie möglich und ob die empirische Definition der
hierarchisierte Gesellschaftsordnung festigt. Hier ein Aus­ Forschung mit einer radikalen Problematisierung der Wirk­
zug, in dem man die Logik bei dem am Werk sieht, was sich lichkeit vereinbar ist.
doch als »soziologische Analyse« präsentiert: »Daß die Ge­ Der ethnographische Ansatz zwingt den Forscher dazu,
setze nicht in der gleichen Weise auf alle angewendet wer­ sich innerhalb der Institution zu situieren, ihr anzuhängen
den und daß die Rechte nicht auf dieselbe Weise jeder Per­ und damit ihre Grundlage zu bekräftigen. Die Ethnogra­
son zuerkannt werden, bedeutet einen Verzicht auf die phie entfaltet sich (im quasiräumlichen Sinne) innerhalb
Gleichheit, die doch so nachdrücklich von den Institutio­ der staatlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Wenn man
nen proklamiert wird. Daß aufgrund ihres Wohnorts, ihrer das eigene Projekt als ethnographisches definiert, bedeutet
Hautfarbe, ihrer vermeintlichen Herkunft und ihrer gesell­ das, daß man auf die Spekulation, auf die globale Reflexion
schaftlichen Zugehörigkeit Menschen als vermutliche Ver­ verzichtet und folglich sich selbst daran gehindert hat, kri­
brecher behandelt werden [ . . . ] stellt einen Angriff auf die tische Fragen über die Grundlage und den Sinn von Insti­
tutionen zu stellen, die man sich zum Gegenstand zu set-

6 Ebd., S. 230. 7 Fassin, La Force de l'ordre, S. 330.

2 60 261
zen glaubt. Ein lokaler Ansatz kann nur lokale Fragen stel­ nicht damit, diese Dysfunktionalitäten als Mißerfolge oder
len, d. h. solche, die sich in die Formen der Institutionen als durch Reformen zu korrigierende Elemente zu betrach­
einschreiben und sie somit ratifizieren - welche folglich ten. Er geht über diese Wahrnehmung und diese Bezeich­
nie in ihrer eigentlichen Definition hinterfragt werden.Wenn nungen hinaus, die die Anhängerschaft im Hinblick auf
man sich als Aufgabe die Beschreibung eines partiellen Ge­ eingebürgerte Haftideologien, auf offizielle Anschauungen
genstands der gesellschaftlichen und vorkonstruierten Welt und Werte verraten. Er stellt eine zusätzliche Frage: Er
vornimmt, erfordert das, daß man darauf verzichtet hat, fragt sich, ob diese ständigen, regelmäßigen »Dysfunktio­
eine Dekonstruktionshandlung umzusetzen, eine proble­ nalitäten« faktisch nicht die Wahrheit des Gefängnisses
matisierende Handlung, die die sedimentierten Rahmenbe­ enthüllten. Sind das, was man spontan als Mißerfolge wahr­
dingungen der Erfahrung und der Politik hinterfragt (es nimmt, tatsächlich welche ? Sind sie nicht vielmehr das,
versteht sich von selbst, daß derselbe Verzicht, der mit ei­ wozu das Gefängnis dient, was es zu erzeugen versucht?
ner Selbstverstümmelungsoperation verwandt ist, das be­ Rückfälle zu verursachen, ein delinquentes Milieu hervor­
seelt, was sich unter dem Namen der »Rechtfertigungsso­ zubringen, ist das eine Dysfunktionalität oder ist es im Ge­
ziologie« präsentiert). genteil eine Funktion des Haftuniversums?
Umgekehrt setzt sich der kritische Standpunkt immer Solche Fragen zu stellen zwingt dazu, mit der Wirklich­
ein anderes Ziel: die Produktion neuer Weltanschauungen keit zu brechen, wie sie sich der Erfahrung offenbart, einen
und neuer Gegenstände. Mit anderen Worten, die Ethno­ Schritt beiseite zu treten. Diese Fragen führen dazu, die
graphie setzt voraus, daß der Autor von einem nichtkriti­ Form des Gefängnisses selbst zu problematisieren, die Gül­
schen Willen angetrieben wird, daß dieser akzeptiert, in die tigkeit der Haftideologie, den Glauben an die Funktionen
Welt, wie sie ist, hineinzuschlüpfen und seine Schriften in der Strafe und der Bestrafung in Frage zu stellen. Sie for­
die Verlängerung der Ideologien einzu gl iedern, die dort in dern, das, was diesem spezifischen soziohistorischen Rah­
Umlauf sind. men, in dem der Strafvollzug besteht, zugrunde liegt und
Wie sollte man in dieser H insicht nicht von dem ekla­ ihn definiert, zum Gegenstand zu machen und ihn in eine
tanten Unterschied zwischen der Untersuchung Didier allgemeinere Ökonomie der Macht einzuschreiben, um in
Fassins über das Gefängnis und den Problemen frappiert der Lage zu sein, seine wahre Natur zu erfassen. Während
sein, die Foucault in Überwachen und Strafen aufwarf? Die­ das Gefängnis den Verbrecher bessern will (die offizielle
ser Abstand offenbart alles, was einen kritischen Ansatz Ideologie, die die Soziologie der moralischen Ökonomien
von einem fälschlich ethnographischen und schließlich zum Bezugspunkt und zur Wahrheit erhebt und die sie zum
mystifizierenden Ansatz trennt. Ausgangspunkt nimmt), produziert es tatsächlich das de­
In Überwachen und Strafen hebt Foucault auch die »Dys­ linquente Individuum als spezifische Identität.
funktionalitäten« des Gefängnisses, die »Mißerfolge« der Diese Art von Reflexion fehlt, wie man sich denken kann,
Inhaftierung hervor - die Art und Weise, wie sie trotz ih­ völlig im Text von Didier Fassin. Warum? Weder aus Ent­
rer Absichten zur Rückfälligkeit oder zur Gestaltung eines scheidung noch aus Vergessen. Der Ethnograph ist struktu­

