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Stefan George
und die Jugend-
bewegung
A B H A N D L U N G E N Z U R L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T
Abhandlungen zur Literaturwissenschaft
Wolfgang Braungart (Hg.)
Stefan George
und die Jugendbewegung
J. B. Metzler Verlag
Der Herausgeber
Wolfgang Braungart, Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft
und Neuere deutsche Literatur an der Universität Bielefeld.
ISBN 978-3-476-04574-4
ISBN 978-3-476-04575-1 (eBook)
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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J. B. Metzler, Stuttgart
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Rainer Kolk
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Hans-Ulrich Thamer
Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der
Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Eckart Conze
»Neuen adel den ihr suchet ...«. Aristokratismus in der Jugend-
bewegung nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Justus H. Ulbricht
deutschland ewig unsere liebe. George-Splitter in zerrissener Zeit . . . . . . 85
Susanne Rappe-Weber
Feundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lesens
im Spiegel der ›Gruppenbücher‹ von ›Wandervogel‹ und bündischer
Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Michael Fischer
Der Flamme Trabant. Die Politisierung der Flammen- und Feuersymbolik
von Ernst Moritz Arndt bis zu Stefan George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
VI Inhalt
Barbara Stambolis
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis. Überlegungen zu Kreis-
bedürftigkeit und Kreispraktiken in der Jugendbewegung, mit und
ohne George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Michael Philipp
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend . . . . 165
Reinhard Pohl
Stefan George als Leitbild in Karl Christian Müllers Jungenbund
›Trucht‹ 1929–1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Malte Lorenzen
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Georg Doerr
›Läuterung des Samens‹ – Gustav Wyneken und Stefan George als
geistige Führer des jungen Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Micha Brumlik
Jüdische Jugend zwischen Martin Buber und Stefan George,
zwischen Berlin und Palästina. Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea . . 243
Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge zur Jahrestagung der Stefan-
George-Gesellschaft, die 2016 in Bingen am Rhein stattgefunden hat. Sie wurde
in Kooperation mit dem Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Burg
Ludwigstein, von der Stefan-George-Gesellschaft Bingen e. V. vorbereitet und durch-
geführt. Unterstützt wurde diese Tagung durch eine Spende der Stiftung Burg Lud-
wigstein; dafür danke ich Professor Dr. Jürgen Reulecke. Ebenfalls großzügig unter-
stützt wurde die Tagung durch die Alfred Schmid-Stiftung; ich danke sehr herzlich
Dr. Florian Lauermann und Dr. Michael Philipp, der den Kontakt hergestellt hat. Der
Druck wurde nur möglich dank des Engagements Dr. Oliver Schützes vom Metzler-
Verlag Stuttgart. Bei der langwierigen Druckvorbereitung haben mich, wie schon
oft, Anna Lenz und Patricia Bollschweiler, beide Universität Bielefeld, sehr umsich-
tig und kompetent unterstützt. Auch dafür sei nachdrücklich gedankt. Schließlich
danke ich allen Beiträgern, dass sie uns ihre Studien zur Verfügung gestellt haben.
1 Erweiterte Einführung zur Binger Tagung. Ich nehme im Folgenden einige Hinweise auf,
die ich schon in meiner Studie ݀sthetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der
Literatur‹ gegeben habe (Tübingen 1997, bes. S. 43 ff.), weil es mir seinerzeit bereits darum
ging, George und seinen Kreis im sozialen, kulturellen und ästhetischen Kontext zu sehen.
2 Stefan George: Der Siebente Ring. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan
George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart
1982 ff. Bd. VI/VII, S. 32 f. – Künftig zitiert mit der Sigle SW Bandnummer, Seitenangabe.
3 Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, München 82012 (zuerst 1999), S. 49. – Zum jugend-
bewegten Singen von Liedern der Wandervogelbewegung im Jüdischen Pfadfinderbund,
an den sich Reich-Ranicki anschloss, s. S. 63 f.
4 Stefan Breuer: Artikel ›Politische Rezeption‹. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braun-
gart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.) in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann: Stefan
George und sein Kreis. Ein Handbuch, 3 Bde., Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 1176–1225,
hier bes. S. 1199–1212 (›Bündische Bewegung‹).
2 Fragen und Notizen zur Einführung
pädagogik immer wieder an.5 Rainer Kolk, ebenfalls Beiträger zum vorliegenden
Band, hat sich im Rahmen verschiedener Publikationen zur Konzeptualisierung
von Jugend um 1900 zum Thema geäußert.6 Bei allen dreien geht es vor allem um
die Rezeption des charismatischen Erziehers und Führers George, des Zentrums
des sog. ›Geheimen Deutschlands‹, ein Konzept, das den Titel eines Lang-Gedichtes
von George selbst aufnimmt und im George-Kreis seit etwa 1910 kultiviert wurde.
Ernst Kantorowicz hat es in seiner Frankfurter ›Neu-Antrittsvorlesung‹ von 1933 auf
seine Weise ausgeführt.7 Es ging in der Forschung zu unserem Thema also bislang
mehr um Sozialformen und um weltanschauliche und ideologische Positionen, nicht
primär um die ästhetische bzw. literarische Rezeption.
Wenn es aber um sie geht, um die literarische Rezeption, dann ist die Forschungs-
lücke noch gravierender. Erklären mag sich dies daraus, dass sich eine George-
Rezeption in der historischen Jugendbewegung schon immer irgendwie von selbst zu
verstehen scheint und grundsätzlich nicht strittig ist: »Wer je die flamme umschritt /
Bleibe der flamme trabant«. Wem kämen diese Verse nicht in dem Sinn, wenn man
an dieses Thema ›Jugendbewegung und Stefan George‹ denkt. Sie passen ja auch so
gut zu Lagerfeuer und großer Fahrt, zu den Feuer-Ritualen, die es in der Jugendbe-
wegung bis heute gibt;8 und sie symbolisieren so gut das Ethos der Jugendbewegung,
wie es mit viel Sinn für Pathos eindrucksvoll im Oktober 1913 beim ersten Freideut-
schen Jugendtag auf dem Hohen Meißner in der berühmten Formel zum Ausdruck
kommt: »Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Ver-
antwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit
tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.« So zitiert eine Gedenktafel auf der
Burg Ludwigstein diese Formel, heute noch für jeden leicht wahrnehmbar.
»[G]eschlossen«! – bei »innere[r] Wahrhaftigkeit« und »innerer Freiheit«. Indivi-
dualität und Gemeinschaft: Bekanntlich hat die Jugendbewegung eine Fülle eigener,
in ihren Formen konservativer, teilweise religiös anmutender Gemeinschaftsrituale
ausgebildet, in denen sich ihre Abgrenzung gegen die Generation der Erwachsenen
und ihr Anspruch formulierte, die neue Generation zu sein, von der die grund-
sätzliche Erneuerung kommt. Diese Gruppen-Rituale haben, daran kann kaum ein
Zweifel sein, die Attraktion der Jugendbewegung entscheidend ausgemacht. Sie
lassen sich als selbst geschaffene, selbst organisierte, nicht von den Erwachsenen
vorgegebene Rituale für die eigene Zeit ›Jugend‹ verstehen, die damit die soziale
Funktion von Ritualen überhaupt besonders deutlich zeigen. Jugend wurde von der
Jugendbewegung nicht mehr nur als Übergangszeit zum Erwachsenenalter begrif-
fen, sondern emphatisch als eigene, gültige, ja wahre Lebensphase. Die Rituale der
Jugendbewegung lassen sich deshalb auch weniger als Übergangsrituale im Sinne
Arnold van Genneps begreifen,9 denn als Abgrenzungs-, Selbstauszeichnungs- und
Selbstaufwertungsrituale. Jugendbewegung: Das ist also auch ästhetisch-soziale
Performanz; und genau hierin ist eine wesentliche Parallele zum George-Kreis zu
sehen. Wie konservativ die Jugendbewegung damit sein konnte, das lässt sich etwa
an einem programmatischen Artikel in der Monatsschrift ›Freideutsche Jugend‹ von
1916 zeigen. Dort heißt es: »Nur die Religion kann den Antrieb zu einer starken
Bewegung geben. Und nur die Religion kann das Endziel einer starken Bewegung
sein. [...] Religion heißt Bindung. Wollen wir nicht eine neue Bindung? Riefen wir
deshalb nicht: weg mit aller alten Bindung, mit aller Bindung an Selbstsüchtiges,
Niederes, an Nur-Überkommenes, Fremdes? Sagten wir nicht: wir wollen die neue
Bindung an Eignes, Selbstloses, Höchstes und Letztes?«10 Das ist eine Sprache, die man
aus dem George-Kreis kennt. Auch in Georges Gedichten geht es immer wieder um
diesen »dienst« am »Höchsten und Grössten«.11
Es dürfte in der Geschichte der historischen Jugendbewegung wohl nur wenige
gegeben haben, die die zitierten Verse Stefan Georges aus dem ›Stern des Bundes‹
von 1914 nicht gekannt hätten und die nicht von ihnen angesprochen worden
wären.12 Aber was lässt sich darüber hinaus konkreter sagen? Wie intensiv wurde
Georges Werk in der Jugendbewegung tatsächlich rezipiert und in welcher Breite?
Oder ist es nicht eine der mythischen Geschichten, die man sich gerne erzählt und
die eher der sehr aktiven Erinnerungsarbeit und Selbst(re)konstruktion der Jugend-
bewegung zuzurechnen sind?13 Immerhin: Die ›weißen Schwalben‹ des Schluss-
9 Arnold van Gennepp: Übergangsriten, Frankfurt a. M. – New York – Paris 1986 (zuerst frz.
Les rites des passages, 1909).
10 Adolf Allwohn: Über das Religiöse in der freideutschen Jugendbewegung und über die
die Religion für die freideutsche Jugendbewegung. In: Freideutsche Jugend. Eine Monats-
schrift, Heft 12, 1916, S. 359–360, hier S. 359; meine Hervorhebungen.
11 ›Das Geheimopfer‹. In: SW III (Anm. 2), S. 21.
12 SW VIII (Anm. 2), S. 84.
13 Der »Historisierung und Selbsthistorisierung der Jugendbewegung nach 1945« war im
Herbst 2017 eine ganze Tagung gewidmet, die auf der Burg Ludwigstein stattfand und
von Susanne Rappe-Weber und Eckart Conze geleitet wurde. – Einige Hinweise zum
Thema darüber hinaus: Wolfgang Frommel: Stefan George und die Jugendbewegung. In:
Castrum Peregrini, Heft 102, 1972, S. 5–23; Wilhelm Riegger/Otto Weise: Stefan George
und die Jugendbewegung. Begegnungen und Kontakte. In: Jahrbuch des Archivs der
deutschen Jugendbewegung 13, 1981, S. 129–134; Heinrich Steinbrinker: Bücher, die uns
damals viel bedeutet haben. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 5,
1973, S. 102 ff., hier S. 108; Gerhard Ziemer: Zum Verhältnis Jugendbewegung und Stefan
George. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 3, 1971, S. 8–11. Rudolf
4 Fragen und Notizen zur Einführung
gedichtes ›Vogelschau‹ aus dem ›Algabal‹-Zyklus (1892) fliegen auch heute noch in
der ›Mundorgel‹.14 Das Gedicht wurde mehrfach vertont, u. a. von Alfred Ziesche,
Mitglied des Nerother Wandervogels.15 Ziesche hat ebenso Friedrich Gundolfs in
der Jugendbewegung, vor allem in der katholischen Jugendbewegung (und in der
›Weißen Rose‹), weit verbreitetes Gedicht ›Schließ Aug und Ohr für eine Weil / Vor
dem Getös der Zeit‹ vertont.16 Wie liedhaft man weitere liedähnliche Vertonungen
von Gedichten Georges hinsichtlich ihrer Popularität generell bewertet, darüber
lässt sich streiten.17 Die musikalische Avantgarde aber hat sich ihrer bekanntlich
schon früh angenommen (Anton Webern, Arnold Schönberg und später, diesen ver-
Ibel deutet in seinem in der ›Unabhängige[n] Zeitung der Jugendbewegung‹ ›Der Zwie-
spruch‹ publizierten Aufsatz ›Stefan George, dem Sechzigjährigen‹ die »Grundhaltung des
Georgeschen Lebenswerkes« schon in den frühen Gedichten so (S. 278): »Dichtung ist
für ihn eine religiöse Angelegenheit; aber nicht als Propagierung religiöser Ideen, Schil-
derung religiöser Erlebnisse oder Zustände; nein, das Wort selbst, als Träger der Dichtung
ist ihm eine religiöse Angelegenheit«; dieses religiöse Verständnis des dichterischen Wor-
tes mache die Einheit von Georges Werk aus. Sie richte sich »gegen eine Sprache, in der
alles zur journalistischen Plattheit und Phrase sich wandelte, in der Gemeines und Hei-
liges vermengt, auf eine Ebene gewalzt wurde«. In: Der Zwiespruch. Unabhängige Zeitung
der Jugendbewegung, Nachrichten- u. Anzeigenblatt ihres wirtschaftlichen Lebens. 10.
Jg., Blatt 24, 17. Juni 1928, S. 277–281. Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George,
Düsseldorf – München 1974, S. 27, berichtet, der damals noch wenig bekannte Spitte-
ler wurde »von Wyneken in dem Landschulheim Wickersdorf immer abwechselnd mit
George gelesen.«
14 Die Mundorgel. Neubearbeitung 1982, 2. verbesserte Aufl., Köln – Waldbröl 1984, Nr. 156.
Erläutert wird dort: »Das Bild der Schwalben umschreibt den Flug der Gedanken.« Damit
wird das Motiv, das m. E. poetologisch verstanden werden kann (Schwalben – Gedichte),
für den gedanklichen Komplex ›Fahrt‹ und ›Freiheit‹ zugänglich gemacht.
15 https://www.volksliederarchiv.de/lexikon/alfred-zschiesche/; aufgerufen am 5.12.2017. Die
Website wird von Michael Zachcial betrieben, der selber Liedkünstler ist.
16 https://www.volksliederarchiv.de/schliess-aug-und-ohr-fuer-eine-weil-lied-der-weissen-rose/;
aufgerufen am 5.12.2017. – In den meisten Rezeptionsbelegen, die mir im jugendbeweg-
ten Zusammenhang begegnet sind, findet sich eine m. E. signifikante Veränderung des
Gundolfschen Textes. Bei ihm (Gundolf) lautet die erste Strophe: »Schließ aug und ohr
für eine weil / Vor dem getös der zeit, / Du heilst es nicht und hast kein heil / Als wo dein
herz sich weiht.« – Friedrich Gundolf: Gedichte, Berlin 1930, S. 96. Die jugendbewegten
Wiedergaben verändern dies zu: »Als wo dein herz sich weit’«, also: wo es sich weitet. Das
kann man aus der Sicht der Jugendbewegung verstehen und ist für sie ja auch passend.
Wenn man aber bedenkt, dass Gundolf noch sterbenskrank (er stirbt 1931) sich von seinem
›Meister‹ nicht lösen wollte, obwohl der sich nach der Eheschließung Gundolfs mit Elisa-
beth Salomon von ihm trennte, und wenn man bedenkt, dass Gundolf selbst die Metapher
des Sich-Verzehrens im Feuer für den Meister benutzt hat, dann ist die ›Konjektur‹, die
die Jugendbewegung an Gundolfs Gedicht vorgenommen hat und die das Sakrale zurück-
nimmt, nicht nebensächlich.
17 Vgl. dazu den Beitrag Michael Fischers im vorliegenden Band und Dieter Martin: »Wer je
die flamme umschritt«. Stefan George am Lagerfeuer. In: Realität als Herausforderung. Li-
teratur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum
65. Geburtstag. Hg. von Ralf Bogner/Ralf Georg Czapla/Robert Seidel/Christian von Zim-
mermann. Berlin – New York 2011, S. 427–446; ders.: Artikel ›Musikalische Rezeption‹. In:
Aurnhammer u. a. (Hg.), George und sein Kreis (Anm. 4). Bd. 2, S. 939–961, bes. S. 951 f. –
Dr. Dr. Michael Fischer, dem Leiter des Freiburger Zentrums für populäre Kultur und Mu-
sik, danke ich herzlich für freundliche Auskünfte.
Fragen und Notizen zur Einführung 5
18 Vgl. dazu den Überblick von Dieter Martin in: Aurnhammer u. a. (Hg.), George und sein
Kreis (Anm. 4). Bd. 2, S. 946–950.
19 Breuer, ›Politische Rezeption‹ (Anm. 4), S. 1176–1225, hier bes. S. 1199–1212 (›Bündische
Bewegung‹).
20 Kai Buchholz/Klaus Wolbert (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von
Leben und Kunst um 1900. Katalog zur Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt,
2 Bde., Darmstadt 2001.
21 Vgl. auch Carola Groppe: Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik
zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik. In: Böschenstein u. a. (Hg.), Wissen-
schaftler im George-Kreis (Anm. 6), S. 311–327.
22 Fritz Klatt: Biographische Aufzeichnungen. Aus dem Nachlaß hg. von Lis Klatt und Günter
Schulz. Mit einer Vorbemerkung zu den Briefen von Gertrud Breysig und der Bibliographie
seiner Schriften und Beiträge von Ursula Schul, Bremen 1965, S. 107 f.
23 Ebd.
24 Vgl. Korinna Schönhärl: Artikel ›Breysig, Kurt‹. In: Aurnhammer u. a. (Hg.), George und
sein Kreis (Anm. 4). Bd. 3, S. 1311–1315.
6 Fragen und Notizen zur Einführung
wird, Carola Groppe hebt das hervor, »sich nur über biographische Einzelstudien
ermitteln« lassen.25
Seit Rousseau und dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Kulturkritik,
wie insbesondere Georg Bollenbeck gezeigt hat,26 zu einem spezifischen Denk- und
Argumentationstyp. Horst Thomé hat für eine Variante der Literatur des 19. Jahr-
hunderts aus diesem Geist, die jetzt verstärkt entsteht, literarische und essayistische
Literatur, den Begriff der ›Weltanschauungsliteratur‹ geprägt.27 An ihr beteiligen sich
George-Kreis und Jugendbewegung intensiv. Auch die Zivilisations- und Kultur-
kritik ist also eine wichtige Klammer zwischen George-Kreis und Jugendbewegung.
Bei solchen Perspektivierungen steht eine der schwierigsten und am heftigsten
diskutierten Fragen der neueren Geschichtswissenschaft immer im Raum: die nach
der Vor- und Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus und damit auch die
nach der Rolle, die Literatur und Kunst dabei gespielt haben. In seiner umstrittenen
George-Biographie von 2002 hat Robert Norton Georges ›geheimes Deutschland‹
im Prä- bzw. Proto-Faschismus verortet.28 Norton kann sich dabei auf Mitglieder des
Georges-Kreises selbst berufen wie zum Beispiel Ernst Bertram. Im Herbst 2016 fand
auf Burg Ludwigstein eine vom Marburger Kulturwissenschaftler Karl Braun geleite-
te Tagung statt, bei der es um Biopolitik und Jugendbewegung ging. Die Ergebnisse
sind bereits publiziert.29 Die Tagung nützte Foucaults Konzept der Biopolitik, um
einen wichtigen, lange vernachlässigten Aspekt der historischen Jugendbewegung
in ihren Kontexten zu beschreiben. In den verschiedenen Avantgardebewegungen –
der Pädagogik, der Lebensreform, aber auch der Kunst – bildete sich seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt ein biopolitischer Diskurs aus, der durch die
Nationalsozialisten bekanntlich auf katastrophale Weise politisch enggeführt und
funktionalisiert wurde. Am Lebensdiskurs um 1900 und am biologischen Diskurs
des 19. Jahrhunderts überhaupt kann man besonders gut studieren, wie sich jenes fa-
tale Tableau ideologischer Argumentations- und Denkfiguren entwickelte, und zwar
über alle politischen Positionen und Strömungen hinweg.30 Vor nunmehr 30 Jahren
hat Gudrun Fiedler in ihrer grundlegenden Dissertation über ›Jugend im Krieg‹, also
über die Jugendbewegung im Ersten Weltkrieg, schon nachgewiesen, dass der erste
Weltkrieg auch ein Katalysator der Bewusstseinsbildung in der Jugendbewegung
war. Denn jetzt differenzierte sich die Jugendbewegung auch politisch weiter aus,
freilich ohne gleich eigene, im engeren Sinne dezidiert politische Positionen zu ent-
wickeln.31
Wenn man also nach der Vorgeschichte des Nationalsozialismus fragt – und an
Theorien und Entwürfen ist bekanntlich kein Mangel –, so kann man wohl etwas
pauschal sagen: Das ideologische Argumentationssyndrom wurde in den Jahren
von ca. 1860 bis ca. 1920 bereits weitgehend ausgebildet. Die Nationalsozialisten
konnten hier gewissermaßen einfach zugreifen; ideologisch fiel ihnen nichts Neues
ein. Wohl aber radikalisierten und bündelten sie, was schon da war. In ihrem ›Willen
zur Macht‹ kanalisierte sich die Ideologie nun politisch mit fatalster Wirksamkeit.
Zwar konnten die Nationalsozialisten also ideologisch aus dem Vollen der 20er Jahre
schöpfen. Zugleich aber hatten sie sowohl von den Agitationsformen der Linken
›gelernt‹, als auch von der Organisation des politischen Handelns (auf der Straße
und im Parlament) bedeutend mehr verstanden, als so mancher Völkische in den
Jahrzehnten davor.32
Auch im George-Kreis gibt es, wie in der Jugendbewegung, eine große Breite
weltanschaulicher Positionen; vielfältigste Bezugnahmen auf Reformpädagogik und
Lebensreform; jugendbewegte Sensibilität für neue soziale und zugleich ästhetische
Praktiken. Wie in Lebensreform und Kulturkritik um 1900, die man voneinander
nicht strikt trennen kann, gibt es auch im George-Kreis einen Zusammenhang von
Subjekt- und Kulturkritik einerseits und neuen Vergemeinschaftungsprozessen,
neuen Formen gemeinschaftsstiftender Rituale andererseits. Dies freilich im Zei-
chen der Kunst und, wenn man die Inthronisation Maximins zum mythopoetischen
Gott so verstehen will, der Religion bzw. parareligiöser Selbstverständigungen.33 Im
George-Kreis vollzieht sich schließlich mit und nach dem Ersten Weltkrieg eine
ähnliche politische Differenzierung wie in der Jugendbewegung. Sie waren beide
nach 1900 weder kulturell noch ästhetisch eine avantgardistische Bewegung. Auf
den Modernisierungs- und Industrialisierungsschub reagierten sie dadurch, dass sie
ihn zu übergehen bzw. hinter ihn zurückzugehen versuchten.
In seinem Artikel zum George-Handbuch relativiert Stefan Breuer zwar die Be-
deutung zweier Meinungsführer der historischen Jugendbewegung, Hans Blühers
und Gustav Wynekens als jugendbewegte Vermittler und Multiplikatoren Georges:
»Ebenso wenig greift die Annahme, ein solcher Einfluss hätte sich über ›Mittler‹
wie Gustav Wyneken oder Hans Blüher vollzogen. Wyneken bezog sich trotz man-
cher Berührungspunkte nicht auf StG [Stefan George] und war viel zu sehr auf die
Bildung einer eigenen Gemeinde bedacht, als dass er andersartige Einflüsse hätte
dulden können.«34 Aber auch dieser mögliche oder nur vermeintliche Rezeptions-
weg wäre wohl noch genauer zu untersuchen. Umgekehrt räumt Breuer jedoch ein,
»dass Blühers Lehren vom Männerbund und vom neuen Adel in vieler Hinsicht am
Vorbild des George-Kreises abgelesen waren«.35
Hans Blüher, 1902 als Vierzehnjähriger in Steglitz Mitglied des ›Wandervogels‹
und später wichtiger wie – wegen der Betonung des Erotischen in der Jugendbewe-
gung – umstrittener Historiker und Theoretiker der Jugendbewegung, schließt sein
Hauptwerk ›Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft‹ (1917/19) mit dem
Gedicht aus Georges ›Stern des Bundes‹: ›Neuen adel den ihr suchet / Führt nicht
her von schild und krone!‹36 »Wer aber der Adel ist, das sagen die Worte Georges«:
Mit der Autorität Georges und dessen Elite-Gedanken aufnehmend, unterstreicht
er, dass »[e]rst der keimende Bund [...] den wirklichen Adel gebären« werde und
»mit ihm die wirkliche Aristie und die wirkliche Herrschaft«.37 Blüher entspricht mit
dieser Forderung nach einer neuen, hierarchisch gestuften Sozialordnung durch-
aus Georges Sinn für soziale Ordnung. In seiner Autobiographie ›Werke und Tage‹
von 1953 (eine erste Fassung entstand um 1920) mit dem selbstbewussten Untertitel
›Geschichte eines Denkers‹, die, wie Georges ›Tage und Taten‹,38 auf Hesiod anspielt
(›Werke und Tage‹),39 bezieht sich Blüher mehrfach auf George.40
Für den Reformpädagogen und Kopf der Jugendkulturbewegung Gustav Wyne-
ken, zu dessen Anhängern auch der junge Walter Benjamin gehörte, war George
der »Höhepunkt der modernen Lyrik«.41 Noch in seinem letzten Buch ›Abschied
vom Christentum‹ (1963) zitiert Wyneken zustimmend George, wenn er ein zen-
trales Ideologem der Kulturkritik um 1900 aufgreift: die Identifizierung der zerset-
zenden, subjektivistischen Innerlichkeit mit dem Protestantismus. Dagegen spielt er
die feierliche Ästhetik und Objektivität des Katholizismus aus und nennt zentrale
Merkmale des Rituals: »Wer aufmerksam einer katholischen Messe (einem Hoch-
amt) beiwohnt, dem wird sie als ein feierliches Schauspiel, als ein geheimnisvolles
Theater einen tiefen Eindruck machen [...]. [D]ie Unverständlichkeit des Aufbaus
[der Messe], das geheimnisvolle, schweigende Hantieren der Priester am Altar,
der vorgeschriebene Gebrauch der lateinischen Sprache – dies alles erhöht für die
Gemeinde die feierliche, erwartungsvolle Stimmung. Und diese Gemeinde selbst,
durch Massensuggestion oder auch Gruppenbewußtsein zu einer seelischen Ein-
heit verschmolzen, erzeugt in sich und für sich, eine gewaltige stehende Welle von
Stimmung, die dem am Altar sich vollziehenden Sakrament die Resonanz, den tiefen
Vollklang, die echte Wunderwirkung verleiht. Ja, die Volksmenge gehört mit dazu,
›die schön wird, wenn das Wunder sie ergreift‹ (Stefan George).42 Hier versteht man
erst richtig das katholische: ›Extra ecclesiam nulla salus‹«.43 Im Ritual des Meßopfers
wird für Wyneken die moderne Individuation aufgehoben: »[N]ur in ihr [der Opfer-
gemeinde] erlebt der Einzelne, daß er (religiös) kein Einzelner, sondern Glied einer
Gemeinschaft ist.«44 Man kann sich nur darüber wundern, dass Wyneken in dieser
späten Veröffentlichung eine derart ideologisch ausgebeutete Position noch so un-
kritisch vertritt. 1930 schrieb Baldur von Schirach an Peter Berns, den Führer des
rechtsextremistischen Jugendbundes der Geusen: »Jugendbewegung und Hitlerju-
gend sind nicht zu trennen.«45 Hitler-Jugend und BDM waren freilich keine Jugend-
bewegungen, sondern politische Organisationen. Jugendbewegungen können sich,
ich sagte es schon, überhaupt durch Protest-Rituale, Re-Ritualisierungen und neue
Gemeinschaftsbildungen, durch die Ablehnung vorgefundener und die Schaffung
eigener Rituale von der Väter- bzw. Elterngeneration abgrenzen.
Klaus Manns Autobiographie ›Kind dieser Zeit‹ illustriert diesen Zusammenhang
von Emanzipation und Re-Ritualisierung. In der 1910 als Landerziehungsheim ge-
gründeten Odenwaldschule unter der Leitung des Reformpädagogen Paul Geheeb,
in die der Sechzehnjährige eintritt, gehören lebensreformerische Übungen (›Luft-
bad‹, ›splitternackte Freiübungen‹, ›straffer Tageslauf‹)46 zur reformpädagogischen
Praxis, die, nach der Missbrauchsdebatte des letzten Jahrzehnts, niemand mehr als
bloß harmlos oder skurril auffassen sollte. Literatur ist Teil des reformpädagogischen
Rituals. Der Kreis, in dem sich Klaus Mann in der Odenwaldschule bewegt, lebt und
41 Walter Laquer: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1978, S. 151;
weitere Hinweise ebd.
42 Ein Zitat aus Georges Papst-Gedicht im ›Siebenten Ring‹, SW VI/VII (Anm. 2), S. 20 f.
43 Gustav Wyneken: Abschied vom Christentum. Ein Nichtchrist befragt die Religionswissen-
schaft, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 179 f.
44 Ebd., S. 180, meine Hervorhebungen.
45 Zit. nach Laquer, Die deutsche Jugendbewegung (Anm. 41), S. 210.
46 Klaus Mann: Kind dieser Zeit, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 138.
10 Fragen und Notizen zur Einführung
vollzieht Literatur kultisch. Als er die Schule verlässt, fängt George an, »auf mich zu
wirken«47
Jugendbewegung, Reformpädagogik, Lebensreform und auch der George-Kreis:
sie setzen alle auf ästhetisch-soziale Praktiken, die sich stark ähneln und als ästhe-
tische Praktiken auch effektive Formen der Vergemeinschaftung darstellen. In sie
ist die Rezeption von Literatur, besonders von Lyrik, so intensiv integriert, dass sie
selbst Teil der sozial-rituellen Praxis wird. Damit ist nun auch die Frage aufgeworfen,
inwiefern es sich um wirkliche Neuansätze handelt oder ob sich hier fortsetzt, was
in der Vereinskultur des 19. Jahrhunderts begonnen wird. Denn im Dichterkult der
literarischen Vereine des 19. Jahrhunderts wird Literatur ebenfalls in die sozio-
rituelle Praxis integriert. Deshalb wird unser Band mit einem Beitrag zu dieser Frage
eröffnet.
Diese wenigen Notizen sollen genügen. Sie können einen diskursgeschichtlichen
Zusammenhang von Lebensreform und Kulturkritik, von Jugendbewegung und Re-
formpädagogik allenfalls andeuten, an dem George und sein Kreis auf eigene Wei-
se partizipieren, in den sie hineinwirken und von dem sie sich auch abzugrenzen
versuchen. Dass es darüber hinaus auch große ästhetisch-rituelle Gemeinsamkeiten
gab, scheint mir offensichtlich. Von einem offeneren Verständnis des Ästhetischen
her, das sich nicht auf die Künste allein zurückziehen darf, rücken politische und
soziale Prozesse und Praktiken einerseits und Literatur und Kunst andererseits in
eine Nähe, die moderne Ausdifferenzierungen unterläuft.48 In den folgenden Bei-
trägen werden die Stichworte, die ich kaum mehr als nur nennen konnte, intensiver
ausgeführt. Die Debatte um George und die Jugendbewegung scheint mir freilich
damit erst richtig eröffnet.
47 Ebd., S. 176: »Noch war ich zu weich, zu genußsüchtig und zu genäschig, um die strengere
Botschaft seiner ethischen Postulate überhaupt zu empfangen und um seine Form zu ver-
stehen. Immerhin reagierte ich mit einer äußerst gespannten Hellhörigkeit auf seine For-
mel von der ›Verleibung des Gottes‹ und der ›Vergottung des Leibes‹, und ich ahnte früh
den Zusammenhang zwischen seinem hellenisch-katholischen Mythos und den verzweifel-
ten Forderungen Wedekinds nach der ›Wiedervereinigung von Moral und Schönheit‹, die
problematisch und unerfüllt bleiben.«
48 Vgl. zu diesem ›kulturästhetischen‹ Verständnis auch: Verf.: Ästhetik der Politik, Ästhetik
des Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 11
»Stirb jung und hinterlasse eine attraktive Leiche.« Es sind solche bündigen Ma-
ximen, in denen sich aktuelle Selbstbilder und Mythisierungen verdichten: vom
schnellen und riskanten Leben jenseits von Rentenansprüchen, vom Helden, der
dem Altwerden entkommt, wie der von Everett in seiner Nirvana-Biographie an-
gesprochene Kurt Cobain, charismatischer Frontmann der Grunge-Band Nirvana,
der sich 1994 mit 27 Jahren in seiner Garage mit einer Schrotflinte erschießt.1 Zu
diesem Zeitpunkt hat die Rede über ›Jugend‹ bereits ein Jahrhundert Konjunktur.
Das Nachdenken über die heranwachsende Generation ist in modernen Gesell-
schaften mit ihren offenen Zeithorizonten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
erwartbar. Für den Literaturwissenschaftler ist interessant, dass sich den pädago-
gischen, erziehungswissenschaftlichen, bildungspolitischen, kulturphilosophischen
Reflexionen auch solche literarischer Thematisierung von ›Jugend‹ assoziieren. Die
Zahl dieser literarischen Kommentare ist unüberschaubar. Nahezu alle Repräsentan-
ten des Bildungs- und Entwicklungsromans, Texte über Familien- und Generations-
probleme, schließlich Biographien, Autobiographisches, Memoiren und die explizit
für Jugendliche geschriebene Literatur verhandeln ›Jugend‹ mit unterschiedlichsten
Akzentsetzungen und Zuschreibungen. Und nicht zuletzt in der populären Kultur
ist ›Jugend‹ konstitutiv für zentrale Selbstinszenierungen: des Rebellischen, der Auf-
lehnung gegen Etabliertes, Konventionelles, Kommerzielles. Dass Pete Townshend
von den ›Who‹ – wir verdanken ihm die Zeile »I hope I die before I get old« (aus
›My generation‹ 1965) – inzwischen älter ist als höchste Repräsentanten jener der
Bornierung geziehenen staatlichen Ordnung, stört da nicht: Es geht um ›Haltungen‹,
um Lebensstile.
Die folgende Skizze geht, im Blick auf das Rahmenthema der ›Jugendbewegung‹,
auf einige literarische Texte aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein,
in denen zentral ›Jugend‹ thematisiert wird. Mein Augenmerk gilt dabei zumal den
»schweren Zeichen«:2 narrativen Konstellationen, in denen es ums ›Ganze‹ geht, um
Fundamentales, um Leben und Tod, um Krise und Entscheidung, denn gerade hier
ergeben sich Affinitäten zum George-Kreis. Ich erläutere zunächst einige Aspekte
einer Literaturgeschichte der ›Jugend‹ seit dem 18. Jahrhundert und nenne dann
unterschiedliche Thematisierungsformen. Weniger interpretatorische Details ein-
1 Everett True: Nirvana. Die wahre Geschichte. Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt,
Höfen 2008, S. 13.
2 Die Begriffsbildung bei Diederichsen und Baudrillard, besonders aber Werner Helsper:
Das »Echte«, das »Extreme« und die Symbolik des Bösen. Zur Heavy Metal-Kultur. In:
Peter Kemper/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.): »but I like it«. Jugendkultur
und Popmusik, Stuttgart 1998, S. 244–259, hier S. 245. Nicht zufällig ergibt sich eine im
vorliegenden Beitrag nur anzudeutende Fortführung hin zu Entwicklungen der populären
Musik und den sie tragenden Jugendszenen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts;
vgl. ausführlicher unten, Anm. 69.
12 Rainer Kolk
zelner Texte sollen interessieren als die grundsätzliche Frage nach den literarischen
Redeweisen über ›Jugend‹, denen es, so die These, immer um mehr geht als um die
Beschreibung der Facetten einer Lebensphase.3
Während das 20. Jahrhundert an seinem Beginn von der schwedischen Reform-
pädagogin Ellen Key in ihrem gleichnamigen Buch zum »Jahrhundert des Kindes«
und dem sozialdemokratischen Publizisten Karl Korn zum »Jahrhundert der Ju-
gend«4 ernannt wurde, gilt das 18. Jahrhundert gemeinhin als das ›pädagogische
Jahrhundert‹.5 Das ist nicht nur ein feiner Unterschied in der Wortwahl, es be-
zeichnet tatsächlich eine markante Differenz: Wo die Reformpädagogik des letzten
Jahrhunderts Kinder und Jugendliche vor Disziplinierung und Bevormundung in
Familie und Schule schützen möchte und »vom Kinde aus« (Key) argumentiert, da
stehen im Zeitalter der Aufklärung tatsächlich weniger ›das Kind‹ oder ›der Jugend-
liche‹ im Sinne der modernen Reformer als vielmehr Formen und Funktionen des
erzieherischen Zugriffs auf der Tagesordnung. Denn das, was die auf allgemeinen
Vernunftgebrauch eingeschworenen Aufklärer wie Basedow und Campe zunächst
intendieren, ist eine Systematisierung der pädagogischen Anstrengung, deren Ziel
der Bürger in einer nie in Frage gestellten Ständegesellschaft des aufgeklärten Ab-
solutismus ist.6 Literarische Texte haben solche eher auf kontinuierliche Diszipli-
nierung und Integration abzielende Orientierung mehrfach mit ›subjektfeindlichen‹
Konsequenzen ständischer Vergesellschaftung konfrontiert; Goethes ›Die Leiden
des jungen Werthers‹ ist das wohl markantestes Beispiel.
Rousseaus ›Émile‹ kehrt diese Perspektive kompromisslos um: Es sei nicht
möglich, den Jugendlichen als Menschen und als Bürger zugleich zu erziehen. Die
skandalträchtige Diagnose der Zeit begründet zum einen die Stellung Rousseaus
als Ahnherr der modernen Erziehungswissenschaft, die sich immer als Reform-
pädagogik versteht.7 Rousseau stiftet zum anderen die Tradition der Verbindung
von Pädagogik mit Kulturkritik, der es nicht nur um die Lern- und Reifungspro-
3 Die folgenden Ausführungen greifen in einigen Passagen auf ältere Arbeiten zurück. Vgl.
neben den jeweils ausgewiesenen Aufsätzen auch: Verf.: Zucht und Hoffnung. Pädagogi-
sche Akzente bei George und Rilke. In: Andreas Beyer/Dieter Burdorf (Hg.): Jugendstil und
Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, Heidelberg 1999, S. 139–156; ders.: »Die-
ses junge siegreiche Deutschland«. Traditionen und Aspekte des nationalsozialistischen
Jugendkonzepts. In: Der Deutschunterricht Heft4, 2003, S. 27–36; ders.: Die Jugend der
Moderne. In: Verf. (Hg.): Jugend im Vormärz, Bielefeld 2007, S. 11–24; ders.: Kairos und
Kabuff. Kommentare zur »Jugend«-Konzeption in Heinrich Manns »Professor Unrat«. In:
Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaft-
liche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne, Freiburg 2007, S. 161–178.
4 Zit. nach Jürgen Reulecke: »Ich möchte einer werden so wie die ...«. Männerbünde im
20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. – New York 2001, S. 37.
5 Vgl. Verf.: »Ja, begeisternd ist der Anblick aufstrebender Jünglinge.« Das Versprechen der
Jugend zwischen Vormärz und Moderne. In: Jürgen Fohrmann/Helmut Schneider (Hg.):
1848 und das Versprechen der Moderne, Würzburg 2003, S. 15–32, hier S. 16 ff.
6 Die geläufige Kontrollpraxis kann deshalb auch als Gegenteil einer wahren Reformpädago-
gik verzeichnet werden; vgl. Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur
Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Neuausgabe. Berlin 1997 (= Ullstein-Buch
35670).
7 Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine Dogmengeschichte, Weinheim – München
3
1996, S. 15 f.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 13
zesse des einzelnen Individuums zu tun ist, sondern um die gesellschaftlichen Rah-
menbedingungen ihrer Optimierung. Rousseaus Frontalangriff auf die Prinzipien
aufklärerischer Integrationspädagogik unterstellt eine Diskrepanz von individueller
und allgemeiner Glückseligkeit8 und erteilt schon im apodiktischen Gestus den
Prinzipien diskursiver Verständigung eine Absage.9 Dass Rousseau gelegentlich als
Erfinder der Jugendphase tituliert wird,10 verweist auf ihre exponierte Stellung in
seinem Erziehungsdenken. Die Merkmale, mit denen Rousseau die Jugendphase
ausstattet, können bis in die Gegenwart als normatives Fundament für die europäi-
sche Reflexion auf Jugend gelten:11 ›Jugend‹ wird aus der pragmatischen Abfolge der
Generationen herausgenommen, von der etwa die Aufzeichnungen des Zeitgenos-
sen Ulrich Bräker berichten, und positiv akzentuiert. Jugend avanciert in der Folge
zum emphatischen Begriff, an den sich kulturkritische und geschichtsphilosophi-
schen Hoffnungen anlagern. Die Jugendphase wird damit gegen soziale Verortung
indifferent konzipiert, stand-, schicht- oder klassenbezogene Konzeptionen sind
obsolet, ›Jugend‹ ist als ›pädagogische Provinz‹ auf ein eigenes Erziehungsmilieu
ausgerichtet. Die »zweite Geburt«, von der Rousseau spricht, anzuleiten, wird zum
Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion und zum Metier professioneller Eliten, die
sich nicht als Mittler gesellschaftlicher Imperative verstehen, sondern als Anwalt des
Zöglings. ›Jugend‹ bekommt den Charakter eines Moratoriums zugeschrieben, einer
Phase der von Rollenzumutungen möglichst entlasteten Selbstfindung. Noch 200
Jahre später wird Erik Erikson die Stabilisierung von Identität mit diesem Aufschub,
mit einem Stadium psychosozialer Experimente, verbinden. Jugend wird insgesamt
als Entwicklungsprozess gesehen, der krisenhaften Charakter zeigt: Körperliche
und sexuelle Reifung gehen einher mit Orientierungsproblemen. Adoleszenzlitera-
tur und Bildungsromane kommentieren dieses Stadium der Sozialisation als Phase
riskanter Passagen und »Verwirrungen«, die Robert Musils ›Törleß‹-Roman bereits
im Titel zitiert.
Zwei Einschränkungen sind hier zumindest erforderlich. Die emphatisierte Ju-
gendkonzeption darf mit den realhistorischen Bedingungen von Aufwachsen und
Lernen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht verwechselt werden.12 Und sie ne-
giert weitgehend die Problematik weiblicher Adoleszenz, die den Uniformierungen
des Geschlechtscharakterdiskurses ausgeliefert bleibt: Die Frau bleibt als Gegenpol
zum Mann, auch und gerade in der Tradition Rousseaus, auf ihre Rolle in der inti-
8 Vgl. Wilhelm Voßkamp: »Un livre Paradoxal«. J.-J. Rousseaus ›Émile‹ in der deutschen Dis-
kussion um 1800. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur
Erforschung seiner Rezeption, Berlin – New York 1995, S. 101–113, hier S. 104.
9 Vgl. Herbert Jaumann: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven.
In: Ders. (Hg.), Rousseau in Deutschland (Anm. 8), S. 1–22, hier S. 19.
10 Vgl. Bernhard Schäfers: Soziologie des Jugendalters. Eine Einführung, Opladen 6. aktuali-
sierte und überarbeitete Aufl. 1998 (= Uni-Taschenbuch 1131), S. 50.
11 Vgl. zum Folgenden Jürgen Zinnecker: Jugend der Gegenwart – Beginn oder Ende einer
historischen Epoche? In: Dieter Baacke/Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Neue Widersprüche.
Jugendliche in den 80er Jahren, Weinheim – München 1985, S. 24–45, hier S. 27 ff.
12 Vgl. Werner Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahr-
hundert, Göttingen 1998.
14 Rainer Kolk
13 Vgl. Ursula Geitner: Soviel wie nichts? Weiblicher Lebenslauf, weibliche Autorschaft um
1800; Kerstin Stüssel: Die ›häuslichen Geschäfte‹ und ›studia‹. Die ›gelehrten Frauen-
zimmer‹ im 18. Jahrhundert. Beide in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800, Tü-
bingen 1998, S. 29–50, S. 51–69. Vgl. zur Thematisierung weiblicher Adoleszenz: Gerhard
Neumann: Kindheit und Erinnerung. Anfangsphantasien in drei romantischen Novellen:
Ludwig Tieck ›Der blonde Eckbert‹, Friedrich de la Motte Fouqué ›Undine‹, E. T. A. Hoff-
mann ›Der Magnetiseur‹. In: Günter Oesterle (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept?
Würzburg 1997 (= Stiftung für Romantikforschung 2), S. 81–103. Norm und Praxis in so-
zialhistorischer Perspektive diskutieren Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann: Der
bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert.
In: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 333–359.
14 Vgl. Verf.: »Rollenaustheilungen«. Zur Darstellung von Lebensläufen bei den Grimms,
Heine und Gutzkow. In: Wolfgang Adam/Peter Hasubek/Gunter Schandera (Hg.): Immer-
mann-Jahrbuch 4: Carl Leberecht Immermann und die deutsche Autobiographie zwischen
1815 und 1850, 2003, S. 117–130.
15 Vgl. exemplarisch Danziger: Über Erziehungsromane. In: Die Mittelschule 23, 1909, S. 77–
83, 101–109, 125–131; M. Scheffel: Moderne Erziehungsromane. In: Pädagogische Studien,
N. F. 30, 1909, S. 199–217, 267–287.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 15
als literarische Figur und als ästhetischen Entwurf. Poesie wird zur Projektionsfläche
für Imaginationen neuer Lebensstile und Gemeinschaftsformen jenseits des Über-
lieferten und Erprobten, dem das Stigma des Alten anhaftet: nicht als Ehrwürdiges
und Bewährtes, sondern als Veraltetes. Sozialisation gewinnt durch Lektüre auch
eine literarische Komponente, thematisiert sie doch die Möglichkeiten jugendlicher
Phantasie und Normendistanz ebenso wie die dadurch bedingten Risiken des Selbst-
verlustes; romantische Prosa berichtet von diesen Irrfahrten zwischen Väterwelt und
außergesellschaftlichen Räumen.16
Aus bildungshistorischer Perspektive muss die literarische Figur des leidenden
Jugendlichen um 1900 überraschen. Die Begriffsgeschichte des ›Jugendlichen‹ ver-
deutlicht, dass dieser Terminus zuerst Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts
auftaucht – nicht zufällig im juristischen Diskurs über Strafmündigkeit.17 Die zeit-
genössische Jugend steht in schlechtem Ruf, gilt als unzuverlässig, der Kontrolle und
Disziplinierung bedürftig. Hier sieht die Jurisdiktion ebenso Handlungsbedarf wie
die entstehende Kinder- und Jugendpsychiatrie18, gelegentlich bereits in Abstim-
mung mit der beginnenden staatlichen Sozialfürsorge. Der Jugendemphase um 1900
geht also die »Entdeckung des auffälligen ›Jugendlichen‹ um 1880 voraus«,19 dessen
Beaufsichtigung außerhalb der Familie sich ein »System staatlicher Korrekturein-
richtungen« zu widmen beginnt. Ihr Argwohn wird durch die Beobachtung erregt,
dass sowohl in bäuerlichen, besonders aber in proletarischen Milieus, gravierende
Abweichungen von Mittelschichtlebensstilen und -erziehungsmaximen existieren;
so im Sexual- und Heiratsverhalten und in beruflicher Praxis.20
16 Vgl. Oesterle, Jugend (Anm. 13), S. 15 f., sowie die Studien des Bandes zu einzelnen Auto-
ren.
17 Vgl. Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983, S. 101; Ulrich Herrmann:
Der »Jüngling« und der »Jugendliche«. Männliche Jugend im Spiegel polarisierender Wahr-
nehmungsmuster an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland. In: Ders.
(Hg.): Historische Bildungsforschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme –
Analysen – Ergebnisse, Weinheim 1991, S. 225–232, 403–406.
18 Vgl. Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaft. Geschichte der Jugendforschung in
Deutschland und Österreich 1890–1933, Opladen 1990; Johannes-Christoph von Bühler:
Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung
am Beginn des 20. Jahrhunderts, Weinheim 1990, bes. S. 104–134, mit Ausblicken auf lite-
rarische Darstellungen von Jugend. Konstatiert wird für den Zeitraum 1890–1914 eine »zu-
nehmende Mythologisierung des Jugendalters« (S. 135); vgl. ähnliche Beobachtungen aus
literaturwissenschaftlicher Perspektive schon bei Friedrich Kröhnke: Jungen in schlechter
Gesellschaft. Zum Bild des Jugendlichen in deutscher Literatur 1900–1933, Bonn 1981
(= Literatur und Wirklichkeit 22); Barbara Stambolis: Mythos Jugend – Leitbild und Kri-
sensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach a. Taunus
2003, S. 89–111.
19 Detlev J. K. Peukert: »Mit uns zieht die neue Zeit ...«. Jugend zwischen Disziplinierung und
Revolte. In: August Nitschke/Gerhard A. Ritter/Detlef J. K. Peukert/Rüdiger vom Bruch
(Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880 – 1930, Reinbek bei Ham-
burg 1990 (= rororo 8575). Bd. 1, S. 176–202, hier S. 189. Das folgende Zitat ebd.
20 Vgl. Christa Berg: Familie, Kindheit, Jugend. In: Dies. u. a. (Hg.): Handbuch der deutschen
Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs, München 1991, S. 91–146, hier S. 120 ff.
16 Rainer Kolk
21 Und allenfalls am Rande von Mädchen und jungen Frauen. Hier wäre anzuschließen an
Beobachtungen des Bandes: Gertrud Lehnert (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit.
Weibliche Kindheit und Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Opladen 1996.
22 Vgl. resümierend James C. Albisetti/Peter Lundgreen: Höhere Knabenschulen. In: Christa
Berg (Hg.): Handbuch. Bd. IV (Anm. 20), S. 229 ff.
23 Vgl. die Zusammenstellung potentiell relevanter Texte im Zeitraum 1881–1925 von John
Neubauer: The fin-de-siècle culture of adolescence, New Haven 1992, S. 220–227; Neu-
bauer verdeutlicht besonders das Spektrum der Thematisierungen, von der Malerei über
die Jugendbewegung bis hin zur Kinderpsychologie.
24 Max Lorenz: Der Deutsche und sein Vaterland. In: Der Tag (Berlin), Nr. 461 vom 2.10.1902;
es handelt sich um die Anzeige des gleichnamigen Buches des im Folgenden erwähnten
Ludwig Gurlitt. Bei ihm heißt es im selben Jahr über beide Romane: »da ist für uns Lehrer
viel, sehr viel zu lernen!« Der Deutsche und sein Vaterland. Politisch-pädagogische Be-
trachtungen eines Modernen, Berlin 1902, S. 138. Zitiert wird nach der noch im selben
Jahr (!) erschienenen 4. Aufl.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 17
Es ist eine bittere, aber manchmal die einzig wirksame Lehre, wenn solche Erzieher dann
an den faulen Früchten ihrer Arbeit ihren groben Mißgriff büßen lernen. Das Lebens-
schicksal ›Freund Heins‹ ist hier fast typisch für unzählige deutsche Kinder.25
In den folgenden Jahren entsteht dann eine regelrechte Spezialliteratur, die litera-
rische Texte pädagogischen Lektüren unterzieht.26 Solche pragmatischen Applika-
tionen27 haben doppelte Funktion. Zum einen reklamieren sie Aufmerksamkeit für
eigene Beobachtungen zu strukturellen Defiziten des Bildungssystems. Literarische
Texte gelten in diesem Zusammenhang als besonders präzise und überzeugende
Darstellungen empirisch überprüfbarer Zustände auch in der Gegenwart. Pädagogi-
sche Intervention soll den notwendig allgemeinen Appell der Literatur in praktische
Erziehungsarbeit umsetzen. Zum anderen lesen diese Kommentare literarische Tex-
te mit Blick auf ihr symbolisches Kapital. Der immer mitgedachte Dichter-Mythos28
legitimiert die eigenen pädagogischen Konzepte; dem literarischen Autor wird der
Besitz höherer Einsicht attestiert. Der Glanz des kulturell anerkannten Textes soll die
auf ihn bezogenen Reformvorschläge durch Autoritätsbeweis gegen Kritik schützen,
und lässt sie als selbstverständliche Konsequenzen erscheinen.
Emil Strauß’ Roman ›Freund Hein‹, den Gurlitt erwähnt, kann zusammen mit
Hesses ›Unterm Rad‹ als Prototyp der literarischen Darstellung jugendlichen Lei-
dens in Erziehungsinstitutionen gelten.29 Der musisch begabte Heiner Lindner kann
in den oberen Gymnasialklassen dem Mathematikunterricht nicht ausreichend
folgen, uneinsichtige Pädagogen zwingen ihn zu mechanischen Lernleistungen,
wofür der Grammatikunterricht in den alten Sprachen einmal mehr als Beispiel
dient.30 Liebevolle, aber letztlich unverständige, Selbstdisziplin einfordernde Eltern
25 Ludwig Gurlitt: Der Deutsche und seine Schule. Erinnerungen, Beobachtungen und Wün-
sche eines Lehrers, Berlin 1905, S. 233.
26 So beispielsweise in der Anthologie von Wilhelm Wohlrabe: Der Lehrer in der Literatur.
Beiträge zur Geschichte des Lehrerstandes, Osterwieck im Harz 3. vermehrte Aufl. 1905; H.
Th. M. Meyer, Rez. Dr. Fuchs und seine Tertia. In: Der Saemann 2, 1906, S. 391 f.; Danziger,
Erziehungsromane (Anm. 15); Scheffel, Erziehungsromane (Anm. 15); Friedrich Pagel: Das
Schulproblem im Lichte moderner Literatur. Auch ein Beitrag zur Schulreform. In: Die
deutsche Schule 15, 1911, S. 393–413, 465–487; D. Darenberg: Der Lehrer als Romanfigur.
In: Pädagogische Zeitung 42, 1913, S. 306–310.
27 Vgl. Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum, München
1980 (= UTB 799), S. 166 ff. Aus Jürgen Links Konzept der interdiskursiven Leistung von
Literatur ließen sich Spezifika der Texte gleichfalls herleiten. Sie wären dann als ›Integra-
toren‹ sich ausdifferenzierender Spezialdiskurse (Medizin, Psychologie des Erwachsenen
bzw. des Kindes und Jugendlichen, Jurisdiktion, Kriminologie, Pädagogik) anzusehen.
28 Vgl. hierzu Manfred Schneider: Grabbe und der Dichter-Mythos. In: Werner Broer/Detlev
Kopp (Hg.): Christian Dietrich Grabbe 1801–1836. Beiträge zum Symposium 1986 der
Grabbe-Gesellschaft, Tübingen 1987, S. 43–56.
29 Vgl. zur ›Schulgeschichte‹: York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in
der Literatur der frühen Moderne, Stuttgart – Weimar 1995, bes. S. 205 ff. zu ›Freund Hein‹.
Umfassender Gwendolyn Whittaker: Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die
Schule und die literarische Moderne 1880–1918, Göttingen 2013 (= Literatur- und Medien-
geschichte der Moderne 2).
30 Vgl. Emil Strauß: Freund Hein. Eine Lebensgeschichte, Stuttgart 1995 (= RUB 9367), S. 194:
»nach dem bequemen üblichen Schema!«
18 Rainer Kolk
verweigern den Abgang von der Schule und eine musische Berufsausbildung. War
Heiner noch von einem Freund vorübergehend emotional gestützt worden, so flieht
er schließlich – Hölderlin lesend – in die Natur und erschießt sich.
Der unter ästhetischen Gesichtspunkten eher einfach strukturierte Text er-
zählt linear die Biographie seines Protagonisten, nur einmal unterbrochen durch
eine Rückblende, in der die Leidenschaft des Vaters für das Geigenspiel und ihre
Überwindung erzählt werden. Charakteristisch für diesen Umgang mit dem Thema
›Jugend‹ ist die Konfrontation von jugendlichen Neigungen und Begabungen, hier
in Form der Musikbegeisterung, und Erziehungsinstanzen, die Individualität kon-
trollieren und nicht konformes Verhalten bestrafen. In Einklang mit grundlegenden
Maximen der Reformpädagogik beschreibt der Text Jugend als ein tendentiell labiles
Entwicklungsstadium, das institutionell nicht als solches registriert wird; die ge-
schilderten psychosomatischen Störungen sollen Un-Natur illustrieren.31 Gerade die
sensiblen Schüler leiden an der Überforderung durch eine Vielzahl von Lerninhalten
und ihre rigide Einforderung durch die Erziehungsinstanzen. ›Überbürdung‹ lautet
die zeitgenössische Formel für diesen Befund, die immer mehr meint als überladene
Curricula. ›Jugend‹ erscheint insgesamt als eine Phase des Übergangs, noch ›un-
geordnet‹ im Sinne erwachsener Vorstellungen von Berufserfolg, aber mit kreativen
Potentialen ausgestattet,32 die in den auf Konformität und Gehorsam ausgerichteten
staatlichen Institutionen abgetötet werden. Der Tendenz nach sind dies Einwände,
wie sie schon Nietzsche, Lagarde und Langbehn in ihrer Fundamentalkritik des
zeitgenössischen Bildungswesens vorgetragen hatten.33
Im Blick auf den Status von Literatur in kulturellen Wissensordnungen34 lässt
sich eine wechselseitige Beobachtung von Literatur und Pädagogik/Psychologie in
dreifacher Hinsicht erkennen: So kann Wissenschaft durch die literarische Ver-
wendung ihrer Wissensbestände popularisiert werden. Dem zunächst als wissen-
schaftlich klassifizierten Wissen werden so neue Rezipientengruppen erschlossen.
Die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems seit dem 18. Jahrhundert und
seine Binnendifferenzierung macht mit der Akzentuierung innerwissenschaftlicher
Relevanzen auch eine Überbrückung zum nicht-wissenschaftlichen Publikum er-
35 Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Diszipli-
nen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt a. M. 1984, S. 60 f.
36 Danziger, Über Erziehungsromane (Anm. 15), S. 78.
37 Vgl. Oelkers, Reformpädagogik (Anm. 7), S. 9.
38 Vgl. grundsätzlich Elena Esposito: Code und Form; Gerhard Plumpe/Niels Werber: Sys-
temtheorie in der Literaturwissenschaft oder »Herr Meier wird Schriftsteller«. Beide Auf-
sätze in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996
(= UTB 1929), S. 56–81, 173–208.
39 Vgl. exemplarisch Ulrich Herrmann: Die »Majestät des Kindes« – Ellen Keys polemische
Provokationen. In: Ders. (Hg.): Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. Studien, Wein-
heim – Basel 1992, S. 253–264.
40 Vgl. Mix, Schulen (Anm. 29), S. 193 f., S. 209 f.
20 Rainer Kolk
Maulbronner Stifts mental ruiniert und in den Tod getrieben wird. Keineswegs je-
doch zeigt der Roman eine bewusste Selbsttötung des Protagonisten angesichts un-
einsichtiger Erzieher, wie dies ›Freund Hein‹ tut, mit dessen Verfasser Strauß Hesse
befreundet war.41 Vielmehr ertrinkt Hans Giebenrath in dem Moment, da ihm nach
den Enttäuschungen in Maulbronn der Beginn seiner Lehrzeit als Mechaniker eine
verloren geglaubte Orientierungssicherheit verspricht.
Ergiebiger als das Aufweisen von Parallelen zwischen Leben und Werk eines
Autors ist für eine Sozial- und Funktionsgeschichte der Literatur allerdings die An-
nahme, dass literarische Texte kulturelle Bedeutungen nicht widerspiegeln, sondern
einen »symbolischen Bedeutungsspielraum« eröffnen.42 Solche Spielräume sieht eine
kulturanthropologisch orientierte Literaturanalyse zumal in den Repräsentationen
kulturell signifikanter Abläufe verankert, deren Darstellung als Komponente kultu-
reller Selbstreflexion verstanden werden kann.43 Mit Blick auf die ›Schulgeschichten‹
wäre dann nicht ein bestimmter Schultyp als gesellschaftlich sanktionierter Zwangs-
mechanismus zu bestimmen, sondern die Aufmerksamkeit auf die symbolischen
Handlungssequenzen zu richten, in denen eine Kultur selbstreflexiv erscheint.
Hesses ›Unterm Rad‹ erweist sich in dieser Perspektive als ein Text, der kulturelle
Grenz- und Übergangserfahrungen thematisiert. In ›Unterm Rad‹ werden, anders
als im fast durchgängig linear erzählten ›Freund Hein‹, liminale Prozesse über Er-
innerung verdeutlicht. Analog zur symbiotischen Naturerfahrung Giebenraths er-
zeugt die kontinuierliche Vergegenwärtigung der zurückliegenden Lebensgeschichte
eine diskontinuierliche Zeitstruktur, in der Gegenwart im Rekurs auf Vergangenheit
bewertet wird: als in sich widersprüchliche Schwellenphase sozial-kultureller Iden-
titätsbildung. Der neue Status, den Hans nach der sozialen Separierung von seinen
Freunden im Heimatdorf und anschließend von seinen Maulbronner Mitschülern
erhält, bleibt einer der Schwebe, führt nicht in neuerliche Orientierungssicherheit,
sondern setzt ihre Auflösung fort. Darüber hinaus erweisen sich die Momente der
Erinnerung als destruktiv für Alltagsorganisation:
41 So auch, aus anderer Perspektive, Carsten Gansel: »Ach, ich bin so müde« – Gesellschaft-
liche Modernisierung und Adoleszenzdarstellung in Hermann Hesses Unterm Rad. In:
Gerhard Preyer (Hg.): Neuer Mensch und kollektive Identität in der Kommunikations-
gesellschaft, Wiesbaden 2009, S. 25–46.
42 Doris Bachmann-Medick: Kulturelle Spielräume. Drama und Theater im Licht ethnolo-
gischer Ritualforschung. In: Dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in
der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996 (= FTb 12781), S. 99–121, hier S. 99. Aus
systemtheoretischer Perspektive zu anthropologischen Fragestellungen vgl. Karl Eibl: Die
Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. – Leipzig 1995, bes. S. 11–34. Zu literaturwissen-
schaftlichen Adaptionen vgl. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996
(= Konzepte 53).
43 Ich kann diesen Aspekt hier nur andeuten. Zu denken ist beispielsweise an ›kulturelle Ver-
gesellschaftung‹, wie sie etwa bei Eibl, Poesie (Anm. 42), S. 196 f. angesprochen wird: Li-
teratur leistet Beiträge zur Homogenisierung von Fraktionen des Bürgertums.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 21
Er wußte nicht, daß im Kleide dieser Erinnerung seine Kindheit und sein Knabentum
noch einmal fröhlich und lachend vor ihm aufstand, um Abschied zu nehmen und den
Stachel eines gewesenen und nie wiederkehrenden Glückes zurückzulassen.44
44 Hermann Hesse: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 2: Unterm Rad. Diesseits, Frank-
furt a. M. 1970, S. 5–178, hier S. 152.
45 Ich übertrage die Klassifizierung Turners für das Theater, zit. bei Bachmann-Medick, Spiel-
räume (Anm. 42), S. 104: »public liminality«.
22 Rainer Kolk
46 Whittaker, Überbürdung (Anm. 29) S. 297; vgl. S. 264 zum Wandel im Leitdiskurs: Nation
wird Referenz; Heinrich Bosse/Ursula Renner: Generationsdifferenz im Erziehungsdrama.
J. M. R. Lenzens ›Hofmeister‹ (1774) und Frank Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ (1891).
In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85, 2011,
S. 47–84.
47 Vgl. schon die Diagnosen bei Dudek, Jugend (Anm. 18).
48 Vgl. die Bestandsaufnahmen bei Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die »Krise« der
Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. – New York 2005,
z. B. S. 10 ff.; Eckart Conze u. a. (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches
und kulturelles Konzept, 1890–1945, Weimar – Wien 2013, S. 12 ff.
49 Vgl. Michael Makropoulos: Über den Begriff der »Krise«. Eine historisch-semantische
Skizze, http://www.michael-makropoulos.de/Ueber%20den%20Begriff%20der%20Krise.pdf;
Abruf 11.3.2017.
50 Vgl. Heinrich Kaulen: Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmo-
derne. In: Tausend und ein Buch, Heft 1, 1999, S. 4–12.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 23
51 Ernst von Salomon: Die Geächteten. Nachdruck der Originalausgabe von 1930, Radolfzell
2011, S. 11.
52 Ebd., S. 8 ff. und S. 403.
53 Ebd., S. 265.
54 Ebd., S. 402.
55 Ebd., S. 93.
56 Ebd., S. 139.
57 Ebd., S. 253.
58 Vgl. ebd., S. 63.
59 Vgl. Winfried Franzen: Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engage-
ment disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik«
von 1929/30. In: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hg.): Heidegger und die
praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988 (= stw 694), S. 78–93.
60 Ebd., S. 63 und S. 142.
61 Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger,
Carl Schmitt, Martin Heidegger, Frankfurt a. M. – New York 1990 (= Theorie und Gesell-
schaft 16), S. VIII.
24 Rainer Kolk
hatte sich bereits der als Wandervogel charakterisierte Protagonist Ernst Wurche in
Walter Flex’ Bestseller ›Der Wanderer zwischen beiden Welten‹ unterworfen und
im Opfertod fürs Vaterland den Höhepunkt seines Lebens gefunden. »Live fast, love
hard, die young« wird der Countrysänger Faron Young 1955 postulieren.
»Und ich habe Angst vor mir selbst, wage keine Entscheidungen.«62 Wie ein
Kommentar zu den »schweren Zeichen« der Jünger, Flex und Salomon liest sich
Ernst Ottwalts ›Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben der nationalgesinnten
Jugend‹, der 1929 als »wahrheitsgetreues Protokoll« vorgestellt wird63 – ein Protokoll
des Weges eines siebzehnjährigen Gymnasiasten, der ebenfalls in den Freikorps be-
ginnt, dann aber »das Beschämende« konstatieren muss, »daß wir im Grunde nicht
einmal wissen, wofür wir kämpfen wollen. [...] Wir glauben alles!«64 Diese Einsicht
mündet jedoch nicht in die Beschwörung völkischer Gemeinschaft, sondern in den
selbstkritischen Rückblick auf die Mittel und Ziele des paramilitärischen Kampfes
und die Anerkennung sozialistischer und kommunistischer sozialpolitischer Forde-
rungen.65 ›Jugend‹ meint hier ein – am Ende des Textes – überwundenes Stadium
der Außenlenkung, des gleichsam reflexhaften Gehorsams gegenüber hergebrachter
nationalistischer Phrasen, die schon der Romantitel zitiert.
Massive Vorbehalte gegen sie formuliert auch Georg Glasers Roman ›Schlu-
ckebier‹, 1932 erschienen, und wie Ottwalts Text im Umfeld der KPD entstanden.
Glaser verfolgt mit den Augen seines zu Beginn achtjährigen Protagonisten die All-
tagsmisere kleinbürgerlicher Schichten nach dem Ende des Kaiserreichs, beschreibt
Unterernährung, Kleinkriminalität, Prostitution. Der prügelnde Vater treibt den
Jugendlichen aus dem Haus, ein Leben auf der Straße folgt, Gefängnis, schließlich
Einweisung in ein Heim; bei einer Revolte gegen die dortigen Lebensbedingungen
wird Schluckebier mit 18 Jahren von der Polizei erschossen. Will man die Botschaft
des Textes in einem Satz bündeln: ›Jugend‹ findet nicht statt. Wohl im biologischen
Sinn, nicht aber im reformpädagogischen. Der »kleine Schluckebier«, so kommen-
tiert der Erzähler die Untersuchungshaft nach der Festnahme auf einer Erwerbs-
losendemonstration, »hatte zum erstenmal das Bedürfnis nach Ruhe. Nach einer
lang anhaltenden Zeit, in der er sich entwickeln konnte; lesen, lernen, arbeiten,
ein Mädel. Saubere, kluge Unterhaltungen.« Die Realität sieht anders aus: »Es war
ganz einfach: Die Schläge des Vaters, der Lehrer, der Schupos und die Gesichter der
Richter: Das war eine Sache: dieselbe Ursache. Auch das Hungern gehörte dazu.«66
Glasers Text nähert sich dem Genre der sozialdokumentarischen Prosa, der es in
den zwanziger Jahren um soziologisch interessierte Beschreibungen zumal großstäd-
tischer Alltagswelten geht.67 Dieser Thematik der Jugendverwahrlosung und der
62 Ernst Ottwalt: Ruhe und Ordnung. Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend.
Hg. und mit einem Nachwort versehen von Christian Eger, Halle 2014, S. 70.
63 Ebd., S. 5.
64 Ebd., S. 88 f.
65 Vgl. ebd., S. 139 ff.
66 Georg K. Glaser: Schluckebier. In: Ders.: Schluckebier und andere Erzählungen. Werke.
Bd. 1. Hg. von Michael Rohrwasser, Frankfurt a. M. 2007, S. 99–241, hier S. 147.
67 Vgl. Sabina Becker: Die literarische Moderne der zwanziger Jahre. Theorie und Ästhetik
der Neuen Sachlichkeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Li-
teratur 27, 2002, S. 73–95.
Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze 25
3 Siehe Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesell-
schaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003; Klaus Nathaus: Organi-
sierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen
2009. Bereits in der Vormärzzeit kam es zu Veränderungen der sozialen Basis des bürger-
lichen Vereinswesens; vgl. etwa Dieter Hein: Soziale Konstituierungsfaktoren des Bürger-
tums. In: Lothar Gall (Hg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur
modernen Gesellschaft, München 1993, S. 151–181, hier S. 162 ff. Zur Ausdifferenzierung
von Teilbereichen siehe Peter Raschke: Vereine und Verbände. Zur Organisation von In-
teressen in der Bundesrepublik, München 1978, S. 37 ff.; für die erste Hälfte des 19. Jahr-
hunderts Nipperdey, Verein als soziale Struktur (Anm. 2), S. 190–195.
4 Vgl. Manfred Hettling: »Bürgerlichkeit« und Zivilgesellschaft. Die Aktualität einer Tra-
dition. In: Ralph Jessen u. a. (Hg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und
20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 45–63, hier S. 53.
5 Zu den Feuerwehren als knappen Überblick: Olaf Briese: Freiwillige Feuerwehren im
19. Jahrhundert. Erfolge – Misserfolge – Behinderungen, Halle 2015.
6 Vgl. Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie (Anm. 3), S. 74, 85 ff.; ders.: Wie »zivil« war
die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts? Zur transnationalen Geschichte geselliger Vereine –
Ein Forschungsüberblick, Halle 2016, S. 7 f. Vom »Vereinsmensch in einem fürchterlichen,
nie geahnten Maße« spricht Max Weber: Geschäftsbericht. In: Verhandlungen des Ersten
Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Reden und Vor-
träge, Tübingen 1911, S. 39–62, hier S. 53.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 29
drohlich erscheinen konnte. Und zugleich wurde der Anspruch einer Gleichheit
als Bürger innerhalb der Vereine mehr und mehr in Frage gestellt. Der Verein als
Organisationsform erfuhr nun eine Herausforderung durch neue und andersartige
Organisationsformen, welche erstens weniger egalitär als vielmehr elitär ausgerich-
tet waren, zweitens in ihren Binnenstrukturen hierarchischer aufgebaut waren und
drittens umfassendere Gestaltungsansprüche an ihre Mitglieder erhoben.
Damit verlor das Denk- und Handlungsmodell eines relativ kleinen Kreises von
Menschen, die auf einer gemeinsamen Gesinnungsgrundlage ihre partikularen Kräf-
te im Verein ›vereinten‹ und für das bürgerliche Gemeinwesen nutzbar machten,
seine kulturelle und soziale Unangefochtenheit. Einerseits wurde der Verein eine
Massenerscheinung, andererseits geriet er in neue »Affinitäts- und Oppositions-
verhältnisse« zu Begriffen und Zusammenschlüssen wie ›Klub‹, ›Genossenschaft‹,
›Partei‹, ›Bewegung‹ sowie zu neu akzentuierten älteren Begriffen wie ›Bund‹ – ge-
rade auch in der Jugendbewegung.7 Das, was nach 1900 bald als ›Jugendbewegung‹
begrifflich zusammengefasst wurde und aus sehr unterschiedlichen Gruppen und
Grüppchen, Zirkeln, Zusammenschlüssen und Vereinigungen bestand, spiegelte da-
mit eine doppelte Differenz zum bürgerlichen Verein des 19. Jahrhunderts. Zum ei-
nen wurde nun erstmals ›Jugend‹, als biologisches und sozial-kulturelles Phänomen,
als Faktor für Vereinigungen verstanden, zum anderen suchte man auch explizit
nach anderen Organisationsformen und -mechanismen als den aus der bürger-
lichen Vereinswelt der Älteren bekannten. Nicht die Zweckhaftigkeit des Vereins
sollte die Vereinigung begründen, sondern das Wesensmäßige der Jugend eine neue
Form von Gemeinschaft stiften. Die Jugendbewegung stellte insofern eine zweifache
Herausforderung an das herkömmliche bürgerliche Vereinsmodell dar: Die bisher
ausgeschlossenen oder nicht eigenständig anerkannten ›Jugendlichen‹ wollten sich
zusammenschließen, und sie wollten ihren Zusammenschluss auf eine andere Art
und Weise gestalten. Darin lag der oft emphatisch formulierte Anspruch der Ju-
gendbewegung begründet. Darin sind aber auch strukturelle Veränderungen in den
Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation enthalten, die sich im 20. Jahrhundert
neu etablierten.
Im Folgenden skizzieren wir zuerst Grundzüge der prägenden bürgerlichen Ver-
einslandschaft, welche auch in den Städten ein stabiles Netz von Vereinigungen
ausbildete, das bis 1914 und darüber hinaus einen wesentlichen Rahmen für das
gesellschaftliche Handeln von Bürgern bildete (II.). In einem zweiten Schritt heben
wir einerseits hervor, dass ›der Verein‹ im 19. Jahrhundert vornehmlich eine Organi-
sation von und für Erwachsene geblieben ist und sich andererseits ›Jugend‹ als eigen-
ständige Lebensphase noch nicht ausgeprägt hatte (III.). Mit der Jugendbewegung
um 1900 setzte vor diesem Hintergrund eine wichtige Neuentwicklung ein. Die Kri-
senwahrnehmung der Moderne führte zu neuartigen Organisationsbestrebungen
und zog, wie wir im IV. Abschnitt argumentieren, typologisch Erweiterungen der
Vereinslandschaft nach sich – nicht nur bei den Jugendlichen. Abschließend ziehen
wir ein knappes Fazit, welches sich aus der Kontrastierung der Jugendbewegung mit
der traditionellen bürgerlichen Vereinslandschaft ergibt.
Seit den Anfängen im 18. Jahrhundert und durch das gesamte 19. Jahrhundert hin-
durch war die Vereinigung im Verein idealiter gedacht als Recht und Praxis der ›freien
Männer‹,8 in der Tradition des Mannes als Vertreter des Hauses. Über die Begriffe des
›Patrioten‹ und des ›Bürgers‹ wurden seit dem 18. Jahrhundert die dieser Vorstellung
zugrunde liegenden Leitbilder von Männlichkeit und Erwachsenheit transportiert, zu-
gleich aber abgeschwächt, weshalb nach den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
auch Frauen in (manchen) Vereinen Aufnahme fanden und sich der soziale Rekrutie-
rungskreis der Männer als Mitglieder ebenfalls erweiterte. Zudem verlor das städtische
Bürgerrecht, das nie eine unabdingbare Voraussetzung für die Mitgliedschaft in den
meisten Vereinen gewesen war, an Bedeutung, auch gegenüber der Staatsangehörig-
keit. Was aber das 19. Jahrhundert hindurch nahezu uneingeschränkt erhalten blieb,
war die – dabei nicht explizit formalisierte – Selbstverständlichkeit, dass sich Erwach-
sene in Vereinen miteinander vergesellschafteten. Deshalb beziehen sich die Bemer-
kungen zum Vereinswesen des 19. Jahrhunderts eindeutig auf eine den Erwachsenen
vorbehaltene Sphäre der aktiven Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft im Verein.
Konstitutiv für diese Sphäre bürgerlicher Vergesellschaftung waren der Verein als spe-
zifische Organisationsform, die Egalität im Verein als einem zentralen Grundprinzip,
bestimmte Muster in der sozialen Trägerschaft bzw. Prozesse sozialer Klassenbildung
und die Vielfalt der Zwecksetzungen. Diese Gesichtspunkte werden unter Berück-
sichtigung der Transformationen des Vereinswesens im Folgenden diskutiert.
Die Organisation ›Verein‹ kann zunächst über ihre Statuten fassbar gemacht wer-
den, die in ihrer Gestaltung ein wesentliches Merkmal des Vereins als innovativer
moderner Organisation ausmachen.9 Sie bestimmen das rechtliche Band zwischen
den Mitgliedern sowie die Kompetenzverteilung auf klar benannte und in ihren
Befugnissen definierte Vereinsorgane und begründen dergestalt den vom einzelnen
Mitglied unabhängigen dauerhaften Bestand der Vereinigung. Vereinsstatuten sind
in der Längsschnittperspektive hinsichtlich ihres Aufbaus und ihrer Ausgestaltung
durch eine erstaunliche Kontinuität gekennzeichnet.10 Der Gesetzgeber hat in den
tische Schriften, Berlin 2016. Ihr Aufbau und Regelungsbereich unterscheidet sich kaum
von heutigen Vereinen.
11 Siehe J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Einführungs-
gesetze. Hg. von Theodor Loewenfeld. Bd. 1: Allgemeiner Teil, München 3/41907, S. 128 ff.;
Joachim von Bülow: Das Vereinsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches, Berlin 1902; Hans
Delius: Deutsches Vereinsrecht und Versammlungsrecht in privat- und öffentlich-recht-
licher Beziehung unter besonderer Berücksichtigung des preußischen Rechts, Berlin 1908;
Fred G. Bär: Die Schranken der inneren Vereinsautonomie – historisch-dogmatische Über-
legungen zu einem Vereinsgesetz, Berlin 1996, S. 158 ff.
12 Vgl. zur Diskussion dieser Spannungsfelder ausführlich Daniel Watermann: Bürgerliche
Netzwerke. Städtisches Vereinswesen als soziale Struktur. Halle im Deutschen Kaiserreich,
Göttingen 2017, S. 85–104, sowie Robert Heise/Ders.: Vereinsforschung in der Erweite-
rung. Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven. In: Geschichte und Gesell-
schaft 43, 2017, S. 5–31, hier S. 11 ff. Siehe auch die organisationssoziologische Perspektive
bei Heinz-Dieter Horch: Strukturbesonderheiten freiwilliger Vereinigungen. Analyse und
Untersuchung einer alternativen Form menschlichen Zusammenarbeitens, Frankfurt a. M.
1983, S. 12 ff.
13 Vgl. Horch, Strukturbesonderheiten (Anm. 12), S. 15.
32 Manfred Hettling / Daniel Watermann
14 Dies führt Gierke in seiner exzellenten Betrachtung der Aktiengesellschaft als »vollendete-
Vermögensgenossenschaft« aus. Vgl. Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht.
Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft [1868], Darmstadt 1954, S. 1011.
15 Vgl. zur Begriffsgeschichte des Vereins im Kaiserreich Watermann, Bürgerliche Netzwerke
(Anm. 12), S. 25–75, hier S. 71 ff.
16 Vgl. Hans-Peter Ullmann: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988,
S. 61 ff.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 33
17 Lehmanns gesellschaftliche Reputation speiste sich darüber hinaus auch aus seinem Mä-
zenatentum; siehe Henryk Löhr: Heinrich Franz Lehmann (1847–1925). Ein hallescher
Bankier als Mäzen. In: Jahrbuch für hallische Stadtgeschichte 10, 2012, S. 79–113.
18 Gemeinhin wird ein erster breiter Politisierungsschub, der durch Vereine forciert wurde
bzw. vice versa den Verein zur Organisationsform aller gesellschaftlicher Gruppen werden
ließ, bereits für die Zeit der Revolution 1848/49 konstatiert. Vgl. Hans-Ulrich Wehler:
Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und po-
litischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49, München 1987, S. 724 ff.; Susanne
Kill: Politische Konstituierungsfaktoren des Bürgertums. In: Gall, Stadt und Bürgertum
(Anm. 3), S. 183–202, hier S. 198; Carola Lipp: Verein als politisches Handlungsmuster. Das
Beispiel des Württembergischen Vereinswesens von 1800 bis zur Revolution 1848–1849.
In: Etienne François (Hg.): Sociabilité et societé bourgeoise en France, en Allemagne et en
Suisse, 1750–1850. Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich,
Deutschland und der Schweiz, 1750–1850, Paris 1986, S. 275–296.
19 Dadurch fehlten bestimmten Gruppen der Gesellschaft Organisationserfahrungen. Mögli-
cherweise kann darin einer der Gründe gesehen werden, dass die sozialdemokratische Ar-
beiterbewegung stärker auf ein professionalisiertes und bürokratisiertes Funktionärssystem
in ihren Organisationen gesetzt hat. Langewiesche betont in diesem Zusammenhang zu-
dem die Auswirkungen der hohen Mobilität der städtischen Arbeiterschaft auf die Organi-
sationen der Sozialdemokratie. Vgl. Dieter Langewiesche: Wanderungsbewegungen in der
34 Manfred Hettling / Daniel Watermann
Ganz grundlegend leisten Vereine des Weiteren einen wichtigen Beitrag zur In-
tegration sozialer Formationen, der in der historischen Forschung – über Vereine
hinausgehend – als Prozess sozialer Klassenbildung untersucht wurde.20 Dies gilt
hinsichtlich der Vereine um 1800 und der Vergesellschaftung des Bürgertums eben-
so wie seit der Jahrhundertmitte etwa für Vereine der Arbeiterbewegung.21 Zwar ist
davon auszugehen, dass durch eine soziale Demokratisierung der Mitgliedschaften
in bestimmten Vereinen und Vereinstypen Kontaktmöglichkeiten zwischen Bürger-
tum und Arbeiterschaft entstanden,22 doch auf der Ebene der Vereinsvorstände, die
als maßgebliche Organisatoren und Repräsentanten der Vereine angesehen werden
können, zeichnet sich ein anderes Bild. In Tab. 1 sind alle Kontakte, die Vorstände,
welche auf Basis der Berufsklassifikation einer bestimmten gesellschaftlichen Grup-
pe zugeordnet werden konnten,23 zu anderen Vorständen der gleichen oder anderer
Gruppen hatten, in aggregierter Form für das Jahr 1913 dargestellt.24 Es ist sofort
ersichtlich, dass die Gruppen des höheren Bürgertums – die Bildungs- und Wirt-
schaftsbürger sowie die höheren Beamten – zum einen jeweils untereinander (d. h.
beispielsweise zwischen Bildungsbürgern und Bildungsbürgern), zum anderen zu
den beiden anderen Gruppen des höheren Bürgertums die höchsten Kontaktwerte
aufwiesen.25 Auffällig sind weiterhin vor allem die Werte für den Neuen Mittelstand,
dessen Angehörige in besonders hohem Maße Beziehungen untereinander – man
denke an die zahlreichen Vereine für Angestellte, Techniker und Lehrer im Kaiser-
reich – knüpften.
Arbeiter
Bildungsbürger
Alter Mittelstand
Wirtschaftsbürger
Neuer Mittelstand
Sonstiger Mittelstand
Nichtselbständige Dienstleister
Untere Beamte und Angestellte
Ebenso wird deutlich, dass sie an den Beziehungsnetzen des höheren Bürgertums
teilhatten, was beispielsweise hinsichtlich des Alten Mittelstandes unverkennbar nur
seltener der Fall war. Betrachtet man diese Vernetzungsmuster der Vorstände im
Vereinswesen der ausgehenden Kaiserreichszeit, zeigt sich, dass der sonstige Mittel-
stand, der vor allem Handwerker ohne weitere Spezifikation umfasst, und die Un-
terschichten (Arbeiter, nichtselbständige Dienstleister sowie untere Beamte und An-
gestellte) nicht nur gemessen an der Zahl ihrer Vorstände unterrepräsentiert waren,
sondern damit einhergehend aus den Kontaktkreisen der Vorstände in hohem Maße
exkludiert blieben. Trotz der sozialen Öffnung der Vereine in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts ist daher zu konstatieren, dass die Organisation der Vereinsarbeit
am Ende des ›langen Jahrhunderts‹ nach wie vor ganz erheblich auf den Schultern
des höheren Bürgertums und zunehmend auf denen des Neuen Mittelstandes ruhte
und diese Gruppen auch in den Beziehungsnetzen der Vereinsvorstände eher unter
sich blieben.
Das lokale Vereinswesen um 1900 hatte sich nicht nur sozial, sondern auch funk-
tional ungemein ausdifferenziert; die Vielfalt der Zwecksetzungen belegt dies. Um
1800 fanden sich Bürger in Vereinen zusammen, um – inspiriert von Ideen des
Patriotismus (der aktiven und verantwortlichen Teilhabe am Gemeinwesen), der
Aufklärung (vernunftorientiert, und mit der Intention, lebensweltliche Belange zu
gestalten) und als Nachfolger der verschiedenen Gesellschaftsformen des 18. Jahr-
hunderts – gemeinwohlorientiert in und für ihre jeweilige Stadt zu wirken. Ver-
einstätigkeit galt in diesem Sinne als Ausweis bürgerlichen Gemeinsinns.26 Beispiele
sind die ›Gesellschaft freywilliger Armenfreunde‹ in Halle oder die ›Gesellschaft
zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit‹ in Lübeck.27 Bereits in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts kam es zu Ausdifferenzierungsprozessen und zahlreichen Ver-
einsgründungen, etwa von Sänger- und Turner-, von Kunst- und wohltätigen Ver-
einen. Dennoch gelang es im Vormärz, die sich verästelnde Vereinslandschaft in ein
Honoratiorensystem mit mehrfachen Mitglieds- und Vorstandsmitgliedschaften zu
integrieren.28 Während der Revolution kam es einerseits zu einer Politisierung des
Vereinswesens und einer Zersplitterung sozioökonomischer und politischer Interes-
sen, die einen Parteibildungsprozess vorantrieben, der auch nach der gescheiterten
Revolution in der zweiten Jahrhunderthälfte fortschritt und weitere Ausdifferenzie-
rungen im politischen Spektrum nach sich zog. Andererseits war das Vereinswesen
29 Siehe die Zahlen für Halle bei Watermann, Bürgerliche Netzwerke (Anm. 12), S. 142.
30 Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert. In:
Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987,
S. 288–315; dagegen mit der Betonung eines »Formwandels« Klaus Tenfelde: Stadt und
Bürgertum im 20. Jahrhundert. In: Ders./Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte
des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317–353, hier S. 321 ff.; Werner Plumpe: Einleitende
Überlegungen. Strukturwandel oder Zerfall. Das Wirtschaftsbürgertum 1870 bis 1930. In:
Ders./Jörg Lesczenski (Hg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Na-
tionalsozialismus, Mainz 2009, S. 8–13, hier S. 10 ff.
31 Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie (Anm. 3), S. 74.
32 Vgl. ebd.
38 Manfred Hettling / Daniel Watermann
35 Siehe nur die hallischen Beispiele der beiden Stadtbauräte Karl Otto Lohausen und seines
Nachfolgers Ewald Genzmer bei Andrea Hauser: Halle wird Großstadt. Stadtplanung,
Großstadtleben und Raumerfahrung in Halle a. d. Saale 1870 bis 1914, Halle 2006, S. 71
und 77 ff.
36 Zu den Vereinszahlen vgl. Watermann, Bürgerliche Netzwerke (Anm. 12), S. 142. In Halle
feierte beispielsweise die über Vereine vernetzte bürgerliche Frauenbewegung einen wich-
tigen kommunalpolitischen Erfolg, indem infolge ihrer Öffentlichkeitsarbeit die erste ver-
beamtete Wohnungspflegerin in Preußen eingesetzt wurde. Vgl. dazu Hauser, Halle wird
Großstadt (Anm. 35), S. 150 ff.
37 Die Rolle von Vereinsnetzwerken bei der Realisierung großer kommunaler Projekte ist
bisher kaum untersucht worden. Vgl. Ralf Roth: Verein und bürgerliche Gesellschaft im 19.
und beginnenden 20. Jahrhundert. Thomas Nipperdeys Thesen zur Vereinsbewegung. In:
Plumpe/Lesczenski, Bürgertum und Bürgerlichkeit (Anm. 30), S. 121–135, hier S. 132 ff.
40 Manfred Hettling / Daniel Watermann
Der Verein etablierte sich als Organisationsform seit dem späten 18. Jahrhundert,
und damit in einer historischen Epoche, in welcher Jugend als eigene, prägende
Lebensphase, als spezifischer generationeller Zusammenhang noch nicht ausgebil-
det war. Damit wird verständlich, dass das bürgerliche Vereinswesen des 19. Jahr-
hunderts über einen langen Zeitraum gleichsam ›altersblind‹ erscheint. Mit anderen
Worten, Mitglieder von Vereinen waren ›Bürger‹, waren Männer – und bald auch
Frauen –,39 waren dann auch Angehörige unterschiedlicher Sozialformationen, aber
altersspezifische Vereinigungen oder auch spezielle ›Jugendabteilungen‹ findet man
in den Vereinen des 19. Jahrhunderts die längste Zeit hindurch nicht. Politik blieb
weitgehend eine Angelegenheit der Erwachsenen, und eben auch das über Vereine
organisierte Engagement für das Gemeinwesen. Bürgertum und auch die Arbeiter-
schaft waren im 19. Jahrhundert, letztlich stärker noch als die traditionellen Ober-
schichten, an paternalistischen Strukturen orientiert, die daraus resultierende Al-
tersautorität limitierte eine Aufwertung der Jugend.40 So entstanden neben Familie
und Schule / Universität lange Zeit kaum weitere, speziell jugendliche Sozialisations-
instanzen (jenseits der studentischen Verbindungen).
Das Verständnis von Jugend im 19. Jahrhundert kann man mit einem zentralen
Text verdeutlichen, an Karl Immermanns ›Die Jugend von vor 25 Jahren‹, seinen
Memoiren der Befreiungskriege. 1839 beendet, in den Jahren danach veröffent-
licht, thematisiert Immermann hier explizit die ›Jugend‹ und ihre Prägung durch
äußere Ereignisse, eben den Umbruch im Gefolge von Revolution, napoleonischer
Eroberungspolitik und den Befreiungskriegen. 1796 geboren, 1813 bis 1817 in
Halle studierend, involviert mit Streitschriften in die Entstehungsphase der Bur-
schenschaften, 1815 Freiwilliger am Befreiungskrieg gegen Frankreich, reflektiert
Immermann die prägenden Einflüsse auf die Jugend seiner Altersgruppen. Diese
wurden in den revolutionären Umbruch hineingeboren, in den Zusammenbruch
38 Diese Verbände spielten auch in den Wahlkämpfen verstärkt eine wichtige Rolle. Siehe Axel
Grießmer: Massenverbände und Massenparteien im wilhelminischen Reich. Zum Wandel
der Wahlkultur 1903–1912, Düsseldorf 2000.
39 Siehe etwa die Beiträge in Rita Huber-Sperl (Hg.): Organisiert und engagiert. Vereinskultur
bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein 2002.
40 Nach wie vor grundlegend hierzu Thomas Nipperdey: Jugend und Politik um 1900 (1974).
In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 338–359, 462–465.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 41
Preußens, und erfuhren die Okkupation und den Krieg in diesen Jahren der Ado-
leszenz. Was prägte nun diese Jugend der Phase um 1813 – so Immermann 25 Jahre
später retrospektiv fragend? Er benennt vier Institutionen bzw. Zusammenhänge,
welche auf die Jugend gewirkt hätten. Lehre (Schule und Universität) hätten ihr das
»Faßliche« geboten, die Familie sie »lyrisch« gestimmt, d. h. emotional gewirkt, die
Literatur sie »an tugendhafter Hand in die Weite« geführt, d. h. Werte vermittelnd
gewirkt, aber der politische Umbruch wirkte irritierend, der »Despotismus« (Be-
satzung, Fremdherrschaft, Willkür) schließlich habe die anderen Erziehungsmittel
gekreuzt, habe ihre Wirkung gebrochen. »Das Leben in einer seiner ungeheuersten
Entfaltungen half die damalige deutsche Jugend mit erziehen. So war keine frühere,
so ist die spätere Generation nicht erzogen worden.«41 Immermann, der auch an
Gedenkfeiern zum 25-jährigen Jubiläum von 1813 teilnahm und den offiziellen
Festbericht des Komitees verfasste, beschreibt die äußeren Einflüsse auf die Jugend.
›1813‹ wird zur Besonderheit durch die Wucht der äußeren Gegebenheiten, durch
die in die gewohnte Ordnung eingreifende Brutalität der Politik. Immermann
aber verzichtet zu Beginn des 19. Jahrhunderts völlig darauf, Jugend als besondere
Phase, als besondere Qualität zu beschreiben. Durch die Ereignisse ist die Jugend
besonders gefordert, den Weg in die gewohnten Bahnen der bürgerlichen Gesell-
schaft zu gehen, doch bleibt es dabei, das als individuell zu beschreitenden Weg zu
verstehen.
Zu diesen Bahnen ins Bürgerleben gehörte dann auch der Verein – ohne eine
vorgeschaltete Jugendphase. Sucht man nach Jugendlichen in Vereinen, so findet
man wenig Material. Die wenigen empirischen Angaben, die es gibt, bestätigen je-
doch den Eindruck, dass die Vereine gewissermaßen »altersneutral« waren, genauer
gesagt, dass sie sich nur an Erwachsene als Erwachsene wandten. Die Mitglieder
repräsentierten in ihrer Zusammensetzung eher den Durchschnitt der männlichen
Kreise, aus denen man sich rekrutierte, Jüngere waren nicht gesondert vertreten.
Die bildungsbürgerlichen Jugendlichen (und das meint die jungen Männer) hat-
ten ihren Ort in den studentischen Verbindungen, in denen sie aber nach der eher
kurzen Phase des Studiums in spezifische Erwachsenenpositionen wechselten und
mit dem Einstieg in das Berufsleben und typischerweise nach der Heirat auch – als
Erwachsene – den Eintritt in Vereine vollziehen konnten. Berufliche, familiale und
sozial-gesellige Etablierung verliefen somit, zugespitzt formuliert, im Gleichklang.
Die Erfüllung dieser unterschiedlichen Rollen und Einbindungen gehörte im Ideal-
fall zur umfassenden Bürgerexistenz.
Die Ausbildung generationsspezifischer Einstellungen, Werte und Verhaltens-
muster in besonderen, altersgeprägten Vergesellschaftungsformen erfolgte in der
Vormoderne und im 19. Jahrhundert nur in eng begrenzten Milieus: junge Kleriker,
Studenten und, etwas allgemeiner gefasst, junge Gebildete. Ihre Verhaltensprägun-
gen waren eingebunden in die strikt geregelten und formalisierten Binnengliederun-
gen der ständischen Ordnung. Auch im 19. Jahrhundert blieben die jugendspezifi-
schen Vereinigungen an die berufsständischen Lebenswelten gebunden. Zu nennen
sind hier insbesondere die studentischen Burschenschaften, welche altersbedingte
41 Karl Immermann: Die Jugend von vor 25 Jahren. Hg. von Werner Deetjen, Berlin o. J.,
S. 173 f.
42 Manfred Hettling / Daniel Watermann
42 Vgl. vor allem Wolfgang Hardtwig: Auf dem Weg zum Bildungsbürgertum. Die Lebens-
führungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750 bis 1819. In: M. Rainer Lepsius (Hg.):
Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Ver-
gesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 19–41; ders.: Krise der Universität. Studentische Reform-
bewegung 1750–1819 und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht.
In: Geschichte und Gesellschaft 11, 1985, S. 155–174; ders.: Sozialverhalten und Mentali-
tätswandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft
(17.–19. Jahrhundert). In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73, 1986,
S. 305–335.
43 Von einem »Innenraum der Moral« spricht Reinhard Koselleck: Kritik und Krise. Eine
Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 61989, S. 44.
44 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deut-
schen Bürgergesellschaft 1840–1918, Götting 2000, S. 16.
45 Gotthold Ephraim Lessing: »Ernst und Falk«. Mit den Fortsetzungen Johann Gottfried
Herders und Friedrich Schlegels. Hg. von Ion Contiades, Frankfurt a. M. 1968, S. 47 f., zit.
nach ebd.