delinquenten Milieus beiträgt. Aber er begnügt sich gerade rell nicht dazu in der Lage, sie anzustellen oder auch nur

263
262
in Erwägung zu ziehen. Solche - kritischen - Fragen zu nen. Natürlich kann man an die Geschichtswissenschaft
stellen und sie dann zu beantworten setzt voraus, daß denken. Aber ich hätte als Beispiel den Ökonomen Tho­
man sich die Mittel verschafft, um sich in eine übergeord­ mas Piketty mit seiner Studie Das Kapital im 21. Jahrhun­
nete Stellung gegenüber der tatsächlichen Konstruktion dert nehmen können. Die deskriptive Bestrebung, die ihn
der Gefängniswirklichkeit zu bringen, während die »Feld­ entgegen der Tendenz zur Modellbildung in der Ökono­
soziologie« sich stattdessen unter sie und in ihren Rahmen mie beseelt, führt dazu, sein Projekt im Ausgang von ein­
einfügt. Wer Feldforschung und Empirie sagt, sagt Ein­ em nicht theoretisch durchdrungenen und unhinterfrag­
schreibung in das, was ist, d. h. Bekräftigung des Staatsden­ ten Begriff von Kapital zu konstruieren. Piketty reduziert
kens und Beihilfe zu seiner Reproduktion.8 Aus diesem das Kapital auf das, was der Kapitalismus als Kapital be­
Grund habe ich kein Gespräch geführt, um dieses Buch zeichnet, was sich der Wahrnehmung als solcher darbietet,
zu redigieren, weder mit den Richtern noch mit den d. h. auf das geerbte Vermögen. Was ihn dazu bringt, alle
Rechtsanwälten noch mit den Angeklagten noch mit den anderen Formen von Kapital, die in der Gesellschaft eine
Geschworenen : Der Wille, die Kräfte zu verstehen, denen Rolle spielen (kulturelles, schulisches, soziales, symbolisches
wir unterliegen, und das Bestreben, die unbewußten Struk­ usw.), beiseite zu lassen und unsichtbar zu machen, die an­
turen des Systems der Gerichtsbarkeit zu erfassen, bedeu­ deren Typen von Erbschaften nicht zu problematisieren
ten, daß ein solches Vorgehen per definitionem keinerlei und so eine konservative Sichtweise der gesellschaftlichen
Bedeutung hätte. Meiner Ansicht nach besteht ein Wider­ Hierarchie hervorzubringen, die die wirkliche Logik der
spruch zwischen der Idee der Soziologie und der Idee des Herrschaft und der Reproduktion zu verstehen verhindert -
Gesprächs mit den Akteuren. Ebenso gibt es nicht sehr um nicht zu sagen, sie maskiert und dadurch bekräftigt
viele empirische Beispiele in diesem Buch, wie man fest­ und legitimiert.9 Um diesen Verzerrungen zu entkommen,
stellen konnte. Das Ziel ist nicht zu beschreiben, sondern die dieses Werk dazu verurteilen, eine begriffliche Regressi­
zu denken, so daß, wenn ein Fall einen bestimmten Punkt on darzustellen, die sich in eine konservative politische Li­
illustriert oder beweist, es nicht nötig ist, ein anderes Bei­ nie einfügt, hätte man eine strukturelle Theorie der Kapi­
spiel mit Bezug auf dasselbe Thema zu nehmen. Man talformen konstruieren müssen - nach dem Vorbild von
muß einen strategischen Gebrauch von der Wirklichkeit Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede -, was erfordert
machen und sie nicht fetischisieren, als ob sie mit einer Be­ hätte, durch theoretische Reflexion und geistige Strenge
deutung an sich ausgestattet wäre. eine globale und kritische Perspektive auf den heutigen Ka­
Die Kritik der Empirie, die ich hier entfalte, gilt nicht pitalismus, die liberale Demokratie und die Ideologien ein-
nur für die Soziologie, die Ethnographie oder die Anthropo­
logie. Sie besitzt allgemeine Gültigkeit und zielt auf einen
9 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. v. I. Utz
Modus des Denkens und eine Art und Weise der Erfassung
und St. Lorenzer, München, Beck, 2015. Vgl. meinen Aufsatz »Le
des Wirklichen ab, die in allen Disziplinen vorkommen kön- manifeste inegalitaire de Thomas Piketty«, in: Libemtion, 17. Okto­
ber 2013. Siehe auch Alexis Spire, »Capital, reproduction sociale et
8 Bourdieu, Praktische Vern u nft, S. 135· fabrique des inegalites«, in: Annales, 70. Jahrgang, 2015 / 1.