46 Vgl. für Breslau und Leipzig die Daten in Hoffmann, Politik der Geselligkeit (Anm. 44),
S. 372; für Halle die Altersangaben in: Mitglieder-Verzeichnis der unter der Constitution
der Grossen National-Mutterloge der Preussischen Staaten, genannt zu den drei Welt-
kugeln arbeitenden St. Johannis Freimaurerloge zu den drei Degen im Orient von Halle,
für das Maurerjahr 1842–1843, StAH CH 93/XII b 11-2; Mitgliederverzeichnis der Loge zu
den drei Degen für das Jahr 1910–1911, StAH CH93/XIII b 11-70.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 43
Logeneintritt vollzog man zumeist mit Anfang dreißig.47 Die überwiegende Zahl
der Logenmitglieder war zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet, hatte ein Studium
absolviert oder sich selbständig gemacht und war im Berufsleben etabliert.48
Ganz anders demgegenüber die Daten zu den Turnern: Von 105.676 Turnern
waren 1864 84 % unter 30 Jahre, 33 % sogar unter 20 Jahre alt.49 Die Turner bieten
somit eine geeignete Kontrastfolie, stellen zugleich aber auch eine Ausnahme mit
Blick auf das Durchschnittsalter der Mitglieder im Vergleich zu anderen Vereinen
dar. Trotz aller Brüche innerhalb der Turnbewegung ist das junge Alter der Turner
zurückzuführen auf Ideale von Wehrhaftigkeit und Männlichkeit, die seit Entste-
hung der Turnbewegung in den Befreiungskriegen perpetuiert wurden.50 Wie auch
immer die Nation als Zielvision vieler Turnvereine gedacht wurde, im Fokus stand
stets der junge Mann, der zu Wehrhaftigkeit und Männlichkeit erzogen werden soll-
te.51 Mit ähnlichen Intentionen appellierte später der Deutsche Flottenverein gezielt
an die Jugend. Auch wenn die Mitgliedschaft im Flottenverein für Jugendliche of-
fiziell nicht zulässig war, gründeten viele Ortsgruppen Jugendabteilungen, die sich
als Ziel setzten, künftige Mitglieder im Sinne von Wehrhaftigkeit, Männlichkeit und
Vaterlandsliebe zu erziehen.52
Abseits der Turnvereine oder der um 1900 reüssierenden nationalen Verbände,
die Jugend in ihre Konzepte und Vorstellungen von Nation und Volk integrierten,
blieb der Spielraum für Partizipation von Jugendlichen in der städtischen Bürger-
gesellschaft dagegen eng begrenzt. Politische Vereine unterlagen besonderen ver-
einsrechtlichen Bestimmungen: So verbot das preußische Vereinsgesetz von 1850
Jugendlichen ausdrücklich die Mitgliedschaft in politischen Vereinen; ein Verbot,
das nicht zuletzt revolutionäre Umtriebe der Arbeiterbewegung einhegen sollte und
über ein halbes Jahrhundert geltendes Recht blieb. Das Reichsvereinsgesetz von
1908 untersagte Jugendlichen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten,
47 Dies belegen wiederum die Daten für Breslau und Leipzig. Für den Zeitraum 1902–1906
steigt das durchschnittliche Eintrittsalter in beiden Städten sogar auf 38 Jahre. Formal
musste man das 25. Lebensjahr vollendet haben, Söhne von Freimaurern das 20. Vgl. Hoff-
mann, Politik der Geselligkeit (Anm. 44), S. 62 und 372.
48 Vgl. ebd., S. 144.
49 Zu dieser Gegenüberstellung der Daten von Freimaurern und Turnern vgl. ebd. Hoffmann
bezieht sich auf Daten von Svenja Goltermann: Körper der Nation. Habitusformierung und
die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen 1998, S. 63. Auch zu Beginn des 20. Jahr-
hunderts ist die Zahl junger Turner hoch geblieben, wie Zahlen für die aktiven männlichen
Mitglieder der hallischen Turnvereine belegen. 1910/11 stellten die Jugendturner im Alter
von 15 bis 20 Jahren die stärkste Alterskohorte (22,9 %, N=367), gefolgt von der Gruppe der
10- bis 15-jährigen (19,2 %), den 20- bis 25-jährigen (14,2 %) und den 25- bis 30-jährigen
(10,2 %); die meisten weiblichen Turner fanden sich in der Altersgruppe der 20-bis 25-jäh-
rigen (N=70); vgl. Beiträge zur Statistik der Stadt Halle: Die Sportvereine in Halle und die
Sportanlagen in Halle 1910–1912, Heft 21, Halle 1913, S. 19–22.
50 Siehe etwa Jörg Schweigard: Politische Turnvereine in Deutschland 1817–1849. In: Helmut
Reinalter (Hg.): Politische Vereine, Gesellschaften und Parteien in Zentraleuropa 1815–
1848/49, Frankfurt a. M. 2005, S. 51–77, hier S. 72–75.
51 Vgl. Goltermann, Körper der Nation (Anm. 49), S. 293 f., S. 329 f.
52 Vgl. Sebastian Diziol: »Deutsche, werdet Mitglieder des Vaterlandes!« Der Deutsche Flot-
tenverein 1898–1934. Bd. 1, Kiel 2015, S. 120–127.
44 Manfred Hettling / Daniel Watermann
59 Siehe die Auflistung in Hallesches Adressbuch 1903, Anhang, S. 54 ff. Siehe auch Günter
Brakelmann: Das kirchennahe protestantische Milieu im Ruhrgebiet 1890–1933. In: Be-
richt über die 38. Versammlung deutscher Historiker in Bochum. 26. bis 29. September
1990, Stuttgart 1991, S. 175–179, 175 f.; Jochen-Christoph Kaiser: Die Formierung des
protestantischen Milieus. Konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert. In: Olaf
Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentali-
täten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 257–289, hier S. 277. Die evangelischen Jünglingsver-
eine organisierten 1900 etwa 100.000 Jugendliche, 1914 147.000 und 250.000 Mädchen in
Jungfrauenvereinen; die katholische männliche Jugend wies 1908 Zahlen von etwa 150.000
und 1913 von fast 300.000 auf, sowie 75.000 bzw. 350.–400.000 Mädchen; vgl. Nipperdey,
Deutsche Geschichte (Anm. 53), S. 115.
60 Vgl. Roth, Erfindung des Jugendlichen (Anm. 53), S. 123. Welche Organisationen unter
diese sonstigen Vereine fallen, bleibt offen. Enttäuscht wurde mit diesen Zahlen die Hoff-
nung staatlicher Stellen, die sich mit Initiativen und Förderungen zur Organisation der
Jugend ihre Staatstreue sichern wollten.
61 Nipperdey, Jugend und Politik (Anm. 40), S. 347 f.
62 Ebd.
63 Präzise und knapp Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986,
S. 247–252 (Die Jugend. Eine Generation?), hier S. 248.
46 Manfred Hettling / Daniel Watermann
Die neuen bündischen Formen, die sich in der Jugendbewegung nach 1918 rasch
und ziemlich umfassend durchsetzten, befriedigten besondere Bedürfnisse, blie-
ben aber stets Organisationsformen für Minderheiten und für besondere Teile der
Gesellschaft. Man verstand sich oft als Elite, gerade in der akademischen Jugend,
oder allgemeiner durch die Jugendlichkeit als Keim einer zukünftigen und anderen
Gesellschaft. Ein Indiz für die letztlich nachgeordnete, oder positiver formuliert: er-
gänzende Stellung dieser bündischen Formen erscheint uns auch, dass es keine über-
zeugenden Entwürfe gibt, sie als eigenständigen Organisationsmodus theoretisch zu
fassen. ›Bund‹ blieb als Begriff historisch geprägt, er setzt engere Beziehungen voraus,
als sie im Begriffsfeld von Gesellschaft (societas) enthalten sind, in der Gegenwart
des 20. Jahrhunderts ist die Betonung von Gefühlsmomenten besonders akzentuiert
64 Zur »Entdeckung« der »Adoleszenz« bei den Unterschichten siehe Gerhard A. Ritter/Klaus
Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 645–648. Einer
Organisation der Arbeiterjugend standen die Sozialdemokraten ganz allgemein skeptisch
gegenüber; vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte (Anm. 53), S. 116.
65 Hans Blüher: Werke und Tage, Berlin 1953, S. 181. Als weiteres illustrierendes Beispiel die
karikierende Kritik einer Dinnergeselligkeit durch Ludwig Gurlitt, welche als Kontrastfolie
zur ›Wandervogelgeselligkeit‹ dient; ders.: Wandervogel. Bd. 1, Celle 61922, S. 31 f.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 47
worden.66 Als eigene Kategorie neben Gesellschaft und Gemeinschaft konnte sich
der Begriff nicht etablieren, er blieb eher ›voluntaristischer Aktionsbegriff‹ als theo-
retische Kategorie. Nicht zuletzt, auch daran ist zu erinnern bei allen Versuchen, den
Begriff als politisch eindeutig besetzt zu verstehen, haben die Nationalsozialisten die
bündische Jugend aufgelöst und den Begriff aus ihrem Vokabular eher verdrängt;
›Rasse‹ und ›Volksgemeinschaft‹ waren naturhafter, biologistischer als der Begriff
›Bund‹, der in seinem Voluntarismus dem ›Verein‹ letztlich näher stand als dem
Nationalsozialismus.67
Was boten die neuen Formen aber anderes als der Verein, welche Pluralisierung
der Vereinigungsformen spiegelt sich in ihnen? Man kann drei allgemeine Dimen-
sionen skizzieren, welche diesen bündischen Formen in aller Regel zugeschrieben
wurden, für bestimmte Vereinigungen lassen sich dann noch besondere, nicht für
alle gleichermaßen relevante Eigenschaften unterscheiden:
Erstens ein umfassender Anspruch auf Ganzheitlichkeit. Das wurde in der Regel
bezogen auf eine andere, neue Lebensweise, verband sich mit der Forderung, die Ge-
samtheit des Lebens zu erfassen oder potentiell zu verändern. Insofern übergreift der
Zusammenschluss die jeweils begrenzte und engere Zwecksetzung eines Vereinsein-
tritts. Der Beitritt in den Bund ist verbindlicher und umfassender im Anspruch; was
sich nicht zuletzt auch darin ausdrückt, dass es völlig selbstverständlich war und ist,
Mitglied in mehreren Vereinen mit sehr unterschiedlichen Zwecksetzungen sein zu
können – aber es nicht denkbar ist, in mehreren Bünden oder Kreisen zugleich zu
sein.
Daraus resultierte, zweitens, das Versprechen bzw. die Zumutung, sich in be-
sonderer Weise als Gemeinschaft zu verstehen, zu verhalten und zu bewähren –
und sich offen oder im Geheimen abzugrenzen von anderen. Semantisch sind hier
die Unterschiede freilich fließend, man denke an den ›Parteigenossen‹, welcher die
lange, vormoderne Tradition der Genossenschaft aufgriff, oder die Brüderlichkeits-
semantik in den Logen – doch schwingt eine andere Art von Verbundenheit und
Verbindlichkeit, von »subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit« im Bundesbruder
mit als es beim bloßen ›Vereinsmitglied‹ der Fall ist, welches dem Zweckverband als
Interessenverbindung beitritt.68
69 Otto Brunner: Bemerkungen zu den Begriffen »Herrschaft« und »Legitimität«. In: Ders.:
Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 64–79, hier S. 70.
70 Zu den unterschiedlichen Organisationsformen innerhalb des dann ex post sogenannten
George-Kreises vgl. Ute Oelmann: Der George-Kreis. Von der Künstlergesellschaft zur
Lebensgemeinschaft. In: Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neu-
gestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt 2001, S. 459–464; Georg Dörr: Mut-
termythos und Herrschaftsmythos, Würzburg 2007, S. 290–310.
71 Ohne dabei auf die verschiedenen Kreisgenerationen und auch konkurrierenden Deutun-
gen, etwa Gundolfs Modell von Gefolgschaft und Jüngertum und Wolters Gegenentwurf
von Herrschaft und Dienst näher einzugehen; dazu und zu den Binnenstrukturen detail-
liert Jan Anders: Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften. In: Achim Aurnhammer/
Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis.
Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin 2012, S. 713–750, hier v. a. S. 729; Oelmann, George-Kreis
(Anm. 70); Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der
George-Kreis 1890–1933, Köln 1997.
72 Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 49
73 Nur zwei Beispiele zur Veranschaulichung hierfür: Richard Pohle: Platon als Erzieher.
Platonrenaissance und Antimodernismus in Deutschland (1890–1933), Göttingen 2017;
Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des
jungkonservativen »Ring«-Kreises 1918–1933, Berlin 2000.
74 Vgl. die Diagnose und die Beispiele etwa bei Frank-Michael Kuhlemann/Michael Schäfer:
Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Forschungskontexte, Fragestellungen, Per-
spektiven. In: Dies., Kreise (Anm. 68), S. 7–30.
75 Detlev Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 94.
76 Ebd.
77 Ebd., S. 100.
50 Manfred Hettling / Daniel Watermann
80 Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015,
S. 350–355, hier S. 354.
52 Manfred Hettling / Daniel Watermann
keiten – ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Attraktivität des Vereins – in
diesen Bereichen an Bedeutung. Sie wurden zu nachrangigen Handlungsfeldern, sie
standen nun im Schatten der hauptberuflichen, professionalisierten Beschäftigun-
gen im Bereich der professionellen Wohltätigkeit von Staat und Kommunen. Das
hatte auch Rückwirkungen auf die Bereitschaft der bürgerlichen Träger, sich in Ver-
einen für diese Zwecke zu engagieren. Die Absorption bürgerlichen Engagements
durch staatliche Sozial- und Kulturpolitik beschränkte sich jedoch keineswegs auf
diese Zwecke, sondern erstreckte sich auch auf die Bereiche Freizeit, Geselligkeit
und Sport, indem staatliche Stellen seit dem Ersten Weltkrieg und forciert dann in
der Weimarer Republik eine »Verbandlichung des Vereinswesens« gefördert und
entsprechende Unterstützung von einem staatlich definierten Verständnis von »Ge-
meinnützigkeit« der Vereine abhängig gemacht wurde.81 Zudem darf die Substanz
des Vermögens- und auch Einkommensverlustes in jenen sozialen Kreisen nicht
übersehen werden, die bis dahin den Kern der Vereinstätigen gestellt hatten. Zuerst
die Beteiligung an den Kriegsanleihen (was eine umfangreiche Besitzabschöpfung
darstellte), und dann die Inflation (was zur Vernichtung von Geld- und Kapitalbesitz
führte), bedeuteten zusammen mit Einkommensverlusten in vielen bildungsbürger-
lichen Kreisen eine massive Beeinträchtigung der gewohnten materiellen Position.
Schließlich kam es auch zu einer Fragmentierung und Politisierung der Gesellschaft,
mit der Folge, dass man nach 1918 in den Städten keineswegs mehr von einer bür-
gerlichen Mehrheitskultur sprechen kann. War diese vor 1914 zwar auch angewie-
sen auf ein restriktives Wahlrecht, so kam es in den Kommunen doch vielfach zu
gemeinbürgerlichen Kooperationen über Parteigrenzen hinweg und somit zu einer
Integration über die gemeinsame Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung. Nach
1918 hingegen war diese Konstellation nicht mehr gegeben, standen mehrere frag-
mentierte und hochgradig polarisierte Teilkulturen gegeneinander, denen zudem
eine Binnenhierarchie abging.
Zweitens ist die Erosion der sozialen Grundlage durch eine »Zersetzung des Bür-
gertums« zu diskutieren.82 Unter diesem Titel analysierte Dibelius das »Aufhören
jeder Lebenssicherung«, welche im 19. Jahrhundert Fundament der bürgerlichen
Lebenswelt gewesen sei. Er unterschied fünf spezifische Bindungen, aus denen das
bürgerliche Bewusstsein und damit die Lebenswelt des Bürgertums – und somit
auch seine Fähigkeit zur Selbstorganisation im öffentlichen Raum – erwachsen sei:
Staat, Besitz, Familie, Kirche, Bildung. Der Staat aber werde nicht mehr als eigener
empfunden, der Bürger habe in ihm kein »Heimatgefühl« mehr, so sei auch der
Verlust der »kleinen Monarchie« viel gravierender als das Verschwinden der Hohen-
zollern;83 Besitz sei verloren und gelte inzwischen als »ethisch minderwertig«. Das
habe zur Folge, dass »dann [natürlich] auch die private Initiative für soziale und
81 Vgl. dazu ausführlich die differenzierte Darstellung bei Nathaus, Organisierte Geselligkeit
(Anm. 3), S. 145–204.
82 So der Titel eines Vortrags von Martin Dibelius, Professor für neutestamentliche Kritik
in Heidelberg, 1932 im Marianne-Weber-Kreis; abgedruckt und erläutert in: Friedrich
Wilhelm Graf: Martin Dibelius über die Zerstörung der Bürgerlichkeit. In: Zeitschrift für
Neuere Theologiegeschichte 4, 1997, S. 114–153, hier S. 137.
83 Ebd., S. 144
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 53
kulturelle Zwecke weg[fällt]; an ihre Stelle treten hohe, unter den gegenwärtigen
Verhältnissen häufig zu hohe Posten im Staatshaushalt«.84 Diese beiden Faktoren
seien erst durch den Krieg entstanden, langfristig hätten sich aber in drei anderen
Bereichen bereits Zersetzungen entwickelt. So hätte das Solidaritätsgefühl des ge-
hobenen Bürgertums als Klasse, welches Verkehrs- und Heiratskreise strukturierte,
auf der Familie basiert. Die Familientradition aber sei durch Kollektivbewegungen
aufgelöst worden, die Frauenbewegung und die Jugendbewegung. »In dem Augen-
blick, da junge Menschen begannen, den lebenswerten Teil ihres Daseins außerhalb
der Familie zu verbringen, sich ihr geistiges Dasein in Opposition zur Familie zu bil-
den und sich anderen Kollektivbindungen anzuschließen«, sei die Bindungswirkung
der Familie geschwunden. Und, ergänzt Dibelius, die Bindung durch die Familie sei
die prägendste und wichtigste gewesen.85 Ergänzend traten dann der Autoritätsver-
lust der Kirchen und der Funktionsverlust der Bildung hinzu. Letztere wirke nicht
mehr schichtbildend, ihre Ausdehnung habe zwar insgesamt das geistige Niveau ge-
hoben, doch zugleich eine Niveausenkung bei den Gebildeten zur Folge gehabt. Das
Ergebnis sei weniger eine Zunahme der »Halbbildung« gewesen, sondern eine »un-
geheure Mehrung derer, die man als ungebildete Gebildete bezeichnen könnte«.86
Deshalb sei heutzutage – 1932 – die »Einordnung in ein Kollektiv« an die Stelle
individueller Entwicklung getreten, »an die Stelle der Diskussion ist die Demons-
tration getreten«.87
Was Dibelius in kulturkritischem Gestus als Zersetzung, als Verlust der her-
kömmlichen Bürgerlichkeit und der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts diag-
nostizierte, lässt sich auch interpretieren als eine Analyse der sich radikal ändern-
den Bedingungen bürgerlicher Lebensweise, welche zu einem Formwandel88 der
Sozialformation Bürgertum entscheidend mit beitrug und Rückwirkungen auf die
Strukturen gesellschaftlicher Selbstorganisationen hatte. Der klassische Verein ver-
schwand in diesem Umbruch nicht, aber er verlor an gesellschaftlicher Gestaltungs-
relevanz und trat in Konkurrenz zu anderen Formen. Um diesen Prozess adäquat zu
verstehen, darf man die Veränderungen nicht allein auf die durch den Weltkrieg und
die Niederlage bedingten Brüche zurückführen, so bedeutend sie auch waren. Vieles
war bereits vor 1914 in Bewegung geraten.89 Anschaulich beschrieb das Siegfried A.
Kaehler in einem Rückblick während des Zweiten Weltkriegs an Friedrich Meinecke.
Er bezeichnete seine Generation (Kaehler wurde 1885 geboren) als »Nachzügler des
bürgerlichen Zeitalters«, die anders als Meinecke (der 1862 geboren wurde), nicht
84 Ebd., S. 145.
85 Ebd., S. 147.
86 Und, so fügt er hinzu, »Menschen, die normale Bildungsstufen erreicht haben (und die mit
ihnen verbundenen Berechtigungen), deren Wesen aber nicht vergeistigt ist, sondern in
Barbarei verharrt«; ebd., S. 151.
87 Ebd., S. 152.
88 Angelehnt an Klaus Tenfeldes Diagnose eines Formwandels des Bürgertums seit dem frü-
hen 20. Jahrhundert; Tenfelde, Stadt und Bürgertum (Anm. 30).
89 Sehr erhellend Nipperdey: Jugend und Politik (Anm. 40); ansatzweise auch Gudrun Fied-
ler: Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel,
1914–1923, Köln 1989, S. 23–34, die aber die Bedeutung des Krieges in den Vordergrund
rückt.
54 Manfred Hettling / Daniel Watermann
das Glück gehabt hätten, »fünfzig Jahre ihres Lebens in diesen gesicherten Formen
haben verlaufen zu sehen«. Stattdessen hätten seine Altersgenossen nie die Chance
gehabt, in diese Lebensweise hineinzuwachsen und seien genötigt gewesen, »seit
dreißig Jahren zwischen den Zeiten zu balancieren«. Dieser Balanceakt aber, das ist
entscheidend, habe eben schon vor 1914 begonnen.90 Aufgelöst hatten sich die Bin-
dungen, ganz wie es Dibelius in seinem Vortrag bei Marianne Weber analysiert hatte.
Nach 1918 wirkte im bürgerlichen Spektrum sowohl die Erfahrung des Weltkriegs
als auch der bewusst angenommene Impuls, für eine Erneuerung der Nation ein-
stehen zu wollen, und – nicht zu unterschätzen – auch die defensive Mobilisierung
gegen die Herausforderung der Linken, die sich 1918 zeitgleich mit der militärischen
Niederlage und dem staatlichen Zusammenbruch in der »Revolution« als realer
Gegner präsentierte.91 Man darf deshalb die politische Bedeutung der neuartigen
Geselligkeitsformationen in der Jugendbewegung und, allgemeiner gefasst, im bür-
gerlichen Spektrum insgesamt, im zeitlichen Vorlauf zu 1933 auch nicht überschät-
zen. Sie erscheinen eher als Indikator eines langfristigen gesellschaftlichen Trans-
formationsprozesses und einer kurzfristigen Krisenverarbeitung (Krieg, Niederlage,
gesellschaftlich-politische Krisenerfahrungen), denn als Faktoren eines Wegs in die
nationalsozialistische Diktatur. Auch waren die neuartigen Vereinigungsformen der
Ringe, Bünde, Kreise politisch durchaus polyvalent – als ›Kreis‹ formierte sich der
›Tatkreis‹ aber auch der ›Kreisauer Kreis‹, es gab die ›Ringbewegung‹, aber auch die
›Weiße Rose‹. Kurz, die Organisationsform sagt nichts per se aus über die politische
Richtung, die sich in ihm versammelte.92
V. Schluss
Die organisatorische Mobilisierung der ›Jugend‹ führte seit dem späten 19. Jahrhun-
dert nicht nur zu eigenen Vereinigungen der ›Jugend‹, sondern auch zu Zusammen-
schlüssen, die sich vom herkömmlichen Verein unterschieden, vereinfacht gesagt, zu
›bündischen‹ Organisationen. Die Suche nach divergenten Sozialformen war in der
Weimarer Republik jedoch weit über die jüngeren Bevölkerungsteile hinausgehend
verbreitet, auch bei den Erwachsenen. Doch kam den jugendlichen Organisationen
eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Popularisierung und der Inszenierung
von Andersartigkeit zu.
Die alternativen Vereinigungsformen lassen sich in zwei idealtypische Formen
unterscheiden. Einerseits fanden hierarchische, straffere, militärischere Vereinigun-
gen Zulauf, zum anderen jene, welche ein Mehr an Gemeinschaft, an Gemeinschafts-
erlebnissen und an Aufhebung im Kollektiv versprachen. Hierin verbanden sich bei-
de Alternativen; sie versprachen jeweils auf ihre Weise eine Entindividualisierung,
90 Friedrich Meinecke: Ausgewählter Briefwechsel. Hg. von Ludwig Dehio und Peter Classen,
Stuttgart 1962, S. 397 f. (Kaehler an Meinecke, 3.4.1942).
91 Vgl. zum Beispiel der bündischen Jugend Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 80), v. a.
S. 376–388.
92 Die politische Unbestimmtheit betonen auch Kuhlemann/Schäfer, Kreise (Anm. 74),
S. 10 f.
›Wandervogel‹, Kreise, Bünde 55
eine Aufhebung des Einzelnen, sei es in einer straffen Hierarchie und einer festen,
äußeren »Formation«, sei es in einer emotional starken und die Erlebnisdimension
privilegierenden »Gemeinschaft«. Man kann die überschießenden Erwartungen
an und Projektionen auf ›Jugend‹, die nach 1918 in den bündischen Formen eine
organisatorische Ausdrucksform fanden, mit Helmuth Plessners Analyse der Ge-
meinschaftssehnsucht jener Zeit verstehbar machen. In seiner 1924 erschienenen
Diagnose des politische Lager und auch Generationen übergreifenden Bedürfnisses
nach Gemeinschaft beschreibt er diese Tendenz als »sozialen Radikalismus«, der
»Opposition gegen das Bestehende« sei. »Seine These ist Rückhaltlosigkeit, seine
Perspektive Unendlichkeit, sein Pathos Enthusiasmus, sein Temperament Glut. Er
ist die geborene Weltanschauung der Ungeduldigen, soziologisch: der unteren Klas-
sen, biologisch: der Jugend.«93 Die bündischen Formen versprachen eine neuartige
Gemeinschaft, und die Jugend erwies sich für dieses Versprechen besonders offen,
weil die Selbstdefinition als ›Jugend‹ (das Biologische) noch neu und unverbraucht
war, weil die bestehende bürgerliche Lebenswelt als überholt, als unzugänglich und
unzulänglich angesehen wurde und weil Krieg und Niederlage ein Pathos des Un-
bedingten befördert hatten. Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹ diagnostizierte
eine verbreitete Sehnsucht nach Gemeinschaft in den 1920er Jahren und entwarf als
Gegenentwurf ein Loblied der sozialen Distanzierung, schrieb ein Plädoyer für die
Notwendigkeit der Grenzziehungen, um einen Schutzraum der Innerlichkeit zu er-
möglichen. Er trennte systematisch Öffentlichkeit und Privatheit und kritisierte die
Gemeinschaft als »Idol dieses Zeitalters«, welches den Verzicht auf die Behauptung
des Selbst verlange, »das dem Ganzen zum Opfer gebracht wird«.94
Doch konnten auch die sich oft so betont abgrenzenden bündischen Vereinigun-
gen kaum bestimmter Formelemente entbehren. Letztlich konnten sie den Eigen-
gesetzlichkeiten der Gestaltung formalisierter Vereinigung nicht entgehen. Gerade
wenn man die Weiterentwicklung der Gegengründungen zum Verein langfristig
betrachtet, sei es die Jugendbewegung, seien es die politischen Reform-, Revoluti-
ons-, Putschkreise, seien es die literarischen oder künstlerischen Kreise, blieb der
emphatische Überschuss des emotionalen Bandes, der Überschuss des gegenwelt-
lichen Veränderungsanspruchs, die Suggestion einer neuen Menschenformung doch
zeitlich begrenzt. »Auf lange Sicht«, mit John Maynard Keynes gesprochen, »sind wir
alle tot«. Das ist unzweifelhaft. Zuvor aber, und das ist je nach Perspektive tröstlicher
oder deprimierender, hat sich auf lange Sicht der ›Verein‹ und das Modell der ge-
regelten, freien ›Assoziation‹ für partikulare Zwecke innerhalb einer pluralen, indi-
vidualrechtlich strukturierten Gesellschaft als lebensfähiger erwiesen, als ihm seine
Kritiker oft zugebilligt haben. Der Verein hat sich als Vereinigungsform als dauer-
hafter und flexibler bewiesen als ihm attestiert wurde – und er hat sich als immens
absorptionsfähig für alle möglichen antibürgerlichen, antielterlichen, antikapitalis-
tischen, antielitären und so fort Zusammenschlüsse erwiesen. Angesichts der vielen
Herausforderungen, die der Verein in der bürgerlichen Gesellschaft überdauert hat,
könnte man geradezu von einem ›ehernen Gesetz der Assoziationsbildung‹ sprechen.
93 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus
(1924). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1981, S. 7–133, hier S. 14.
94 Ebd., S. 28, 58.
56 Manfred Hettling / Daniel Watermann
95 Angelehnt an Robert Michels: Soziologie des Parteiwesens (1911), Stuttgart 1989; Anstalt
und Verein nach Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 68), S. 28.
Bünde und Kreise 57
Gemeinschaftsideen hatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Konjunktur. Sie
bildeten eine »Art Gegenideologie zur Industriegesellschaft.«1 Ihr Aufschwung war
Indikator einer ersten, tiefen Krise der Moderne, als sich mit der Auflösung tra-
ditioneller korporativer gesellschaftlicher und kultureller Strukturen und mit der
Entstehung der industriellen Massengesellschaft die Alltagswelt wie die Wahrneh-
mungs- und Verhaltensweisen der Gesellschaft wandelten. Den veränderten Realitä-
ten des Massenzeitalters entsprachen neue Konzepte der Vergesellschaftung und der
politisch-sozialen Integration. Ein emphatischer Volksbegriff verdrängte beispiels-
weise den klassischen Leitbegriff des Jahrhunderts, den der Verfassungs-Nation. Der
Soziologe Ferdinand Tönnies trug dem bereits in seinem 1887 erschienenen Haupt-
werk »Gemeinschaft und Gesellschaft« Rechnung, indem er zwischen »zwei Nor-
maltypen« unterschied, »zwischen denen sich das wirkliche Leben bewegt.«2 Da-
mit hatte er den Zeitgeist in ein soziologisches Kategoriengerüst gezwängt, und aus
einem Idealtypus wurde in der Rezeption bald ein Realtypus. Ganz wesentlich hatte
dazu das Kriegserlebnis des Ersten Weltkrieges beigetragen. Mit der Beschwörung
eines »Burgfriedens« (oder einer »Union sacrée) sowie einer »Frontgemeinschaft«
als Instrument der Loyalitätssicherung wurden die Gemeinschaftsbedürfnisse und
-erfahrungen gerade der jungen Generation langfristig ideologisiert und politisiert.
Auch für die beiden Studenten Wilhelm Flitner und Rudolf Carnap, die sich 1910
im jugendbewegten Sera-Kreis in Jena getroffen hatten und seither Freunde blieben,
bedeutete die Kriegsteilnahme im Rückblick einen »feierlichen Opfergang um der
Volksgemeinschaft willen.« Sie hatten sich beide im August 1914 freiwillig zum
»Schutz des Vaterlandes« gemeldet und hielten trotz aller Desillusionierungen noch
im bittersten Kriegsjahr 1917 an ihren Ideen für eine freideutsch-bündisch geprägte
Lebensform, für eine »Arbeits- und Lebensgemeinschaft der geistigen Menschen«
fest.3 Das Gemeinschaftserlebnis, das sie im ›Sera-Kreis‹ wie in der Freischar und
in der Freistudentenschaft erfahren hatten, war und blieb prägend. Darum begriffen
1 Helmut Plessner: Nachwort zu Ferdinand Tönnies. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie 7 (1955), S. 341; ferner ders.: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des
sozialen Radikalismus (1924), Frankfurt a. M. 2002, S. 28.
2 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Neuaufl., Darmstadt 1972,
S. XLV.
3 Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 13. April 1917, zit. nach: Meike G. Werner: Freund-
schaft/Briefe/Sera-Kreis. Rudolf Carnap und Wilhelm Flitner. Die Geschichte einer Freund-
schaft in Briefen. In: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen.
Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015 (Formen der
Erinnerung. Bd. 58), S. 122.
58 Hans-Ulrich Thamer
sie auch das Jahr 1919 trotz aller »Not, Trauer und Geisteswirrnis des Nachkriegs-
daseins« als Zeitenwende und Neubeginn. Ihre Hoffnung »richtete sich nun auf
genossenschaftliches Wirken, auf Selbstverwaltung von unten, auf Zellenbildung,
Gemeinschaften.«4
Ihre sozialen und auch politischen Erfahrungen bzw. Verklärungen waren Teil
einer weitergehenden Generationserfahrung und deren Veränderungen in der
Nachkriegszeit. Vielerorts, nicht nur in der Jugendbewegung, wurden die »Gemein-
schaftskräfte« der Jugend zur »höchsten, geistigen Wirklichkeit der Gemeinschafts-
erlebnisse« stilisiert, wurde die Gemeinschaftsidee zum »Idol des Zeitalters.« 5 In
einem Rundbrief der österreichischen Gildenschaft hieß es 1929: »Das tiefste Erleb-
nis der Jugendbewegung ist ohne Zweifel das der Gemeinschaft. Das Leben vom Ich
zum Du und das Erfülltsein, ja das Trunkensein im ›Wir‹. Wir Jugend, Wir: Volk.«
Zugleich machte der Autor, Karl Ursin, Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede
zum ›Wandervogel‹-Geist von 1913 deutlich:
Die Jugend, die 1918 noch einmal eine Bewegung erhob, ist anderen Geistes, wenn
immerhin gleicher Wurzel (der unverbrauchten Lebenssubstanz unseres Volkes) als die
Jugend vor 1918. Laßt es erklären: Die Parolen. Vor 1918: Freiheit! Freiheit des eigenen
Selbst, der Jugendklasse (Meißner), der Nation. Freiheit von erstarrter Bindung! Nach
1918: Zucht und Bindung in der Ungebundenheit der entfesselten Proletendemokratie,
Gestalt in der individualisierten Gestaltlosigkeit, Staat in der Staatlosigkeit des Verfalls
um uns.6
4 Ebd., S. 125
5 Plessner, Grenzen der Gemeinschaft (Anm. 1), S. 26
6 Karl Ursin: Mehr staatliche Haltung. In: Gildenbrief. Werkblatt der österreichischen Gil-
denschaft 3 (1929). In: Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung. Bd. III:
Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf – Köln 1974,
S. 1385.
Bünde und Kreise 59
Bund sich durch eine größere Labilität aus, was seinen besonderen Kommunikati-
onsformen geschuldet ist. Der Bund werde zwar aktiv geschlossen wie eine Gesell-
schaft, beruhe aber auf Emotion und Affekt der Beteiligten. Es ist das starke Gefühls-
erlebnis, das zur Konstituierung einer bündischen Gemeinschaft führe. Dadurch
stellt diese »wesenhaft einen im Unbewussten konstituierten Verband«9 dar. Die
besondere Gemeinschaftsform des Bundes unterscheidet sich nach Schmalenbach
von den beiden anderen Gemeinschaftsformen durch ihren transitorischen Cha-
rakter und von dem Typus der Gesellschaft durch das Nichtvorhandensein von be-
stimmten Zwecken sowie durch eine sehr viel stärkere persönliche Bindung. Einige
Jahrzehnte später sollte Friedhelm Neidhardt in Anlehnung an Niklas Luhmann
von »einfachen Systemen persönlicher Beziehungen« sprechen, die durch Unmittel-
barkeit der Mitgliederbeziehungen, aber auch durch die Vielfalt ihrer internen und
externen Kommunikation geprägt sind.10
Ob sich das Substanzielle des Bündischen mit diesen soziologischen Kategorisie-
rungen allein erfassen lässt (und nicht noch durch andere Erfahrungen wie die des
Krieges und andere Handlungsformen ergänzt werden muss), sei vorerst einmal da-
hingestellt. Auf jeden Fall erlauben sie eine Beschreibung der sozialen Prozesse der
Gruppenbildung und der Kommunikation in den sozialen Bewegungen des frühen
20. Jahrhunderts, für die die Bündische Jugend und verwandte Reformbewegungen
stellvertretend und einigermaßen repräsentativ stehen können. Auch zeigt ihre For-
mierung jene Kontextabhängigkeit und Zeitgebundenheit sozialer Bewegungen, die
immer in Auseinandersetzung mit oder als eine Antwort auf spezifische Heraus-
forderungen ihrer Zeit entstanden sind und sich selbst auch so verstanden haben,
egal ob sie eine Wiederherstellung vergangener Strukturen propagierten oder von
einem Neuentwurf für die Zukunft und auch von der Schaffung eines neuen Men-
schen träumten.11 Sie reagierten auf die Kultur der Moderne, die sie als Ausdruck
von Entfremdung und zerstörerischer Dynamik verstanden, mit der Ausbildung
und Ausgrenzung von kleinen Gemeinschaften, die ihre Erfahrungen und Gefühle
bündelten und symbolisch repräsentierten bzw. kommunizierten. Sie schufen sich
damit – wenigstens auf Zeit – eine eigene, alternative Ordnung, die durch den Appell
an die unverbrauchte Kraft der Jugend und durch die Suche nach Gemeinschaft,
nach besonderer Nähe und durch Hingabe in der Gruppe und an ihren Führer aus-
zeichnete. Anfangs versprach man sich die heilende Wirkung von der neuen jugend-
lichen Gemeinschaft durch Selbsterziehung und Autonomie der Mitglieder, später
in den 1920er Jahren durch ein Hineinwirken in die Gesellschaft. Immer stützte
sich der Protest gegen etablierte Ordnungen und umgekehrt der Glaube an die
Gestaltbarkeit der Zukunft auf die Attraktivität von Jugend als Inbegriff von Op-
9 Werner Schmalenbach: Die soziologische Struktur des Bundes. In: Dioskuren. Jahrbuch für
Geisteswissenschaften 1 (1922), S. 35–105.
10 Friedhelm Neidhardt: Themen und Thesen zur Gruppensoziologie. In: Ders. (Hg.) Grup-
pensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983 (= Kölner Zeitschrift für So-
ziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25), S. 14.
11 Dazu Verf.: Volksgemeinschaft: Mensch und Masse. In: Richard van Dülmen (Hg.): Die
Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien – Köln –
Weimar 1998, S. 367–386; neuerdings auch Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD,
Hamburg 2017.
Bünde und Kreise 61
12 Vgl. Verf.: Autonomie und Gemeinschaft. Wertmuster und Lebensformen der deutschen
Jugendbewegung vom Wandervogel bis zur Bündischen Jugend. In: Recherches Germani-
ques. Revue annuelle, Hors Serie n. 6, 2009, S. 71–82.
62 Hans-Ulrich Thamer
13 Als Beispiele Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung, Tübingen 1998; Hans Peter Thurn:
Die Sozialität des Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst. In: Fried-
helm Neidhardt (Hg.): Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983
(= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25), S. 287–318.
14 Dazu zusammenfassend Verf.: Politische Zirkel im Einflussbereich der Jugendbewegung.
Der Nauheimer und Grünwalder Kreis. In: Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wir-
kungen (Anm. 3), S. 343–353.
Bünde und Kreise 63
15 Zur Biographie Ulrich Noacks: Heinrich Euler (Hg.): Ulrich Noack. Ein Leben in freier
Mitte. Beiträge zur Geschichtsforschung. Ulrich Noack zum 60. Geburtstag, Göttingen
1961; als kritische Einordnung der neutralistisch-förderativen Konzeptionen von Noack:
Alexander Gallus: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost
und West, Düsseldorf 2000, Kap. 5, S. 153–179.
64 Hans-Ulrich Thamer
Obwohl wir damit zeitlich etwas vorgegriffen haben, zeigen die erwähnten Bei-
spiele die starke Kontextabhängigkeit sozialer Bewegungen allgemein und auch von
bündischen Gruppierungen im Besonderen. Darum gilt auch für die Kommunika-
tion jugendbewegter Gemeinschaften die tiefe Zäsur, die die beiden Weltkriege und
ihre Folgen für die sozialen Erfahrung und Mentalitäten der Vielen bedeutete. Das
führte immer wieder zum Wandel der Vergemeinschaftungs- und Kommunikations-
formen und auch der jugendbewegten Ästhetik. Große Zeltlager und Aufmärsche
mit Fahnen und Trommeln ersetzten beispielsweise nach 1919 in der Entstehungs-
und Transformationsphase der Bündischen Jugend allmählich die spontane Wan-
derfahrt der ›Wandervogel‹-Vaganten. Die ›große Fahrt‹ führte in ferne Länder, oft
auch in Zentren des ›Deutschtums‹ im Ausland. Charismatische ›Bundesführer‹,
meist junge Weltkriegsoffiziere, beanspruchten eine ›Führer‹-Rolle und eine pro-
grammatische Gestaltungsmacht. Das korrespondierte mit dem Wunsch, sich stär-
ker in die kulturell-politische Diskussion einzubringen und die eigenen Wertmuster
der Selbstbestimmung, des sozialen und kulturellen Engagements und der Gruppen-
disziplin bei gleichzeitiger Wahrung der Distanz zur depravierten Umwelt durch den
symbolischen Rückgriff auf romantische Ideale des Ritters, der Landsknechte oder
anderer Männerbünde zu veranschaulichen. Darum auch der Rückzug auf mittel-
alterliche Burgen, von denen schließlich einige von den Bünden auch gekauft und
restauriert wurden bzw. zum Erinnerungsort oder Mittelpunkt jugendbündischen
Lebens sowie zum Treffpunkt zahlreicher Bünde und Kreise gemacht wurden.
Der Kult der Gemeinschaft prägte nach wie vor Selbstverständnis und Praxis der
Bünde/Bündischen Jugend. Die Wiederholung und gruppen- und entwicklungs-
bedingte Spezifizierung der Rituale und Gruppenabzeichen machten deutlich, wer
dazu gehörte und wer nicht. Der ›Wandervogel‹ hatte seine gemeinschaftsstiftenden
Ausdrucksformen in dem gemeinsamen Naturerlebnis auf der Wanderung und bei
seinen Festen gefunden. Die Sonnenwendfeier, eine der Höhepunkte im jugend-
bewegten Festkalender, hatte Naturverbundenheit, Aufbruch und Zugehörigkeit
signalisiert.
»In dem Wort Sonnenwende liegt für den Wandervogel«, so stellte einer seiner Führer,
Friedrich Wilhelm Fulda, in seinem Büchlein, »Sonnenwende« 1913 fest, »eine symboli-
sche Bedeutung. Für so viele ist er eine Wende zur Sonne, zum sonnigen Leben, frohem
Jugendgenuss geworden, deren Seele nach Sonne drängte, die aber ohne Wandervogel
schier erstickt wären im Schulstaub, Schuldruck, in der ganzen Sklaverei, die unser heu-
tige Schulsystem ihnen auferlegt.«16
Knapp zwanzig Jahre später, auf dem Höhepunkt der Orientierungskrise der Wei-
marer Republik, sah der legendäre Führer der ›Deutschen Jungenschaft des 1.11.‹
Eberhard Koebel, genannt ›tusk‹, im Feuerritual weniger die Naturmetaphorik, son-
dern die emotionale Bindungskraft des Feuers:
16 Friedrich Wilhelm Fulda (Hg.): Sonnenwende. Ein Büchlein vom Wandervogel und seiner
Arbeit, Leipzig 1913, S. 72.
Bünde und Kreise 65
Das Feuer ist das Allerwichtigste. Immer, wenn es wieder im Lager erwacht, fühlen wir,
dass wir nach ihm die größte Sehnsucht hatten ... An Sonnenwend rauchen von den
Bergen gewaltige Brände auf. Um jeden stehen Burschen und Buben mit Wimpeln und
Fahnen, barhäuptig und festlich gekleidet, und singen ihr großes Lied über die schlafen-
den Täler: Heilige Glut / Rufe die Jugend zusammen / Das bei den lodernden Flammen /
wachse der Mut.17
Ausweis der Zugehörigkeit und Identifikation der Gruppe waren zu allen Zeiten der
Jugendbewegung Fahnen und Wimpel. Für den Einzelnen wurde die einheitliche
Kluft noch wichtiger. Das erklärt das besondere Augenmerk, das bündische Großor-
ganisationen wie die ›Deutsche Freischar‹ in den späten 1920er Jahren, in einer Zeit
der allgemeinen Uniformierung und der Verbreitung eines Bellizismus, auf die ein-
heitliche Bundestracht legten. Die Jungen sollten eine weiße Hemdbluse mit auf-
gesetzten Brusttaschen, eine kniekurze Hose aus grauem oder schwarzem Cordsamt,
wollene Kniestrümpfe, einen Gürtel mit Koppelschloss und ein dunkles, dreieckiges,
vorne geknotetes Halstuch tragen. Auch tusk, der in Abgrenzung zur ›Deutschen
Freischar‹ mit seinem ausgeprägten Sinn für Ästhetik eine neue Gruppenkleidung
mit militärähnlichen Mustern entwickelte, legte Wert auf den praktischen, aber vor
allem gemeinschaftsstiftenden Zweck der Kluft: »Die Fahrtenkluft muß schön und
ordentlich sein. Es sind ja Sonntagskleider, Dienstkleider. Und eine Gruppe, ein Gau
muß gekleidet sein wie Brüder. Häßlich ist, in Wald und Feld ein Gewimmel von
verschiedenfarbigen alten Stadtkleidern.«18
Auch in den Aufnahmeritualen zeigten sich Kontinuität und Wandel. Beim ›Wan-
dervogel‹ erfolgte die Aufnahme in die Scholarenliste meist nach einer Fahrt oder
Wanderung, verbunden mit einem Treue- und Gehorsamsgelöbnis. In der ›Deut-
schen Freischar‹ fand ein feierliches Aufnahmeritual vor der Fahne und der ange-
tretenen Gruppe meistens am Sonnwendfeuer statt.
Die neue Lebensform der Disziplin und Unterordnung in der Bündischen Ju-
gend wird am deutlichsten im Ritual des Marschierens, das sich von der Praxis des
Wanderns und des Volkstanzes in der »anarchischen« Phase des ›Wandervogels‹
weit entfernt hatte. »Aus dem ruhelos schweifenden ›Wandervogel‹ wird der ›bün-
dische‹ Mensch, aus der ›Horde‹ die ›Jungenschaft‹, aus dem ›Volkstanz‹ der ›Schritt
marschierender Kolonnen‹, beschrieb ein Bündischer 1926 den ›Weg zum großen
Bund‹.«19
Zu den marschierenden Kolonnen gehörten Marsch- und Kampflieder, die das
harmlose Volkslied der Wandervogelzeit verdrängten. Der Frontkämpfer wurde zu
einem bevorzugten Leitbild der Nachkriegsgeneration. Märsche, Lieder von Kampf
und Tod, Uniformen waren Ersatzformen für das fehlende Kriegserlebnis der jünge-
ren Angehörigen der Bündischen Jugend. Der Orden mit seiner geheimbündischen
Logik bot den Raum für die Inszenierung der geschlossenen, elitären Gemeinschaft,
in der Mädchen und Frauen kaum einen Platz fanden. ›Erziehung, Pflichterfüllung,
Hingabe an das Volksganze‹ hieß es in dem Programm des ›Jungdeutschen Ordens‹.