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zunehmen, die eng damit verbunden sind und die an ih­
keiten sind, sie auszulegen und wie sie de facto innerhalb
rem Funktionieren und ihrem Fortbestand teilhaben.
unserer Kultur operieren - darum habe ich mich bei jedem
Schritt dieses Buchs bemüht. Diese Vorgehensweise ver­
langt, daß man mit dem bricht, was sich als Wirklichkeit
Problema tisieren
darstellt - was Bourdieu als »Bruch mit dem gesunden
Menschenverstand« bezeichnete -, um die wahre Wirklich­
Meine Untersuchung der Justiz und des Systems der Ge­
keit wiederzufinden und das, was man beobachtet, in ein
richtsbarkeit möchte als Vorschlag einer erneuerten Me­ Feld von kontingenten Fragen und Problematiken einzu­
thode für die Philosophie und die Sozialwissenschaften gel­ ordnen. Die Fragen, die man stellen muß, sind: Was sind
ten, der sich als Bruch mit der Tradition der »empirischen« die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung von Ver­
oder der Feldsoziologie versteht, gleichgültig, ob sie in antwortung? Was sind die verschiedenen Auffassungen des
Frankreich oder den Vereinigten Staaten praktiziert wird - Verbrechens? Welche anderen Arten des Verurteilens oder
und außerdem allgemeiner als Bruch mit der Idee einer de­ der Betrachtung des Urteils, des Sinns der Strafe lassen
skriptiven Untersuchung, wie sie in der Gesamtheit der sich denken? Wenn Verurteilen Begriffe der »Verantwor­
Disziplinen Form annehmen mag. Es ist notwendig, einen tung«, der »Kausalität«, des »Verbrechens«, des »Opfers«,
problemorientierten und problematisierenden Ansatz an der »Schäden« usw. voraussetzt, welche Bedeutungen las­
die Stelle einer »feldorientierten« und methodologischen sen sich diesen Begriffen zuweisen und welche Bedeutun­
Vorgehensweise zu setzen - die das Wirkliche in keinerlei gen nehmen sie faktisch an? Nach welchen Prinzipien ist
Hinsicht wiedergibt, sondern die eingebürgerten Mystifi­ man verurteilbar und wird man verurteilt? Kurz, was sind
zierungen und die Konstruktionen der Vergangenheit be­ die objektiven Grundlagen der Operationen des Verurtei­
kräftigt. lens? Welche Machtwirkungen üben diese Dispositive aus?
Das Verstehen von Gerichtsverhandlungen, der Aufweis Die Ethnographie ist für diese kritischen Fragestellun­
der Logiken, die in Prozessen am Werk sind, setzt voraus, gen blind. Sie beschließt, sie nicht zu sehen und sie nicht
die strafrechtlichen Kategorien zu rekonstruieren, das »Sy­ zu berücksichtigen. Sie organisiert ihre Blindheit selbst: Sie
stem der Gerichtsbarkeit« und das » System der Bestra­ verortet sich im Raum der Antworten und verweist diese
fung« zu erfassen, d. h. das allgemeine Dispositiv, dessen Fragen ins Reich der Spekulation, des Normativen, der
Teil das Strafrecht und die Begriffe sind, die es zur Geltung strukturalen und deterministischen Philosophie, während
bringt und auf uns anwendet. Da nun aber das System der diese Fragestellungen der Ausgangspunkt jeder Untersu­
Gerichtsbarkeit auf einer spezifischen Art und Weise be­ chung sein müssen.
ruht, einer bestimmten Reihe von Begriffen - Verantwor­ Man muß die Soziologie der Versuchung entreißen, sich
tung, Strafrecht, Verteidigung, Bestrafung, Recht etc. - eine als eine Tätigkeit zu bestimmen, die Gegenstände studiert.
Bedeutung zu geben, erfordert die Erfassung dessen, was Wenn man die Ankündigungen von Konferenzen oder des
sich auf der Gerichtsbühne abspielt, die Problematisierung Erscheinens von Zeitschriften anschaut, ist es verblüffend
dieser Begriffe, die Frage, was die verschiedenen Möglich- festzustellen, daß in Europa wie in den Vereinigten Staaten

266 267
die Referate sich fast immer als Beiträge mit dokumentari­ des Denkmodus dar, der meines Erachtens unverzichtbar
schem Wert präsentieren. Und es ist bekannt, daß, wenn ist, da Goffman Beispiele verwendet, die aus äußerst unter­
sich Soziologen, Historiker oder Anthropologen treffen, die schiedlichen und heterogenen Bereichen in Raum und Zeit
erste Frage, die sie sich gegenseitig stellen, ist »Was ist dein entnommen sind - Untersuchungen, Romane, Dokumen­
Gebiet? « (und nie »Welches Problem willst du behandeln?«, te usw. -, um über das Problem nachzudenken, dem sein
»Was ist deine Idee ? « oder »Was ist deine Perspektive? «), Buch gewidmet ist, d. h. den Umgang mit einer Identität,
was die Reduktion der Forschung auf eine Tätigkeit zeigt, die im öffentlichen Raum schlecht gemacht wird). Ebenso
die vor allem durch die Gegenstände gekennzeichnet ist, hat sich mein Projekt nicht definiert als die Untersuchung
die sie behandelt. Übrigens sind die Berufsverbände und von diesem oder jenem Gericht, sondern als die Erfor­
die Konferenzen immer mit Hilfe von Aufteilungen in »the­ schung des Systems der Gerichtsbarkeit und der Bestra­
matische Abschnitte« organisiert, als ob die »Themen« re­ fung.
levante Kriterien darstellten, um die Forschung begrifflich
zu bestimmen.
Im Gegensatz dazu müßte die Soziologie die Form einer Die Vorstellungskraft spielen lassen
Reflexion auf Einsätze und Fragen annehmen. Die Sozial­
wissenschaften müssen sich als Gegenstände nicht umschrie­ Die Notwendigkeit, daß der kritische Ansatz (und damit
bene Wirklichkeiten vornehmen (selbst wenn sie mit Theo­ der Ansatz, der eine Beziehung zur Wahrheit unterhält)
rien und Methoden untersucht werden), sondern Probleme, eine problematisierende und affirmative Form annimmt,
die man mit Hilfe von Analysen, Lektüren, Beispielen an­ wurde vor kurzem von Joan W. Scott in De l'utilite du genre
gehen und erhellen kann, die aus verschiedenen Sektoren gerechtfertigt. In der Einleitung zu ihrem Buch fragt sie
stammen. Soziologe zu sein bedeutet nicht, sich als Ziel sich nämlich, unter welchen Bedingungen es möglich sei,
zu setzen, diese oder jene Ernährungspraxis zu untersu­ eine kritische Untersuchung des Geschlechts und der so­
chen: Es bedeutet, auf die »feinen Unterschiede« und die zialen Geschlechterbeziehungen vorzunehmen. Und sie ant­
differentielle und relative Verteilung von Geschmäckern wortet auf diese Frage, indem sie behauptet, daß das »Ge­
und Abneigungen zu reflektieren; es bedeutet nicht, zu er­ schlecht«, wie es in unseren Gesellschaften funktioniert,
zählen, was sich in dieser oder jener Schule, dieser oder je­ nicht als eine »ZU beschreibende Wirklichkeit« verstanden
ner Klasse oder Gruppe von Schülern ereignet, sondern die werden könne, als ob es genügte, in die Archive einzutau­
Reproduktionsmechanismen zu bestimmen; es bedeutet chen oder Beobachtungen zu machen, um Rechenschaft
nicht, ein Gefängnis zu beschreiben, sondern sich Fragen von seiner Funktionsweise abzulegen. Das »Geschlecht«
im Hinblick auf die Handlungen des »Überwachens und oder die sozialen Geschlechterbeziehungen, wie sie an ei­
Strafens« zu stellen; es bedeutet nicht, seinen Blick auf nem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt exi­
diese oder jene Behinderung zu heften, sondern die Stig­ stieren, müssen Joan Scott zufolge so verstanden werden,
matisierung zu erforschen (das Buch Stigma von Erving daß sie eine Antwort darstellen, die von einer Gesellschaft
Goffman stellt eine besonders überzeugende Illustration auf das gegeben wird, was sie als das »Dilemma des Ge-