Der Wille zur Form steigerte sich in der dritten Welle der Bündischen Jugend
am Ende der Weimarer Republik zu einer wachsenden Militarisierung und zur For-
derung nach Hingabe und Bereitschaft zur Gefolgschaft. Ihre extreme, gleichwohl
nicht bei allen Jugendbünden anzutreffende Ausformung erlebte diese Tendenz in
der Figur Eberhard Koebels und seiner ›Deutschen Jungenschaft des 1.11.‹: Mit sei-
ner zur Erlösungs- und Bekenntnisfahrt stilisierten Lapplandfahrt, deren Anleihen
bei der christlich-religiösen Tradition nur allzu deutlich waren, verband er den anti-
zivilisatorischen Affekt der Nordlandfahrt mit der symbolischen Grenzüberschrei-
tung in ein neues Jungenreich auf wirkungsvolle Weise und gab dem Schwellenritual
eine noch eindringlichere Ausprägung. Von seiner Lapplandfahrt wie Johannes der
Täufer aus der Wüste zurückgekehrt, gab er sich nicht nur den Namen tusk, sondern
verkündete seine Botschaft, die eine rigide Rückkehr zu den Ursprüngen der Jugend-
bewegung und eine Radikalisierung bisheriger Traditionen bedeutete: Er verklärte
die Jugend zu einer einzigen Verheißung, zur »Vorhut der neuen Erhebung«.20 Jeder
seiner Jungen sollte ein werdender Krieger sein. In seiner ›Heldenfibel‹ pries er die
»dämonische, ritterliche Männlichkeit«21 als höchste Tugend an. Seine Jugend sollte
den Nomaden oder den Samurai nacheifern und damit frei von bürgerlich-mora-
lischen Bindungen werden. Das Gefühl der Unbedingtheit und der Zugehörigkeit
zur »Treuegemeinschaft Gleichgesinnter«22 sollte sich in einer konsequenten Sym-
bolsprache ausdrücken und den Wertmustern des Bundes sinnlichen Ausdruck
verleihen: Durch die Orientierung am Ordensgedanken, durch eine uniformähn-
liche Kluft sowie durch neue, den Feuerzelten der Lappen anverwandten Formen
des Zeltes, die »Kohte«, durch die Einführung fremdartiger Musikinstrumente und
durch ekstatische Lieder und Tänze.23
Eine inszenierte Ausdrucksform fand der Wille zur Gemeinschaft und zur Hin-
gabe in einem Symbolspiel, das der Chemiker Alfred Schmid, in seinem ›Grauen
Corps‹ aufführte. Der ›Deutschen Jungenschaft des 1.11.‹ innerlich verwandt wur-
den in einer Aufführung des ›Grauen Corps‹ in der Villa Falconieri im italienischen
Frascati im April 1931 – das faschistische Italien war mittlerweile zum Traumland
der nationalen Rechten aller Schattierungen geworden – Szenen und Stationen eines
festlichen Spiels dargestellt und in einer filmischen Aufzeichnung festgehalten. Der
Übergang vom Lageralltag in die Spielsituation und damit der Übergang vom Realen
zum Fiktiven waren bezeichnenderweise fließend. Der Historiker Walter Hubatsch,
20 Eberhard Koebel [tusk]: Die Heldenfibel, Plauen 1933; zit. nach Ulrike Holtrup: Rituale und
Symbole in der Jugendbewegung. Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit, Münster 1993,
S. 103.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Dazu Winfried Mogge: »Der gespannte Bogen«. Jugendbewegung und Nationalsozialis-
mus. Eine Zwischenbilanz. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 13
(1981), S. 11–34, hier S. 28.
Bünde und Kreise 67
selbst jugendbewegt geprägt, hat den Film, der vom ›Grauen Corps‹ gedreht wurde,
in den 1960er Jahren entsprechend kommentiert:
Man sieht den disziplinierten Einmarsch, Baden, Lockerung durch Erzählen. Nach Ver-
anlagung trennen sich die Gruppe der »Schwarzen« (Kämpferische) und der »Weißen«
(Musische). Tanz als Ausdruck innerer Bewegung. Es kommt zum Bruch, Trennung und
Kampf: Beim Peitschenduell erhält die Fahne einen Riß; daraufhin Wandlung. Feuer der
Reinigung: »Verbrennt die Symbole, die uns trennen!« Feuerreigen und Gelöbnis zur
Gemeinschaft.24
24 Walter Hubatsch (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1912–1933. Eine Filmedition des
Instituts für den Wissenschaftlichen Film, Göttingen 1979, Einleitung des Herausgebers,
S. 9.
68 Hans-Ulrich Thamer
zeigt zusammen mit anderen Widerstandsmustern, etwa der ›Weißen Rose‹, dass es
keine Einbahnstraße zur totalitären politischen Ideologie und Praxis des NS geben
muss, trotz aller Affinitäten zu bündischen Lebensformen.
Bleibt die Nachgeschichte, die sich aus der Perspektive der jugendbündischen Ge-
sellungsformen als Restgeschichte darstellt. Das Bedürfnis nach Selbstausgrenzung
und Sonderwelten in der jugendbündischen Ausprägung war trotz aller Bemühun-
gen von Ehemaligen und Nachgeborenen in der frühen Bundesrepublik nicht mehr
zu revitalisieren. Neue und alte jugendbündische oder alternative Gemeinschaften
bildeten sich kaum noch gegen die Gesellschaft, sondern als Teil von ihr. Es blieb bei
Erinnerungsgemeinschaften und bei einer Wiederbegründung jugendbündischer
Kulturen, die sich, ob sie es wollten oder nicht, nicht nur mit einer belastenden Ver-
gangenheit auseinanderzusetzen hatten, sondern die schließlich von der Dynamik
der Wohlstandsgesellschaft und der rasanten Durchsetzung von unterschiedlichen
Formen der modernen Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten
weitgehend aufgelöst wurden.25 Das veränderte auch die Gestalt der neuen sozialen
Bewegungen, wie sie seit den 1960er Jahren entstanden.
I.
Anfang der 1920er Jahre begegneten sich »alter« und »neuer« Adel in der Stutt-
garter Gruppe des ›Bundes deutscher Neupfadfinder‹.1 Denn zu der Gruppe, deren
Schriften immer wieder nicht nur ein »neues Reich« beschworen, sondern auch ei-
nen »neuen Adel«, und die, gerade in diesem Zusammenhang, immer wieder Stefan
George zitierten, gehörten bekanntlich auch die Brüder Berthold, Alexander und
Claus von Stauffenberg, 1905 beziehungsweise 1907 geboren, und in jenen Jahren
Schüler des Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums. Ihr Freund Theodor Pfizer,
nach 1948 Oberbürgermeister der Stadt Ulm, erinnerte sich später an die gemein-
same Zeit, an Wanderungen und Fahrten. Man habe Landsknechtslieder gesungen,
am Feuer vor dem Zelt aus Georges ›Stern des Bundes‹ gelesen und vom Schicksal
des Reiches und von der Volksgemeinschaft gesprochen. Auch in einem Lesekreis an
ihrer Schule beschäftigten sich die Stauffenberg-Brüder mit Gedichten von George,
dem sie dann im Frühjahr 1923 erstmals persönlich begegneten.2
Die Idee eines »neuen Adels« beschäftigte Claus von Stauffenberg bis zu seinem
Tod 1944. In seinen Reflexionen verbanden sich altadelige Dienst- und Verpflich-
tungskonzepte mit neuadeligen, zum Teil georgeanisch, aber eben auch jugend-
bewegt geprägten Opferidealen und Elitevorstellungen.3 Auch andere adelige
Angehörige des Widerstands kreisten in ihren politischen und gesellschaftlichen
Ordnungsvorstellungen um die Denkfigur eines »neuen Adels«, die sich teils stärker,
teils weniger stark vom historischen Adel löste, die sich aber doch, in unterschiedli-
1 Ich danke Jan de Vries und Daniel Thiel, Mitarbeitern in dem Marburger DFG-Projekt
»Aristokratismus«, für ihre Unterstützung und wichtige Hinweise bei der Vorbereitung
dieses Beitrags.
2 Vgl. Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992,
S. 46. Hoffmann bezieht sich hier vor allem auf Theodor Pfizer: Die Brüder Stauffenberg.
In: Erich Boehringer/Wilhelm Hoffmann (Hg.): Robert Boehringer. Eine Freundesgabe,
Tübingen 1957, S. 497 f. Siehe ferner auch Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung
des Charismas, München 2007, S. 564 f.; Stefan Breuer: Politische Rezeption. In: Achim
Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.) in Zusammenarbeit
mit Kai Kauffmann: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, 3 Bde., Berlin 2012.
Bd. 2, S. 1202.
3 Siehe dazu ausführlicher Christopher Dowe: Alter Adel und Neuadelsvorstellungen. Die
von Stauffenbergs. In: Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, hg. vom
Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Leinfelden-Echterdingen 2007, S. 83–103, und
ders.: Vom Hofadel zum Geistesadel. Die Stauffenbergs. In: Verf./Sönke Lorenz (Hg.): Die
Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert,
Ostfildern 2010, S. 23–34.
70 Eckart Conze
cher Weise, auf den »alten« Adel bezog und in ihm eine Art Referenzhorizont für das
Nachdenken über politische Herrschaft, insbesondere aber über die Rekrutierung
und Stabilisierung politischer Eliten erblickte.4
Das muss uns im Zusammenhang der Thematik des vorliegenden Bandes nicht
weiter interessieren; es verweist aber doch von den Neupfadfindern über George bis
hin zum Widerstand auf die Bedeutung eines Neuadelsdiskurses, in dem offensicht-
lich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein politische beziehungsweise politisch wirk-
same Ordnungsvorstellungen verhandelt wurden. Historisch fassen lässt sich ein
solcher Neuadelsdiskurs schon seit dem 18. Jahrhundert: als Kritik an der ständi-
schen Gesellschaft mit ihrer Privilegierung einer Geburtselite und als vielgestaltiger
Versuch, eine neue, gemischt adelig-bürgerliche Elite zu schaffen.5 Der historische
Adel selbst war an diesem Diskurs beteiligt, bot eine Neuerfindung des »Adeligen«
doch Chancen zur Selbstbehauptung beziehungsweise zur Restabilisierung in Pro-
zessen beschleunigten sozialen, ökonomischen und politischen Wandels vor allem
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf jeden Fall besaß das adelige Kulturmodell,
ohne dass man gleich von Feudalisierung oder Refeudalisierung sprechen muss,6
weit über den Adel hinaus Strahlkraft. Insofern müsste man, wenn überhaupt, von
Aristokratisierung reden und befände sich damit in guter zeitgenössischer Gesell-
schaft. Walther Rathenau etwa bemerkte 1912: »Der Geschichtsschreiber späterer
Zeiten wird vor einem Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwärtigen sucht, wie
unsere Zeit mit den äußeren Organen ihres Geistes demokratisch zu fühlen glaubt,
während das Wollen ihrer inneren Seele den Aristokratismus noch immer duldete
und zu erhalten strebte.«7 Auch der Begriff »Aristokratismus«, der im Untertitel die-
ses Beitrags auftaucht, ist also ein zeitgenössischer. In Meyers Konversationslexikon
heißt es in den Ausgaben von 1888 und 1905: »Aristokratismus ist die ausgesproche-
ne Vorliebe für aristokratische Vorrechte und Gebräuche.«8
Über dieses zeitgenössische Verständnis hinaus hat die jüngere Forschung den
Aristokratismus-Begriff zu erweitern und gleichzeitig als analytische Kategorie nutz-
4 Siehe dazu ausführlicher Verf.: Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944. In:
Heinz Reif (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Entwicklungslinien und Wende-
punkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 269–295, insbesondere S. 272–284.
5 Zum Neuadelsdiskurs s. im gerafften Überblick Verf.: Artikel Neuadel. In: Ders. (Hg.):
Kleines Lexikon des Adels, München 22012, S. 183–186. Vgl. aber auch Alexandra Gerst-
ner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Na-
tionalsozialismus, Darmstadt 2008; sowie Jan Andres: »Neuen adel den ihr suchet/Führt
nicht her von schild und krone!«. Der Diskurs um den neuen Adel um 1900 und die Geis-
tesaristokratie im George-Kreis. In: Walter Schmitz (Hg.): Adel in Schlesien und Mittel-
europa. Literatur und Kultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 2013,
S. 539–568.
6 Die Begriffe Feudalisierung und/oder Refeudalisierung finden in den einschlägigen his-
torischen Forschungs- und Diskussionszusammenhängen heute ohnehin kaum noch Ver-
wendung, weil sie inhaltlich zu stark auf den Feudalismus bzw. das Lehenswesen des Mittel-
alters bezogen sind und damit die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts kaum angemessen
erfassen bzw. bezeichnen können.
7 Walther Rathenau: Zur Kritik der Zeit (1912). In: Ernst Schulin (Hg.): Walther Rathenau.
Hauptwerke und Gespräche. Bd. 2, München – Heidelberg 1977, S. 17–103, hier S. 33.
8 Artikel Aristokratie. In: Meyers Großes Konversationslexikon. Bd. 1, Leipzig – Wien 41888,
S. 812, und 61905, S. 762.
Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 71
Also ist alles Vergangene preisgegeben: denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel
Herr würde und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, be-
darf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist
und auf neuen Tafeln neu das Wort schreibt ›edel‹. Vieler Edlen nämlich bedarf es und
vielerlei Edlen, dass es Adel gebe!12
9 Siehe dazu Verf. u. a. (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kul-
turelles Konzept, 1890–1945, Köln 2013, darin insbesondere die Einleitung der Heraus-
geber: Dies.: Aristokratismus und Moderne 1890–1945. In: Ebd., S. 9–29. Das Folgende
stützt sich auf diese Einleitung.
Zwischen 2013 und 2016 wurde an der Universität Marburg in interdisziplinärer Koope-
ration (Eckart Conze/Geschichtswissenschaft und Jochen Strobel/Literaturwissenschaft)
das DFG-geförderte Forschungsprojekt »Aristokratismus. Historische und literarische
Semantik von ›Adel‹ zwischen Kulturkritik der Jahrhundertwende und Nationalsozialis-
mus« durchgeführt. S. dazu: https://www.uni-marburg.de/de/fb09/neuere-deutsche-literatur
/institut/personen/strobel/dfg-projekt-aristokratismus (letzter Zugriff am 13.1.2018). Aus
diesem Projekt ist mittlerweile hervorgegangen: Jan de Vries: Adelssemantik als Medium
von Kulturkritik, Marburg (Diss. phil.) 2017. Demnächst erscheint, ebenfalls aus dem Mar-
burger Projektzusammenhang: Verf. u. a. (Hg.): Aristokratismus und Kulturkritik. Vom
Wilhelminismus zum Nationalsozialismus, Köln 2018 (i. E.).
10 Stefan Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871–1945, Tübingen 1999, S. 30.
11 Siehe dazu Ulrich Sieg: Nietzsche als Stifter des Aristokratismus-Diskurses. In: Verf. u. a.,
Aristokratismus (Anm. 9), S. 61–76. Zu Nietzsches Bedeutung für den Diskurs um den
neuen Adel s. aber auch Andres, »Neuen Adel den ihr suchet« (Anm. 5), S. 545 f.
12 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders. Kritische Studienausgabe. Hg. von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4, München 1988, S. 254.
72 Eckart Conze
Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt mir Zeuger
und Züchter werden und Säemänner der Zukunft, – wahrlich, nicht zu einem Adel, den
ihr kaufen könntet gleich den Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Wert hat Al-
les, was seinen Preis hat. Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürderhin eure Ehre, son-
dern wohin ihr geht! [...] Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern
hinaus! Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater und Urvaterländern! Eurer Kinder Land
sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, – das unentdeckte im fernsten Meere!13
Hier verbindet sich Adelskritik mit Gesellschaftskritik. Zum einen wird der histori-
sche Adel kritisiert, der seine gesellschaftliche Stellung und sein Selbstverständnis
allein aus Geschichte und Tradition beziehe und daraus seinen Vorrang begründe.
Zum anderen wird aber auch eine Gesellschaft kritisiert, die sich diesen histori-
schen – herabgesunkenen – Adel zum Vorbild nimmt, ihm nacheifert und durch
Nobilitierung ihm anzugehören strebt. Dem stellt Nietzsche die Zukunftsgerichtet-
heit eines neuen Adels gegenüber, der dem Niedergang einer von altem Adel und am
Adel orientierten Bürgertum geprägten und in die Vermassung abgleitenden Gesell-
schaft entgegenwirken solle. Diese Zukunftsorientierung spiegelt sich auch in den
Begriffen von Zeugung und Zucht. Zeugung und Zucht werden hier gerade nicht im
Sinne rückwärtsgewandter Genealogie verstanden, sondern zielen auf die Schaffung
einer künftigen Elite. Es ist sicher richtig, dass Nietzsches Züchtungs- und Verede-
lungsideen nicht nationalistisch waren und dass man in ihm »keinen Vertreter eines
biologischen Darwinismus oder gar einen Vordenker der Rassetheorien« sehen
kann. Aber sein Vokabular war in diesem Sinne doch anschlussfähig. Popularisiert
und vulgarisiert wurde Nietzsche zu einer wichtigen Referenzfigur für – nicht nur
neuadelige – Züchtungsimperative, die sich rassistisch ausformten und sich auch mit
eugenischen Diskursen und Praktiken verbanden.14
Ewald Frie hat den Adelsbegriff als »Modelliermasse der Ordnungsdebatten des
19. Jahrhunderts« bezeichnet.15 Dies gilt, es sei wiederholt, bis weit ins 20. Jahr-
hundert hinein und gelangte erst mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen an
sein Ende. Während Frie jedoch im Zusammenhang mit einer »Entsubstantialisie-
rung« (Reinhart Koselleck) des Adelsbegriffs davon spricht, dass der Adelsbegriff
»zu einer bis ins Demokratische hinein instrumentalisierbaren Metapher« geworden
sei,16 behauptet Alexandra Gerstner in ihrer Studie über den »Neuen Adel«, die
von ihr untersuchten aristokratischen beziehungsweise aristokratistischen Elitekon-
13 Ebd., S. 254 f.
14 Andres, »Neuen Adel den ihr suchet« (Anm. 5), S. 546 f. (Zitat auf S. 546). Zu Nietzsche und
zur Nietzsche-Rezeption im Kontext der Jugendbewegung s. Christian Niemeyer: Mythos
Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, Weinheim – Basel 2015, vor allem S. 71–88.
15 Ewald Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze. In: Geschichte und Gesell-
schaft 33 (2007), S. 398–415, hier S. 399.
16 Ewald Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz, 1777–1837. Biographie eines
Preußen, Paderborn 2001, S. 35. Zur »Entsubstantialisierung« des Adels s. Reinhart Kosel-
leck/Christof Dipper: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart
Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper. In: NPL 43 (1998), S. 187–205, hier S. 200.
Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 73
17 Gerstner, Neuer Adel (Anm. 5), S. 21, 31 und 527 f. Vgl. auch Stefan Breuer: Ordnungen der
Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001.
18 Vgl. Verf.: Deutscher Adel im 20. Jahrhundert. Forschungsperspektiven eines zeithis-
torischen Feldes. In: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hg.): Deutscher Adel im 19. und
20. Jahrhundert, St. Katharinen 2004, S. 30.
19 Den Begriff der »Projektionsfläche« verwandte im Adels- bzw. Neuadelszusammenhang
zunächst Raimund von dem Bussche: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Po-
litisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. Er wurde seither vielfach aufgegriffen, zu-
letzt sogar titelgebend von Silke Marburg/Sophia von Kuenheim (Hg.): Projektionsflächen
von Adel, Berlin 2016. Kritik an dem Bild bzw. der Metapher und ihrer »vortheoretischen«
Verwendung übt jetzt Jan de Vries, der den Begriff »Projektionsfläche« zwar nicht völlig
verwirft, aber den Adel zusätzlich als »Projektionsquelle«, als Quelle insbesondere se-
mantischer Merkmale von Adel oder Adeligkeit betrachtet. Vgl. de Vries, Adelssemantik
(Anm. 9), S. 73–75.
20 Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radika-
lisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 46.
21 Charlotte Tacke: »Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf
die politische Geschichte zu vermeiden«. »Adel« und »Adeligkeit« in der modernen Gesell-
schaft. In: NPL 52 (2007), S. 91–123, hier S. 117.
74 Eckart Conze
stets auch Reaktionen auf individuelle und kollektive Verunsicherungen. Das war
ein gemeineuropäisches Phänomen, das sich allerdings in Deutschland wegen des
verlorenen Ersten Weltkrieg sozial breiter ausformte und wegen seiner vermeintli-
chen Rückwärtsgewandtheit größere Wirkung entfaltete, zumal es nach 1918 mit
dem Untergang der Monarchie, dem Ende der alten Dynastien und der verfassungs-
rechtlichen Entprivilegierung des Adels verbunden werden konnte.22
II.
Was bedeutet das nun für unser Bild der Jugendbewegung? Und können wir die Rolle
Stefan Georges in diesen Kontexten wenigstens näherungsweise bestimmen?23 Ne-
ben ›Wer je die flamme umschritt‹24 zählt wohl das im ›Stern des Bundes‹ gleich an-
schließende ›Neuen Adel den ihr suchet‹ zu den in der Jugendbewegung am meisten
zitierten und auch im bündischen Schrifttum immer wieder auftauchenden Versen
Georges. Hans Blüher, Ur-Wandervogel und erster Historiograph der Jugendbewe-
gung, beendete zwar nicht seine 1912 erschienene Geschichte des ›Wandervogels‹,25
wohl aber sein skandalheischendes und höchst umstrittenes zweibändiges Werk ›Die
Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft‹ (1917/19) mit Georges Adelsver-
sen.26 Das »Männerbundereignis«, wie Blüher es nannte, halte drei Lehren bereit: die
Lehre vom Staate des Menschen; die Lehre vom Bunde; und die Lehre vom Adel.27
Wesentliche Elemente des Aristokratismusdiskurses zwischen Jahrhundertwende
und Nationalsozialismus finden wir bei Blüher: die Distanzierung vom historischen
Adel, dem »Adel der Satzung«, wie Blüher ihn nennt, und stattdessen die Suche nach
dem wahren, dem echten Adel, verstanden als »Idee einer gesamtmenschlichen Vor-
22 Siehe dazu auch in einer vergleichenden Perspektive auf die Zeit um 1800 und die Zeit um
1900: Jan Andres: Romantik und Kulturkritik. Acht Thesen zu einem ideengeschichtlichen
Zusammenhang von Kritik und Krise. In: Study of the 19th Century Scholarship 7 (2013),
S. 121–136, bes. S. 129. In ähnlicher Perspektive s. auch Theo Jung: Adel und Epoche. Kul-
turkritik und Aristokratismus im deutschen Raum um 1800 und um 1900 im Vergleich. In:
Verf. u. a., Aristokratismus (Anm. 9) (i. E.).
23 Die Konzentration auf George wird der Breite und Bedeutung der Thematik »Adelsvor-
stellungen/Adelskonzepte in der Jugendbewegung« kaum gerecht, die eine systematische
Untersuchung verdiente. In eine solche müssten beispielsweise auch jene völkisch-ras-
sistischen Adels- beziehungsweise Neuadelsvorstellungen einbezogen werden, wie wir sie
beispielsweise bei den ›Adlern und Falken‹ (Zuchtadel), bei den ›Artamanen‹ (Bauernadel),
den ›Geusen‹ oder zum Teil bei den ›Hochschulgilden‹ finden. Das würde die Möglich-
keiten dieses Beitrags bei Weitem sprengen. Vgl. dazu beispielsweise Breuer, Politische
Rezeption (Anm. 2), S. 1194.
24 Die Geschichte dieses George-Bezugs bei Angehörigen der Jugendbewegung ist noch nicht
systematisch untersucht. Siehe aber in biographischer und autobiographischer Perspektive
die zahllosen Hinweise in Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu auto-
biographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttin-
gen 2013.
25 Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, Berlin 1912.
26 Hans Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, 2 Bde., Jena 1917 und
1919.
27 Ebd., Bd. 2, S. 217.
Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 75
züglichkeit, die zur Herrschaft über das Volk berufen ist«. Denn »Volk an sich«, so
Blüher in antidemokratischer Wendung, »kann weder über sich noch über andere
Völker herrschen«.28 Nicht der kastenartig abgeschlossene alte Adel sei zur Herr-
schaft berufen, sondern eine bündisch, männerbündisch vergemeinschaftete Anzahl
von Individuen, zur Selbstergänzung immer auf der Suche »nach neuen Geburten
aus dem Volke«.29 Erst dieser »keimende Bund« werde »den wirklichen Adel ge-
bären, mit ihm die wirkliche Aristie und die wirkliche Herrschaft. Wer aber dieser
Adel ist«, so endet Blüher, der sich nicht nur an dieser Stelle explizit auf den Dichter
bezog, »das sagen die Worte Georges«. Und dann folgt das bekannte Gedicht, das
nicht nur in seinen ersten Versen zentrale Elemente des Neuadelsdiskurses formu-
liert: »Neuen adel, den ihr suchet / Führt nicht her von Schild und Krone!« Und
später dann: »Stammlos wachsen im gewühle / Seltne sprossen eignen ranges / Und
ihr kennt die mitgeburten / An der augen wahrer glut.«30
Mit der Autorität Georges und durch die Übernahme seines Elitegedankens soll-
te eine hierarchisch gestufte Gesellschafts- und Herrschaftsordnung neu begründet
und legitimiert werden. Deutlich wird hier, darauf hat Barbara Stiewe hingewiesen,
dass Adel und Aristokratismus Schlüsselbegriffe nicht nur für die Beschreibung und
Analyse des George-Kreises selber sind, mit denen sich der Habitus der Mitglieder
und in gewisser Weise auch die Sozialstruktur des Zirkels fassen lassen, sondern
dass gerade in diesen Begriffen, in Georges Lyrik und zum Teil wohl auch in den
Schriften seiner Schüler, das gemeinschaftliche Gesellschafts- und Menschenbild
sichtbar wird, die Utopie eines »neuen Adels«, die über den engeren Kreis hinaus
gesellschaftliche Wirkung zeigen sollte.31 Und die semantische Überhöhung nicht
zuletzt des Adelsbegriffs in Georges Dichtung half den bündischen Gruppierungen
mit ihrem elitären Anspruch, um nach 1918 kulturell distinkt zu bleiben, um Iden-
tität und Alterität zu bestimmen, Solidaritäten und Grenzen.32
Barbara Stiewe hat auch auf die typologischen Qualitäten des Adelsbegriffs
aufmerksam gemacht33 und damit zugleich auf seine Attraktivität in der Jugend-
bewegung, nicht zuletzt in der und durch die George-Rezeption. Da ist zunächst der
»genealogische« Aspekt. Adelige können auf eine Genealogie, einen »edlen« Stamm-
baum zurückblicken, der sie von der breiten Masse absetzt. Das bedeutet nicht unbe-
dingt ein familiengenealogisches Verständnis wie im alten Adel; eher ging es dabei
um Auslese oder Zucht der Besten zur Elitenbildung. Das meinte auch Hans Blüher,
der dem »Nominaladel« vorhielt, keinen Bund gehabt zu haben: »Er war eine Kaste,
statt eine Rasse zu sein.«34 Rassistische Züchtungsimperative mit fließenden Über-
gängen zu regelrechten Züchtungsprojekten im Sinne der Eugenik waren in der
Jugendbewegung insbesondere der Zeit nach 1918 zwar nicht weit verbreitet, aber
doch auch nicht völlig marginal. Erwähnt sei hier nicht zuletzt der nationalistische
und antisemitische, aus dem ›Wandervogel‹ hervorgegangene Bund der ›Adler und
Falken‹ um seinen Führer – »Bundesvater« – Wilhelm Kotzde.35
Adelige pflegen des Weiteren einen spezifischen adeligen Habitus, der auch über
kollektive Riten und Verhaltenskonventionen bestimmt ist.36 Dies korrespondierte
gut mit dem kulturkritischen Geist der Jugendbewegung, für die Rituale und Ri-
tualisierungen schon in der Frühphase konstitutiv und bestimmend waren und ver-
gemeinschaftend wirkten. Das intensivierte sich nach dem Ersten Weltkrieg und vor
dem Hintergrund von Kriegs- und Revolutionserfahrung und angesichts der Wei-
marer Demokratie noch weiter, als viele Jugendliche nach festen und dauerhaften
Bindungen suchten – als Ersatz für die verpasste und verklärte militärische Kame-
radschaft, aber auch als Gegenwelt zu der als vereinzelnd, ja atomisierend wahrge-
nommenen Massengesellschaft, insbesondere der liberal-demokratischen, pluralis-
tischen Massengesellschaft der Weimarer Republik. Das ging über Adelsbezüge im
engeren Sinne weit hinaus, erklärt aber die Attraktivität eines semantischen Feldes,
einschließlich einer ganzen Bilderwelt, mit dem Adel im Zentrum, aber darüber
hinaus mit Rittern und Helden, mit Orden und Burgen, für das Georges Dichtung
zahlreiche Bezugspunkte bot – bis hin zu den »entzückten fehden und berauschten
fahrten« im ›Stern des Bundes‹, Bilder und Begriffe, die Erinnerungen aufrufen
an adelige Praktiken und Codes des mittelalterlichen Rittertums, an Turniere und
»Aventiuren«, bei denen junge Adelige ihre edle Gesinnung und ihre körperlichen
Tugenden unter Beweis zu stellen hatten, um sich der Adels- oder Rittergesellschaft
als würdig zu erweisen.37
Und schließlich implizierte das Reden vom Adel beziehungsweise vom Neuadel
stets auch einen Anspruch auf Deutungshoheit und Führungsaufgaben innerhalb
der Gesellschaft.38 Es begründete und legitimierte streng hierarchische Strukturen in
der bündischen Gemeinschaft, einschließlich der Idee von Führer und Gefolgschaft,
übertrug solche Hierarchievorstellungen aber auch über die Gruppen und Bünde
hinaus in die Sphäre staatlich-politischer Ordnung. Mit der Vorstellung und Praxis
charismatischer Herrschaft beziehungsweise charismatischen Führertums ließ sich
das gut verbinden. In der Georgeschen Formel vom »Neuen Reich« schwang dies
von Beginn an mit, was die Attraktivität eines weiteren George-Gedichts in der Ju-
III.
43 Vgl. Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur
Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 49.
44 Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1978, S. 150 f.
45 Zum Bund deutscher Neupfadfinder s. zum einen, mit Dokumenten unterfüttert: Kindt,
Jugendbewegung (Anm. 35), S. 389–438 (mit einer »Kurzchronik«, S. 389–392, von Karl
Seidelmann), zum anderen Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 35), vor allem S. 99–103.
46 Zu Habbel und Voggenreiter und ihrem Verlag s. Justus Ulbricht: Ein »Weißer Ritter« im
Kampf um das Buch. Die Verlagsunternehmen von Franz Ludwig Habbel und der Bund
Deutscher Neupfadfinder. In: Walter Schmitz/Herbert Schneidler (Hg.): Expressionismus
in Regensburg. Texte und Studien, Regensburg 1991, S. 149–174.
47 Zu Martin Voelkels Biographie s. ebd., S. 100 und 416.
Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 79
finder‹ äußerten, richtete sich vor allem gegen eine zu große Nähe zum Weimarer
Staat. Nicht »Staat« war der politische Zentralbegriff der Neupfadfinder, sondern
»Volk«, Volkstum Volksgemeinschaft sowie »Deutschtum« (als ein bedrohtes Ideal
in zum Teil antisemitischer Wendung und nicht selten in Verbindung mit einer va-
gen Idee des »Reiches«).48
Mit einem Gelöbnis stellten sich die »Neudeutschen Pfadfinder«, wie sie sich zu-
nächst nannten, im Sommer 1919 auf Schloss Prunn im Altmühltal in die Tradition
der deutschen Jugendbewegung: »Wir Pfadfinder wollen jung und fröhlich sein und
mit Reinheit und innerer Wahrhaftigkeit unser Leben führen. Wir wollen mit Rat
und Tat bereit sein, wo immer es gilt, eine gute und rechte Sache zu fördern. Wir
wollen unseren Führern, denen wir Vertrauen schenken, Gefolgschaft leisten.«49 Das
erinnerte einerseits bewusst an die »Meißner Formel« von 1913, schlug aber in der
Verwendung des Führerbegriffs und dem Begriffspaar »Führer« und »Gefolgschaft«
auch eine andere Saite an. Zur Programm- und Führungsschrift der ›Neupfadfinder‹
wurde ›Der Weiße Ritter‹, und »Reinheit und Ritterlichkeit der Gesinnung« schrie-
ben sich der neue Jugendbund und seine Zeitschrift (mit einer Auflage von ungefähr
2000 Exemplaren) als Zielsetzung auf ihre Fahne.50 Schon die Figur des »Weißen
Ritters« war ein mythisch aufgeladenes Symbol; Bezüge zu Dürers Ritter, dem häufig
in weißer Rüstung dargestellten Heiligen Georg, den Deutschordensrittern mit ihren
weißen Umhängen und dem Gralsritter Parzival liefen in ihr zusammen und schufen
große Assoziationsräume und -möglichkeiten.51 Barbara Stambolis hat einmal ganz
allgemein von der »ausgeprägten Mythenempfänglichkeit« der Jugendbewegung der
1920er Jahre gesprochen; für die ›Neupfadfinder‹ und den ›Weißen Ritter‹ gilt das
fraglos in ganz besonderer Weise.52
Mit seiner Schrift ›Hie Ritter und Reich!‹ aus dem Jahr 1921 lieferte der Neupfad-
finder-Führer Martin Voelkel seinem Bund nicht nur eine pathetisch-mystifizierende
Grundschrift.53 Die reiche Bilderwelt des Rittertums, so die Bewertung bei Rüdiger
Ahrens, auf den ersten Blick vielleicht spielerisch-naiv oder einfach phantasievoll
wirkend, die unwirklichen und deutungsbedürftigen Bilder und Begriffe – Ritter,
Heiliges Reich, Gral, Erlösung oder die Trias »Jugendbewegung, Volksfrühling, Wel-
tenwende«54 – sie waren Programm; sie bauten auf die »Mythenempfänglichkeit«
der Jugend und politisierten sie.55 Für Voelkel war klar, »dass diese Ritterschaft ihre
Sendung erfüllt, indem sie das deutsche Schicksal entschlossen bejaht und dabei
weder vor äußeren noch vor inneren Feinden zurückbebt, auch weder von Abend-
noch Morgenland sich verführen lässt, vielmehr aufbricht für das heilige Reich; und
dass sie dies tut, weil sie die Gnade erkoren und zum Hüter des Grals bestellt; weil
sie dem neuen Menschenbild, dem Weißen Ritter, in Zucht und Treue dient.«56 Vom
Reichsgedanken zur antiwestlichen und antiöstlichen Ausrichtung, von Zuchtvor-
stellungen zu germanisierenden Treueideen, von Mittelalterbezügen zu pseudo-
religiösen Überhöhungen: In Voelkels Text taucht weit über den Neuadelsdiskurs
die komplette bildhaft-assoziative Vorstellungwelt jugendbewegter Kultur- und Ge-
sellschaftskritik und bündischer Selbstvergewisserung auf – vage und leer in ihren
Formeln, aber deswegen umso atttraktiver für ihr junges und suchendes Publikum.
›Von Gral und Reich. Vom Volk und Adel‹ hieß ein »Weihespiel« von F. W. Koob,
das auf den »Ritterabenden« der Neupfadfinder einen festen Platz hatte. Parzival-
Bezüge sind evident, ein Notenauszug aus der Wagner-Oper ist dem Text voran-
gestellt. Glocken rufen die Ritterschaft »zum Dienst« und »zur Feier«. Die Ritter
selbst beziehungsweise ihre Darsteller tragen weiße Gewänder, umgürtet mit dem
Schwert, dem »Sinnbild (...) des Höchsten« und »aller Treue«. Eine Flamme wird
beschworen, denn: »Opferflammen bringen das Heil« – eine Verschmelzung von
Opfer- und den in den Jugendbünden gängigen Flammen- und Feuerritualen.57
Rittertum und »neuer Adel« gingen bei Voelkel ineinander über: »So wächst auch
heute aus denen, die zur Ritterschaft erkoren sind, und ihre Sendung auch im Sturm
der Zeiten treu bewährt haben, das Bild des Menschen reiner und höher empor. Und
dies inwendige Sein, das allein Adel verleiht, dies neue Menschenbild zu schützen
und zu krönen, geben wir uns in strengen Dienst und nehmen wir uns in herbe
Zucht.«58 »Dienst« und »Zucht« – einmal mehr waren damit zentrale Elemente einer
auch von George bestimmten Neuadeligkeit benannt. Und auch andere Aspekte sind
uns bereits begegnet: »Die in der Burg des ›Weißen Ritters‹ als sein Gefolge weilen,
die sind von ihm erkoren und streben, seiner wert zu sein. Sie kennen einander mehr
an Haltung, Blick und Gebärde, denn an Abzeichen und Namen. Sie sind gebunden
aneinander mehr durch Liebe und Treue, denn durch Satzung und Form. [...] Sie
achten niemand um Titel und Besitz, sondern leben gemeinsam als Brüder und be-
reiten sich würdig auf gemeinsamen Heldentod.«59 Im neuadelig bestimmten Bund
formen sich persönliche Beziehungen in doppelter Richtung aus: einmal horizontal,
durch wechselseitige Anerkennung und Freundschaft, ja Liebe; das ist die Idee der
Bruderschaft, zum Teil mönchisch gedacht; dann aber auch vertikal, durch die frei-
willige Unterordnung unter einen selbstgewählten, meist charismatischen Führer.60
Man kann vermutlich auch den George-Kreis selbst in dieser Beschreibung erken-
nen, der in diesem Sinne zumindest indirekt formbildend und sinngebend wirkte.61
Auch Voelkels Neuadel war ein Adel der Jugend: »Aber es gibt eine Jugend, [...]
die unter dem Zwang eiserner Jahre das Heldenbild nur fester in sich bewahrte«,62
um nun als »Ritter des neuen Reiches die Jungmannschaft des deutschen Volkes
zu bilden«, um das »neue Reich« als ein von der »Gewissheit des Schönen« durch-
drungenes Jugendreich zu errichten.63 Dass man dabei George vor Augen hatte, lässt
sich nicht nur indirekt schließen, sondern man kann es lesen, beispielsweise in einer
Besprechung von Friedrich Gundolfs George-Buch im ›Weißen Ritter‹ 1922, in der
es hieß, die Zeit sei nicht ferne, »wo man erkennen wird, dass eben die Jugend-
bewegung das Volk ist, dessen Kommen George geschaut hat, und dass hier, wenn
irgendwo, eine Gesamtheit erwächst, die Träger der neuen Kultur zu sein berufen
ist«.64
Zwar kam es über die Ritterbezüge auch zu einer Sakralisierung der bündischen
Neuadelsvorstellungen, weil es in vielen Fällen Kreuzritter waren, denen man nach-
eiferte, Kreuzritter und immer wieder auch Deutschordensritter. Rittersemantik und
Rittermetaphorik verschmolzen mit Kreuzzugssemantik und Kreuzzugsmetapho-
rik. Das trug sakrale, zum Teil pseudo-religiöse Züge, unterstrich jedoch zugleich
das Ideal der Wehrhaftigkeit, das sich in der konkreten Situation der 1920er Jahre,
nach dem Versailler Vertrag mit seinen territorialen Bestimmungen und angesichts
von Grenz- und Volkstumskämpfen gerade in Ostmitteleuropa (Baltikum, Polen,
Tschechoslowakei) völkisch-nationalistisch, antipolnisch, antitschechisch oder,
noch deutlicher rassistisch, antislawisch aufladen konnte.65 Als 1922/23 Vertreter
der ›Neupfadfinder‹ um Martin Voelkel die Initiative zu einem »Hochbund« er-
griffen, einem Zusammenschluss verschiedener bündischer Gruppierungen, stieß
man bei den anderen Bünden auf deutliche Skepsis. Immerhin aber einigte man sich
im April 1922 bei einem Treffen auf der Wartburg, »dieser geweihten Stätte«, auf
eine forcierte »Grenzlandarbeit«. »Grenzlandfahrten« vor allem in Richtung Osten
sollten durchgeführt werden und zeitlich koordinierte »Grenzfeuer« wollte man ab-
brennen.66 Und man verständigte sich auf ein gemeinsamen »Fahrtenwimpel« für
diese »Grenzlandfahrten«: das schwarze Balkenkreuz auf weißem Grund, das Sym-
bol des Deutschen Ritterordens.
Im Jahr danach, 1923, zehn Jahre nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner, for-
mierten sich die ›Neupfadfinder‹ gemeinsam mit Vertretern von 25 weiteren Bünden
bei einem »Grenzfeuer« im Fichtelgebirge in ganz bewusster Absetzung von den
»Freideutschen« mit ihrem »Individualismus« und ihrer »Uneinheitlichkeit« als ein
aristokratischer Wehr- und Kampfverband.67 Dazu Martin Voelkel:
Und der weiße Wimpel mit dem schwarzen Balkenkreuz wird weiter in der deutschen
Jugend wehen. [...] Das Bild des Ordens hält er in der Jugend wach mit seiner Verpflich-
tung zur Kameradschaft, zur Gefolgschaft und Ehrfurcht vor dem, was uns heilig ist. Er
ruft zum Ostlandritt und mahnt zum Opfersinn. Er ladet die Jugend zur Totenfeier für
die Helden des großen Krieges im kommenden Jahre. Möge er uns voranwehen zum
Freiheitskampf auf allen Fronten gegen eine alte Welt und zum Siegeszug in das Neue
Reich!68
IV.
Denk- und Sprachfiguren wie »Neues Reich« oder »Neuer Adel« waren weit ver-
breitet, ja geradezu omnipräsent in den Bünden und Gruppen der Jugendbewegung,
vor allem in den Jahren nach 1918. Sie waren Chiffren, in denen, zum Teil mythi-
sierend und überaus vage, der »Anspruch auf eine umfassende Neugestaltung der
Gesellschaft« zum Ausdruck gebracht wurde.69 Das war kein konkretes politisches
Programm, artikulierte aber doch ein massives Unbehagen in der Gegenwart, das
sich in vielen Fällen zu einer radikalen Ablehnung von liberaler Demokratie, Parla-
mentarismus und Pluralismus steigerte und sich mit Vorstellungen charismatischen
Führertums und autoritärer Herrschaft beziehungsweise Staatlichkeit verband. Zur
Delegitimierung und damit Destabilisierung der Weimarer Republik trug das ent-
scheidend bei: und dies nicht in ihren Anfangsjahren und dann wieder verstärkt in
ihrer Agonie ab 1929/30, sondern durchgehend.
Stefan George war mehr als nur ein Stichwortgeber in diesen neuadeligen Dis-
kursen. Seine Dichtung ästhetisierte Begriffe wie »Neues Reich« und »Neuer Adel«,
gab Neuadelsvorstellungen literarische Form, verlieh ihnen dadurch zum einen
künstlerische Qualität und Anspruch, machte sie aber zum anderen genau dadurch
attraktiv und vor allem anwendbar für die bündische Kultur mit ihren Ritualen, ih-
ren rituellen Praktiken.70 Georges Verse – vermutlich nur eine Handvoll Gedichte –
wurden am Feuer gelesen, bei Feierstunden rezitiert, in Feuerreden und Laienspiele
(Weihespiele) integriert und hatten ihren festen Platz im Schrifttum der Bünde, nicht
68 Martin Voelkel: Zweites Bundesfest der Neupfadfinder und Grenzfeuer der vereinigten
deutschen Jugendbünde im Fichtelgebirge. In: Freiheit und Sendung (Sonderheft des
›Weißen Ritters‹, August/September 1923), auszugsweise abgedruckt in: Kindt, Jugend-
bewegung (Anm. 35), S. 415–418, hier S. 418. Konkret wies das natürlich auf die für das
Jahr 1924 bereits absehbaren Langemarck-Feiern anlässlich der zehnten Wiederkehr dieses
Ereignisses hin. Auf die Bedeutung von Langemarck-Feiern in den Bünden der Jugend-
bewegung, die sich im Laufe der Zeit zu einem regelrechten Langemarck-Kult entwickelten,
in dem sich die Ideale der Opferbereitschaft und der Wehrhaftigkeit verbanden, sei hier
nur am Rande hingewiesen. Siehe dazu aber Arndt Weinrich: Hitler-Jugend und Pfadfin-
derbewegung. Schnittmengen und Differenzen am Beispiel des Langemarck-Gedankens.
In: Verf./Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee
aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 53–66; in weiterer Perspektive siehe ders.:
Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus,
Essen 2013. Zum Ideal der Wehrhaftigkeit in den Jugendbünden der Jahre nach dem Ersten
Weltkrieg siehe auch Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 35), S. 141–156.
69 Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des
jungkonservativen »Ring«-Kreises 1918–1933, Berlin 2000, S. 21.
70 Vgl. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 30), S. 46.
Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918 83
nur, wenn auch dort besonders ausgeprägt, der ›Neupfadfinder‹ und ihres ›Weißen
Ritters‹. Formeln wie die vom »Neuen Reich« oder vom »Neuen Adel« und die mit
ihnen verbundenen Vorstellungen schlugen Brücken aus der Dichtung Georges in
die jugendbewegten Bünde; der Rückgriff auf George »adelte« die Subkultur der
Bünde, er nobilitierte ihre kulturellen beziehungsweise ästhetischen Praktiken. Und
Georges Dichtung und seine Formeln waren offen genug, um sich entweder mit den
unterschiedlichsten politischen Ideen und Vorstellungswelten verbinden zu lassen
oder aber sich einer politischen Konkretisierung entziehen zu können. Georges Ly-
rik war, wie Rainer Kolk schon vor Jahren festgestellt hat, stets beides: Gegenstand
ritualisierter Rezitationen und semantisch überhöhtes Selbstdeutungsmuster.71
Zu den Aristokratismen der Zeit nach 1918 gehören die Adels- beziehungswei-
se Neuadelsvorstellungen und die mit ihnen integral verbundenen Praktiken der
Jugendbünde zwingend hinzu. Zentrale Elemente bündischer Gemeinschaft ließen
sich mit der Idee des Adels oder Neuadels in Verbindung bringen: der Eliteanspruch,
das Führerprinzip, eine hierarchische Ordnung (des Bundes und der Gesellschaft),
Idee und Praxis des Männerbunds, das Ideal der Wehrhaftigkeit und schließlich
der Anspruch, Avantgarde zu sein: nicht den historischen Adel, im Niedergang be-
griffen, nachahmend, sondern als »neuer Adel« auf dem Weg ins »neue Reich«, in
eine harmonische, eine ganzheitliche Gesellschaft, die im Großen nach dem Vor-
bild des Bundes im Kleinen Gestalt annehmen sollte. Mit den Gesellschafts- und
Herrschaftsvorstellungen des Nationalsozialismus war das kompatibel, und fraglos
gehörte auch das zu den Faktoren, die uns die Reaktion der Bünde und vieler einzel-
ner Bündischer auf den Nationalsozialismus – vor wie nach 1933 – erklären helfen.
Denn das Ende von Neuadelsvorstellungen war 1933 keineswegs erreicht. Das zeigt
ein Blick auf die SS,72 aber eben auch, ganz anders gewendet, auf den nationalkon-
servativen Widerstand, nicht zuletzt die Brüder Stauffenberg, deren politische Vor-
stellungswelt fraglos zentrale Elemente eines sowohl bündischen wie auch george-
schen Aristokratismus enthielt.
Seit einigen Jahrzehnten hält sich hartnäckig das Gerücht, Stefan George sei in den
Gruppen und Bünden der deutschen Jugendbewegung viel gelesen worden, ja man
könne ihn gar als den Dichter der Jugendbewegung bezeichnen.1 Ähnliches wurde
allerdings schon vom deutschnationalen Burschenschaftler und Offizier Walter Flex
behauptet, der nie ein Wandervogel gewesen ist, jedoch mit seinem »Wanderer zwi-
schen beiden Welten«2 mehr Jugendbewegte erreicht haben dürfte als George mit
seiner hoch artifiziellen, oftmals nur Eingeweihten verständlichen Lyrik.
Mit Vorsicht zu genießen ist folglich auch der folgende Rezeptionsbeleg. Im Jahr
1963, zum 50. Jahrestag des Festes auf dem Hohen Meißner, lässt Fritz Jöde sei-
nen Beitrag zur Jugendmusikbewegung mit den berühmten Zeilen aus dem ›Stern
des Bundes‹ ausklingen, die immer wieder als Beleg für die George-Rezeption im
1 Die große Dokumentation von Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920
bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, nennt im Übrigen auf 1840 Seiten we-
der George noch Gundolf, Wolters oder Wolfskehl. Die Dokumentation zur »Wandervo-
gelzeit« (Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919), Düsseldorf – Köln
1968, räumt George zumindest den Raum für eine Kurzbiographie ein (S. 1041). Dort heißt
es dann: »Die herbe Männlichkeit seines Werkes, seine Bejahung des Leibes (›Maximin‹
1906) und seine sich vom Alltag absetzende prophetische Verkündigung (›Der siebente
Ring‹ 1907 und ›Der Stern des Bundes‹ 1913) trieb zahlreiche [sic!] nach neuen Lebens-
formen ausschauende junge Menschen in die Reihen der Anhänger des Meisters.«
2 Der Wirkung dieses Buches nachgespürt hat zuerst der Verf.: Der Mythos vom Heldentod –
Entstehung und Wirkung von Walter Flex’ »Der Wanderer zwischen beiden Welten«. In:
Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 16, 1986–1987, S. 111–156.
86 Justus H. Ulbricht
3 Fritz Jöde: Die singende Jugend und die Musik. In: Die Jugendbewegung. Welt und Wir-
kung. Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düssel-
dorf – Köln 1963, S. 59–66; George-Zitat S. 66.
4 Elisabeth Korn: Das neue Lebensgefühl und die Gymnastik. In: Die Jugendbewegung. Welt
und Wirkung (Anm. 3), S. 101–119; Zitat S. 110.
5 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 400.
6 Vgl. Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung.
Neue Folge. Bd. 3, 2006: Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Schwalbach/Ts. 2007.
7 Ernst Robert Curtius: Kritische Essays zur europäischen Literatur, Bern 1954, S. 148. – Auf
dem Meißner hat sich die Jugendbewegung freilich nicht zusammengeschlossen, sondern
einige Gruppen und Bünde trafen sich 1913 nur dort. In Winfried Mogge/Jürgen Reulecke
(Hg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen
und Bildern, Köln 1988, taucht George noch nicht einmal namentlich auf.
8 Wichtige Hinweise zu den Beziehungen George – Jugendbewegung bei Stefan Breuer: Po-
litische Rezeption. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurn-
hammer u. a., Berlin – Boston 2012, 3 Bde., Bd. 2, S. 1176–1225; insbes. S. 1199–1212.
George-Splitter in zerrissener Zeit 87
›Ich weiß von dem schönen Jungen‹, erwiderte er [George], ›er ist mit einem der älteren
Freunde verwandt. Er ist nicht aus schlechtem Holz, aber er ist verdorben, bis in den
Grund verdorben. Merken Sie sich: wer aus Wickersdorf kommt, ist hoffnungslos ver-
dorben.‹ George sagte, er kenne unser Aller Neigung zu Freien Schulgemeinden [...].
Aber allerdings seien wie die menschlichen Möglichkeiten, so auch die menschlichen
Gefahren der Schulgemeinden größer; alles hänge hier von der Person, dem Charakter,
dem Geist des Leiters ab: ›Wyneken ist ein dürrer Rationalist ohne Glauben und ohne
Erfurcht. Wer durch seine Schule geht, hat die Grundeigenschaft verlernt, mit der in
jeder pädagogischen Provinz das Leben beginnt.‹9
Manche Führer der Jugendbewegung meinten, der Vortrag von Gedichten Hölderlins
und Georges bei ihren Wanderungen und Feiern verbinde sie mit der Dichter-Jugend,
und besonders von den Freien Schulgemeinden aus wurden vielfältige Anknüpfungen
versucht. Aber nicht nur das Wissen des Meisters, daß der langjährige Einfluß falscher
Erzieher niemals auszugleichen, ein heillos verbogenes Wesen nicht mehr gerade zu
richten sei, verhinderte auf die Dauer alle sinnlose, ja schädliche Vermischung, sondern
vielleicht stärker noch die nachsichtig gewährende Art, mit der George allzu Schwerhö-
rige in ihre eigenen, schlechten Erfahrungen hineintappen ließ, und der nicht gerade
tröstliche, aber sehr heilsame Hohn, mit dem er sie beim Auftauchen begrüßte. Wir
Jüngeren erlebten dies zuerst 1914, als in Heidelberg Paul Reiner, ein Schüler Wynekens,
Vielen von uns, auch Gundolf, freundschaftlich nahe trat. George verabscheute das dok-
trinäre Gehaben [sic!] von Wynekens Schule und warnte, Reiners blinde Ergebenheit
zu seinem Lehrer als menschlichen Vorzug anzuerkennen – Ergebenheit gegen einen
dürren und aufgeblasenen Schulmeister sei eher bedenklich als rühmlich. Wir haben
die Warnung nur mit halbem Ohr gehört. Aber es dauerte nicht lange, bis Reiner selbst
die Notwendigkeit einer Entscheidung erkannte und – uns verließ.10
9 Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München – Düsseldorf 1954,
S. 32 f.
10 Salin, Um Stefan George (Anm. 9), S. 242. – Zu Paul Reiner s. die Kurzbiographie bei Pe-
ter Dudek: »Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe!« Der Reformpädagoge
Gustav Wyneken (1875–1964) – eine Biographie, Bad Heilbrunn 2017, S. 155. »Dr. Paul
Reiner (1886–1932). Er war von 1919 bis 1925 Lehrer an der FSG und ging im März 1925
zusammen mit Luserke nach Juist, um dort die ›Schule am Meer‹ zu gründen, die er zeit-
weise auch leitete. Seine Frau Anni Reiner, geb. Hochschild, (1891–1972) arbeitete in
Wickersdorf u. a. als Krankenschwester. Reiner, der auch um 1910 kurzzeitig Schüler in
Wickersdorf gewesen war, kam aus der Jugendbewegung und war Mitbegründer des ersten
deutschen Abstinenten-Jugendbundes und des süddeutschen Wandervogels. 1910–1913
Studium der Fächer Chemie, Mineralogie, Physik, Soziologie und Philosophie in München
und Heidelberg, dort Assistent von Alfred Weber. Zeitweilig Mitglied im Kreis um Stefan
George, dann für kurze Zeit Lehrer an der Odenwaldschule. 1919 Vorstandsmitglied der
›Entschiedenen Jugend‹, Mitarbeiter von Karl Korsch im thüringischen SPD-KPD-Kabi-
nett. 1920 vertrat er zusammen mit Wyneken die FSG Wickersdorf auf der Reichsschul-
konferenz. Reiner entwickelte sich später zu einem entschiedenen Gegner Wynekens, was
dieser und seine Anhänger als »Verrat« interpretierten. Paul Reiner starb nach längerer
Krankheit am 02.11.1932 in Zürich.«
88 Justus H. Ulbricht
Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, ob Georges harsche Kritik an Wyneken und
Wickersdorf mit der Konkurrenz zweier Propheten zu tun hat, zweier charismati-
scher Führungsfiguren in Zeiten kultureller Des- oder Neuorientierung mithilfe der
Literatur und der Pädagogik. Die jüngste kritische Wyneken-Biographie jedenfalls,
in der die diversen Rollenmuster und Habitus-Formen des Reformpädagogen – der
eher ein Heilsbringer als ein pragmatischer Erzieher sein wollte – Thema sind, legt
eine gewisse Verwandtschaft mit dem Denken und der Selbstinszenierung Georges
nahe.11 Eines aber wird hier ebenfalls klar: Jugendbewegung war beides nicht.12
Schaut man in den jugendbewegten Blätterwald – was bisher in der Forschung
freilich nur exemplarisch oder kursorisch geschehen ist – dann ist man versucht, so
heterogene Autoren wie Friedrich Hölderlin,13 Carl Spitteler, Hermann Hesse oder
Hermann Löns ebenfalls als Dichter der Jugendbewegung einzuschätzen – von zu-
meist nur in völkischen Kreisen bekannten Größen wie Gertrud Prellwitz, Georg
Stammler oder Wilhelm Kotzde-Kottenrodt einmal abgesehen.14
Walter Laqueur, Angehöriger der Erlebnisgeneration und früher Chronist der
Jugendbewegung, schrieb 1962 apodiktisch:
Wiltfeber, Helmut Harringa und Ernst Wurche waren die Heroen der Jugendbewegung.
Aber nicht die einzigen: in den Kriegsjahren begann man sich merklich von der kon-
ventionellen Lektüre zu entfernen und literarischen Geschmack zu entwickeln. Die
Wandervögel hatten keine großen literarischen Ambitionen, doch unter dem Einfluß
der Studenten in der Freideutschen Jugend dominierten nach und nach die führenden
Schriftsteller und Dichter in der Jugendbewegung: Stefan George und Hugo von Hof-
mannsthal, Rilke und Hermann Hesse, Spitteler und Trakl.15
Zu vermuten ist, dass Laqueur hier eigene literarische Interessen oder den Wandel
seines persönlichen Leseverhaltens thematisiert hat. Denn ›Wiltfeber‹, ›Harringa‹
und Walter Flex’ ›Wurche‹ waren aus Herzen und Köpfen der Nachkriegsjugend-
bewegung nach 1918 nicht einfach verschwunden, vor allem im deutschnationalen
oder völkischen Gruppenspektrum nicht. – Im Jahr 1914 war in der radikal anti-
semitischen ›Wandervogelführerzeitung‹ Stefan George – gemeinsam mit Hugo von
Hofmannsthal – sogar als Jude ›enttarnt‹ und in die Reihe der dort stigmatisierten,
angeblichen Volksschädlinge eingereiht worden.16 Ein Blick ins jugendbewegte
»Landheim« auf der großen internationalen Buch-Welt-Ausstellung in Leipzig, der
BUGRA 1914, würde überdies sehr deutlich zeigen, dass die Literatur- und Text-
rezeption der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg sich höchst heterogener,
weltanschaulich und ästhetisch vielgestaltiger und damit auch widersprüchlicher
Sinn- und Textwelten zu bemächtigen wusste.17 Und was die älteren, gar erwachse-
nen Führer lasen oder schätzten, musste vom Fußvolk nicht unbedingt zur Kenntnis
genommen oder gar goutiert werden.
Für die Kohäsion der Gruppen, Bünde und Fähnlein spielten Abenteuer und Ein-
drücke auf der Fahrt und im Lager eine offensichtlich bedeutend wichtigere Rolle als
Lektüreerlebnisse – weshalb jedoch die Wirkung einzelner Texte oder Textfragmente
im Kontext konkreter Gruppenerlebnisse nicht unterschätzt werden sollte. Doch
auch hier waren es eher persönliche Gespräche und vor allem gemeinsame Gesän-
ge,18 die bleibende Eindrücke hinterließen und in den Erinnerungen älter gewor-
schichte eines Heimatsuchers, Leipzig 1912; Hermann Popert: Helmut Harringa. Eine Ge-
schichte aus unserer Zeit, Dresden 1910; und den Protagonisten Ernst Wurche aus Flex’
›Der Wanderer zwischen beiden Welten‹. Alle diese Bücher wurden viel gelesen, noch mehr
aber fragmentarisch zitiert. Nicht zuletzt manch Erwachsener glaubte, in den Helden dieser
Bücher das Bild »deutscher Jugend« idealtypisch verkörpert zu sehen.
16 Vgl. Carl Boesch: Not und Pflicht. In: Wandervogelführerzeitung für die deutschen Wan-
dervogelführer. 2, 1914, Heft 4/5 [April/Mai], S. 73–75; Zitat S. 74. Im Titel dieses Blattes
ist das Wort »deutsche« gesperrt gedruckt. – Zu den frühen Affinitäten von völkischer und
Jugendbewegung vor 1914 s. Winfried Mogge: Ein Weg ins völkische Lager. In: Ders.: »Ihr
Wandervögel in der Luft ...«. Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und
zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, Würzburg 2009, S. 98–118; zum Kontext s.
Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der
deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991.
17 Vgl. Verf.: »Lebensbücher, nicht Lesebücher!« Buchhandelsgeschichtliche Ansichten der
bildungsbürgerlichen Reformbewegungen um 1900. In: Mark Lehmstedt/Andreas Herzog
(Hg.): Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen
um 1900, Wiesbaden 1999, S. 135–151. – Die Forschungslage hat sich seitdem kaum geän-
dert; vgl. Verf.: Verlegerische Volksmission im »Geist der Jugend«. Anmerkungen zu einem
Desiderat der Jugendbewegungsforschung. In: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewe-
gung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen
(Formen der Erinnerung. Bd. 58. Hg. von Jürgen Reulecke/Birgit Neumann), Göttingen
2015, S. 133–143.
18 Die Lied- und Musikpraxis der Jugendbewegung ist in ihrer Gesamtheit monographisch
nicht mehr zu beforschen. Wie überzeugend angesichts der immensen Quellenlage Einzel-
studien sind, zeigen Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung. »Gemeinschaftsmu-
sik« – Theorie und Praxis, Stuttgart 1979; Andrea Neuhaus: Meerstern, ich dich grüße. Die
geistlichen Lieder der Wandervogelbewegung. In: Deutsches Lied. Bd. 1 [= JUNI – Magazin
für Literatur und Politik, Heft 39]. Hg. von Gregor Ackermann/Walter Delabar/Carsten
90 Justus H. Ulbricht
dener Jugendbewegter bis heute eine zentrale Rolle spielen. – So weiß der George-
Forscher Christophe Fricker 2013 zu berichten, dass Angehörige des ›Mindener
Kreises‹,19 zu denen er über George sprechen wollte, eingangs der Veranstaltung
bemerkten, zuerst müsse man gemeinsam ein Lied singen. Dabei handelte es sich
um eine Vertonung des George-Gedichts ›Vogelschau‹ aus der Sammlung ›Algabal‹,
das mit der Zeile beginnt »weisse schwalben sah ich fliegen«.20 – Auf einige wenige
freilich nur in kleinen Kreisen gekannte und gesungene Lieder nach Texten von
George, Karl Wolfskehl oder Friedrich Gundolf werde ich später zurückkommen.
Ebenso wenig übrigens wie völkische Texte und Autoren nach 1918 verschwan-
den, avancierten die bis heute bekannten, nicht zuletzt von Literaturwissenschaftlern
geschätzten Autoren George, Hofmannsthal, Rilke und Hesse zu mehrheitsfähigen
Favoriten jugendbewegter junger Menschen (die Freistudenten und den ›Sera–Kreis‹
in Jena einmal ausgenommen).21 Zudem ist auffällig, dass Schriftsteller und Publi-
zisten des Nachkriegsexpressionismus, der Neuen Sachlichkeit oder noch kleinerer
avantgardistischer Strömungen (etwa Dada) im geistigen Kosmos der Bündischen
Jugend eher ein Nischendasein fristeten, wenn sie nicht gar vollkommen ausgeblen-
det oder schlicht ignoriert wurden. Einzelne Ausnahme wären in der Zeitschrift
Würmann, Bielefeld 2007, S. 77–93; Jürgen Reulecke: »Wir reiten die Sehnsucht tot« oder:
Melancholie als Droge. Anmerkungen zum bündischen Liedgut (mit einem Anhang zu
dem Lied »Jenseits des Tales standen ihre Zelte«). In: Ders.: »Ich möchte einer werden so
wie die ...« Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. – New York 2001, S. 103–128.
Vgl. weiterhin die »Regionalstudie« (bezogen auf Burg Waldeck und den Nerother Wan-
dervogel) von Stefan Krolle: Musisch-kulturelle Etappen der deutschen Jugendbewegung
von 1919–1964. Eine Regionalstudie, Berlin 2004. Krolle hat 8324 Lieder erfasst; George-
Spuren finden sich als einfache Namensnennung nur achtmal in diesem Band.
19 Zum ›Mindener Kreis‹, einer Erlebnis- und Erinnerungsgemeinschaft von Vor- und Nach-
kriegsjungenschaftlern, die in der Tradition der »d. j. 1.11.« von Eberhard Koebel »tusk«
standen, vgl. Eberhard Schürmann/Horst Zeller/Fritz Schmidt (Hg.): ... und die Karawane
zieht weiter ihres Weges. Freundesgabe für Jürgen Reulecke, den Vorsitzenden des Min-
dener Kreises zum 75. Geburtstag, Selbstverlag o. O. 2015; die »Wiederbelebung jugend-
bündischer Kulturen« nach 1945 war Schwerpunktthema in: Historische Jugendforschung.
Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Neue Folge, Band 1, 2004, Schwal-
bach/Ts. 2006.
20 Christophe Fricker: Stefan George lesen – über Stefan George schreiben. In: Peter Stibane
(Hg.): Hoher Meißner 2013. Jurtengespräche Weimar 2013. Berry Westenburger zum 95.
Geburtstag. (Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis, Nr. 10), Berlin 2014,
S. 72–79; zum Eingangslied S. 79. – ›Vogelschau‹ findet sich in Stefan George: Sämtliche
Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Land-
mann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff., Bd. II: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, S. 85.
Künftig wird diese Ausgabe mit SW angezeigt.
21 Hans-Ulrich Wipf: Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-
Bewegung 1896–1918, Schwalbach/Ts. 2004. Dort wird George allerdings nur ein ein-
ziges Mal erwähnt (S. 78), als es um die von Freistudenten organisierten Leseabende geht,
zu denen auch George einmal eingeladen war. Zum ›Sera-Kreis‹, dessen Personal sich in
Jena mit der dortigen Freistudentenschaft zum Teil überschnitten hat, s. Meike G. Werner:
Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena, Göttingen 2003,
S. 275–322. – George las im Dezember 1905 in der Jenaer Villa der Familie Rosenthal aus
seinen Werken. Der ›Sera-Kreis‹ wird auch erwähnt bei Carola Groppe: Die Macht der Bil-
dung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien
1997, S. 402–406.
George-Splitter in zerrissener Zeit 91
treffen verschiedenartiger Eindrücke) von Tönen und Farben, von Gerüchen und
Berührungen, die uns als einmalig erscheinen.«28 Und schließlich: »Aus jugend-
lichen Erlebnis- wurden Erinnerungsgemeinschaften mit spezifischen Erinnerungs-
erbschaften, mit problematisch gewordenen oder fern gerückten Traditionen.«29
Zu diesen ferngerückten Traditionsbeständen dürfte unterdessen auch das Werk
Stefan Georges gehören. Doch eine seiner Gedichtzeilen ist schon in den 1920er Jah-
ren und sogar bis in unsere Zeit ein stereotyp verwendetes Leitmotiv in den Selbst-
deutungsdiskursen jugendbewegter Alterskohorten geworden: »Wer je die flamme
umschritt / Bleibe der flamme trabant!«30 Walter Zeev Laqueur, ebenfalls von der
Jugendbewegung geprägt, hat diese Zeile bzw. deren Rezeption ebenso wie die Rede
vom »neuen Adel« und dem »Führer, der seine Gefolgschaft durch Sturm und grau-
sige Signale ins neue Reich leitet«, einmal sarkastisch als »Phrasen« bezeichnet.31
Damit aber macht er es sich wohl zu einfach und unterschätzt die Tatsache, dass
Phrasen, Stereotypen, Klischees und zitierfähige, einschlägige Sentenzen für das kul-
turelle und politische Bewusstsein von Individuen eine wichtige Rolle spielen. Die
von Marcel Beyer bei George und seinem engeren Kreis konstatierte »Aufputsch-
rhetorik«32 ließ es nicht beim Aufputschen von Nerven und Gefühlen bewenden;
sie konnte auch tatbereit machen. – Ein Blick in die Erinnerungen einiger jüdischer
Jugendbewegter wird noch zeigen, dass die angebliche Phrase vom »neuen Adel«
gerade auch für einzelne Angehörige dieses jugendbewegten Gruppenspektrums
durchaus verpflichtenden Charakter besaß.
Wie ein zeitgenössischer Kommentar liest sich hier eine Passage aus Eduard
Sprangers bis in die 1950er Jahre rezipierter Studie zur ›Psychologie des Jugend-
alters‹, in der Spranger auf das Thema »Wissen und Weltanschauung im Leben des
Jugendlichen« zu sprechen kommt:
Auch das ernste philosophische Studium, das an der Universität getrieben wird, hat
seine eigentümlichen Jugendschicksale. Der erste Eindruck gegenüber der ungeheuren
Fülle sich widersprechender und gegenseitig aufhebender Standpunkte ist das Gefühl,
völlig zerrieben zu werden und in der eigenen geistigen Existenz mehr gefährdet als ge-
fördert zu sein. In dieser Notlage vollzieht sich der folgende typische Prozeß: Aus einem
unbewußten Motiv der Selbstsicherung heraus schließt sich der junge Denker einem
Meister an, dessen geistige Welt ihm persönlich am meisten zu geben vermag. Er pflegt
dann jahrelang in seinem Bann zu bleiben und seine Denkformen in die Struktur des ei-
genen Bewußtseins geradezu einzugraben. Und auch damit begnügt er sich nicht. Son-
dern – um seiner selbst noch sicherer zu werden – schließt er sich wie zum Schutze von
anderen Denkrichtungen feindselig und verächtlich ab. Er hat gar nicht den Wunsch,
ihnen gerecht zu werden; er hält sie sich fern, um nicht im Meer der Problematik zu
ertrinken.33
Sprangers Überlegungen zur Meistersuche erinnern an eine Sentenz aus der ›Vor-
rede zu Maximin‹: »Was uns not tat war Einer der von den einfachen geschehnissen
ergriffen wurde und uns die dinge zeigte wie die augen der götter sie sehen.«34 Dieser
Text, geschrieben 1905 und erstmals veröffentlicht im Gedenkbuch für Maximilian
Kronberger 1906, klingt wie eine Blaupause zur jugendsoteriologischen Wort- und
Wertewelt der Neupfadfinder, über die nun zu sprechen wäre. Hans Blüher wird
Sätze aus der ›Vorrede‹ 1919 seinem Manifest ›Führer und Volk in der Jugendbewe-
gung‹ voranstellen, das im Jenaer Eugen Diederichs Verlag erschienen ist. Dort wird
schon in den ersten Sätzen unterstrichen, »daß der Führer des Volkes nicht bedarf,
um Führer zu sein, daß aber das Volk nur durch den Führer Volk wird«.35
I. »Überhaupt, Führer, das ist nicht ein Wort, das war ein Stil.«
Eine Lösung aus den Fährnissen der »Zeitschlamastik« (Franz Werfel) ist die retten-
de Flucht aus dem Meer der Problematik in den Hafen der Gemeinschaft. »War alles
andere unsicher, schwimmend geworden – die eigenen Gemeinschaften wenigstens
sollten verpflichtend und geformt bleiben.«36 Welche Gruppierung der Bündischen
Jugend dabei nach Kriegsende und Revolution eine besonders einflussreiche Rol-
33 Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. Leipzig 1925 (5. Aufl.), S. 277.
34 Stefan George: Vorrede zu Maximin. In: Ders.: Tage und Taten. In: SW XVII, S. 61–66, Zitat
S. 63.
35 Hans Blüher: Führer und Volk in der Jugendbewegung, Jena 1919, S. 3. – Dieser Satz wird
bei den Bündischen Schule machen! George bedurfte ja auch nicht des Kreises, um George
zu sein, doch der Kreis wurde nur durch »den Meister« zum Kreis.
36 Paetel, Jugend in der Entscheidung (Anm. 30), S. 116.
94 Justus H. Ulbricht
le gespielt hat, wird in einem kritischen Kommentar zum Scheitern des jüdischen
Wanderbundes ›Blau-Weiß‹ deutlich:
Verhängnisvoll erwies sich [...] der Einfluß der bündischen Neupfadfinder und der Prun-
ner Gesetzgebung. Dieses war der Versuch, den ›Bund‹ des ›Blau-Weiß‹ zu schaffen, als
der ›Weiße Ritter‹ in seiner ›blau-weißen‹ Variante.37
Damit ist nun der ›Bund Deutscher Neupfadfinder‹ (BDN) angesprochen, dem auch
in der George-Forschung eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil geworden ist38 und
den Roland Eckert zurecht als »ideologisch besonders produktiven«39 Bund cha-
rakterisiert hat.40 Eckert hat überdies versucht, der Jugendbewegung gruppensozio-
logisch und kulturanthropologisch auf die Spur zu kommen,41 indem er die Bünde
jener Zeit – mit Victor Turner – als »ideologisierte Communitas« analysiert hat, also
als Gemeinschaften, die versucht hätten, den Normensystemen und den verkruste-
ten Strukturen einer alten Gesellschaft zu entkommen in die Außeralltäglichkeit des
Gruppenlebens. Gruppe und Bund versprachen Abenteuer, spontane Communitas
sowie ausge- und erlebte Selbstkreativität und versuchten zugleich, dies spontan
Erlebte in ein ideologisches System zu fassen, in Fest, Ritual und Zeremoniell auf
Dauer zu stellen und damit Geborgenheit zu vermitteln in einer Gesellschaft, de-
ren traditionelle Gewissheiten und Sinnstiftungsangebote gerade in den Augen der
Kriegs- und Nachkriegs-Alterskohorten zerbrochen waren.
Franz Ludwig Habbel, ›Neupfadfinder‹-Mitgründer und Schriftleiter der Zeit-
schrift ›Der Weiße Ritter‹, brachte sein Zeitgefühl und das seiner Altersgenossen
auf den Punkt mit der Frage: »Sind Anfang oder Ende wir an der ZeitenWende?«42
37 Jutta Hetkamp: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland von 1913 – 1933, mit einem
Vorwort von Schalom Ben-Chorin, Münster 1994. Bd. 1, S. 57. – Das Stichwort »Prunner
Gesetzgebung« verweist auf die Erneuerungsbestrebung in der deutschen Pfadfinderschaft,
bei der es zur teilweisen Annäherung zweier vor 1914 streng distanzierter Jugendkulturen
gekommen ist, der ›Wandervögel‹ und der ›Pfadfinder‹. Wichtigste Neugründung war da-
bei der ›Bund Deutscher Neupfadfinder‹ im Oktober 1920. Knappste Informationen zum
organisationsgeschichtlichen und ideologischen Kontext bei Jürgen Reulecke: Hie Wan-
dervogel – hie Pfadfinder. Die Meißnerformel 1913, das Prunner Gelöbnis 1919 und die
Reformer Franz Ludwig Habbel und Martin Voelkel. In: Historische Jugendforschung.
Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Neue Folge Bd. 6, 2009: Hundert
Jahre Pfadfinden in Deutschland, Schwalbach/Ts. 2010, S. 61–75.
38 Vgl. etwa Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises
1890–1945, Tübingen 1998, S. 441–449.
39 Vgl. Eckert, Gemeinschaft, Kreativität und Zukunftshoffnungen (Anm. 28), S. 30.
40 Gleichwohl ist dieser Bund nie monographisch gewürdigt worden, was umso mehr er-
staunt, als er so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Richard Alewyn, Werner Heisen-
berg, Erich Maschke, Ernst Wilhelm Eschmann [später in Hans Zehrers ›Tat-Kreis‹] oder
den bedeutenden Religionspädagogen Helmuth Kittel in deren Jugendjahren geprägt hat.
Zu Letzterem s. Barbara Stambolis: Helmuth Kittel. In: Dies. (Hg.), Jugendbewegt geprägt
(Anm. 27), S. 405–419.
41 Vgl. Anm. 28.
42 Zu diesem Lebensgefühl s. Verf.: »Sind Anfang oder Ende wir an der ZeitenWende?« Be-
merkungen zu Strukturen bildungsbürgerlichen Krisenbewußtseins zwischen Spätwilhel-
minismus und Weimarer Republik – im Blick auf Georg Britting und seine Regensburger
George-Splitter in zerrissener Zeit 95
Der Masse entrückt, lebt der neue Denker die Geschichte durch und ringt ihr die Er-
kenntnis ab, die er den Menschen schenkt ohne Wahl: ein Führer, ein Sucher nach der
Gefolgschaft [...]. Im neuen Denker und im neuen Gestalter zeigen sich uns die Führer
zur neuen Zeit.47
Friedmar Apel hat nun vor einigen Jahren behauptet: »Den größten literarischen
Anteil an der symbolischen Aufladung der antimodernistischen Umbruchsrhetorik
der Jugendbewegung hatte Stefan George.« Mit Blick auf die Neupfadfinder wird
man diese pauschale Einschätzung jedoch differenzieren müssen. Denn dort rieb
man sich eher an Hans Blühers männerbundtheoretischer Deutung der Jugendbe-
wegung48 und zog utopische Kraft aus den Werken des heute fast vergessenen Rudolf
Pannwitz, dessen eigenes Verhältnis zu George zwischen Bewunderung, Verehrung,
Kritik und Distanzierung oszillierte.49
Blicke ins Schrifttum der ›Neupfadfinder‹ allerdings weisen Spuren einer Hölder-
lin- und George-Rezeption durchaus auf, lassen aber vor allem die manifeste und
von Beginn an extrem verdichtete Ideologisierung des bündischen Erlebnisses im
BDN deutlich werden. Denn diese »geistigen Pfadfinder« oder »Gesinnungspfadfin-
der« – so die omnipräsenten Selbstdeutungsmuster des elitären Bundes – verstanden
sich als »Ritter«, bisweilen gar als »Gralsritter«50 im Kampf um ein »neues Reich« un-
ter der Führung eines geistig, emotional und habituell verbundenen »neuen Adels«.
Es darf keinen Klassenkampf unter der Jugend geben. Sie sei Jugend schlechthin, und die
Grundlage, auf der sie durch alle hergebrachten Klassenunterschiede hindurch zur ge-
meinsamen Neugestaltung des Lebens finden muß, ist die der sozialen Hilfsbereitschaft,
der ritterlichen und reinen Nächstenliebe, des Volks- und Menschheitsbewußtseins. Für
ein neues Pfadfindertum in diesem Sinne, für einen solchen Sozialismus will Der Weiße
Ritter unter der Jugend werben.51
Im Bund galt »deutsch als ein übergeschichtlicher Begriff, eine ewige, unveränderli-
che Idee«, und man wolle diesen »›ewigen Deutschen‹ in jungen Herzen tragen und
in jugendlicher Weise zur Darstellung bringen«.52 Im und mit dem BDN münde, so
der bayrische Gruppenführer Karl Sonntag,
[...] der Wildbach der Jugendbewegung wieder ein in den großen Blutstrom der Nation
und nimmt zugleich teil an deren Schicksal. Der höchste Stand der Jugendgemeinschaft
ist zugleich der wichtigste der Sprachgemeinschaft. Die Ritter des neuen Reiches bilden
die Jungmannschaft des deutschen Volkes. Die Jungmannschaft eines Volkes ist der
Stand, in dem das Volk eigentlich lebt.« [Auf der Schar der Jugend zwischen zwanzig
und dreißig ruhe] »der Segen Gottes und die Hoffnung der Volksgenossen.53
50 Über die Rezeption der Gralssymbolik im BDN unterrichtet Sandra Franz: Die Religion
des Grals. Entwürfe arteigener Religiosität im Spektrum von völkischer Bewegung, Lebens-
reform, Okkultismus, Neuheidentum und Jugendbewegung (1871–1945), Schwalbach/Ts.
2009; dort S. 448–464. – Vollkommen daneben aber liegt die Autorin mit ihrer Aussage
(S. 446), »Impulsgeber« der frühen Jugendbewegung im ›Wandervogel‹ seien Ferdinand
Avenarius, Hermann Popert, der Maler Fidus, Stefan George sowie Julius Langbehn und
Paul de Lagarde, »also meist Protagonisten aus dem völkischen Lager und der Lebens-
reform«, gewesen!
51 So Habbel, Karl Sonntag und Ludwig Voggenreiter in: Der Weiße Ritter, einer Führer-
zeitung zweites Jahr [1919], Heft 1 [Oktober]; zit. n. Kindt, Die deutsche Jugendbewegung
1920 bis 1933 (Anm. 1), S. 397.
52 So der Berliner Pfarrer, Theologe und Bundesführer des BDN, Martin Voelkel. In: Der
Weiße Ritter. Einer Führerzeitung zweites Jahr [1920], Heft 4/5 [Januar/Februar 1920]; zit.
nach Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933 (Anm. 1), S. 400. Voelkel, der die
Potsdamer Gruppen führte, war strikt deutschnational, zum Teil gar völkisch orientiert,
und der führende Reichsideologe des BDN, dessen Preußen- und Deutschordensritter-Kult
viele seiner Anhänger faszinierte. – Einer davon war der spätere »Ost«-Historiker und NS-
Anhänger Erich Maschke; vgl. Barbara Schneider: Erich Maschke: Im Beziehungsgeflecht
von Politik und Geschichtswissenschaft, Göttingen 2016, dort vor allem S. 27–47.
53 Karl Sonntag: Das Jugendreich [Auszug aus dem Aufsatz »Sendung«]; zit. n. Kindt, Die
deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933 (Anm. 1), S. 4–9.
George-Splitter in zerrissener Zeit 97
»Die gesamte Neupfadfinderschaft will Ausdruck und Schutzform für die Anfänge
des neuen Reiches sein.«54 Diese Formen ideologisierter Communitas dürften von
der George-Lektüre Einzelner und dessen Idee vom Jugendreich des »neuen adel,
den ihr suchet« eher bestärkt als primär indiziert worden zu sein. Doch die baltische
Journalistin, nationale Frauenrechtlerin, in der Jugend jugendbewegte Else Frobeni-
us, die frühe Chronistin der Jugendbewegung, meinte apodiktisch:
Stefan George, der Prophet eines neuen Welttages, der Mitschöpfer deutscher Volkheit,
ist der heimliche Führer der Neupfadfinder. Sein ›Siebenter Ring‹ und sein ›Stern des
Bundes‹ befruchteten ihre Symbolwelt. Er gibt ihnen das Hochbild des ›neuen Reiches‹.
Auch Hölderlins Geist steht über ihnen.55
Das würde auch erklären, warum Joachim Boeckh, der Führer der Jungenschaft
›Königsbühl‹,56 ehemaliger Wickersdorfer Lehrer und ›Neupfadfinder‹, im Entwurf
zu einem »Hochbund«, also dem ersehnten, freilich nie zustande gekommenen
Zusammenschluss aller Pfadfinderbünde, schreiben kann: »Der Hochbund fordert
die Erneuerung von Herz und Geist durch die bündischen Gewalten: Bruderschaft,
Führertum, Ehrfurcht.« Und weiter: »Die Blutsprobe im Bund heißt: Herrschaft und
Dienst.«57
Einige Jahre bevor die Brüder ihren Dienst in Wissenschaft und Wehrmacht an-
traten, waren auch Berthold, Alexander und Claus von Stauffenberg, die um 1922
bis zu ihrem Studienbeginn einer ›Neupfadfinder‹-Gruppe an ihrem Stuttgarter
Gymnasium angehörten, ins neue Reich unterwegs.58 Kontakte zwischen der Familie
Stauffenberg und Georges Kreisen bestanden jedoch schon länger über Bernhard von
Uxkull-Gyllenband, einen Vetter der Brüder Stauffenberg. 1921 lasen Berthold und
Alexander von Stauffenberg zusammen mit ihrem Freund Theodor Pfizer Georges
›Stern des Bundes‹; 1922 gestand Berthold in georgescher Kleinschrift seiner Tante:
»wenn ich es sagen darf · so sind Hölderlin und George die helden die ich verehre.«
Und ab 1923 redete Berthold, in vorbehaltloser George-Verehrung mit seinen Brü-
dern verbunden, den Dichter an mit den Worten: »Du bist als heiland dieser Welt
54 So eine Formulierung in den Beiblättern zum Weißen Ritter vom 1. November 1920; zit. n.
Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933 (Anm. 1), S. 411.
55 Else Frobenius: Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewe-
gung, Berlin 1927, S. 282.
56 Bekenntnis und Grundschrift dieser sehr kleinen Jungenschar im Rahmen des größeren
›Köngener Bundes‹ ist Joachim G. Boeckh: Königsbühl, Potsdam 1925 [erschienen im nun
dort angesiedelten Weiße Ritter Verlag Ludwig Voggenreiter]. – Boeckhs Text wird man
nicht unrecht tun, wenn man ihn als mit Hölderlinschem und Georgeschem Zungenschlag
aufgehübschte Päderasten-Prosa klassifiziert. In einem der wichtigen Kapitel über »Zucht«
und »wahre Romantik« wird dann auch aus Georges ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹
(aus ›Das Neue Reich‹) zitiert; auch an anderen Stellen ist George – oder das, was Boeckh
für dessen Botschaft hielt – präsent.
57 Der Verfassungsentwurf ist abgedruckt bei Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis
1933 (Anm. 1), S. 418–420; Zitate S. 418, 419.
58 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von
Stauffenberg. Die Biographie, München 2007, S. 46–60.
98 Justus H. Ulbricht
gesandt.«59 Ideen von »Kampf, Blut und Opfer« sind Alexanders Gedichten im Mai
und Juni 1923 abzulauschen.
Ob sich nun aber die drei Adelssprösslinge solche Gedanken, dieses emotions-
geladene »Helden- und Schicksalsvokabular«,60 im Kontakt mit Texten Georges
oder bei anderen (Lektüre-)Erlebnissen im ›Neupfadfinder‹-Kreis angeeignet haben,
ist nicht mehr eindeutig zu klären. Zumal man sich derartige Ideen und Ideale be-
reits in der massenhaft verbreiteten Kriegspublizistik der Jahre 1914 bis 1918 hätte
anlesen können. Ideologisch verlängerte sich der »Krieg der Geister«61 zudem über
den Tag der Niederlage hinaus in die Nachkriegszeit. Das »Opfer der Jugend«,62 der
»Dienst am Reich« und die Sehnsucht nach Führern wurden nach 1918 Kernthemen
in der Alltagspublizistik gerade von Pädagogen, in professoralen Festreden oder in
zahlreichen Predigten deutschnationaler Pfarrer und Theologen, die mit dem Unter-
gang des Kaiserreichs und dem Aufstieg der Demokratie nichts anzufangen wussten.
Dazu passte die schleichende Politisierung von Georges Denkens im Kreis um den
Dichter ebenso wie die unsystematische, den ästhetischen Charakter der Texte, den
Zusammenhang des Werkes sowie die prononcierte Distanz des älter werdenden
George selbst zur Sphäre des Politischen missachtende eklektizistische George-Re-
zeption in bestimmten Kreisen und Bünden der Jugendbewegung.
Und – darauf verweist das Zitat aus dem »Hochbund«-Verfassungsentwurf – man
kann vermuten, dass eine unmittelbare Begegnung jugendlicher Leser mit den Ge-
dichten Georges seit Beginn der 1920 Jahre längst überformt war durch die Rezepti-
on von anderen Publikationen aus dem George-Kreis. Gundolfs ›George‹ ist erstmals
1920 erschienen; im selben Jahr erlebte Wolters’ ›Herrschaft und Dienst‹ seine zweite
Auflage; einzelne Aufsätze in den ›Blättern für die Kunst‹ und den ›Jahrbüchern für
die geistige Bewegung‹ hatten längst den Weg in ein größeres Publikum gefunden.
Und wenn sich die Neupfadfinder als Inkarnation des »ewigen Deutschen« fühlten,
war auch der Trivialautor Hermann Burte mit seinem ›Wiltfeber‹ nicht weit.
Auf ähnliche rezeptionelle Gemengelagen stößt man in den Erinnerungen jü-
discher Jugendbewegter, einer weiteren Minderheit in der selbsternannten Elite
der Bündischen Jugend. Aus diesen Kontexten stammt auch das Zitat in der Über-
schrift zu diesem Kapitel, das vollständig so lautet: »Überhaupt, Führer, das ist nicht
ein Wort, das war ein Stil. Also, ein Begriff, den Sie heute nicht mehr kennen, der
stammt von Stefan George. Er hat den Begriff der ›adeligen Haltung‹ geprägt.«63
Für andere bestand eine »adelige Haltung« darin, »sich zurückhalten zu können,
den anderen ausreden lassen, nicht gemein zu sein usw.«64 Einer aus der Gruppe
›Kreis‹, einer Untergliederung der ›Kameraden‹,65 bestätigt das, kommentiert jedoch
auch kritisch:
Und dann gab es noch eine Überideologie über die allgemeine Ideologie der ›Werkleute‹
hinaus: ›Adelige Haltung‹. Dieser Begriff stammt von Stefan George, wobei die Verbin-
dung Stefan George/Martin Buber natürlich ein bißchen fraglich erscheint, jedenfalls
heute. Die ›Adelige Haltung‹ beinhaltete alles, was sich abgrenzt von Billigem und
Schmutzigem. Wir haben im Bund nie einen dreckigen Witz erzählt. Dieses Verhalten
entstammt der ›Adeligen Haltung‹. Eine gewisse Vornehmheit, die man nicht wollte,
aber hatte.66
Werke von z. B. Stefan George zu lesen, wurde großgeschrieben, von Stefan George
und Rilke. Man sang z. B. Landsknechtslieder, wir haben bis 1933 Landsknechtslieder
gesungen: ›Wir sind des Geiers schwarzer Haufen‹, aber diese Lieder kennen Sie schon
gar nicht mehr, ›Aber richtige Spieß voran, drauf und dran‹ usw.67
[B]evorzugte [man] ein militärisches Auftreten und las an Heimabenden Rilke, George,
Wichert [sic!], Cooper, Bindung [sic! Gemeint ist Rudolf G. Binding] oder Kipling. Die be-
vorzugten Lieder, die gesungen wurden, waren Kosakenlieder.68
und den Todesmut der Samurai ebenso wie die ungezähmte Wildheit von Kosaken
und anderen Steppenvölkern.70 Vor allem aber las man die einschlägigen Bücher
zur »Stammeserziehung«,71 wie das berühmte ›Kibbo Kift‹ (alt-keltisch für »Beweis
großer Stärke«)72 des britischen Pfadfinder-Dissidenten John Hargrave, von dem
auch das ›Wigwam-Buch‹ (1921) sowie ›Das Totem spricht‹ (1922) stammt – alle
erschienen in der Reihe »Bücher der Waldverwandtschaft« im dem BDN weiterhin
nahestehendem »Weißer Ritter Verlag« zu Berlin.73 Hölderlin, Rilke oder George
lagen in dieser kulturellen Gruppenpraxis etwas weiter ab!
Im ›Ring‹ westdeutscher, jüdischer Pfadfinder, blieb man allerdings weiterhin
»stark von Stefan George und seinen Schriften beeindruckt.« Die Gruppenmitglie-
der hätten sich bemüht, »im Sinne von Stefan George, jeden Tag mindestens eine
gute Tat zu vollbringen.«74 Das hätte den Dichter wohl gefreut, stammt eigentlich
jedoch aus dem Ehrenkodex des Pfadfinder-Gründers Lord Baden-Powell, dem man
noch heute als Pfadfinder verpflichtet ist.
Bei den sozialistisch-zionistischen ›Haschomer Hazair‹75 las man auf Heimaben-
den »nicht nur Landauer, Karl Marx, Otto Bauer und Max Adler [...], sondern auch
Schriften von Stefan George und Rainer Maria Rilke. In unserer Gruppe fand eine
Eberhard Koebel »tusk«, der ›Trucht‹ unter Karl Christian Müller [gegründet 1930], des
›Grauen Corps‹ [gegründet 1930] von Alfred Schmidt – was hier jedoch allein aus Platz-
gründen unterlassen werden muss.
70 Im Jahre 1933 veröffentlichte der Gründer und Führer der ›Trucht‹ Karl Christian Müller
[Fahrtenname »teut«] die ›Lieder der Trucht‹. Unter der Rubrik »Entfesselte Ferne« finden
sich dort Lieder wie ›Langsam reitet unsre Horde‹, ›Kosakenballade‹, ›Tscherkessenlied‹;
an anderer Stelle ›Wenn Galopp wir reiten‹. – Robert Goetz gab bei Wolff heraus ›Wir tra-
ben in die Weite. Lieder einer Jungenschaft‹; dort findet sich ›Der afrikanische Jagdreiter‹,
›Nach Ostland geht der Ritt‹, ›Der Kürassier‹, ›Husarenlied‹. – Die ›Soldatenchöre der Eis-
brechermannschaft‹, einem der einschlägigen Liederbücher der ›d. j.1.11‹, herausgegeben
1934 bei Günther Wolff von Eberhard Koebel [»tusk«] selbst, finden sich ›Uralkosaken‹
und ›Die zwölf Räuber‹, Letzteres ein Lied von Serge Jaroff, dem Gründer des legendären
›Donkosaken‹-Chors.
71 Der Begriff geht zurück auf das gleichnamige Buch John Hargraves ›Tribal Training‹, das
erstmals 1919 auf Englisch erschienen ist, und bald danach von den Neupfadfindern Hans
Holl und Franz Ludwig Habbel ins Deutsche übersetzt wurde.
72 The Kindred of Kibbo Kift [gegründet von Hargrave nach dessen Ausschluss aus den bri-
tischen Pfadfindern durch Baden-Powell] fußte auf Ideen der sogenannten ›Woodcraft-
Bewegung‹ Ernest Thompson Setons, die seit der Jahrhundertwende in den USA existierte.
Im Zentrum dieser Erziehungsbewegung für Jugendliche stand das Leben in Zeltlagern,
in der möglichst ungezähmten Natur und die handwerklicher Praxis. Die nordamerika-
nischen Indianer waren dafür das Vorbild und zugleich eine Projektionsfläche für die anti-
zivilisatorischen Sehnsüchte weißer Bürgerkinder.
73 Diese Texte sind im Übrigen bis heute bei den Pfadfindern präsent, was man von Georges
Lyrik nicht wird behaupten dürfen.
74 Nach Hetkamp, Die jüdische Jugendbewegung (Anm. 37), S. 40.
75 Diese jüdische Pfadfinder-Bewegung Gruppe wurde 1913 in Galizien begründet, sammelte
mehrheitlich Angehörige des »Ostjudentums« in ihren Bünden und war nach 1918 so he-
terogenen Autoren wie Gustav Wyneken, Martin Buber und weiterhin Baden-Powell ver-
pflichtet. Innerhalb der jüdischen Jugendbewegung hatten deren ostjüdischen Mitglieder
zuzeiten das Problem, von den »reichsdeutschen« Jugendlichen akzeptiert zu werden.
George-Splitter in zerrissener Zeit 101
Synthese von deutscher Kultur und allgemeiner und israelitischer Kultur statt« – wie
sich ein Ehemaliger erinnert.76
Und man beglaubigte so eine Äußerung von Klaus Mann, der in seiner Hommage
zu Georges 60. Geburtstag einmal bemerkte: »Mir ist ein geistiger Mensch denkbar,
welcher Marx liest und sich trotzdem als George-Anhänger weiß.«77
1934, ein knappes Jahr vor der freiwilligen Selbstauflösung der ›Deutschen Gilden-
schaft‹, veröffentlichte der damalige »Kanzler der Junggilden« Hans-Gerd Techow –
einst Mitglied des ›Deutschnationalen Jugendbundes‹, der ›Brigade Ehrhardt‹, der
›Organisation Consul‹, des ›Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes‹, der
›Freischar Schill‹, des ›Bund Wiking‹ und nun der ›Gilde Teja‹ – eine überarbei-
tete Neuauflage der Broschüre ›Der Gedankenkreis der Deutschen Gildenschaft‹.