269
268
schlechtsunterschieds« bezeichnet. Ich bin von ihrer For­
Daten usw. Aber diese sind keine Dinge, die schon zuvor
mulierung nicht überzeugt, die darauf hinausläuft, als ge­
gegeben wären. Ihre Relevanz und ihre Bedeutung werden
geben vorauszusetzen, was sie ihrer Angabe nach als Pro­
durch die theoretische Arbeit und im Ausgang von ihr ge­
blem konstruieren will. Aber der methodische Punkt, den
schaffen und stehen gewissermaßen in ihrem Dienst.
Joan Scott aufwirft, interessiert mich und scheint mir wich­
Die problematisierende Tätigkeit gestattet, die Welt, wie
tig zu sein. Die Geschlechteroperationen auf kritische Wei­
wir sie kennen, als eine der möglichen Welten, als eine der
se zu analysieren erfordert, daß man nicht vom »Wirkli­
möglichen Weisen der Welterzeugung zu präsentieren. Die
chen« ausgeht. Im Gegenteil muß man sich vorstellen, was
wissenschaftliche Vorgehensweise ist dadurch unmittelbar
nicht existiert. Man muß sich die Frage stellen, was die viel­
mit einem ethischen Gestus verzahnt. Wissen zu erzeugen
fältigen Weisen sind, auf die eine Gesellschaft mit der Fra­
setzt voraus, daß wir uns selbst gegenüber einen Schritt zu­
ge nach dem Geschlechtsunterschied umgehen kann, wie rücktre ten. So daß wir um so mehr notwendig dazu geführt
sie die Bedeutung der Körper regulieren kann, die Bezie­ werden, uns selbst zu verändern, je mehr wir uns selbst er­
hung von jedermann zur Begierde, zur Sexualität, zum kennen wollen.
ö ffentlichen Raum usw. Es gibt viele Weisen, sich die »Ge­
schlechternormen« vorzustellen. Und die »Wirklichkeit«
der Geschlechteroperationen, die in der Gesellschaft am
'\Verk sind, die man z u studieren versucht, erhellt sich
durch ihren Abstand, der gegenüber diesen Potentialitäten
historisch feststellbar ist. Was man in einer » Gesellschaft«
» Geschlecht« nennt, muß als eine der möglichen Weisen
des Umgangs mit dem »Dilemma des Geschlechtsunter­
schieds« verstanden werden. Mit anderen Worten, der kri­
tische Ansatz erfordert den Ausgang von einem Problem
(hier das »Geschlecht«) , die Reflexion auf die Potentialitä­
ten, die es eröffnet, auf die wirklichen oder hypothetischen
Antworten, die möglicherweise auf es gegeben werden kön­
nen (Joan Scott verwendet insbesondere die Psychoanalyse
als Vorstellungsinstrument), um schließlich in einem letz­
ten Schritt die spezifische Wirklichkeit zu beschreiben, in
der wir leben, und ihre unbewußten, kontingenten und
w illkürlichen Grundlagen. 1 0 In der Arbeit der Kritik gibt
es also Beschreibung, Beobachtung, »Archive«, statistische

io Scott, De l'utilite du gen re.

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