Mit dieser Programm- und Bekenntnisschrift warf sich diese Organisation von
radikal deutschnationalen und völkischen Studenten – die meisten Frontsoldaten
des Weltkriegs, Freikorps-Kämpfer und Angehörige völkischer Bünde der Jugend-
bewegung – dem neuen »Führer« des »Reiches« zu Füßen. Als einleitendes Motto
ist dort das Ende von Georges Gedicht ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹ aus dem
›Neuen Reich‹ (1928) zitiert:
... ein jung Geschlecht, das wieder Mensch und Ding / mit echten Maßen misst, vor
Fremden stolz, / sich gleich entfernt von Klippen dreisten Dünkels / wie seichtem Sumpf
erlogner Brüderei, / das ausgeweihtem Träumen, Tun und Dulden, / den einzigen, der
hilft, den Mann gebiert. / Der sprengt die Ketten, fegt auf Trümmerstätten / die Ord-
nung, geißelt die Verlaufnen heim / ins ewige Recht, wo Großes wiederum groß ist, /
Herr wiederum Herr, Zucht wiederum Zucht, er heftet / das wahre Sinnbild auf das völ-
kische Banner, / er führt durch Sturm und grausige Signale / des Frührots seiner Treuen
Schar zum Werk / des wachen Tags und pflanzt das neue Reich.79
Es war uns bekannt, daß von den jungen deutschen Fascisten die Besten, Geistigsten
und deshalb Gefährlichsten den ›Stern des Bundes‹ wie eine Bibel auf ihrem Pult liegen
hatten, und daß vielleicht sogar der eine oder andere übertrieben Gedankenvolle im
braunen Hemd feierliche Mußestunden dazu benutzte, im ›Neuen Reich‹ zu blättern –
sicher zu Befremden seiner Kameraden.80
Ein anderer »übertrieben Gedankenvoller«, der jedoch nie ein Braunhemd besaß,
aber schon seit 1926 als im wahrsten Wortsinne Bamberger Reiter die graue Uniform
der Reichswehr trug, hatte im September 1933 gerade geheiratet und im Dezember
die Totenwache an Georges Sarg in Minusio gehalten. Elf Jahre später wird er, als
Anfang der 1930er Jahre durchaus noch begeisterter Zeuge des »deutschen Um-
bruchs«,81 durch den realexistierenden Nationalsozialismus und sein Kriegserleb-
nis jedoch ernüchtert, mehrfach Georges Verse vom »Fürst des Geziefers« aus dem
79 Der Gedankenkreis der Deutschen Gildenschaft. Weg und Bekenntnis Deutscher Bur-
schen. Im Eigenverlag der Deutschen Gildenschaft herausgegeben vom Kanzler der Jung-
gilden. o. O. 1934; George-Zitat, ohne dessen Orthographie zu übernehmen, S. 2; später
wird auch noch [neben Goebbels-, Hitler-, Nietzsche- und Jünger-Zitaten] Hölderlin als
Eideshelfer bemüht, s. dort S. 18. – Die Schrift erschien erstmals 1925, damals herausgege-
ben vom völkischen Wandervogel und Gründer der ›Werdandi-Gilde‹ in Berlin [gegründet
1919] Albrecht Meyen und dem späteren Mitbegründer der ›Glaubensbewegung Deutsche
Christen‹, Siegfried Leffler. – Die Gildenschaft wurde 1958 wiedergegründet und existiert
als kleine, elitäre Gruppe [2017 sechs Hochschulgilden, ca. 100 Mitglieder] im Feld der
studentischen Korporationen bis heute weiter. Prominente Gildenschaftler sind u. a. Karl-
heinz Weißmann, Dieter Stein [1994 ›Junge Freiheit‹ Mitgründer] und Götz Kubitschek
[Antaios-Verlag, Institut für Staatspolitik], also Protagonisten der Intellektuellen Neuen
Rechten unserer Zeit. Die eher unkritische Geschichte der Beziehung zwischen der Bün-
dischen Jugend und den Gilden findet sich in Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920–
1933 (Anm. 1), S. 1371–1387; vgl. aber die gute Skizze von Helmut Kellershohn: Im »Dienst
an der nationalsozialistischen Revolution« – Die Deutsche Gildenschaft und ihr Verhältnis
zum Nationalsozialismus. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 19,
1999–2001, Schwalbach/Ts. 2004, S. 255–292.
80 Klaus Mann: Das Schweigen Stefan Georges. In: Die Sammlung 1,2 [Oktober], Amsterdam
1933; wieder abgedruckt in Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Stefan George und die Nach-
welt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Bd. 2, Stuttgart 1981, S. 7–12; Zitat S. 7.
81 Manfred Riedels Annäherung an Stauffenberg (vgl. unten, Anm. 82) unterschlägt dessen
Begeisterung für den NS, für die es im Werk Georges bzw. einzelner Kreismitglieder durch-
aus Anknüpfungspunkte gegeben hat. Das sieht auch kritisch Gunilla Eschenbach in ihrer
Rezension von Riedel; vgl. George-Jahrbuch 7, 2008/09, S. 201–204.
George-Splitter in zerrissener Zeit 103
Ich habe viel im Jahr der Seele gelesen [...]. Und je klarer das lebendige vor mir steht,
je höher das menschliche sich offenbart und je eindringlicher die tat sich zeigt, umso
ferner wird der klang eigener worte und um so seltener der sinn des eigenen lebens [...].
Nicht dass meine träume falsch, im gegenteil, ich bin gewachsen.82
Ob allerdings »[d]ie Genese des Täters aus dem Geiste des Geheimen Deutschland«
so eindeutig und zwingend erwuchs, wie das der Untertitel von Werner Bräuningers
Stauffenberg-Porträt83 oder – allerdings weitaus tiefgründiger und differenzierter –
Manfred Riedels Buch ›Geheimes Deutschland‹ nahelegen, kann mit Fug und Recht
bezweifelt werden.
Ein weiterer »deutscher Jüngling« aus Schwaben, der vom Rilke-Anhänger später
zum glühenden Bewunderer Georges werden sollte,84 war im Mai 1933 aus dem
›Christlichen Verein Junger Männer‹ in die HJ eingetreten, um dort schnell Karriere
zu machen. Allerdings führte er sein Fähnlein derart »jungenschaftlich«, unkonven-
tionell (aber dennoch mit aller Härte), dass man ihn im Frühjahr 1936 als HJ-Führer
82 Stauffenbergs Brief an George liegt im Stuttgart George-Archiv; ich zitiere hier nach Man-
fred Riedel: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln –
Weimar – Wien 2006, S. 176.
83 Werner Bräuninger: Claus von Stauffenberg. Die Genese des Täters aus dem Geiste des
Geheimen Deutschland, Wien – Leipzig 2002. Diese sowie andere Arbeiten Bräuningers,
vor allem aber deren Erscheinungsorte (Karolinger Verlag, Ares Verlag, Regin-Verlag, Ver-
lag Siegfried Bublies) zeigen, dass wir es bei Bräuninger mit einem Vertreter des aktuellen
Rechtsintellektualismus zu tun haben. In diesen Kreisen versteht man den Widerstand vom
20. Juli als Ansporn und Vorbild eines heute wieder notwendigen Widerstandes gegen die
aktuellen »Fürsten des Geziefers«, Kapital, Konsum, Amerikanismus, »Entvolkung« und
nationaler Identitätsverlust.
84 Hans Scholl an Elisabeth Scholl, Ulm, 29.4.1940. In: Inge Jens (Hg.): Hans Scholl und
Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 30: »Daß Du Dich an
Rilke so erbauen kannst, freut mich wirklich, war mir doch dieser Dichter lange Zeit der
größte, bis ich Stefan George kennenlernte ...«.
104 Justus H. Ulbricht
wieder absetzte.85 Mit zehn anderen Ulmer Jungen trampte und wanderte er dann
im Sommer 1936 nach Lappland, wohin auch schon der legendäre Gründer der ›d. j.
1.11‹, Eberhard Koebel »tusk«, gefahren war. Zur Fahrt-Hymne der Ulmer Gruppe
wurde das Lied ›Schließ Aug und Ohr für eine Weil‹, dessen Text von Friedrich
Gundolf stammt. Es war erstmalig in der Zeitschrift ›Jugendland. Jungenblätter des
›Bund[es] deutscher Ringpfadfinder‹ des Günther Wolff Verlags in Plauen Anfang
1931 abgedruckt worden. Ein weiterer Abdruck im Heft ›Lieder der Süd-Legion‹
(s. u.) machte das Lied in weiteren bündischen Kreisen populär.86 – Am schwe-
dischen Soruman-See taufte der Führer seine kleine Gruppe dann in ›Trabanten‹,
denn sie hatten schon länger die Flamme ihrer Lagerfeuer (das wärmende Symbol
des Gruppencharismas und ganz praktisch das Koch-Feuer für den »Hordentopf«)
umschritten. Die letzte Strophe eines Gedichts von Ernst Bertrams, das sich im
Sonderheft des ›Stamm[es] der Vandalen‹ in der Zeitschrift ›Jugendland‹ fand, legt
aber auch eine andere Interpretation der Flammensymbolik nahe. Dort nämlich
heißt es:
Der Führer der Ulmer ›Trabanten‹ wird im Oktober 1937 seiner Schwester gestehen:
Ich kann jetzt Georges Werk noch nicht lesen. Dazu brauche ich Zeit, unendliche Ruhe,
um seinen Worten ganz lauschen zu können. Es ist sehr sehr, sehr schwer, Stefan George
zu verstehen. Aber wir ahnen ihn, seine überragende, unantastbare, einsame Größe.87
Schwester Inge hatte Hans Scholl den ›Stern des Bundes‹ zum Geburtstag geschenkt;
über der Widmung »Hans zum 22.9.37« stand in Notenschrift das Liedmotiv »Die
Gedanken sind frei«. Des Bruders letzte Worte kurz vor seiner Enthauptung am 22.
Februar 1943 werden sein: »Es lebe die Freiheit!« – wobei man nicht ganz vergessen
sollte, dass ein weiteres Idol der ›Weißen Rose‹ neben Rilke und George der »deut-
sche Freiheitskämpfer« Theodor Körner gewesen ist, dessen Vers »Frisch auf mein
85 Mehrere Biographien des legendären Hans Scholl entwickeln ihr Interesse an der Person
erst in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dessen offener Widerständigkeit im Nationalsozia-
lismus. Die jungenschaftliche Phase Scholls hat ausführlich und kenntnisreich beschrieben
Eckard Holler: »wer je die flamme umschritt, bleibe der flamme trabant«. Hans Scholl und
die Ulmer »Trabanten«. In: Ulrich Herrmann (Hg.): Vom HJ-Führer zur Weißen Rose.
Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Mit einem Beitrag von Eckard
Holler über die Ulmer »Trabanten«, Weinheim – Basel 2012, S. 38–67.
86 Georg Nagel, Hamburg hat wichtige Rezeptionsspuren von ›Schließ Aug und Ohr‹ zu-
sammengetragen; vgl. seinen Beitrag in https://deutschelieder.wordpress.com/2016/01/11/
friedrich-gundolf-schliess-aug-und-ohr (aufgerufen am 7.1.2018).
87 Hans Scholl an seine Schwester Inge, Göppingen, 8.10.1937. In: Jens, Hans Scholl und So-
phie Scholl (Anm. 84), S. 10.
George-Splitter in zerrissener Zeit 105
erwähnte Karl Christian Müller, selbst ein Dichter und im Übrigen Doktorand Ernst
Bertrams und Gründer der ›Trucht‹, die ihre Lieder auch im Günther Wolff Verlag
erscheinen ließ.93
Auf ein Lied Karl Wolfskehls wiederum stoßen wir im Sonderheft der Zeitschrift
›Jugendland‹, das dem ›Tahoe-Ring‹ gewidmet war bzw. von Mitgliedern dieses Bun-
des verantwortet wurde. »So mag es kommen, dass unsere heiligtümer tief drunten
im dunklen hain sich erheben, dass unsre feste an den schweigenden wassern in die
berauschte stille des sternenhimmels klingen«, heißt es dort, und auf der folgenden
Seite ist Wolfskehls ›Du weisst es, keine zeichen irrten‹ abgedruckt.94
Aus dem ›Tahoe-Ring‹ entstand unter Heinz Schierer, Rudi Pallas und Kurd Lähn
der noch kleinere Bund ›südlegion‹, deren Liederbuch ›lieder der südlegion‹ wiede-
rum bei Günther Wolff95 erschienen ist. Hans Carossa ist einmal auf die Gruppe um
Pallas, die offiziell als HJ-Fähnlein auftrat, gestoßen, erstmalig in Berlin-Zehlendorf,
bei einer Lesung des Dichters – und dann ein zweites Mal:
Als ich zwei Monate später am Donaustrand in meiner Stube schrieb, scholl aus dem
Garten Gesang; ich ging ans offene Fenster, sah einen Halbkreis von Knaben zwischen
Haus und Brunnen stehen und erkannte als ersten den Rudi Pallas, daneben den blei-
chen kleinen Trommler von Zehlendorf; auch andere waren mir bekannt. Ich führte die
ganze Schar zu mir herauf; sie fanden kaum Platz in dem ländlich engen Raum. Eben
hatten sie im Strom gebadet; bei manchem tropfte noch das eilig gekämmte Haar. Kei-
ner war in Uniform gekommen; die meisten trugen blaue Matrosenanzüge. Sie zeigten
mir ein Heft mit Liedertexten; es waren kaum zwei von den damals vorgeschriebenen
darunter, wohl aber ein kurzes Gedicht von Gundolf. [...] Diese Besucher waren also der
Nachwuchs des edleren geheimen Deutschland, der sich mitten im Niedergang noch ein
wenig alte Wandervogelfreiheit zu bewahren suchte.96
Dass auf den späteren Medizinstudenten Rudi Pallas und seine Gruppe nicht nur der
Glanz Gundolfs und Georges, sondern auch »ein strahl von hellas« gefallen war,97
leuchtet aus jeder Zeile einer kleinen Publikation von Kurd Lähn mit dem Titel ›Von
der geistigen Heimat deutscher Jugend‹, in der Lähn immer wieder aus Werken von
Heraklit, Goethe, Hölderlin zudem auch Kantorowicz (›Kaiser Friedrich II.‹) und
Gundolfs ›George‹ zitiert. Zugleich setzt er sich argumentativ von denjenigen Ju-
gendbewegten und deren Bünden ab, die im Nordischen ihr Heil zu finden glaubten.
[...] doch es geht uns nicht um die frage, wer am besten und reinsten deutsches wesen
verkörpert hat, es geht uns nicht um die beweisführung, dass wir als ein teil der jugend
deutschen volkes das alleinige erbgut alles deutschen in beschlag gelegt haben oder
gar besitzen.98
Lähn ringt um »antike lebenshaltung, wie sie später in Napoleon, Hölderlin und
Nietzsche lebendig wurde«99; »›vergangen, doch unverloren‹ [sei] jene herrliche
einstige welt [die Antike, Anm. JHU]. Die jugend sieht in ihr ihre urheimat deut-
scher art und in ihren unsterblichen gestalten das mass für menschliche grösse.«
Und weiter:
[...] wir wissen aber – und dieses ist entscheidend – dass diese wiedergefundene heimat
uns und vielen aus der noch unbekannten jugend alles das geben kann und wird, was
uns die umwelt vorenthält: glauben und gemeinschaft ohne programm, verbundenheit
mit dem all, ein starkes leben voller tiefe im organischen rhythmus alles lebendigen.100
[...] in dem bamberger reiter stellt sich uns ein fast ›mittelmeerischer germanentyp‹ dar,
in seinem unbekannten gesicht leuchten die züge der hohenstaufen, von Konrad III. bis
zu Konradin, und es vereinigen sich in ihm hoheit und milde, willenskraft und edelmut –
wie es bisher nur in hellas möglich gewesen ist102. [...] das sehnen und verzehren nach
dem süden ist deutsch, nordisch und wird germanisches seelengeschick bleiben. [...]
südbild und entscheidende verwandlung des nordmenschen durch den süden werden
uns durch Goethe, Nietzsche, George gegeben.103
Eher beklemmend im Rückblick auf die Zeitumstände und die weitere Geschichte
sowohl der ›südlegion‹ als auch Deutschlands insgesamt wirkt die gegen das Ende
seiner Schrift getane Äußerung Lähns: »die sehnsucht einer deutschen jugend gilt
dem süden auch dann noch, wenn untergang und gotenschicksal unvermeidlich
sind«.104
Rudi Pallas wurde 1937 nach einer heimlichen Auslandsfahrt im KZ Sachsenhau-
sen inhaftiert und 1940 zur »Frontbewährung« an die Ostfront entlassen. Einer der
wichtigsten Gesänge in der ›südlegion‹, der sich unter der Überschrift LEGIONIS
SIGNA und dem Titel ›lied der legion‹ im Liederbuch des Bundes findet, begegnet
uns wieder im ›Lagerliederbuch‹105 des KZ Sachsenhausen, das 1942 entstanden ist.
So wie sein Lied überlebte Pallas das Lager bei Berlin und die Front bei Stalingrad,
kam in Gefangenschaft und wurde Mitglied des ›Nationalkomitee freies Deutsch-
land‹. Im Jahr 1947 kam er nach Berlin und arbeitete für den Rundfunk; 1952 nahm
er sich das Leben, weil ihm die »polizei aus westdeutschland wegen der freundschaft
zu einem jungen nachstellte«.106
***
Was bleibt am Ende dieser Suche nach »George-Splittern«? Vielleicht ein Fund von
nahezu symbolischer Aussagekraft. In meinem Exemplar des Gedenkbuches für Al-
fred Schmid vom ›Grauen Corps‹107 liegen zwei Zettel mit dem ›Zeitgedicht‹ aus dem
›Siebenten Ring‹. Dies könnte man so verstehen, dass Stefan Georges Texte in ihrer
jugendbewegten und bündischen Rezeption kaum mehr als eine Beilage gewesen
sind in der Aneignung heterogenster Formen von Literatur und Weltanschauungs-
publizistik in »zeiten der wirren«. Irgendwo zwischen Lagarde und Löns, Borchardt
und Burte, Hofmannsthal und Hölderlin, Gundolf und Gorch Fock108 fanden auch
die Gedichte Georges ihren Platz und entfalteten ihre mehrfach gebrochene Wir-
kung – aber eben nur in solch ästhetischen und ideologischen Kontexten, für die
George weder verantwortlich war noch die er beeinflussen konnte. Was aus den
Texten dann wurde und was blieb, stiftete nicht der Dichter, sondern stifteten dessen
eklektizistische Leser.
Indem wir diese Aneignungsweisen dekonstruieren, geben wir Georges Werk sei-
nen Eigenwert und seine Qualität zurück – inklusive aller Irritationen, die bis heute
von den Texten »des Meisters« ausgehen. Manfred Riedels Behauptung freilich, das
Gedicht ›Geheimes Deutschland‹ sei »bis heute unverändert aktuell«,109 kann man
nur in einer Hinsicht zustimmen: Denn in der heutigen Neuen Rechten ist ein An-
eignungsprozess besonderer Art zu beobachten,110 den man als Erbschleicherei be-
zeichnet hat.111 Einer der profiliertesten Vordenker der Neuen Rechten, wusste sich
im September 2016 folgendermaßen zu erinnern:
Karlheinz Weißmann, ein Vordenker der Neuen Rechten, sagte dieser Zeitung [der FAZ],
die Vorstellung, der 20. Juli sei ein rechter Widerstand gewesen, habe eine große Rolle
für die Zeitung ›Junge Freiheit‹ und ihr gesamtes Umfeld gespielt. ›Ich habe schon mit
Kommilitonen zum 20. Juli 1984 die ganze Göttinger Universität mit Plakaten einge-
deckt, auf denen stand ›Es lebe das heilige Deutschland!‹, so Weißmann. Vor allem der
sogenannte Eid der Verschwörer übt auf die Neue Rechte eine große Faszination aus.
Darin spricht Stauffenberg von der Verachtung der ›Gleichheitslüge‹ und fordert die
Anerkennung der ›naturgegebenen Ränge‹. Dahinter verbirgt sich die Ablehnung der
Gleichheitsidee der Aufklärung und der Werte der Französischen Revolution. Was Stauf-
fenberg für den rechten Rand so attraktiv macht, sind mithin die antipluralistischen,
antiliberalen und antiparlamentarischen Positionen der Verschwörer des 20. Juli.112
Und dass die Dresdner Empörungsbewegung PEGIDA neben der Deutschland- und
Sachsenfahne auch die Wirmer-Flagge aus dem katholischen Widerstandsmilieu der
1940er Jahre nutzt, war und ist inzwischen auf allen Fernsehschirmen weltweit zu
sehen.
I. Fragestellung
Der in einem geselligen Rahmen inszenierte Vortrag von Gedichten, die Rezeption
literarischer Werke in einem Kreis von Anhängern des Dichters, auch durch das
laute Vor-Lesen – diese Aktivitäten standen im Mittelpunkt des George-Kreises. Der
Zusammenschluss von jüngeren und erwachsenen Schülern um den Meister Stefan
George konstituierte sich wesentlich über die Rezeption der Werke des Dichters und
der Werke der Kreisangehörigen selbst.1 Wolfgang Braungart charakterisiert das
ritualisierte Lesen von Gedichten als Kulthandlung und Krönung der Zusammen-
künfte. Lesen als »gemeinschaftliche Praxis«, bei der der Einzelne seine Stimme im
Kreis zur Geltung brachte, galt im George-Kreis als Bedingung, um ein Gedicht als
sprachliches Kunstwerk richtig aufzufassen, zu verstehen.2 Das Vorlesen oder Vor-
tragen von Literatur in der Gemeinschaft genoss selbstverständlich nicht nur hier
hohe Wertschätzung, wurde aber von Stefan George und seinem Kreis in singulärer
Weise als quasi-religiöse Handlung ausgeformt und ästhetisch überhöht. Schließlich
zeichnete sich die im George-Kreis gefundene Form der Dichterlesung durch die
exklusive Zusammensetzung der Mitglieder, die intensive, existentielle Auseinan-
dersetzung mit Literatur und die hohen Ansprüche Georges als Meister gegenüber
seinen Jüngern aus. Viele literarische Zirkel nahmen im Lauf des 20. Jahrhunderts
daran Maß.3
Doch auch Gruppierungen, die sich nicht primär wegen eines gemeinsamen
Interesses an Dichtung und Literatur zusammenfanden, nutzten häufig das Ritual
des Vorlesens in der Gruppe, nicht zuletzt die im Bürgertum verankerten Bünde
des ›Wandervogel‹ und, allgemeiner, der Jugendbewegung. Hier wurde von Beginn
an, also noch bevor das mögliche Vorbild des George-Kreises wirksam werden
konnte, die Möglichkeit gesehen, in der Gemeinschaft der kleinen Gruppe einen
Rahmen zu gestalten, in dem literarische Texte durch lautes Vorlesen zur Sprache
gebracht wurden; durch dieses Ritual erhielt die Gruppe immer wieder aufs Neue
Form und Fokus. Die ›Wandervogel‹-Gruppen hatten damit Anteil an dem um 1900
1 Vgl. Wolfgang Braungart: Hermeneutik. Lesen und Vorlesen, Hören und Verstehen. In:
Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan
George und sein Kreis. Ein Handbuch, 3 Bde., Berlin – Boston 2012. Bd. 2, S. 533–538.
2 Ebd., S. 536.
3 Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-
Kreis (1890–1933), (= Bochumer Schriften zur Bildungsforschung 3), Köln u. a. 1997,
bes. S. 397, 401, 402.
112 Susanne Rappe-Weber
4 Vgl. Malte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Unter-
suchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923,
Göttingen 2016 (= Jugendbewegung und Jugendkulturen/Schriften 19), S. 314.
5 Die im Archiv der deutschen Jugendbewegung verwahrten Gruppenbücher sind in der
Online-Datenbank Arcinsys erschlossen; AdJb, CH 1. Das Korpus im AdJb umfasst mehr
als 730 Gruppenbücher dieser Art, davon mehr als 400 aus der Zeit vor 1945. Eine systema-
tische Auswertung dieser Quellen gibt es bislang nicht. Auch die archivische Erschließung
steht noch am Anfang, denn bislang wurden lediglich einzelne Stücke hinsichtlich ihres
Inhalts ausführlicher beschrieben. Die Gruppenbücher finden bislang insbesondere dann
Interesse, wenn sie andere Unterlagen wie Zeitschriften oder Organisationsschrifttum der
Gruppen und Bünde ergänzen. Auch in Ausstellungen wurden hin und wieder einzelne
Exemplare als Ausdruck jugendlichen Gruppenlebens gezeigt.
6 Ein frühes ›Nestbuch‹ als einfaches Einschreibeheft mit Unterschriften stammt z. B. von der
Mädchen-Ortsgruppe Berlin-Oranienburg (1913–1916), AdJb, CH 1 Nr. 101.
7 Das ›Fahrtenbuch‹ der Ortsgruppe Dresden im Bund Deutscher Wanderer (1915–1916)
mit seinen ausführlichen Fahrtenberichten der jeweiligen Fahrt aus der Hand des Führers
stellt ein typisches Beispiel dar; AdJb, CH 1 Nr. 4.
8 Ein solches ›Tagebuch‹ führte z. B. Otto Volk, Mitglied in der Ortsgruppe Büdingen des
›Wandervogel‹ (1910–1913); AdJb, CH 1 Nr. 2.
Feundschaft und Exklusion 113
verbreitet war, nicht zuletzt auf Anregung oder gar unter Druck von Schule und
Elternhaus, wie Siegfried Bernfeld in einer grundlegenden Studie zeitgenössisch
ausführte.9 Kennzeichnend war die starke Normierung des Tagebuchs, einmal in
formaler, dann aber auch in inhaltlicher Hinsicht. Neben einfachen Heften standen
dafür längst Fertigtagebücher zum Kauf bereit, um die Sammlung aktuell-biogra-
phischer Aufschriebe in literarischer Form aufzunehmen, wobei der Inhalt nicht nur
protokollarisch sein, sondern das Ich in seinen Interessen und seinem Seelenleben
spiegeln sollte. Während viele Gruppenbücher formal durchaus solchen individuel-
len Tagebüchern entsprechen, haben darin im Inhalt reflektierende oder wertende,
persönliche Innensichten kaum Platz. Vielmehr herrschen berichtende, chronik-
artige Eintragungen vor, selbst bei den von einer Person für die gesamte Gruppe
verfassten Tagebuch-Texten. Aus diesen Einschränkungen in der schriftlichen Dar-
stellung ergibt sich ein weiterer Ansatzpunkt für die Forschung aus einem Vergleich
mit Stammbüchern und Poesiealben als besonders traditionsreichen Freundschafts-
und Erinnerungsbüchern10 sowie ›Scrapbooks‹, einer freieren Form der Schnipsel-
Sammlung, die sich um 1900 etabliert hatte. Besonders die ›Scrapbooks‹ verweisen
darauf, dass auch sprachlich nicht elaborierte Album-Formen als eigenständige
Werke mit schöpferischer Ausdruckskraft Auskunft über ihre Verfasser und deren
Intentionen geben können.11 Von der Eingangsfrage nach der Praxis des Vorlesens
in der Gruppe ausgehend bieten sich daher zwei Perspektiven an: Die Gruppen-
bücher der Jugendbewegung können daraufhin untersucht werden, inwieweit sich
darin eine Praxis des gemeinschaftlichen Lesens beobachten lässt und sie können als
in der Gemeinschaft geschaffene Werke betrachtet werden, mit denen Freundschaft
und Exklusion gleichermaßen bestimmt und festgehalten wurden, wobei Widmun-
gen, literarische Zitate oder die künstlerische Gestaltung weitere Hinweise auf den
Lektürekanon und die bevorzugten Dichter, darunter im Einzelfall Stefan George
und der George-Kreis, geben.
Eine Durchsicht von rund 50 Gruppenbüchern aller Gattungen aus der Zeit zwischen
1910 und 1933 zeigt das gemeinsame Lesen als häufige Beschäftigung insbesondere
bei den ›Nestabenden‹. Das heißt: Fast immer, wenn die ›Nestbücher‹ nähere Aus-
kunft über das Gruppengeschehen geben, gehörte das Lesen dazu. Auch die von
Einzelnen geführten Gruppentagebücher spiegeln diese Praxis. Umgekehrt fand das
Vorlesen unterwegs, ›auf Fahrt‹, praktisch keine Erwähnung, vielmehr charakteri-
sierte es, neben dem Singen bzw. Spielen oder Raufen, den typischen ›Nestabend im
Wandervogel‹ und in der bündischen Gruppe. Einen anderen Zusammenhang für
den Vortrag von Gedichten boten Feste, etwa anlässlich der Sonnenwende oder einer
Fahnenweihe, die mit ritualisierten Handlungen einen feierlichen Rahmen schufen,
in dem dann das Dichterwort seine Wirkung entfalten konnte. Wie die genauen Um-
stände des Vorlesens, Vortragens und Zuhörens aussahen, soll im Folgenden anhand
von drei Beispielen erläutert werden.
In der Ortsgruppe Zwickau des ›Wandervogel‹ e. V. wurde zwischen 1916 und
1922 mit größeren Lücken ein ›Nestbuch‹ geführt.12 Begonnen mitten im Ersten
Weltkrieg entfaltet sich auf 40 Seiten ein Bild vom Leben ›im Nest‹, zu dem sich
regelmäßig eine Jungen- und eine Mädchengruppe, meist getrennt voneinander,
manchmal aber auch gemeinsam in wechselnder Zusammensetzung einfanden. Als
älterer Führer, umgeben von einem Kreis der ›Alten‹, stellte sich darin Wolfgang
Niemeyer dar, an einer Stelle auch »lieber Vater Niemeyer« genannt, der zu einzelnen
›Nestabenden‹ Lektüre mitbrachte, der sich um das »Archiv« und die »Geschichte
der Zwickauer Gruppen« kümmerte und Kontakt zu den überregionalen Ebenen des
›Wandervogel‹ hielt.13 Er notierte am 14. März 1916:
Heute haben wir zum 1. Mal draussen gespielt, sogar mit ein paar Dorfbuben. Wir wol-
len auch sehen, wie die Mädchen, soziale Arbeit zu leisten [...]. Die Notwendigkeit haben
wir schon lange eingesehen – aber –. Dann haben wir aus der gelben Führerzeitung den
1. Feldbrief, der uns gewaltig ergriffen hat, vorgelesen, dann 2 Märchen. Dann haben
wir f. d. Gau [...] gearbeitet.14
In den ersten Wochen des Jahres 1916 finden sich eine Reihe solcher oder ähnlicher
Einträge von Niemeyer, in denen seine Führungsrolle zum Ausdruck kommt. In
seiner Deutung des »Wir«, die draußen spielen, und die »soziale Arbeit« leisten, und
des »Wir«, die von dem Feldbrief ergriffen sind, konstruierte er die Gemeinschaft
der Jungen, gegenüber »den Dorfbuben«, aber auch gegenüber »den Mädchen«, an
anderer Stelle auch gegenüber »den Alten«, die damit als exkludierter Außenraum
benannt sind. Und mit den genannten Aktivitäten ist schon ein Rahmen für die Zu-
sammenkünfte und das Wesen der Gruppe gegeben: Miteinander spielen, Aufgaben
für die Gemeinschaft übernehmen, durch Lesen und Zuhören den gemeinsamen
Horizont erweitern. Das »Wir« des Anführers wurde von anderen Gruppenange-
hörigen bestätigt: Die Einträge des Buches stammen von verschiedenen Schreibern,
die mit eigener Handschrift, aber auch im eigenen Stil das Erlebte zusammenfassen.
Zudem unterschrieben an vielen Abenden alle Anwesenden; das war besonders bei
den Mädchen üblich. Den Rahmen gab das ›Nest‹, in dem zu festgesetzter Stunde
dienstags die Jungen und mittwochs die Mädchen am Abend kamen. Meist stand
am Anfang das Spiel, am Ende das gemeinsame Singen und dazwischen oft die Be-
schäftigung mit Texten. Als literarische Texte werden etwa 1916 bei den Mädchen
12 Vgl. ›Nestbuch‹ der Ortsgruppe Zwickau des ›Wandervogel‹ e. V., 1916–1921; AdJb, CH 1
Nr. 19, nicht paginiert.
13 Der Lehrer am Realgymnasium, Wolfgang Niemeyer, trat sein Amt als Leiter der Orts-
gruppe im Februar 1913 an. Deren Aktivitäten sind dokumentiert in: Wandervogel. Gau-
blatt für Sachsen, 1913 ff.; AdJb, Z 100–2553.
14 AdJb, CH 1 Nr. 19, unpag.
Feundschaft und Exklusion 115
genannt: Die Novelle ›Beim Vetter Christian‹ von Theodor Storm, die Erzählung
›Der Seehund‹ von Adolf Schmidthenner und immer wieder Märchen; bei den Jun-
gen eine Tiergeschichte von Ernest Thompson Seton, ›Der Krieg um den Wald‹ von
Moritz Hartmann und ebenfalls Märchen. Nicht mehr die relativ idyllische Welt
der ersten ›Wandervogel‹-Zeit um die Jahrhundertwende, sondern das anhaltende
Kriegsgeschehen bestimmte den Hintergrund dieser Zusammenkünfte der Zwick-
auer ›Wandervögel‹: Soldaten nahmen an den ›Nestabenden‹ teil, ›Feldbriefe‹ wur-
den verlesen, Postkarten geschrieben, einmal wurde im ›Nest‹ eine ›Totenfeier‹ für
einen Gefallenen aus den eigenen Reihen gehalten.15 Das ›Nestbuch‹ bildete eine
Grundlage der Verständigung untereinander: Es lag im ›Nest‹ aus, konnte direkt ein-
gesehen werden und vermittelte zwischen Neulingen und Älteren ein Wissen um die
Einheit der Ortsgruppe. Aber als sich die staatlich-gesellschaftliche Ordnung nach
1918 auflöste, riss dieser Faden für einige Jahre ab. Mehrfach war nun von »unserer
traurigen Zeit« die Rede, vom ›Nestabend‹ mit dem Lesen von ›Rosegger‹ als Licht-
blick, bevor das Buch mit einer »Singeübung für den Werbeabend« 1922 endete.
Die vom ›Führer‹ der Gruppe eingebrachten und vorgetragenen literarischen
Texte können als ›gute Literatur‹ im Sinne der jugendbewegten Literaturkritik an-
gesehen werden: Altersangemessene Natur- und Tiergeschichten von anerkannten
Autoren sowie Märchen. Unmittelbare Verweise auf George wurden in der Zeit vor
1920 nicht gefunden. Vielmehr galt es, den Kindern abseits von Schule und Eltern-
haus im behaglichen Umfeld des ›Wandervogel-Nestes‹ Begegnungen mit Geschich-
ten, die für eine ethische Lebensführung standen, zu vermitteln. Auf diese Weise
lernten die Gruppen im praktischen Gebrauch einen selbstverständlichen Umgang
mit Literatur.
Das zweite Beispiel führt zu einer Mädchengruppe in Leipzig, die im Jahr 1930
als Mitglieder der ›Deutschen Freischar‹ ein ›Nestbuch‹ führte, obwohl es in diesem
Fall, genau genommen, gar kein ›Nest‹ gab.16 Vielmehr fanden solche Abende reih-
um bei den Gruppenmitgliedern statt. Auch die Einträge wurden reihum vorgenom-
men. Das Ende des Buches bildet dann 1931 der Umzug in ein neues gemeinsames
›Nest‹ aller vier Leipziger ›Freischargruppen‹. Auffällig sind im Vergleich zu vielen
älteren ›Nestbüchern‹ die flüssigen modernen Handschriften, der Verzicht auf ger-
manische Monatsnamen und das Fehlen besonderer Widmungen. In den knappen,
nüchternen Berichten zeigt sich eine feste Gruppe von zehn jungen Frauen mit
»Elfriede« als Führerin, die sich durch die Aufteilung eines größeren Kreises neu ge-
bildet hatte, was den Beteiligten schwergefallen war, »weil es aber sein mußte, so ging
es auch«.17 Die Notwendigkeit, sich nach außen abzugrenzen und einen exklusiven
Binnenraum zu gestalten, ergab sich hier aus organisatorischen Erfordernissen. Die
Gruppe gab sich gesellschaftspolitisch informiert, gebildet und pflichtbewusst; die
Zugehörigkeit zur Jugendbewegung war für jede Einzelne eine bewusste Entschei-
dung. Einige der jungen Frauen waren mit der Betreuung von Jüngeren-Gruppen
in der ›Freischar‹, den ›Küken‹, befasst. Die Abende selbst verliefen harmonisch,
wobei das Fehlen Einzelner durchaus genau registriert wurde. Meist aber war es
»gemütlich«, die »Arbeit« wurde eingebettet zwischen das gemeinsame Singen zu
Beginn und am Ende. Das Vorlesen teilte sich in Abende mit ›schöner Literatur‹ und
in solche, an denen an Sachfragen mit entsprechenden Texten gearbeitet wurde. Ge-
rade zu Beginn des Jahres 1930, als sich die neue Gruppe zusammenfand, spielte die
Beschäftigung mit Literatur eine große Rolle: »Elfriede las uns Rilkes ›Briefe an einen
jungen Dichter‹ vor, die uns sehr gut gefielen. Zum Schluß sangen wir noch mal und
gingen dann heim«. In der nächsten Woche dann wieder Rilkes Briefe (»die sind
wundervoll«), später ›Briefe‹ von Paula Modersohn-Becker und Hermann Hesses
›Wanderung‹, so kommentiert: »Es sind sehr fein geschilderte Stimmungen«. Das
gemeinsame Lesen, die Freude an den Texten, der übereinstimmende Geschmack
bildeten für einige Wochen das Zentrum dieser Gruppe, über das sich die jungen
Frauen zusammenfanden, gerade weil sie sich noch »ein wenig beschnüffeln« muss-
ten. In dieser Phase entschieden sie sich z. B. dagegen, sich an der Bundes-Zeitschrift
mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen, »weil wir noch keine Kritik der Öffentlich-
keit ertragen könnten«. Sie nahmen die Phase der Gruppenbildung ernst und gaben
ihr Raum, bevor sie sich dann entschlossen, für ein Bundestreffen das Thema ›Frau
und Politik‹ vorzubereiten.18
Nun trat die ›schöne Literatur‹ zurück, stattdessen wurden politische und juristi-
sche Schriften der Frauenbewegung, aber auch Parteiprogramme gelesen.19 Im Jah-
reslauf kamen sie dann noch zu Fragen der Berufswahl und Familiengründung, die
sie jeweils mit viel Grundlagen-Lektüre angingen: Von Marianne Weber über Fried-
rich Engels bis zu Adolf Reichwein und Alice Salomon. Das Fazit: »Wir konnten aber
beim besten Willen an den heutigen Familienverhältnissen nicht viel loben«. Erst zu
Weihnachten gönnten sie sich wieder einen literarischen Abend mit der Erzählung
›Das Triptychon von den Heiligen Drei Königen‹ von Felix Timmermans. Auffällig
ist, dass nicht nur die politischen Texte, sondern alle Werke einer bewussten Aus-
wahl entstammten und die Gruppe in ihrer Identität stärkten. Rilke, Modersohn-
Becker, Hesse, aber auch Timmermans waren zeitgenössische Autoren, die für eine
an der Romantik orientierte Zivilisationskritik und ästhetisch neue Wege standen.
Weder Parteiprogramm noch Erziehungskonzept, sondern eine klare Haltung und
eine aufmerksame Wahrnehmung des Zeitgeschehens prägten diese, aus dem ›Wan-
dervogel‹ hervorgegangene Mädchen-Gruppe der ›Deutschen Freischar‹, für die das
gemeinsame Interesse an Literatur zum Ausgangspunkt für ihr gesellschaftliches
Engagement wurde.20 Die ›Deutsche Freischar‹ insgesamt, mit dem ›Zwiespruch‹
als Bundesblatt, zählt zu den Gruppierungen, in denen die Rezeption Georges eine
besondere Rolle spielte.21 Spuren davon sind im Leipziger Beispiel vor allem in der
starken Bedeutung von Lesen und bildender Lektüre für diesen Mädchenkreis zu
sehen. Vorbereitet durch Instanzen wie Schule und Elternhaus, gewann hier das Le-
sen durch die selbstständige Auswahl und Interpretation innerhalb der Gruppe eine
eigene Qualität und führte dazu, dass sich die Mädchen eine umfassende Bildung
aneigneten. Dabei trat die ›Führerin‹ gegenüber dem Gruppengeschehen, den Ge-
sprächen, Diskussionen, aber auch in den gemeinschaftlichen Aufzeichnungen stark
zurück. Es war der auf Bildung und gemeinsamer Lektüre literarischer und anderer
Texte gegründete Freundschaftsbund an der Schwelle zum Erwachsenwerden, der
ganz allgemein auf das Vorbild des George-Kreises für die Jugendbewegung ver-
weist, auch wenn eher männerbündische Symbole und Rituale rings um Flamme
und Feuer ganz fehlten und George im Lektürekanon selbst nicht nachgewiesen
werden konnte.
Solche Spuren lassen sich nun aber im dritten Beispiel finden, das diese ausdrück-
lich benennt. Anstelle eines ›Nestbuches‹ schrieb die Gruppe ›Burg‹ in der ›Schwäbi-
schen Jungenschaft‹ der ›Deutschen Freischar‹ in Mannheim seit 1926 mehrere Male
im Jahr ›Burgrundbriefe‹, um sich über Erlebtes und Geplantes zu verständigen. Das
›Gruppenbuch‹ enthält dagegen als Lose-Blatt-Sammlung mit eingeklebten Foto-
grafien die Vorgeschichte seit 1908, zusätzlich diente ein (nicht überliefertes) ›Heim-
19 Aus den Parteiprogrammen gewann die Mädchengruppe die Erkenntnis: »Je weiter rechts,
desto schönere Worte«; keine der Parteien schien ihnen sehr überzeugend.
20 Ihre gesellschaftliche Einbindung stellten sie unter das Motto »Lernen von Tatsachen,
Ringen um die eigene Überzeugung, den eigenen Standpunkt als Grundlage des eigenen
Tuns«; Mädchen, 1931, Nr. 3/Mai 1931, S. 47.
21 Vgl. Stefan Breuer: Die bündische Bewegung. In: Aurnhammer u. a., George und sein Kreis
(Anm.1), Bd. 3, S. 1199–1211.
118 Susanne Rappe-Weber
22 Überliefert sind diese und weitere Dokumente im Nachlass von Gustav Fremerey (1902–
1987; AdJb, N 57): das Gruppenbuch (Nr. 8), die Burgrundbriefe 1929–1934 (Nr. 9).
23 Eine neuere Darstellung dieser Vorgänge bietet Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine
neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015 (= Moderne Zeit 26), S. 332–348.
24 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Be-
arbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff., Bd. VIII, S. 37.
Im Folgenden mit der Sigle SW Bandnummer, Seitenzahl zitiert.
Feundschaft und Exklusion 119
re die kleine festgefügte Gemeinschaft, die nun ohne Sinn und Gestalt sei. – Bezüge
auf das Gedankengut Georges sind in dieser Mannheimer Jungengruppe, deren Mit-
glieder 1930 zwischen 15 und 22 Jahren alt waren, offenkundig und das nicht erst
bei dem Feuerritual, bei dem die Rezitation eines George-Gedichtes den inhaltlichen
Kern bildete. Schon in den Motiven des eigenen Stammesgedichtes, in dem der Zu-
sammenhalt der kleinen Gruppe beschworen wurde, scheinen solche Bezüge auf.
Der Verzicht auf die »kleine festgefügte Gemeinschaft« wurde dann 1933 angesichts
des Verbots durch die Nationalsozialisten wegen der anstehenden höheren Aufgaben
zur Pflicht erklärt, obwohl diese, so der Gruppengründer ›Zäpfel‹, »gerade in unse-
ren Tagen [...] nottun«. Exklusive Freundschaftsbande, wie sie im Begriff der ›Schar‹
zum Ausdruck kommen, würden der Hingabe an größere Einheiten im Weg stehen.
Begriffe wie ›Bund‹, ›Volk‹ oder ›Staat‹ fehlten zwar, doch die Ausrichtung war deut-
lich, denn »unsere ganze Hoffnung« wird »von Tag zu Tag stärker«, so Zäpfel weiter.
Hier spiegelt sich die Situation der ›Freischar‹ innerhalb des ›Großdeutschen Bun-
des‹ wider, die noch vor dem Verbot ihre grundsätzlich nationale und sozialistische
Ausrichtung und Treue erklärt hatte, sich aber im Unterschied zu anderen Bünden
als Teil der bürgerlichen Rechten und nicht der nationalsozialistischen Bewegung
positionierte.25 Der Vers Stefan Georges »Bangt nicht vor rissen brüchen wunden
schrammen« scheint den Schmerz angesichts des kommenden Verlustes unmittelbar
auszudrücken und gleichzeitig Trost zu vermitteln, denn: »Jed ding wie vordem heil
und schön genest / Nur dass unmerkbar neuer hauch drin west«,26 wie es auf dem
Deckblatt des Rundbriefes weiter zitiert wird. Das erstmals 1914 in dem Gedicht-
band ›Der Stern des Bundes‹ veröffentlichte Gedicht Georges bot denen, die es 1933
als Jungengruppe hörten oder lasen, mit seinen offenen Formulierungen weite, vom
Entstehungszusammenhang ganz abgelöste Deutungsmöglichkeiten. Der letzte Vers
»Bringt kranz und krone für den Ungenannten!«, der sich ursprünglich auf den im
›Stern‹ angesprochenen ›Gott Maximin‹ beziehen ließ, könnte im Zeitkontext vom
Oktober 1933 auch dem neuen Machthaber des neuen Reiches gegolten haben, dem
nun Ehre und Unterwerfung zuteilwurden. Allerdings geben die Quellen über die
Rezeption durch die ›Freischar-Jungen‹ keinen Aufschluss.
Deutlich ist aber, dass es in dieser Gruppe zwei Arten des Umgangs mit Literatur
gab, zum einen die individuelle Lektüre, die durch Empfehlungen im Burgrund-
brief gefördert wurde und zum Anlass für Gespräche werden konnte, zum anderen
die Rituale feierlicher Gedicht-Lesungen, in denen mit der sprachlichen Gestaltung
weitere Zeichen wie Tanz, brennender Holzstoß, Umschreiten der Flamme usw. aus-
gedeutet wurden.
Noch klarer bezog sich der ›Tahoe-Kreis‹, ein Zusammenschluss von Berliner Pfad-
findergruppen, die sich 1930/31 aus der ›Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder‹
gelöst und eine elitäre neue Gemeinschaft begründet hatten, auf literarische Texte,
27 Vgl. Arno Klönne: Südlegion. Ein Bericht über Rudi Pallas und den Jungenbund Südlegion.
In: Puls. Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, 1986, Heft 13. Vgl. zu den Kor-
respondenzen und Organisationsunterlagen dieser Gruppe auch AdJb, A 153 b. Vgl. zur
George-Rezeption in der ›Südlegion‹ auch Johann Thun: Der Bund und die Bünde. Stefan
George und die deutsche Jugendbewegung. In: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid (Hg.):
Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld
2016, S. 87–104, bes. S. 97–100.
28 Lieder der Süd-Legion, Plauen: Günther Wolff 1932 (AdJb, B/932–180).
Feundschaft und Exklusion 121
es in die Hand nahmen, gab es Aufschluss über das Geschehene und die anderen
Gäste des Raums.29
Dagegen stehen Büchlein mit einer einheitlichen Ästhetik als besonderer Aus-
druck eines bestimmten Gruppenlebens. Gestaltungsmittel konnten kalligraphische
Schriften, Fotografien, Einklebungen oder auch Zeichnungen, insbesondere sche-
renschnittartige Tuschezeichnungen im ›Wandervogel‹-Stil, sein, die den Rahmen
für die Unterschriften der anwesenden Mitglieder, sonst aber kaum weitere Auskunft
über die Veranstaltungen selbst gaben. Zuweilen präsentieren sich diese Bücher aber
auch weniger ausgearbeitet und deutlich ironisch. Ein Beispiel dafür stellt das ›Nest-
buch‹ der ›Deutschen Freischar‹ aus Berlin-Friedenau (1925–1930) mit seinen durch
Schrift und Zeichnungen gestalteten Rahmen für die Signaturen der Teilnehmer
an 65 gemeinsamen Abenden dar (Abb. 2). Es enthält viele, teils triviale Sprüche,
jugendliche Kritzeleien, Skizzen und dazu Zitate von Shakespeare, Schiller, Goethe,
Hölderlin, Rückert und Gorch Fock.
29 Die Rolle der ›Nester‹, obwohl wie hier gezeigt von konstitutiver Bedeutung für das Grup-
penleben, ist bislang kaum untersucht worden; vereinzelt zeigen Fotos etwas von der in-
dividuellen Ausgestaltung der Turmzimmer, Stuben und provisorischen Behausungen in
der Stadt.
122 Susanne Rappe-Weber
IV. Schluss
Wie gezeigt werden konnte, nutzten die jugendbewegten Gruppen Literatur und das
Lesen in recht unterschiedlicher Weise. Im ›Wandervogel‹ des Kaiserreichs war es, so
das Beispiel, vorwiegend der ältere Führer, etwa ein Lehrer, der das Vorlesen alters-
gemäßer Geschichten als Programm für die Abende im ›Nest‹ nutzte. Nicht allein
zur Unterhaltung, sondern vor allem zur Erziehung der jungen Leute im Hinblick
auf Tugenden und ethische Werte der Gruppe, möglicherweise auch zur Vermittlung
literarischer Bildung diente ihm das Vorlesen im Nest. Daneben finden sich weite-
re »Lesespuren«, verbunden mit der Intention, das ›Wandervogel-Nest‹ als Rück-
zugsort in unübersichtlichen Zeiten zu gestalten. Dagegen begriffen die ›Leipziger
Freischärlerinnen‹ der 1920er-Jahre ihre ›Nestabende‹ zwar auch als »gemütliche
Stunden«, nahmen die Gemütlichkeit aber zum Ausgangspunkt für eine eigenstän-
dige Auseinandersetzung mit literarischen und gesellschaftspolitischen Texten, die
sie selbstständig bewerteten und auf ihre eigene Situation bezogen. Die gemeinsam
gelesene Literatur entstammte nicht einem bürgerlichen oder schulischen Kanon,
sondern von zeitgenössischen, moderat modernen Autoren. Der Vorrang der ›Füh-
rerin‹ gegenüber den jüngeren Mitgliedern deutete sich in dem ›Nestbuch‹ zwar
an. Doch überragende Bedeutung hatte die Vollzähligkeit der Gruppe, die gemein-
same Positionen erarbeitete und – nach einer Übergangszeit – nach außen vertrat.
Im dritten Fall, der ›Mannheimer Jungenschaft‹ zu Beginn der 1930er-Jahre, wurde
Literatur vorwiegend individuell rezipiert, konnte und sollte aber als kulturelles
Erleben in die Gespräche untereinander eingebracht werden. Weiterhin kam Ge-
dichten, wie denen von George, ein besonderer Platz in den Gruppenritualen zu.
Feundschaft und Exklusion 123
Enge Bezüge auf das Vorbild des George-Kreis wurden außer in der ›Deutschen
Freischar‹ in den kleinen exklusiven Gemeinschaften ›Südlegion‹ und im ›Tahoe‹-
Kreis nachgewiesen. Für die drei genannten Typen des gemeinschaftlichen Lesens
sowie der Literatur- und insbesondere der George-Rezeption, die sich bei weiterer
Auswertung der Gruppenbücher noch ergänzen ließen, finden sich in dem aus-
gewerteten Korpus jeweils weitere Beispiele, die sich aber in der Ausprägung und
Gestaltung von den dargestellten durchaus unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen,
dass es sich – soweit erkennbar – um Gruppen handelte, in denen überregional
oder national tätige Führerpersönlichkeiten oder später als Literaten oder Geistes-
wissenschaftler bekannt gewordene Mitglieder keine herausragende Rolle gespielt
hätten. Anders als bei der Auswertung von Zeitschriften, publizierten Abhandlun-
gen oder Erinnerungsschriften tritt bei den ›Nestbüchern‹ das Gruppengeschehen
selbst stärker in den Vordergrund, sowohl in seiner Trivialität wie auch in der Nähe
zum Erlebten, das sich aus dem zeitlich dichten Anschluss des Schreibens an das
Erlebnis ergibt. Freundschaft untereinander und Exklusion gegenüber Dritten, die
sich in besonderer Weise über die Teilhabe an den um das schriftstellerische Wort
gruppierten Veranstaltungen ausdrückten, werden in den ›Nestbüchern‹ reflektiert.
Der Rahmen, in dem sich die Namen der Dabeigewesenen einfinden und unter ein
Wort oder eine Zeichnung stellen, prägten zudem die gemeinsame Erinnerung, wie
die Überlieferungsgeschichten der Gruppenbücher, die bis zur Abgabe in ein Archiv
reichen, zeigen.
Der Flamme Trabant 125
Der folgende Beitrag möchte einen Zusammenhang zwischen der Geschichte der
Flammen- und Feuersymbolik und dem Gedicht ›Wer je die flamme umschritt‹
von Stefan George aufzeigen. Ausgangspunkt ist dabei die literarische und per-
formative Verwendung der Symbolik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert (I). In
einem zweiten Schritt wird auf die Tradition der Sonnenwendfeiern eingegangen,
ein angeblich alter Brauch, der kurz vor 1900 wiederbelebt und von verschiedenen
sozialen und politischen Gruppierungen aufgegriffen wurde, insbesondere durch die
Jugendbewegung (II). Im Nationalsozialismus erlebten die Sonnenwendfeiern eine
staatliche Förderung; Blut, Volk, Opfer und Krieg sind die Leitmetaphern der ent-
sprechenden Texte (III). Schließlich geht dieser Beitrag der Frage nach, welche Ver-
bindungslinien zwischen Stefan George und der Jugendbewegung existieren (IV),
bevor in einem letzten Teil die Rezeptionsgeschichte des George-Gedichts ›Wer je
die flamme umschritt‹ beleuchtet wird (V). Dabei spielen die zuvor genannten Ele-
mente (I–IV) eine zentrale Rolle, die es erlauben, den Text von George kulturhis-
torisch zu verorten, insbesondere auch hinsichtlich seiner Performanz.
1 Christian Horn/Matthias Warstat: Feuer und Flamme. Zu einem theatralen Aspekt politi-
scher Feste. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Figurative Politik. Zur Performanz der Macht
in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 103–124, hier S. 112. – Zur Gesamtthema-
tik vgl.: Herbert Freudenthal: Das Feuer im deutschen Glauben und Brauch, Berlin 1931;
ferner: Matthias Zender: Volksbrauch und Politik. Lichterumzüge und Jahresfeuer von
1900 bis 1934. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 38, 1974, S. 355–385.
2 George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewe-
gungen in Deutschland vor dem Napoleonischen Krieg bis zum Dritten Reich, Frankfurt
a. M. 1976, S. 55–58.
126 Michael Fischer
toburger Schlacht (die Arndt mit der Völkerschlacht bei Leipzig in Parallele setzte)
»um die Sonnengicht (Johannis)« feiern, »da an diesem heiligen und längsten Tage
in vielen Gegenden Teutschlands immer noch Freudenfeuer angezündet werden
und da er mit Gelagen und Tänzen von den Menschen begangen wird«.3 In dem
von Karl Hoffmann im Jahr 1815 publizierten Erinnerungswerk »Des Teutschen
Volkes feuriger [!] Dank- und Ehrentempel« wird der Völkerschlacht bei Leipzig
gedacht. Dabei werden sowohl in den Festberichten wie auch in den Ansprachen
die vielen Freudenfeuer hervorgehoben. Über den Rheingau heißt es beispielsweise,
jede Gemeinde habe ihr Feuer gehabt, »um das sich Jung und Alt in fröhlichem
Kreise lagerte« und sich des Tages erfreuten.4 Am zweiten Festtag »brannten die
Feuer auf den Bergen und Anhöhen, zu denen die fröhlichen Menschen mit Musik
und unter dem Donner des Geschützes zogen« und den ganzen Rhein entlang hätten
Feuersäulen gestanden.5 Der Freude – und der Erinnerung – wurde in Liedern Aus-
druck gegeben. In Bingen wurde beispielsweise folgende Gedichtstrophe in Umlauf
gebracht:
Lodre empor,
Flamme, empor,
Künde ringsum den Genossen
Freude, den Herzen entsprossen,
Heilig und hehr!7
Flamme! empor –
Steige mit loderndem Scheine
Heilge Gluth!
Rufe die Jugend zusammen,
Daß bei den zischenden Flammen
Wachse der Muth.8
Die lodernde Flamme repräsentierte wahlweise den Sieg des Lichts über das Dunkel,
des Tages über die Nacht oder des Frühlings über den Winter. Im germanischen Mythos,
der von der nationalliberalen Bewegung neu konstruiert und popularisiert wurde, stand
Feuer für die Kräfte der Sonne, die dem Menschen Stärke und Leidenschaft verleihen
sollten.10
Diese Polyvalenz spiegelt sich auch in der langfristigen Rezeption des Liedes ›Flam-
me empor‹ wieder: Es wurde in den 1920er Jahren von den ›Wandervögeln‹11 genau-
so gesungen wie von Studenten.12 Die Arbeiterbewegung hat eine eigene Textfassung
hervorgebracht,13 während die Nationalsozialisten14 es in den 1930er Jahren ebenso
verwendeten wie die evangelische Jugend oder katholische Vereine.15
Die bereits im 19. Jahrhundert verbreitete Bezeichnung »heilige Flamme«16 oder
auch »heilig Brandaltar«17 deutet zudem auf eine »religiöse Schattierung«18 (George
8 Johann Heinrich Christian Nonne: Vermischte Gedichte und Parabeln, Duisburg und Es-
sen 1815, S. 219 f. (erste und dritte Strophe des Gedichts).
9 Zu den Freudenfeuern anlässlich historischer Ereignisse vgl. Freudenthal, Das Feuer
(Anm. 1), S. 351 f.
10 Horn/Warstatt, Feuer und Flamme (Anm. 1), S. 113.
11 Frank Fischer (Hg.): Wandervogel-Liederbuch, Leipzig 51920, S. 259 f.
12 Friedrich Silcher/Friedrich Erk (Hg.): Allgemeines Deutsches Kommersbuch, 121.–
126. Auflage, Lahr 1922, S. 44 (Textfassung von Nonne 1814), S. 44 f. (Textfassung von
Rudolf Flex 1900, »Vor der Bismarcksäule«).
13 August Albrecht (Hg.): Jugend-Liederbuch, Berlin 1928, S. 19 (Textfassung von Max Barth).
14 Erich Harting (Hg.): »Unter Hitlers Fahnen«. Nationalsozialistisches Liederbuch, Halle o. J.,
S. 49 f.
15 Evangelisches Jungmännerwerk Deutschlands (Hg.): Der helle Ton. Ein Liederbuch für
die deutsche evangelische Jugend, mit einem Marschlieder-Anhang, Kassel-Wilhelmshöhe
2
1935, Nr. 373a.; Verband katholischer Arbeiter- und Arbeiterinnen-Vereine Süddeutsch-
lands (Hg.): Unser Lied. Liederbuch für katholische Vereine, München 21935, S. 45 f.
16 Etwa: »Hoch in die Lüfte wirbele auf, heilige Flamme! und verkünde den teutschen Brü-
dern, nah’ und fern, daß auch hier des großen Tages Teutsche sich erfreuen!« (Hoffmann,
Dank- und Ehrentempel [Anm. 4], S. 63).
17 Eppenauer, Erinnerung (Anm. 4), S. 12.
18 Mosse, Nationalisierung der Massen (Anm. 2), S. 57.
128 Michael Fischer
19 Etwa im Hinblick auf die Osterkerze, die Segnung des Osterfeuers, das Ewige Licht über
dem Tabernakel oder als Symbol für den Heiligen Geist (Feuer, Feuerzungen) oder die
Liebe Gottes, vgl. Mosse, Nationalisierung der Massen (Anm. 2), S. 56. – Vgl. das 1812 zum
ersten Mal publizierte christliche Erweckungslied »O daß doch bald Dein Feuer brennte«
von George Friedrich Fickert (vgl. hierzu: Wolfgang Herbst: 225 O dass doch bald dein
Feuer brennte. In: Martin Evang/Ilsabe Seibt: Liederkunde zum Evangelischen Gesang-
buch, Heft 21, Göttingen 2015, S. 29–33).
20 Mosse, Nationalisierung der Massen (Anm. 2), S. 57.
21 Zur Licht- und Flammensymbolik der Arbeiterbewegung vgl. Friedrich Falk: Die religiöse
Symbolik der deutschen Arbeiterdichtung der Gegenwart, Stuttgart 1930, S. 125–133; vgl.
zudem Walter Eschbach: Unsere Feier. Handbuch zur Gestaltung sozialistischer Jugend-
feste und Jugendfeiern, Berlin 1929.
22 Horn/Warstatt, Feuer und Flamme (Anm. 1), S. 113.
23 Ebd.
24 Vgl. hierzu: Freudenthal, Das Feuer (Anm. 1), S. 288–327.
25 Ebd., S. 309. – Vgl. kritisch hierzu: Gunther Hirschfelder: Mittsommer, Sonnenwende und
Johannisfeuer im Rheinland zwischen Tradition und Inszenierung. In: Rheinisch-westfäli-
sche Zeitschrift für Volkskunde 50, 2005, S. 101–140. – Der Autor weist vor allem die Vor-
stellung einer Kontinuität bzw. »Tradition« dieser Sonnenwendfeiern zurück; in Anschluss
an Eric Hobsbawm spricht er von »invention of traditions« (ebd., S. 133).
Der Flamme Trabant 129
26 Ebd., S. 131.
27 Ebd., 132.
28 Ebd. – Vgl. außerdem Freudenthal, Das Feuer (Anm. 1), S. 342.
29 Zit. nach ebd., S. 341.
30 Ebd., S. 342.
31 Vgl. ebd.
32 Auf die praktische Dimension des Feuers (Zubereitung von Speisen, sowie als Licht- und
Wärmequelle) wird hier nicht eingegangen, auch wenn es offenkundig ist, dass diese die
Wahrnehmung der Teilnehmer stark geprägt hat.
33 Iris Oppermann: Die Sonnenwendfeier in Marbach am 21.06.1934: »Die deutsche Jugend
huldigt Friedrich Schiller« – multifunktionaler Geniestreich im Dienste einer regime-
integrativen Klassikerinszenierung. In: Georg Bollenbeck (Hg.): Traditionsanspruch und
Traditionsbruch. Die deutsche Kunst und ihre diktatorischen Sachwalter, Wiesbaden 2002,
S. 56–82, hier S. 60. – Zur Ritualisierung in der Jugendbewegung vgl. Wolfgang Braungart:
Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 43 und
S. 46.
34 Friedrich Wilhelm Fulda (Hg.): Sonnenwende. Ein Büchlein vom Wandervogel. Leipzig
1913.
130 Michael Fischer
Mahl, am Volkslied und an der Gemeinschaft35 – und nicht zuletzt das Ritual als
soziale und ästhetische Praxis.36 Der vorgeschaltete Bericht einer Sonnenwendfeier
des Jahres 1911, bei dem auch das »alte Gelöbnislied aus des Vaterlandes großer Zeit:
›Flamme empor‹« angestimmt wurde, verdeutlicht das Gesagte.
Einen anderen Bericht über eine jugendbewegte Sonnenwendfeier der ›Wan-
dervögel‹ aus der Gegend um Bremen (1919) überliefert wiederum Freudenthal.
Auch bei diesem Ereignis wurde auf das Lied aus dem Zeitalter der napoleonischen
Kriege Bezug genommen:
Gegen 11 Uhr wurde der Weg zum Holzstoß ... angetreten. Flamme empor! Das heilige
alte Lied ertönte, als die helle Lohe gen Himmel schlug. Die Gestalten wurden vom Glut-
schein der Flammen beleuchtet und hoben sich stimmungsvoll von der Dunkelheit ab.
Alte knorrige Kiefern umschließen die Stätte, von der es tönte:
Leuchtender Schein!
siehe, wir singenden Paare
schwören am Flammenaltare:
Deutsche zu sein!37
Die gesungenen Lieder, so heißt es in dem Bericht weiter, seien keine »leeren Worte«
gewesen, sondern »tiefstes innerstes Erleben, das alles kam aus der Seele«.38
Bei einer rituell reicher ausgestalteten Sonnenwendfeier – der Bericht eines
Hamburger Wandervogelführers aus dem Jahr 1928 spricht von einer »Sonnenkult-
feier« – wurde gleichfalls beim Entzünden des Holzstoßes das Lied ›Flamme empor‹
angestimmt.39
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts übernahmen politische Vereinigungen die
Tradition der Sonnenwendfeiern,40 etwa der antisemitisch und völkisch ausgerich-
tete Verein ›Südmark‹, der sich in Österreich um die Erhaltung deutscher Kultur
mühte.41 In einem von Adalbert Drasenovich zusammengestelltem Heft mit dem
Titel ›Sommersonnenwende‹ sind ›Zehn Gebote fürs Sonnenwendfeuer‹ abgedruckt,
die im Jahr 1920 von der »völkischen Arbeitsgemeinschaft« beschlossen worden wa-
ren.42 Bemerkenswert ist dort die Rückbindung des Brauchs an die Germanen und
35 Ebd., S. 72 f.
36 Vgl. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 33), S. 37.
37 Freudenthal, Das Feuer (Anm. 1), S. 353 f. – Bei den zitierten Versen handelt es sich um
die vorletzte Strophe des Gedichts ›Flamme empor‹ von Nonne, vgl. Ders., Vermischte
Gedichte (Anm. 8), S. 221.
38 Freudenthal, Das Feuer (Anm. 1), S. 354.
39 Ebd., S. 352 f.
40 Hirschfelder, Mittsommer (Anm. 25), S. 136, spricht von einer »Sonnenwendfeuermode«,
die in den 1920er Jahren »weite Bereiche des öffentlichen Lebens« ergriffen habe, u. a. »Na-
turfreunde, Ortsgruppen der SPD, Freidenker sowie konfessionelle Jugendvereine«.
41 Vgl. die im Verlag »Alpenland-Buchhandlung Südmark« erschienene Schrift von Viktor
Geramb: Deutsches Brauchtum in Österreich. Ein Buch zur Kenntnis und zur Pflege guter
Sitten und Bräuche, Graz 1924 (bes. S. 53–64 zur Sonnenwendfeier).
42 Adalbert Drasenovich: Sommersonnenwende. In altdeutschem und christlichem Glauben
und Brauch des deutschen Volkes, in Dichtung, Lied und Tanz, in Rede und Spruch. Als
Der Flamme Trabant 131
die Bauern. Unter allen Umständen sei »das deutsche Wesen« und »die Würde des
Brauchs« zu wahren, abgelehnt wird »jedes undeutsche Tingeltangel- und Festwie-
sengetriebe«.43 Als Lied wird u. a. der folgende Text des deutschvölkischen Autors
Franko im Moor empfohlen:
Etwa aus der gleichen Zeit45 (1925) stammt die Schrift ›Flamme empor!‹ von Ernst
Heinrich Bethge, eine Anleitung zur Ausgestaltung von Feiern am Feuer. Der Au-
tor Bethge war ein interessanter Zeitgenosse: Vor 1918 publizierte er konservativ-
militaristisch geprägte Schriften, während er in der Zwischenkriegszeit einerseits
als SPD-Mitglied, Arbeiterdichter und Schulreformer hervortrat, andererseits aber
zugleich (zum Teil unter Pseudonym) Texte mit deutsch-nationaler, in den dreißiger
Jahren auch mit faschistischer Tendenz publizierte.46 In ›Flamme empor!‹ zeichnet
sich diese Entwicklung bereits ab: So bezeichnet Bethge »Flammenspiele« als »Er-
lebnis, Aufschwung, Wille«,47 das Feuer sei »[e]in Gleichnis ohne gleichen, / dem wir
im tiefsten Wesen / tief verbunden«.48 In den dargebotenen Texten wird die Heimat
gepriesen (»Wir haben uns in deinem Blut verbündet, Heimat im Erdenland«)49
und die Flamme als Bild für die Jugend besungen (»Lodere, Flamme! / Lod’re zum
Himmel! / Jugend bist du, / rotflammende Jugend«).50 Bethge verfasst Sprechchöre
und dramatische Szenen, darunter auch ein ›Lichtgebet‹ mit litaneiartigen, musika-
Über die Gestaltung von Sonnenwendfeiern innerhalb der Arbeiterjugend legt das
Büchlein ›Unsere Feier. Handbuch zur Gestaltung sozialistischer Jugendfeste und
Feiern‹ von Walter Eschbach (Berlin 1929) Zeugnis ab. Über die Wintersonnen-
wende schreibt er
Eschbach sieht im Feuer ein »Symbol für die tiefe Menschensehnsucht nach bessrem
Menschenschicksal«.54 Deshalb begehe gerade das Proletariat diese Feier, weil der
Naturvorgang der Sonnenwende den Kampf »um die Durchführung der sozialen
Idee der Menschenliebe und Verbundenheit« ausdrücke.55 Zur Feiergestaltung wur-
den folgende Lieder vorgeschlagen (jeweils ohne weiteren Nachweis und ohne Text-
abdruck): ›Hebt unsere Fahnen in den Wind‹,56 ›Brüder zur Sonne, zur Freiheit‹,57
ein nicht näher charakterisiertes ›Sonnenwendlied‹58 sowie ›Wir schreiten in die
Sternennacht‹.59 Im zuletzt genannten Lied von Willi Kagelmacher wird das Thema
›Arbeiterjugend‹ mit der Lichtsymbolik verknüpft.60 Dabei geht es nicht um das
Beharren, sondern um die Progression der Jugend:
51 Ebd., S. 24 f.
52 Ebd., Notenanhang 5. – Als Textautor wird genannt »Lobo Frank« (das ist: Ernst Heinrich
Betghe, vgl. Peiser, Ernst Heinrich Bethge [Anm. 46], S. 183).
53 Eschbach, Unsere Feier (Anm. 21), S. 97.
54 Ebd.
55 Ebd., S. 98.
56 Vgl. Reinhard Dithmar: Arbeiterlieder 1844 bis 1945, Neuwied 1993, S. 137.
57 Vgl. ebd., S. 75.
58 Vermutlich ist das Lied mit dem Textanfang »Das Licht ist neu entsprungen / dem dunklen
Schoß der Nacht« von G. Tschirn gemeint, vgl. ebd., S. 193.
59 Vgl. ebd., S. 134.
60 Zur Licht- und Flammensymbolik der Arbeiterbewegung vgl. Friedrich Falk: Die religiöse
Symbolik der deutschen Arbeiterdichtung der Gegenwart, Stuttgart 1930, S. 125–133.
Der Flamme Trabant 133
61 Dithmar, Arbeiterlieder (Anm. 56), S. 134. – Das Lied ist im Jahr 1920 entstanden (ebd.,
S. 251).
62 Vgl. Oppermann, Die Sonnenwendfeier in Marbach (Anm. 33), S. 60.
63 Ebd., 61.
64 Vgl. ebd.
65 Ebd. – Vgl. Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische
Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 16 ff.
66 Hirschfelder, Mittsommer (Anm. 25), S. 136.
67 Vgl. ebd.
68 Vgl. Vondung, Magie und Manipulation (Anm. 65); ferner: Albrecht W. Thöne: Das Licht
der Arier. Licht-, Feuer- und Dunkelsymbolik des Nationalsozialismus, München 1979.
69 Vgl. Vondung, Magie und Manipulation (Anm. 65), S. 185. – Zu der Sommersonnenwende
vgl. ebd., S. 80 f.
134 Michael Fischer
70 Ebd., S. 186.
71 Vgl. ebd, S. 187 f.
72 Georg Stammler: Deutsche Sonnenwende. Worte, Lieder, Sprüche am Feuer, Eisenach
1934.
73 Hans Baumann: Feuer steh auf dieser Erde. Eine Kantate zur Sonnenwende, München
[1935].
74 Gerhard Schumann: Sonnwendfeier, München [1936]. – Diese Dichtung wurde von Erich
Lauer »für Mannschaftschor und Blasorchester« vertont und im Zentralverlag der NSDAP
in München publiziert (vgl. ebd., Impressum, o. S.).
75 Kulturamt der Reichsjugendführung (Hg.): Eine Flamme ward gegeben. Sonnenwendlie-
der und Feuersprüche, Wolfenbüttel – Berlin 1936.
76 Wilhelm Albert/Hanns Belstler: Sonnenwendfeier. Eine Sammlung von Feuersprüchen,
Bekenntnissen, Liedern u. chorischen Feiern, Wien und Leipzig 1940.
77 Vgl. beispielsweise: »Sonnenwende wohin? Zum Untergang? Die Germanen wußten von
diesen letzten Dingen im großen Weltgeschehen. Sie kannten den Kampf und liebten ihn.
Zu kämpfen war den Göttern wie den Menschen bestimmt, und alles Leben war Kampf.
Wenn auch der Kampf mit dem Tod endete und aussichtslos war, so liebten sie ihn doch«
(ebd., S. 7) oder: »Sonnenwende! Seele und Charakter, sie waren am Werk. Immer und
ewig. [...] In aller Not der wechselvollen Geschichte zeigte sich: Seele und Charakter, sie nur
waren Ewigkeitswerte. So gebaren sie den neuen Glauben des Blutes. Weil sie selber Blut
sind!« (ebd., S. 19).
Der Flamme Trabant 135
***
Blut, Volk, Opfer, Krieg sind die Leitmetaphern dieser Lieder. Zu ihrer Wirkung bzw.
emotionalen Verankerung trugen nicht nur ihr gesungener Vollzug bei, sondern ihre
soziale und ästhetische Einbettung in das Flammenritual.
Das Verhältnis Georges zur Jugendbewegung bzw. Bündischen Jugend wird in der
Forschung unterschiedlich bewertet. Das Gleiche gilt für die Ausstrahlung seines
dichterischen Werks. Walter Z. Laqueur behauptete bereits 1962 in seiner Studie ›Die
deutsche Jugendbewegung‹, dass starke Impulse für die Jugendbewegung von Stefan
George und seinem Kreis ausgegangen seien.80 Noch ehe der ›Stern des Bundes‹ im
Jahr 1914 erschien, sei der Bund als »geistiges Konzept« entstanden.81 Es sei gesagt
worden, so Laqueur, dass »die gesamte junge Generation in Deutschland entschei-
dend von George geformt worden sei« und er beträchtlichen Einfluss ausgeübt habe,
wenn auch »mehr in die Breite als in die Tiefe«.82 Man habe seinen Stil imitiert,
und bestimmte Zitate waren immer wieder zu hören – Phrasen über den, ›der je die
Flamme umschritt und der der Flamme Trabant bleibe‹, über den ›neuen Adel‹, über
78 Erste und dritte Strophe des »Feuerrufs« von Hans Scheu. In: Kulturamt der Reichsjugend-
führung, Eine Flamme ward gegeben (Anm. 75), S. 4.
79 Zwei Strophen (dritte wie erste) des Liedes ›Volk will zu Volk‹ von Heinrich Gutberlet. In:
ebd., S. 9.
80 Walter Z. Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962,
S. 151.
81 Ebd.
82 Ebd.
136 Michael Fischer
den Führer, der seine Gefolgschaft durch Sturm und grausige Signale ins neue Reich
leitet – und so fort.83
Stefan George und sein Kreis seien elitär und ästhetizistisch ausgerichtet gewesen,
aber die Jugendbewegung habe durchaus das »aristokratische Element in all seinem
Idealismus« und in der Verachtung des Rationalismus geschätzt.84
Otto Weise (1981) hebt ebenso die Wirkung Stefan Georges auf die Jugendbewe-
gung hervor.85 Besonders das Gedicht ›Wer je die flamme umschritt‹ sei an unzäh-
ligen Feuern rezitiert worden, auch wenn es »zu keiner unmittelbaren Berührung«
zwischen George und der Jugendbewegung gekommen sei.86 Dem Dichter sei erst
durch Ernst Robert Curtius – dem später bekannt gewordenen Romanisten – zu-
getragen worden, »er sei der Heros der Jugendbewegung, wie sie sich auf dem Hohen
Meißner zusammengeschlossen habe.«87 Ähnlich wie Otto Weise betont Wolfgang
Christian Schneider (2013) die Nähe zwischen George und der Jugendbewegung;
insbesondere der Gedichtband ›Stern des Bundes‹ sei ein »Grundbuch für eine junge
Generation – prägend gerade auch für die Jugendbewegung« geworden.88 George
selbst habe der Jugendbewegung Aufmerksamkeit geschenkt, insbesondere was den
dort gepflegten Gedanken des »Bundes« betrifft.89
Wolfgang Braungart sieht eine Verbindung zwischen George und der Jugendbewe-
gung einerseits im Bereich des Rituellen, andererseits im Gleichklang bestimmter Mo-
tive wie dem Elite-Gedanken und einer von George vertretenen »rituellen Ordnungs-
intention«.90 Das Gedicht ›Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!‹
sieht Braungart als einen »poetischen Schlüsseltext der Jugendbewegung« an.91 Auch
bei Gustav Wynenken, »eine zentrale Gestalt der Jugendbewegung«, sei eine Nähe zu
George auszumachen, einerseits in der Ablehnung des Subjektivismus, andererseits in
der Betonung des Rituals.92 Die Faszination der Jugendbewegung für Rituale habe sich
auf die Begeisterung für »den Elitegedanken, das Führerprinzip und die rhythmische
und rituelle Organisation menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens« erstreckt.93
83 Ebd.
84 Ebd.
85 Wilhelm Riegger/Otto Weise: Stefan George und die Jugendbewegung. Begegnungen und
Kontakte. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 13, 1981, S. 129–134,
hier S. 131.
86 Ebd., S. 131. Es gab aber durchaus Berührungen zwischen einzelnen Vertretern, wie der
Bericht Wilhelm Rieggers verdeutlicht (vgl. ebd., S. 129 ff.).
87 Ebd., S. 132.
88 Wolfgang Christian Schneider: Jugendbewegung und George-Nachfolge. Zum Wirken des
Dichters Willy Hellemann. In: Peter Stibane/Felix Prautzsch (Hg.): Festschrift Meißner
2013. 100 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen Meißner, Karlsruhe 2013, S. 171–
182, hier S. 175.
89 Ebd., S. 176.
90 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 33), S. 44 (im Rückgriff auf Hans Blüher).
91 Ebd., S. 45.
92 Ebd.
93 Ebd., S. 46. – Diese ideologische Ausrichtung führte auch dazu, dass »zumindest Teile der
Jugendbewegung im Nationalsozialismus politisch funktionalisiert werden konnten« (ebd.,
S. 45).
Der Flamme Trabant 137
Weiter differenziert wird die Bedeutung Georges für die Jugendbewegung von
Rainer Kolk (1998), der jedoch gleichfalls einige Verbindungen zwischen Stefan
George und Vertretern der Bündischen Jugend aufzeigt. So habe man im Um-
kreis des Reformpädagogen Gustav Wyneken eine Jugendkultur gepflegt, die nach
»dichterischen Leitbildern« gefragt habe,94 um ihre Werte und ihren Lebensstil zu
legitimieren. Dabei fungierte Georges Lyrik »nicht nur als Gegenstand ritualisierter
Rezitationen«, sondern ebenso als »Selbstdeutungsmuster«, als eine Art »lyrischer
Letztbegründung« für das eigene Lebens- und Erziehungsmodell.95 Kolk stellt fest,
dass sich die Bündische Jugend neben dem Führer-Gedanken immer mehr völki-
schem Gedankengut öffnete. Zeitgenössisch wurde behauptet, »nur in den Kreisen
der Jugendbewegung« werde man begreifen, »was George überhaupt will, wenn ihm
der jugendliche deutsche Mensch zum Gotte der neuen Kultur wird«.96 Angeblich
sei die Jugendbewegung »das Volk [...], dessen Kommen George geschaut« habe.97
Letztlich hätten bündische Gruppierungen solcher »semantischer Überhöhungen«
bedurft, um sich kulturell von anderen Gruppen abzugrenzen,98 wobei eine Span-
nung zwischen dem Egalitarismus der vorgestellten »Volksgemeinschaft« und dem
Elitarismus des Bundesgedanken feststellbar ist.
Im Rahmen der politischen Rezeption von Stefan George untersucht Stefan Breu-
er (2012) die Verbindungen zur bündischen Bewegung. Zwei Aspekte sind beim
Bundesgedanken zentral: auf der horizontalen Achse die Beziehungen der Freund-
schaft, auf der vertikalen hingegen die freiwillige Unterordnung (»Gefolgschaft«)
unter einen charismatischen »Führer«.99 Breuer stellt heraus, dass sich George nie
um Einflussnahme auf die Bündische Jugend bemüht habe. Die Annahme anderer
Forscher, ein solcher Einfluss sei über Mittler vollzogen worden (Gustav Wyneken,
Hans Blüher), weist Breuer zurück.100 Dass George und sein Werk dennoch eine
beachtliche Resonanz fanden, besonders »in seiner Apotheose der Jugend, in seinem
Erlösungsversprechen und vor allem in der dort beschworenen Bilderwelt« schreibt
er diesem Werk selbst zu.101 Der Gedanke des Bundes, der Aufbau eines ›Neuen
Reiches‹, die Betonung von Herrschaft und Dienst, Führertum und Gefolgschaft sei-
en auf Resonanz gestoßen.102 Durch die Verlagsproduktionen der Jugendbewegung
bzw. bündischen Jugend seien Einflüsse aus Georges Werk bis in die NS-Zeit hinein
verbreitet worden.103
Das Gedicht ›Wer je die flamme umschritt‹ wurde in Stefan Georges Gedichtband
›Der Stern des Bundes‹ im Februar 1914 erstmals publiziert.104 Es lautet:
Das Gedicht lässt im Wesentlichen zwei Lesarten zu: Folgt man der von Ute Oel-
mann kommentierte Werkausgabe spielt das Gedicht »auf den Mond an, der seinen
schein von der Sonne erhält.«105 Das Wort »trabant« im zweiten Vers wird demnach
wie folgt erläutert: »Die kosmische Metaphorik des Gedichtes aktiviert neben der
Bedeutung ›Begleiter‹ und ›Diener‹ auch die des ›Nebenplaneten‹.«106 Zugleich wird
deutlich gemacht, dass die in Vers 3 gebrauchte Verbform »wandert« auf die deutsche
Bezeichnung »Wandelstern« (früher für Planeten gebraucht) anspiele.107 Indes wird
damit nur die im Gedicht gebrauchte Metaphorik erklärt. Braungart sieht einen Zu-
sammenhang zwischen dem George-Text und der zeitgenössischen Kulturkritik,108
wie sie etwa Langbehn vorgetragen hatte – im Kampf gegen den um sich greifenden
»Individualismus in seinen Erscheinungsformen des Materialismus, Partikularismus
und Egoismus«.109 Folgt man dieser Interpretation, beklagt der George-Text den Ver-
lust der Mitte, die fehlende Orientierung, das Abweichen von der Ordnung. Positiv
kann man ihn als eine Selbstbeschreibung des Bundes lesen, der – analog zur Kos-
mologie – auf einen »Fixstern« hin bezogen ist. Im George-Kreis selbst, so der Frei-
burger Germanist Dieter Martin, galt das Gedicht »als Devise absoluter persönlicher
Verpflichtung auf die solare Mitte des Meisters« und diente zugleich als »Warnung
104 Allerdings war der Text bereits 1910 mit einer Reihe von anderen Gedichten in den ›Blät-
tern für die Kunst‹ erschienen (SW = Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg.
von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann,
Stuttgart 1982 ff., hier SW VIII, S. 125). – Zur Sammlung ›Der Stern des Bundes‹ vgl. Kai
Kauffmann: Der Stern des Bundes (SW VIII). In: Aurnhammer, Stefan George und sein
Kreis (Anm. 99). Bd. 1, S. 191–203, hier S. 191.
105 SW VIII, S. 144.
106 Ebd.
107 Ebd., der Wandelstern sei damit der Gegensatz zum (scheinbar) unbeweglichen »Fixstern«.
108 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 33). S. 40.
109 Ebd., S. 39.
Der Flamme Trabant 139
110 Dieter Martin: ›Wer je die flamme umschritt‹. Stefan George am Lagerfeuer. In: Rolf Bogner
u. a. (Hg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kon-
texten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag, Berlin 2011, S. 427–446,
hier S. 435.
111 Ebd.
112 Dietrich Krusche: Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen
von Welt, Würzburg 2001, S. 104.
113 Ebd.
114 Ebd.
115 Vgl. Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110).
116 John Meier: Kunstlieder im Volksmunde. Materialien und Untersuchungen, Halle 1906.
117 Ebd., S. XI.
118 Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 428.
119 Ebd., S. 429.
120 Ebd., S. 430.
121 Vgl. ebd., S. 433.
140 Michael Fischer
122 Vgl. hierzu ferner: Dieter Martin: Musikalische Rezeption. In: Aurnhammer u. a., Stefan
George und sein Kreis (Anm. 99). Bd. 2, S. 939–961, hier S. 951 ff.
123 Vgl. Fred K. Prieberg: Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 [CD-Rom 2004], S. 7718.
124 Nachweis: http://data.onb.ac.at/rec/AC092 21456 [30. März 2017]. – Der Verf. dankt
Dr. Andrea Harrandt (Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek) für die
freundliche Zusendung von Kopien.
125 Vgl. Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 442 mit Anm. 503.
126 Ebd., 433. Der Komponist war Carl Gerhardt (vgl. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker
[Anm. 123], S. 1976), vgl. Fritz Jöde: Die Singstunde. Lieder für alle. Klavier-(Partitur-)
Ausgabe, Kopenhagen – Leipzig 1932, S. 344 f. – Das Lied erschien auch auf einem Blatt
(mit Melodie, ohne Instrumentalbegleitung): Fritz Jöde: Die Singstunde Nr. 43: Sommer-
sonnenwende. Neue Lieder der Jugend, Wolfenbüttel – Berlin 1932, S. 3.
127 Vgl. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker (Anm. 123), S. 3428–3442. – Jöde gab 1927
eine kleine Kanon-Sammlung für Männerchor mit dem Titel »Flamme empor!« heraus, in
diesem Heft ist jedoch das Stefan-George-Gedicht nicht enthalten.
128 Martin, »Wer je die flamme umschritt« (Anm. 118), S. 433.
129 Vgl. Prieberg, Handbuch Deutsche Musiker (Anm. 123), 139–142.
130 Konrad Ameln: Flammen-Kanon. Text von Stefan George. Kanon zu fünf Stimmen, Frankfurt
a. M. 1936.
131 Fritz Herman/Richard Eichenauer/Ewald Schäfer (Hg.): Heiliges Leben, Bad Godesberg
1956, S. 51.
132 Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 434.
133 Hermann/Eichenauer/Schäfer, Heiliges Leben (Anm. 131), S. 4 f.
Der Flamme Trabant 141
Nach dem Zweiten Weltkrieg greift Karl Schiske die musikalische Rezeption
des Gedichts auf (1945/52). Er vertonte den Text für einen dreistimmigen Chor.134
1954 folgte Kaspar Roeseling mit einer Komposition für vierstimmigen gemischten
Chor.135 Ein spätes Rezeptionsdokument stellt die Cantata profana mit dem Titel
›Die zwölf Monate‹ von Cesar Bresgen dar. Dort wird das Flammengedicht Georges
im Zusammenhang mit ›Feuersprüchen‹ als Sonnenwend-Gesang verstanden und
zeitlich in den Monat Juni integriert.136
Dieter Martin geht in seiner Untersuchung über Georges ›Wer je die flamme um-
schritt‹ noch einen Schritt weiter. Er beschreibt, wie Georges Flammengedicht »zu
einem in pseudoreligiösen Kollektivritualen gebrauchten Text wurde, der sich in
dieser Funktion aus der Jugendbewegung in den Nationalsozialismus transferieren
ließ und noch in den 1950er Jahren für gemeindestiftendem Kanongesang bereit-
gestellt wurde«.137
Wie bereits angedeutet, wurde das Gedicht im Laufe des 20. Jahrhunderts po-
litisch-ideologisch in unterschiedlichen Kontexten verwendet.138 Für unseren Zu-
sammenhang ist hierbei die Zitation durch Hans Blüher in seiner 1919 erschienenen
›Rede an die Freideutsche Jugend‹ bedeutsam. Kurz nach dem Ende des Ersten Welt-
krieges warnte er gleichermaßen vor der völkischen Bewegung wie vor dem partei-
politischen Sozialismus.139 Er ging davon aus, dass für die Jugend die »wirkliche Fülle
des schaffenden Glückes« nur »durch den Dienst an den überlegenen und schaf-
fenden Menschen« kommen könne.140 Diese Art von Menschen hätte »etwas vom
Priester oder König an sich«.141 Blüher gibt sich elitär und fordert Gefolgschaft: »Auf
ihr Wirken kommt es an, sie zu lieben und sie allein zu lieben, macht die Gemeinde,
die das tut zum Orden und zum hohen von allen beneideten Stande.«142 Danach folgt
unmittelbar, aber ohne Namensnennung, das Gedicht von George.
Dieser Text wurde auch bei Sonnenwendfeiern der Arbeiterbewegung rezitiert,
etwa beim Remscheider Volksfest 1921. Dort hieß es u. a.:
Dieses Fest soll uns neue Kraft zum heiligen Kampfe geben, soll weit hineinstrahlen in
kommende Not, soll uns verbinden, soll uns zu Hütern des Feuers, zu Trägern des Lichtes
machen, das wir hinaustragen in alle Lande, in die Fabriken, in die Kontore, in die Berg-
werke, daß es zünde und wärme und leuchte als Licht, das in der Finsternis scheint. Laßt
134 Karl Schiske: Wer je die Flamme umschritt. Für drei Stimmen a cappella. Op. 22, Wien
1952.
135 Kaspar Roeseling: Wer je die Flamme umschritt, Rodenkirchen – Köln 1954.
136 Cesar Bresgen: Die zwölf Monate. Cantata profana für Solo-Sopran, Solo-Tenor, gemisch-
ten Chor, Kinderchor und kleines Orchester nach Texten aus Vergangenheit und Gegen-
wart, Rodenkirchen – Köln 1973, S. 43 f.; vgl. hierzu Martin, Musikalische Rezeption (Anm.
122), S. 952. – Die Vertonung erfolgt chorisch in Art einer Pastorale.
137 Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 434.
138 Vgl. ebd., S. 435.
139 Vgl. ebd., S. 436.
140 Hans Blüher: Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an die Freideutsche
Jugend, München 1919, S. 24.
141 Ebd.
142 Ebd.
142 Michael Fischer
mich euch zu diesem Dienst aufs neue aufrufen mit den hohen Worten eines Propheten
unserer Zeit, Stefan Georges:
»Wer je die Flamme umschritt
Bleibe der Flamme Trabant.
[...]«143
Nicht nur bei diesem Arbeiterfest fand das Gedicht Verwendung, sondern auch bei
einem kommunistischen Lager am Üdersee bei Berlin im Jahr 1931.144 Offenbar, so
das Resümee Martins, rezitierten »junge Männer (und auch Frauen) verschiedenster
politischer, sozialer und konfessioneller Couleur unter den Sonnwendfeuern der
1920er und frühen 1930er Jahre« Georges Flammengedicht.145
›Wer je die flamme umschritt‹ wurde im Nationalsozialismus in verschiedene
Anthologien aufgenommen, etwa in Hans Gilles Sammlung ›Das Neue Deutschland
im Gedicht‹.146 Dort wird George zu einer Autorität stilisiert; er gelte dem »neuen
Deutschland als sein Seher und Prophet«, keiner habe »mit schärferem Blick für die
Zeitschäden« der »hohen, zunächst nur einem engen Kreise verkündigten Aufgabe
der Verinnerlichung und Höherbildung gedient«.147 Theodor Dschenfzig behauptet
in seiner Schrift ›Stefan George und die Jugend‹, die Jugend brauche Vorbilder und
sehne sich nach »geistiger Führung«.148 Der Dichter könne diese Bedürfnisse ein-
lösen, er kenne die Nöte und stelle Forderungen auf: »Stefan Georges Kampf gegen
Verfall, seine Beschwörung der Zukunft sind Weckrufe an die Jugend.«149 Unmittel-
bar nach dieser Feststellung folgt das Gedicht ›Wer je die flamme umschritt‹, ver-
sehen mit dem erklärenden Nachsatz: »So sagt der Dichter: Wir sollen uns hüten
vor dem trügerischen Schein des Unechten und uns unseren angeborenen Trieb, das
Unsterbliche zu lieben, trotzig bewahren.«150
Der Germanist Hans Naumann kommt in seinem Aufsatz ›Stefan George und das
Neue Reich‹ gleichfalls auf das Flammengedicht zu sprechen. Zunächst wird George
als »der geistige Wegweiser und Verkünder des dritten Reiches der Deutschen« vor-
gestellt, der eine Bewegung »gegen materialistische Zerfaserung, Auflösung und Ta-
gesliteratentum« entfacht habe.151 Nach Naumann seien die »jüngeren und mittleren
Geschlechter Deutschland[s]« wissend oder unwissend, bewusst oder unbewusst
von George geprägt worden, »ungezählte Gruppen und Bünde lebten und leben von
143 Walther Koch: Feuerrede, zit. nach: Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110),
S. 437. – Zur Gestaltung von sozialistischen Sonnenwendfeiern vgl. Eschbach, Unsere Feier
(Anm. 21), S. 95–102 (der Text von Stefan George wird dort allerdings nicht berücksich-
tigt).
144 Vgl. Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 439.
145 Ebd.
146 Hans Gille (Hg.): Das Neue Deutschland im Gedicht. Eine Auswahl, Bielefeld 1934, S. 5;
vgl. Martin, »Wer je die flamme umschritt« (Anm. 118), S. 441.
147 Gille, Das Neue Deutschland (Anm. 146), S. IV f.
148 Theodor Dschenfzig: Stefan George und die Jugend, München 1935, S. 8 f.
149 Ebd., S. 9. – Vgl. Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 441.
150 Ebd.
151 Vgl. Hans Naumann: Stefan George und das Neue Reich (1934). Zit. nach: Ralph-Rainer
Wuthenow: Stefan George und die Nachwelt. Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Bd. 2,
Stuttgart 1982, S. 70–82, hier S. 70 f.
Der Flamme Trabant 143
seinen Versen«, mehr noch, der ›Stern des Bundes‹ habe »Unzählige von uns in den
[Ersten Welt-]Krieg begleitet«.152 Schließlich habe er »den Weg vorgedichtet, der
aus Gefolgschaft und Bund zu Reich und Staat geführt hat.«153 Im Zusammenhang
mit dem germanischen Gefolgschaftswesen zitiert Naumann sodann das Flammen-
gedicht vollständig, gefolgt von der Behauptung: »Die politische Geschichte Germa-
niens, die äußere wie die innere, war nichts anderes als eine Zirkulation von Führern
und Eliten. Äußerlich treffen wir solch bündische Idee immer wieder.«154
Ergänzend und über die von Dieter Martin angeführten Quellen hinausgehend,
kann noch auf die Dissertation von Margarete Klein aus dem Jahr 1937 hingewiesen
werden: Dort wird das vollständig (allerdings in herkömmlicher Orthographie)
wiedergegebene George-Gedicht folgendermaßen eingeleitet:
Bund ist Schicksal, die Entscheidung zu ihm ist die Generalentscheidung des Lebens
für George wie für die Jugendbewegung; der Mythos des Bundes als der von der Mitte
des Lebens ist deshalb immer wieder von Führern und vom Schrifttum der deutschen
Jugend in den Worten Georges ausgedrückt worden:
»Wer je die Flamme umschritt,
Bleibe der Flamme Trabant!
[...].«155
Die Rezeption des Gedichts in Anthologien riss mit dem Zweiten Weltkrieg nicht
ab: So findet sich das Gedicht in der von Herbert Seiler zusammengestellten Samm-
lung ›Deutsche Gedichte‹ aus dem Jahr 1942 ebenso wie in Ernst Günter Dick-
manns ›Deutsches Bekenntnis von Spannweite und Erbadel der deutschen Seele‹
von 1943.156 Noch 1944 findet sich im Kriegsjahrbuch mit dem Titel ›Wir packen
an‹ die Abbildung eines lodernden Feuers, versehen mit dem Verspaar: »Wer je die
Flamme umschritt, / Der bleibe der Flamme Trabant!«157
Im sog. ›Dritten Reich‹ wurde das Gedicht auch in großformatige vokal-instru-
mentale Kompositionen integriert, etwa in die ›Kantate nach Gedichten von Stefan
George für gemischten Chor, Solobaß und Orchester‹ von Wilhelm Maler aus dem
Jahr 1934 oder in die Kantate ›Flamme‹ von Fritz Büchtger.158 In Malers Werk bil-
det das George-Gedicht den Abschnitt VII, bezeichnet als ›Schlußchoral‹.159 Diese
Benennung möchte religiöse Konnotationen abrufen und erinnert (auch mit dem
Orgelpunkt über den Ton E und die chorische Anlage) an die entsprechenden Verto-
VI. Schluss
In diesem Beitrag wurden zunächst sehr heterogene Elemente vorgestellt: Von der
Politisierung der Flammen- und Feuersymbolik seit dem ausgehenden 18. Jahrhun-
dert (I) hat mich mein Weg über die Tradition und Innovation der Sonnenwend-
160 Vgl. auch die arienhafte Anlage von Nr. 4 (ebd., S. 24–27) oder die Nr. 6 mit der Vortrags-
bezeichnung »quasi recitativo« (ebd., S. 35).
161 Fritz Büchtger: Flamme. Kantate für Bariton, gem. Chor und Orchester nach Stefan George.
Orchesterpartitur (mit unterlegtem Klavierauszug), Heidelberg o. J. [um 1940].
162 Ebd., S. 46 f.
163 Wengert, Karl Friedrich: Fritz Werner. Ein Komponist in unserer Zeit. Werkverzeichnis.
Heilbronn 1999, S. 72. Online abrufbar unter: https://stadtarchiv.heilbronn.de/fileadmin/
daten/stadtarchiv/online-publikationen/14-fritz-werner-werkverzeichnis.pdf [zuletzt auf-
gerufen am 30. März 2017].
164 Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 444.
165 Martin, Musikalische Rezeption (Anm. 122), S. 951.
166 Martin, ›Wer je die flamme umschritt‹ (Anm. 110), S. 434.
167 Ebd., S. 443.
Der Flamme Trabant 145
168 Auf die Dimension der Vernichtung und Auslöschung – von den Bücherverbrennungen
über die Ketzer- und Hexenverfolgung bis zu den Krematorien in den nationalsozialisti-
schen Vernichtungslagern – kann hier nur hingewiesen werden.
169 Mosse, Nationalisierung der Massen (Anm. 2), S. 57.
170 Vgl. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 33), S. 37, der das Ritual »im Hinblick
auf seine soziale Funktion als eine durch seine ästhetische Inszenierung gegebene Möglich-
keit« begreift, »soziale Gruppen zu integrieren und den einzelnen an die Gemeinschaft zu
binden«.
171 Ebd., S. 46.
172 Vgl. ebd., S. 83 und 109.
173 Pointiert: »Unter dem Gesichtspunkt des Rituals läßt sich die innere Einheit von Georges
Werk rekonstruieren [...]. Georges Werk ist ›Arbeit am Ritual‹« (ebd., S. 108).
146 Michael Fischer
174 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Wolfgang Braungart: Ästhetik der Politik, Ästhetik des
Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012.
175 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm. 33), S. 87.
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 147
I. Einleitende Überlegungen
Bei einer Tagung im Literaturarchiv Marbach im Jahre 2013, bei der es um »die
Jugendbewegung und ihre Wirkungen« ging1, war in bemerkenswerter Weise von
›Kreisen‹, von Stefan George und insbesondere von Georges Versen aus seinem 1914
erschienenen Gedichtband ›Der Stern des Bundes‹ die Rede: »Wer je die flamme
umschritt / Bleibe der flamme tabant«.2 Diesen ›Kernsatz‹ Georges zitierte eine
ganze Reihe prominenter Jugendbewegter, wenn es galt – rückblickend – die eigene
enge Bindung und prägende Bedeutung jugendbündischer Sozialisation zu betonen
(neben wohl ähnlich häufigen Hinweisen auf Hesse und Rilke). Insgesamt gesehen
gibt es zwar viele Hinweise auf eine Resonanz Georges in der Jugendbewegung,
eine genauere Untersuchung seines »vielfach unterstellt(en)«, aber oft nur schwer
zu fassenden Einflusses sei »allerdings noch immer ein Desiderat«, wie Wolfgang
Braungart betont hat.3
Hier lassen sich folgende Überlegungen anschließen: Der Einfluss Georges in der
Jugendbewegung muss keineswegs mit einer besonderen George-Kenntnis verbun-
den gewesen sein. Vielmehr dienten oft wohl nur wenige Zeilen aus einem Gedicht
Georges oder ein erst in Liedform verbreitetes Gedicht aus seinem Kreis der Selbst-
vergewisserung unter Mitgliedern jugendbündischer Gruppen. Gerade in Zeiten
massiver gesellschaftlicher Verunsicherungen und historischer Umbrüche oder in
lebensgeschichtlich bedeutsamen Übergangsphasen kam offenbar Gemeinschafts-
ritualen eine besondere Bedeutung zu, bei denen Stefan Georges »wer je die flamme
1 Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernet-
zungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015.
2 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Be-
arbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff., Bd. VIII, S. 84.
Im Folgenden mit der Sigle SW, Bandnummer, Seitenzahl zitiert.
3 Auf »noch zu knappe Hinweise zur George-Rezeption in der Jugendbewegung« machte
Wolfgang Braungart bereits 1997 aufmerksam: Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katho-
lizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 44. Siehe auch Richard
Pohle: Wissenschaftliche Rezeption: Pädagogik. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braun-
gart/Stefan Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch.
3 Bde. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 1169–1175, hier S. 1170; sowie: Rainer Kolk: Literari-
sche Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998, S. 441;
zur Bedeutung Georges bei den Neupfadfindern, vor allem für das Verhältnis von Führer
und Gefolgschaft im »Weißen Ritter« und zur »Ikone des Weißen Ritters«, ebd., S. 444–449.
Siehe auch die Rezension von Wolfgang Braungart von »Die Jugendbewegung und ihre
Wirkungen«. In: George-Jahrbuch 11, 2016/17, S. 396 f.
148 Barbara Stambolis
umschritt« oder – vielleicht noch intensiver – Friedrich Gundolfs »Schließ Aug und
Ohr für eine Weil« eine besondere Rolle zukam. Kreisrituale schließen und öffnen
bekanntlich Türen, drücken Gefühle aus, vertiefen Beziehungen und stiften Identität.
Für die Einbeziehung soeben genannter Texte in solche rituellen Selbstvergewisse-
rungen, der eine gesprochen, der andere gesungen, gibt es aussagekräftige Beispiele.
Es wird auch nach den zeithistorischen Hintergrundfolien zu fragen sein, vor denen
sie ihre Wirkung entfalteten und nach ihrem Bedeutungsverlust im Zusammenhang
mit Kreispraktiken im Zuge von Wandlungsprozessen in der Jugendbewegung. Ich
beschränke mich auf meiner Ansicht nach zentrale Aspekte, einige jugendbewegte
Altersgruppen und wenige, aber für diese wohl durchaus exemplarische Gruppen-
kontexte. Zum einen geht es um adoleszente Erfahrungsgemeinschaften, zum ande-
ren um rückblickende Selbstkonstruktionen in Erinnerungsgemeinschaften.
In einem bündischen Fahrtenalbum aus dem Jahre 1931 im Nachlass von Günther
Platz (1915–2000) findet sich eine interessante Seite. Sie zeigt zum einen das Foto
einer Jungengruppe, umrahmt von Stefan Georges Gedicht »Wer je die flamme um-
schritt [...]«. Zum anderen findet sich hier das in Jungenschaftskreisen entstandene
und in jugendbündischen Umfeldern in den 1930er Jahren durchaus verbreitete
Lied:
Die Kombination von Gedicht und Lied findet sich häufig in jugendbewegten Selbst-
zeugnissen, und auch noch in anderer Hinsicht dürfte dieses Beispiel exemplarisch
sein. Die Albumseite enthält grundlegende Konnotationen, die sich mit bündischem
Gruppen- und Fahrtenleben verbinden lassen: unbeschwertes Unterwegssein, ge-
fühlige Naturromantik, stimmungsvoll erlebte, auf Zeit und Raum bezogene Grenz-
erfahrung (»am Rande der Welt«) und ein durch diese inspirierter Erlebens- und
Erfahrungszusammenhalt. Hier ist auch nachvollziehbar, was der Soziologe Roland
Eckert unter Bezugnahme auf Victor Turner als Kennzeichen solcher Gemeinschafts-
bildungsprozesse beschrieben hat: Sie entstünden durch »Ausgrenzung und Selbst-
ausgrenzung«, wobei Schwellenrituale im Sinne eines »Ausbruchs aus der Struktur
des Alltags« – z. B. im Zuge einer mehrwöchigen »Großfahrt« – eine wichtige Rolle
4 Siehe z. B. Der Turm, Bad Godesberg 1960, S. 167. Auf die Fassungen, Melodieautoren und
Verbreitung in jugendbündischen und Pfadfinderliederbüchern kann hier nicht eingegan-
gen werden.
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 149
spielten. »Wildnis« entfache »liminalen Zauber«, so Eckert; »im Rausch der Müdig-
keit« werde »der Augenblick ewig« und erhaben. »Daher stand das Zelt ›am Rande
der Welt‹«.5 Dies alles bilde den Hintergrund für die dann auch rituell bekräftigte
Gemeinschaft »durch Feuerkreise, Fahnenringe [...], um die Zusammenkunft zu
rahmen.«6 In diesem Zusammenhang bot die Bildlichkeit des Gedichts Georges (zu-
sammen mit dem Lied: ›Über den Deich und das Watt‹) für die Gruppe von Jungen,
die 1931 in Frankreich unterwegs war und nachträglich dieses Album gestaltete,
einen ›Resonanzboden‹ für ihre adoleszenten Phantasien von Grenzüberschreitung,
Freiheitserkundung und Selbsterprobung in der Gruppe. Beide Texte waren bzw.
sind bedeutungsoffen; der Georges setzte keine George-Kennerschaft voraus, um
als passend für den Eintrag in dieses Album empfunden zu werden, in dem viele
Fotos, kommentierte Zeitungsausschnitte und Collagen den Gesamteindruck ver-
mitteln, es habe sich für die Beteiligten um eine Fahrt von nachhaltiger Prägekraft
gehandelt.
Günther Platz, der dieses Album gestaltet hatte, war der vierte Sohn des Bonner
Romanisten Hermann Platz (1880–1945).7 Letzterer dürfte die Großfahrt 1931 mit
angeregt oder doch zumindest befürwortet haben, denn Hermann Platz hatte eben-
so gute Kontakte zu katholischen Intellektuellen und Politikern in Deutschland wie
in Frankreich; er setzte sich aus einem christlich-abendländischen Europaverständ-
nis heraus für die deutsch-französische Verständigung ein und war mit der Jugend-
bewegung vertraut, besonders mit dem 1909 gegründeten und auf Burg Rothenfels
beheimateten Bund ›Quickborn‹. Es ist also davon auszugehen, dass Günther Platz
in seinem liberal-katholischen Elternhaus vielfältige Anregungen erfuhr. Die Atmo-
sphäre in seiner Familie hat wohl eine Selbst- und Weltsicht mit begründet, die spä-
ter zu Distanz und mutiger Kritik gegenüber dem NS-Regime beigetragen hat. Aller-
dings ist weder in einem seiner weiteren ›Fahrten-Alben‹ (ein Jahr nach dem Abitur
1935 nach Schweden oder während seines Medizinstudiums 1937 nach Frankreich)
noch insgesamt im Umfeld der (überwiegend dem bürgerlich katholischem Milieu
zugehörigen) jugendbündischen Opposition um Michael Jovy (1920–1984), in der
er sich vor allem während der Kriegsjahre bewegte, wieder von George besonders
die Rede gewesen.8
Bündische um Günther Platz, überwiegend aus dem katholischen ›Quickborn‹ und
›Neudeutschland‹ stammend, setzten nach 1945 ihr bündisches Gruppenleben in der
›d.j. bonn‹, einer sich elitär verstehenden Jungenschaftsgruppe, fort: ohne George,
soweit festzustellen. Im Repertoire ihrer Lieder hatte die ›d.j. bonn‹ jedoch Friedrich
Abb. 1: Seite aus einem Fahrtenalbum von Günther Platz: Großfahrt 1931, Archiv der
deutschen Jugendbewegung N 138 (Nachlass Günther Platz), Nr. 1.
Gundolfs wohl 1930 erstmals publiziertes und bald darauf vertontes ›Schließ Aug
und Ohr für eine Weil‹.9 Unter der Angabe: »Singeabend« 1948 führt die ›deutsche
jungenschaft bonn‹, hier mit ihren Aktivitäten in einem Album von Günther Platz
dokumentiert,10 ›Schließ Aug und Ohr‹ ausdrücklich an, mit dem Hinweis »Worte:
Fr. Gundolf, Melodie: Südlegion.«
Das Lied fand (und findet) in eine ganze Reihe bündischer Liederbücher Auf-
nahme (hier 1933, 1956, 1997 und 2008). Es wurde bzw. wird – anders als das nur
als Klavierlied um 1930 vertonte und als Chorlied zu singende Flammengedicht
Georges11 – nach unterschiedlichen Melodien gesungen und verdient vielleicht ein-
9 Lieder der Süd-Legion, Plauen 1932; vgl. Arno Klönne: »du weißt es – keine zeichen irr-
ten.« Südlegion. Ein Bericht über Rudi Pallas und den Jungenbund Südlegion. Puls 13,
Heidenheim 1986. Vgl. auch: Gedichte von Friedrich Gundolf, Berlin 1930, S. 91.
10 Archiv der deutschen Jugendbewegung, Nachlass Günther Platz N 138, Nr. 3.
11 Die Vertonung des George-Gedichts hat wohl nicht zur Verbreitung in jugendbündischen
Kreisen beigetragen. Vgl. Dieter Martin: Musikalische Rezeption. In: Aurnhammer u. a.,
Stefan George und sein Kreis (Anm. 3), S. 939–961.
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 151
Abb. 2: Fahrtenbuch Günter Platz, Frankreichfahrt 1937, Archiv der deutschen Jugendbewe-
gung N 138 (Nachlass Günther Platz), Nr. 2.
12 Im Zuge der Recherchen für die Ausstellung »Von Navajos und Edelweißpiraten – Un-
angepasstes Jugendverhalten in Köln 1933 bis 1945«, die bis zum 25. Februar 2005 im NS-
Dokumentationszentrum zu sehen war, entstand die Idee, sich intensiver mit der Musik
dieser naziresistenten Jugendbewegung zu beschäftigen. Es entstand eine CD, auf der
Kölner Bands Stücke der Edelweißpiraten auf ihre Art interpretieren. Dem Projekt-Team
war es dabei wichtig, insbesondere jüngere, noch nicht so bekannte Kräfte der nischen-
reichen Kölner Musikerszene anzusprechen. (http://www.museenkoeln.de/ausstellungen/
nsd_0411_schanghai_neu/projekt.htm, zuletzt aufgerufen am 23.11.2016; ›Schliess Aug
und Ohr‹ ist Track 6.)
13 Nachlass des Diözesanjugendpflegers Heinrich Roth im Bistumsarchiv Münster, A 6: Die
Schar. Rundbrief für das Erzbistum Paderborn, September 1946, S. 13–15, einige Hinweise
und Vorschläge zur Feierstunde der Verpflichtung. Vgl. Irmgard Götz von Olenhusen:
Jugendreich, Gottesreich, Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928–
1933, Köln 1987.
152 Barbara Stambolis
Abb. 3: Album Günther Platz 1948, Archiv der deutschen Jugendbewegung N 138 (Nachlass
Günther Platz), Nr. 3.
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 153
Abb. 4: »Schließ Aug und Ohr [...]«, zwei Melodien, hier aus: Zwischen See und Wüstensand.
Liederbuch der SJD – Die Falken in Hannover, 3. Aufl. 2008, S. 69.
154 Barbara Stambolis
Doch zurück zu den Alben der ›d.j. bonn‹: In diesen wird das Lied für die Folgejahre
nicht mehr erwähnt. Allerdings befindet sich in dem Album aus dem Jahre 1949 ein
Artikel aus dem Bonner Generalanzeiger, der über einen neuerlichen Singe-Abend
der Gruppe berichtet und folgende Sätze enthält:
Wenn man sich an diesem am Sonntagabend im Hause der Jugend veranstalteten Sin-
geabend der Deutschen Jungenschaft an eine ähnliche Veranstaltung im vergangenen
Jahr zurückerinnert, so mag man feststellen, dass die jugendlichen Sänger einiges hin-
zugelernt haben. Schon die Auswahl der Lieder [...] war zum Programm geworden.
Gelobt wurde der Mix aus deutschen (›Wer nur den lieben Gott lässt walten‹), eng-
lischen, spanischen, französischen und russischen Liedern. Doch anders als im Jahr
zuvor: »Sie singen, sie wandern und schließen Aug und Ohr vor nichts, was das Leben,
was der Tag in ihrer Vielfalt bieten und an sie herantragen.«14
Mit anderen Worten: Assoziationen von Flammen, Opferbereitschaft und Treue
wirkten wohl besonders in Zeiten von Verunsicherung, Infrage-Gestelltsein oder
Angst vor Orientierungsverlust gemeinschaftsstiftend und haltgebend. Mit der Auf-
nahme in den Kreis derer, die sich um das Feuer versammelten und sich an ihm
wärmten, entstand ein Gefühl von Zuflucht, Sicherheit und Ruhe vor dem »Getös
der Zeit«. Eine solche Bedeutungsschwere konnten dieses und weitere Lieder indes
auch wieder einbüßen.15 Es gab wohl gegen Ende der 1940er Jahre zunehmend we-
niger (politisches) »Getös der Zeit«, vor dem Jugendbewegte der Zwischenkriegs-
generation Zuflucht suchten.
Für eine ganze Reihe älterer Jugendbewegter dagegen, der Kriegsjugend- oder
Kriegskindergeneration des Ersten Weltkriegs angehörend, stellte sich nach 1945
angesichts der materiellen und seelischen Trümmerlandschaft die Frage nach einer
gewissen Mitverantwortlichkeit und persönlichen Verstrickung in die Ereignisse
zwischen 1933 und 1945. Sie waren deshalb auch möglicherweise besonders ›kreis-
bedürftig‹ und konnten auf bewährte Kreispraktiken zurückgreifen, in deren Kon-
text jedoch Georges Kernsatz von der Flamme und vielleicht auch die heroischen
Zeilen in Gundolfs Gedicht ihre Brauchbarkeit erst neu ›beweisen‹ mussten. Kreis-
rituale in jugendbewegt mitinspirierten Initiativen gab es allenthalben, bereits vor
dem Ersten Weltkrieg, nach 1945 z. B. im Jugendhof Vlotho an der Weser oder auf
Burg Ludwigstein eben auch im ›Freideutschen Kreis‹.
Während in Vlotho Angehörige der Kriegsjugendgeneration des Zweiten Welt-
kriegs Zukunftsperspektiven entwickeln sollten,16 fanden sich 1947 im Kloster Al-
tenberg bei Wetzlar rund 80 ältere Jugendbewegte aus den unterschiedlichsten Bün-
Abb. 5: Auf dem Hohen Meißner 1913, Fotograph Julius Groß, Foto Archiv der deutschen
Jugendbewegung VI_ F4 Nr. 182_20.
Abb. 6: Auf dem Hohen Meißner 1913, Fotograph Julius Groß, Foto Archiv der deutschen
Jugendbewegung F1 Nr. 13_3.
156 Barbara Stambolis
den, der ›Akademischen Freischar‹, dem ›Wandervogel‹, den ›Nerothern‹ und vielen
weiteren in einem Älterenkreis zusammen, dessen Mitglieder zumeist zwischen
1902 und 1912 geboren waren.17 Im ersten Rundbrief dieses ›Freideutschen Krei-
ses‹ vom September 1947 wurde über den Altenberger ›Gründungsakt‹ mit einem
»Rundgespräch« zur Frage der Schuld bzw. Mitverantwortlichkeit Jugendbewegter
an den nationalsozialistischen Verbrechen berichtet und auch der Blick auf die Ver-
führungskraft von Dichterworten gerichtet. George gehöre, so hieß es damals, zu
denjenigen (u. a. neben Spengler oder Nietzsche), die problematisch erschienen. Sie
seien »dadurch in eine objektive Verantwortlichkeit verstrickt«, dass ihre »Formeln«
dem politischen »Missbrauch verfallen« seien. Persönlich treffe sie hingegen keine
Schuld.18 »Esoterische Geheimnisse« könnten in tragischer Weise, wie die jüngste
deutsche Geschichte zeige, »Demagogen in die Hände fallen.«19
Gleichwohl blieb ›Wer je die flamme umschritt‹ für die rituellen Praktiken in die-
sem zeitweise rund 2000 Mitglieder umfassenden Kreis unverzichtbar, der in der Fol-
gezeit Gespräche, Konferenzen und Arbeitskreise organisierte, sich beispielsweise an
dem jugendbewegten, erinnerungspolitischen Großprojekt der »Dokumentation der
Jugendbewegung« und an Meißner-Jubiläumsveranstaltungen beteiligte. Die jährli-
chen Konvente der sich zunehmend als »Freundeskreis« verstehenden Mitglieder en-
deten schließlich – bewusst von den verbliebenen etwa 450 ›Freideutschen‹ im Jahre
2000 inszeniert – mit bemerkenswerten Abschiedsritualen, und zwar zunächst in der
Altenberger Klosterkirche, in der der Kreis 1947 erstmals zusammengekommen war.
Während des anschließenden Abschiedskonvents trat einer der ältesten Anwesenden
auf das Podium und trug sichtlich bewegt, als Treuebekenntnis zur ›Freideutschen‹
Gemeinschaft im Sinne eines bis zuletzt als gemeinsam empfundenen Nenners,
Georges ›Wer je die flammen umschritt‹ vor.20 Es schloss sich nun, in mehrfacher
Hinsicht als performativer Akt zelebriert, ein Kreis, gleichsam besiegelt schließlich
dadurch, dass die Runde sich die Hände reichte und gemeinsam sang: »Nehmt Ab-
schied, Brüder, schließt den Kreis«.21 (Angesichts der großen Zahl von Frauen hätte
es wohl »Brüder und Schwestern« heißen müssen, denn es galt in dieser Runde das
Lebensbundprinzip.) Die Beteiligten hatten viel »Übung« in rituellen Kreis-Prakti-
ken, wie ein Amateurfilm belegt, der dieses Ereignis in Bild und Ton dokumentiert.22
George spielte in ihrem Abschiedsritual eine aus heutiger Sicht zwar bemerkenswerte,
aber damals wohl doch eher marginale Rolle, und zwar als Stichwortgeber, um sich
in einem feierlichen Rahmen noch ein letztes Mal der lebenslangen Verbundenheit
dieser jugendbewegten Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft zu versichern.
25 Hermann Buddensieg: Meißnerformel, Jugendkultur und neuer Aufbruch (1924). In: Wer-
ner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf – Köln 1963,
S. 207–219.
26 Theodor Wilhelm, Einleitung. In: Kindt (Hg.), Grundschriften (Anm. 25), S. 27.
27 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Frank-
furt a. M. – Wien – Zürich 1964, S. 141–143.
28 Wolfgang Frommel (1902–1986) sprach nur sehr vorsichtig von der Möglichkeit, dass
Georges Gedichte noch einmal eine neue Wirkung entfalten könnten, immerhin könne
noch daran erinnert werden, dass der jugendbewegte »Widerständler von Stauffenberg
[...] Georges Gedicht ›Der Widerchrist‹ bis zu seinem Ende bei sich getragen [habe].«
Pressestimmen zu Archiv und Jahrbuch. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugend-
bewegung 3, 1971, S. 1971. Zu Stauffenberg vgl. Roman Köster/Werner Plumpe/Bertram
Schefold/Korinna Schönhärl (Hg.): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der
Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin
2009. Durch seine Mitgliedschaft bei den Neupfadfindern sei Stauffenberg gut auf den
George-Kreis vorbereitet worden: Stefan Breuer: Politische Rezeption. In: Aurnhammer
u. a., Stefan George und sein Kreis, Bd. 2 (Anm. 3), S. 1176–1223, hier S. 1202.
29 Vgl. Fritz Borinski/Horst Grimm/Edgar Winkler/Erich Wolf/Wolfgang Heybey (Hg.): Der
Leuchtenburgkreis 1923 – 1933 – 1977, Frankfurt a. M. 1977.
30 Wolfgang Heybey: Glaube und Geschichte im Werk Stefan Georges, Stuttgart 1935.
31 Wolfgang Heybey: Bilder aus der deutschen Jugendbewegung wie ich sie erlebte in den
Jahren zwischen den Weltkriegen 1921 bis 1933, Archiv der deutschen Jugendbewegung
3–9054.
32 Ebd., S. 33. Vgl. SW IX, S. 31–33: eigentlich »Einem jungen führer im ersten weltkrieg.«
160 Barbara Stambolis
Wenn man allerdings den Blick auf die Schriften und Lieder mitgliederstarker Nach-
kriegsbünde nach 1945 richtet, entsteht der Eindruck, als sei spätestens bei den An-
gehörigen der nach 1918 geborenen Zwischenkriegsgeneration, deren Adoleszenz in
die Jahre des ›Dritten Reiches‹ fiel, weder George-Lektüre noch das Wissen um die
Bedeutung des George-Kreises grundlegend gewesen. George oder Gundolf kamen
in den Bünden nach 1945 kaum noch als Zitatengeber für nach wie vor bedeutsame
Fahnenwörter wie ›Feuer‹ oder ›Flamme‹ infrage. Wer wollte sich im Wissen um
die Verführbarkeit vieler Menschen in der NS-Zeit durch symbolisches Handeln
im Dienste einer »Volksgemeinschaft« und die Einschwörung insbesondere Jugend-
licher auf Opferbereitschaft und sogar den Tod für ›Führer und Vaterland‹ noch
als ›letztes Scheit‹ in ein wie auch immer verstandenes Feuer werfen? (Dennoch
konnten, was noch einmal genauer zu untersuchen wäre, weiterhin vertonte Texte
Georges in bündischen Liederbüchern kursieren, darunter z. B. auch die Ballade
oder besser das ›erzählende Lied‹ mit der Anfangszeile »Es fuhr ein knecht hinaus
zum wald«.33)
Vor allem in jugendbündischen Erinnerungen der Kriegsjugendgeneration des
Zweiten Weltkriegs oder in Gruppen wie der ›Deutschen Freischar‹ nach 1945 sowie
im Zusammenhang mit den Festen auf dem Hohen Meißner scheint George tatsäch-
lich kaum noch Beachtung gefunden zu haben, auch wenn diese Ereignisse für eine
ganze Reihe bündischer Teilnehmer nach wie vor den bereits angesprochenen ›li-
minalen Zauber‹ gehabt haben dürften. Im Sinne einer Bestätigung bündischer Zu-
sammengehörigkeit eignete sich, wie auch schon im ›Freideutschen Kreis‹ um 2000
bei seiner Auflösung erkennbar, eben nicht nur Friedrich Gundolfs mehrfach ver-
tontes Gedicht ›Schließ Aug und Ohr für eine Weil‹, sondern auch das unmittelbar
nach dem Zweiten Weltkrieg von Claus Ludwig Laue (?) ins Deutsche übertragene
englische Volkslied ›Nehmt Abschied Brüder, schließt den Kreis‹.
Es bietet sich wohl durchaus an, weitere lyrische und musikalische Varianten
in diesem weiten Feld männerbündischer Kreisumschreibungen (z. B. bei Verbin-
dungsstudenten oder Freimaurern) mit ihren variantenreichen Symboliken in den
Blick zu nehmen. Hier sei nur auf das der Freimaurerkantate von Mozart beigefügte
›Kettenlied‹ (›Lasst uns mit geschlung’nen Händen‹) hingewiesen. Es findet sich
auch im Corpsstudentischen Kommersbuch unter der Überschrift »Brüder, reicht
die Hand zum Bunde« wieder.34
33 Zum Beispiel in: Der Turm, 1960, S. 327 und SX IX, S. 100 f. Siehe Wolfgang Braungart:
»Schluß-Lied«. In: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hg.):
Stefan George. Werk und Wirkung seit dem Siebenten Ring, Tübingen 2001, S. 87–101,
bes. S. 95: Dieses selbstreflexive Lied aus dem Spätwerk eigne sich deshalb auch für die
Kommunikation in einem Kreis. »Erzählen« könne sogar »in seiner konstitutiven Gesel-
ligkeit den sozialen Kreis stiften.«
34 Das Bundeslied der Freimaurer. In: Jens Oberheide: Dreimal Drei in Dur und Moll. Mu-
siker, Freimaurer, Brüder in Moll, Bayreuth 2009, S. 48 f. Vielleicht bietet es sich in diesem
weiten Feld männerbündischer Kreisumschreibungen auch an, später einmal noch weitere
lyrische und musikalische Varianten in den Blick zu nehmen, etwa das der Freimaurer-
kantate von Mozart beigefügte ›Kettenlied‹ (›Lasst uns mit geschlung’nen Händen‹), das
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 161
Doch zurück zu George, Gundolf und der Jugendbewegung: Dieter Geißler (geb.
1947), der der Freischar angehört und auch mit der Bearbeitung der Freischar-Ge-
schichte nach 1945 befasst ist, teilte auf meine Anfrage Folgendes mit:
Aus d[er] sehr intensiven Befassung und aus meiner Kenntnis der Freischar seit 1962
kann ich sagen, dass Stefan George niemals eine Rolle gespielt hat. Wenn George über-
haupt einmal ein Gegenstand gewesen sein sollte, dann sicher nur aus einem punktuel-
len, individuellen Interesse, das aber in der Freischar weder sichtbar noch bedeutsam
geworden ist.35
Davon, dass George kaum noch bekannt und daher – einschließlich seines Wir-
kens in manchen Bünden der Zwischenkriegszeit – in hohem Maße erklärungs-
bedürftig geworden war, gingen die Autoren der 1991 erschienenen und 2004 neu
aufgelegten Publikation ›Jugendbewegung für Anfänger‹ aus, die sich ausdrücklich
an jugendbewegte Insider richtete. Treffend wird darin hervorgehoben, dass oft
davon ausgegangen wurde, George habe »die gesamte deutsche jugend durch sein
denken beeinflusst. [...] Dabei ist die verbindung eine eher einseitige. Die verse des
›stern des bundes‹ sprachen vielen jugendbewegten aus der seele. Sie glaubten, diese
worte träfen auf ihr eigenes, meist recht unbeholfen ausgedrücktes empfinden von
berufung, freundschaft und bund zu. George selbst aber hatte keinerlei interesse an
dieser art interpretation seiner lyrik.«36 Die Verfasser dieser Einführung hatten ein
Leserpublikum im Blick, dessen familiäre und schulische Sozialisation nicht jener
Bildungsbiographie eines Günther Platz oder Hans Scholl (1918–1943)37 vergleich-
bar war und über die sicher auch schon viele unangepasste Jugendliche im ›Dritten
Reich‹ nicht verfügten, die zwar gefühlvolle Lieder sangen, aber nicht in Eltern-
häusern aufgewachsen waren, in denen es Bücherschränke gab oder in denen über-
haupt intensiv gelesen wurde.
Die Herkunftsmilieus der Mitglieder jugendbündischer Gruppen seit den 1950er
und 1960er Jahren38 und der Teilnehmer bündischer Lager, die an den Meißner-Er-
innerungsfesten beteiligten Gruppen und ihre soziale Zusammensetzung im Wandel
zu berücksichtigen, würde hier zu weit führen. Aber auf eine Demokratisierung sei
sich auch im Corpsstudentischen Kommersbuch unter der Überschrift ›Brüder, reicht die
Hand zum Bunde‹ wiederfindet. Im Bundeslied heißt es wörtlich: »Brüder, reicht die Hand
zum Bunde! / Diese schöne Feierstunde / führ uns hin zu lichten Höh’n! / Lasst, was irdisch
ist, entfliehen / uns’rer Freundschaft Harmonien / dauern ewig, fest und schön, / dauern
ewig fest und schön.« Das Lied findet sich auch im Allgemeinen Deutschen Kommersbuch.
Neu bearbeitete Ausgabe von Walther Haas, 156. Aufl., Lahr, Schwarzwald, heißt es unter
der Angabe, der Text stamme von Johann Gottfried Hientzsch, S. 199.
35 Mail von Dieter Geißler an die Verfasserin vom 4.2.2016. Siehe auch Wolf (Schöde): Von
den Mühen eines Lebensbundes. In: ZEITUNG 1, 2015, S. 39–41, bes. S. 39.
36 Florian Malzacher (Text)/Matthias Daenschel (Zeichn.): Jugendbewegung für Anfänger,
Stuttgart 1993, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage 2004, S. 84. Florian Malzacher
(brasparts) gehört dem ›Pfadfinder Mannheim e. V.‹ an.
37 Vgl. Bernhard Schäfers: Die Wirkung der Weißen Rose auf die Jugend und die Öffentlich-
keit. In: Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen (Anm. 1), S. 263–277.
38 Vgl. Jürgen Reulecke: Der »Hortenring«. Jungmännerbündisches im Rhein-Ruhrgebiet in
den 1950er und frühen 1960er Jahren. In: Geschichte im Westen 29, 2014, S. 93–108.
162 Barbara Stambolis
hingewiesen, die mit dem Rückgang kleinerer, sich elitär verstehender Gruppen und
dem immens gewachsenen Zulauf bei Pfadfindern einherging.39 Solche Verände-
rungen lassen sich auch im Zusammenhang mit Festen in Erinnerung an den ersten
›Freideutschen‹ Jugendtag 1913 auf dem Meißner beobachten. Bei den Meißner-
festen wurde und wird stets in Kreisen gesungen und getanzt. 2013, anlässlich des
hundertsten Meißnerfest-Jubiläums, bot sich den rund 3000 Teilnehmern eine
besonders vielfältige Kreis- und Feuersymbolik, die z. B. mit ›Jahres‹- und ›Licht-
kreisen‹ spielte, jedoch, sieht man vom Liederheft zum Meißnertreffen 2013 ab, in
dem George mit ›Weiße Schwalben sah ich fliegen‹40 und Gundolf mit ›Schließ Aug
und Ohr‹ immerhin noch vertreten sind,41 ohne George und seinen Kreis auskam.42
Einfühlsam nachempfunden wurde und wird ›Schließ Aug und Ohr‹ seit einigen
Jahren im Gedenken an unangepasste Jugendliche im ›Dritten Reich‹. Dieses in den
›Liedern der Südlegion‹43 bereits enthaltene vertonte Gedicht habe »als Lieblings-
lied des aus der katholischen Jugendbewegung hervorgegangenen ›Grauen Ordens‹«
gegolten, »dessen Leiter Willi Graf später der Widerstandsgruppe ›Weiße Rose‹ an-
gehörte. Hier wiederum sei es insbesondere Sophie Scholl [1921–1943] gewesen,
die ›Schließ Aug und Ohr‹ so populär machte, dass es schließlich als ›Lied der
Weißen Rose‹« gegolten habe, betonen junge engagierte Kölnerinnen und Kölner,
die sich auch mit dem darin enthaltenen Opfergedanken auseinandersetzen.44 Ei-
ner Nachvertonung von ›Schließ Aug und Ohr‹ fügte eine junge russische Sängerin
aus Köln Zeilen auf Russisch hinzu, um »die Seelenverwandtschaft zu russischen
Balladen« und nicht zuletzt den melancholischen Grundton des Liedes zu unter-
streichen.45 Der Eindruck scheint nicht unbegründet, dass sich eine Aura jugend-
bündischer Widerständigkeit während der Jahre 1933 bis 1945 seit einigen Jahren
phantasievoll-naiv unter Einbeziehung von Gundolfs ›Schließ Aug und Ohr‹ zum
empathischen Nachvollziehen einer Situation von Ausgrenzung und Zusammen-
39 Hier und im Folgenden Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke (Hg.): 100 Jahre Hoher
Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen 2015.
40 Vgl. Dieter Martin: »Wer je die flamme umschritt«, Stefan George am Lagerfeuer. In: Ralf
Bogner/Ralf Georg Czapla/Robert Seidel/Christian von Zimmermann (Hg.): Realität als
Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten, Berlin – New York
2011, S. 427–446.
41 Ersteres mit der Tahoe-Ring- bzw. Südlegion-Melodie, Letzteres mit einer Melodie von
Helmut (helm) König. Liederbuch zum Meißnertreffen 2013 »Kommt auf den Pfad des
Gesangs«, Archiv der deutschen Jugendbewegung A 210.
42 Ebd., S. 460–462.
43 Zur Südlegion auch: Hans Günther Hockerts: Hans Scholl. In: Barbara Stambolis (Hg.): Ju-
gendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert
Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 642–654, bes. S. 650, 654.
44 Tanja I Towarischi: Schließ Aug und Ohr, vgl. Anm. 12.
45 Vgl. ebd. Neu interpretiert wurde das Gedicht u. a. von der Gruppe »Die Grenzgänger«,
siehe: http://www.folksong.de/lied-113.html.
Von Feuern, Flammen und Brüdern im Kreis 163
halt unter den Bedingungen existentieller Bedrängnis eignet. In diesem Sinn wird
es auch einer Publikation über »Lieder und Geschichten der unangepassten Jugend
im Rheinland 1933–1945« aus dem Jahr 2010 erwähnt.46 Dass dieses Lied tatsächlich
in diesem Sinne geeignet ist, betonte nicht zuletzt Hans Günter Hockerts in einem
Essay über Hans Scholl, in dem er schreibt, während seiner Lapplandfahrt 1936 habe
Hans Scholl mit der nach Georges Flammengedicht benannten Gruppe ›Trabanten‹
Gundolfs Lied ›Schließ Aug und Ohr‹ mit dem Vers eingeübt: »Die Stunde kommt,
da man Dich braucht, da sei Du ganz bereit und in das Feuer, das verraucht, wirf
Dich als letztes Scheit!« Hockerts wörtlich: »Das waren Pathosformeln für unbe-
stimmten Edelmut. Er hatte damals – knapp 18 Jahre alt – gewiss noch keine Vor-
stellung davon, wofür sein Mut einmal gebraucht würde. Im Sommer 1942 wusste
er es, und er war bereit.«47
Zusammenfassend: Die Sprache Georges oder Gundolfs in den genannten Bei-
spielen bedient sich gefühls- und ausdrucksstark innerer Bilder; beide Textbeispiele,
das gesprochene und das gesungene, vermittelten ohne weitere Erklärungen Stim-
mungen, die viele derjenigen, die sie erlebt hatten, teilten, aber vielleicht nicht im-
mer in eigene Worte fassen konnten. So mag es Angehörigen der Gruppe von Gün-
ther Platz, der ›d.j. bonn‹ in der Zwischenkriegszeit und nach 1945, Mitgliedern der
›Sturmschar‹ in der unmittelbaren Nachkriegszeit, älteren Jugendbewegten im ›Frei-
deutschen Kreis‹ gegangen sein. Gedichte, gesprochen und gesungen, ließen auch
Raum für persönliche Sichtweisen.48 Jugendbewegte Erlebnisgenerationen und ihre
Erinnerungsgemeinschaften, in denen mit Georges geflügelten Worten »das starke
Gefühlserlebnis«, das an der »Konstituierung ihrer Gemeinschaft maßgeblichen An-
teil hatte,«49 einen Ausdruck fand, gehörten seit den 1960er Jahren, als Pfadfinder
die bündische Szene erobert hatten, weitgehend der Vergangenheit an. Dies konnte
am Beispiel der Freischar nach 1945 oder den Meißnerfesten seit den 1960er Jahren
bis 2013 gezeigt werden. Nur »unsere Großeltern und die Germanisten« erinnerten
sich noch – so Walter Laqueur (geb. 1921) 2015 – »an Georges kleine Scharen, auf
deren ›Panier‹ ›Hellas‹ zu lesen war; ›bleibe der flamme trabant‹ – aber was ist ein
Trabant?«.50 ›Schließ Aug und Ohr‹ mag gesungen auch heute in einer reizüberflu-
teten Zeit durchaus eine gewisse Attraktivität besitzen, aber: »sich als letztes Scheit
ins Feuer werfen« ist – auch ohne genauere Kenntnis der Geschichte des 20. Jahr-
hunderts – wohl eine höchst beunruhigende Vorstellung.
48 In Wind und Wellen – Jugendbewegung auf dem Wasser, Berlin 2015, hier S. 81; vgl. auch:
die kohte. Das zuhause der jugendbewegung in bildern, Berlin 2008.
49 Vgl. Hans-Ulrich Thamer: Politische Zirkel im Einflussbereich der Jugendbewegung. Der
Nauheimer und der Grünwälder Kreis. In: Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wir-
kungen (Anm. 1), S. 343–253.
50 Walter Laqueur: Jugendbewegung – historische Betrachtungen ›in einem weiten Bogen‹.
In: Barbara Stambolis, Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen (Anm. 1), S. 27–38.
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 165
1 Werner Helwig: Die Blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn ei-
ner Jugendbewegung. Erweiterte Neuausgabe. Hg. von Walter Sauer, Heidenheim an der
Brenz 1980, S. 249. – Helwig, der dem ›Nerother Wandervogel‹ lebenslang verbunden
blieb, hat mehrfach über die Jugendbewegung geschrieben, etwa: Auf der Knabenfährte.
Ein Erinnerungsbuch, Konstanz – Stuttgart 1951; knappe biographische Angaben erhält
die werkgeschichtlich orientierte Arbeit: Richard Bersch: Pathos und Mythos. Studien zum
Werk Werner Helwigs mit einem bio-bibliographischen Anhang, Frankfurt a. M. u. a. 1992,
vgl. S. 201–211. – In Werner Helwig: Eine nachgetragene Autobiographie. Hg. von Ursula
Prause, Bremen 2014, erwähnt Helwig George häufig. Ein Gedicht von ihm ›Stefan George
zum Gedächtnis‹ in: Werner Helwig: Hymnen an die Sprache, mannschaft. Blätter für Ju-
gendführung, 4/63 (April 1964), S. 95. Zwei Vertonungen von Gedichten Georges durch
Helwig, der zahlreiche in der Jugendbewegung verbreitete Lieder schuf, erwähnt Dieter
Martin: »Wer je die flamme umschritt«. Stefan George am Lagerfeuer. In: Ralf Bogner u. a.
(Hg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten,
Berlin – New York 2011, S. 427–446, hier S. 429.
2 Karl Schefold: Die Dichtung als Führerin zur klassischen Kunst. Erinnerungen eines
Archäologen. Aus dem Nachlaß hg. von Martha Rohde-Liegle in Verbindung mit Dian,
Reimar und Bertram Schefold, Hamburg 2003, S. 23. – Zur Rezeption dieses Gedichts in
der Jugendbewegung vgl. ausführlich Martin, »Wer je« (Anm. 1).
3 Ebenso etwa bei Fritz Jöde: Die singende Jugend und die Musik. In: Elisabeth Korn/Otto
Suppert/Karl Vogt (Hg.): Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr
166 Michael Philipp
Gegrüßt, du Stern des gnadenreichen Christ! Dir treu, siegblitzendes Gestirn des Weißen
Ritters!
Er führt durch sturm und grausige signale
des frührots seine treue schar zum werk
des wachen tags und pflanzt das Neue Reich. (George)5
Die Häufigkeit solcher Belege hatte Walter Laqeur in seiner 1962 vorgelegten Stu-
die zur Jugendbewegung dazu gebracht, George »beträchtlichen Einfluß« auf die
des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf – Köln 1963, S. 59–66,
hier S. 66, der seine Erinnerungen mit dem vollständigen Zitat des Gedichtes beschließt.
So auch noch Micha Brumlik: »Wer je die flamme umschritt ...«. Die jüdische Jugendbewe-
gung Deutschlands und ihr Fortleben in der Nachkriegszeit. In: Barbara Stambolis (Hg.):
Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche
Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 47–59.
4 Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–
1945, Tübingen 1998, S. 447, nach dem »die virtuelle Autorität des Dichters die der ei-
genen Aussage bestätigen soll«; über die Jugendbewegung ebd., S. 441–449. – Zu George
und Jugendbewegung vgl. auch unter ideologiekritischen Gesichtspunkten Bodo Würffel:
Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978,
S. 51–71; unter bildungsgeschichtlichen Aspekten: Carola Groppe: Die Macht der Bildung.
Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien 1997,
S. 341–349 u. ö. Zur George-Rezeption der Freideutschen Jugend vgl. Justus H. Ulbricht:
Jugend mit George. Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer Kontextualisierung. In:
George-Jahrbuch, 9 (2012/13), S. 219–241. – Vgl. auch: Johann Thun: Der Bund und die
Bünde. Stefan George und die Jugendbewegung. In: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid
(Hg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900,
Bielefeld 2016, S. 87–104.
5 Martin Voelkel: Hie Ritter und Reich! In: Der Weisse Ritter, 1, 6 (1921), Sonderheft Sen-
dung, wieder in: Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung,
Dokumentation der Jugendbewegung, (Bd. 1), Düsseldorf – Köln 1963, S. 368–373, hier
S. 373. – Das Gedicht zuerst in: Stefan George: Drei Gesaenge, Berlin 1921, S. 3–6, hier S. 6;
wieder in: Ders.: Das Neue Reich, Gesamt-Ausgabe der Werke endgültige Ausgabe. Bd. 9,
Berlin 1928, S. 35–39, hier S. 39. – Zu den Anfängen des für die Formierung der Bündischen
Jugend in den 1920er Jahren wesentlichen Verlags vgl. Justus Ulbricht: Ein »Weisser Ritter«
im Kampf um das Buch. Die Verlagsunternehmen von Franz Ludwig Habbel und der Bund
Deutscher Neupfadfinder. In: Walter Schmitz/Herbert Schneider (Hg.): Expressionismus in
Regensburg. Texte und Studien, Regensburg 1991, S. 149–174.
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 167
6 Walter Z. Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962,
S. 151; zum Folgenden vgl. ebd., S. 152.
7 Zu Martin Voelkel, ab 1911 Pfadfinder, 1920 Bundesführer des ›Bundes der Neupfadfin-
der‹, vgl. Kindt, Grundschriften (Anm. 5), S. 579 f.
8 Werner Picht: Besinnung auf Stefan George, Düsseldorf – München 1964, S. 59. – Der Pä-
dagoge, Soziologe und Autor Picht hatte bereits früher über George geschrieben, vgl. ders.:
Stefan George. Eine kritische Huldigung, Heidelberg 1931. Zu Picht und dem George-Kreis
vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 450 f.
u. ö.
9 Vgl. Groppe, Die Macht (Anm. 4), S. 133.
10 Der ›Wandervogel Norddeutscher Bund‹ entstand im Herbst 1920 durch Austritt einiger
Gruppen aus Schlesien, Mecklenburg und Berlin aus dem ›Jung-Wandervogel‹ (IWV) und
bestand als selbstständiger Bund bis Ostern 1924, als er dem ›Bund deutscher Neupfad-
finder‹ (BDN) beitrat, vgl. die unten genannte Bundes-Zeit-Schrift sowie Werner Kindt
(Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Quellenschriften,
Dokumentation der Jugendbewegung. Bd. 3, Düsseldorf – Köln 1974, S. 352.
11 Die ›Jungmannschaft Königsbühl‹ entstand Ostern 1924 nach dem Ausschluss einiger
Gruppen aus dem ›Bund der Köngener‹, der sich 1920 aus den schwäbischen Bibelkreisen
gebildet hatte; bereits im August trat die Gruppierung dem ›Bund Deutscher Neupfadfin-
der‹ (BDN) als ›Gau Königsbühl‹ bei; 1925 schloss sich der BDN mit dem ›Bund der Ring-
pfadfinder‹ (BDR) zum ›Großdeutschen Pfadfinderbund‹ (GDP) zusammen, bevor dieser
1926 im Zusammenschluss der ›Deutschen Freischar‹ aufging; vgl. Kindt, Deutsche Ju-
gendbewegung 1920 bis 1933 (Anm. 10), S. 225–237, 352 f.; Hans-Christian Brandenburg/
Rudolf Daur: Die Brücke zu Köngen. Fünfzig Jahre Bund der Köngener 1919–1969, Stutt-
gart [1969], S. 92–97.
12 Die ›Südlegion‹ bildete sich aus einer Berliner ›Wandervogel‹-Gruppe, die 1926 dem ›Gau
Brandenburg‹ der ›Ringgemeinschaft deutscher Pfadfinder‹ (RDP) beigetreten war, sich
später ›Tahoe-Ring‹ nannte und 1932 als ›Südlegion‹ aus dem RDP austrat und im Juni
168 Michael Philipp
Autonome Bündigungen
1933 wie alle freien Jugendbünde verboten wurde. Vgl. Kindt, Deutsche Jugendbewegung
1920 bis 1933 (Anm. 10), S. 356 sowie die unsystematische Quellensammlung »Du weißt
es – keine zeichen irrten«. süd-legion. ein bericht über rudi pallas und den jungenbund
südlegion, Redaktion Arno Klönne, puls – dokumentationsschrift der jugendbewegung 13,
Heidenheim 1986, S. 6 f.; vgl. auch: [Anonym]: Lieder der Südlegion, Plauen i. V. [1932];
Kurd Lähn: Von der geistigen Heimat deutscher Jugend, Plauen i. V. 1933 sowie Gerhard
Seidel (Hg.): Danksteine am Morgenmeer, Plauen i. V. 1934.
13 Joachim G. Boeckh: Königsbühl, Potsdam 1925, S. 94.
14 Vgl. Bundes-Zeit-Schrift, 1, 4 (Dezember 1921) über den Bundestag vom 31.07.–02.08.1921,
S. [5–9]: »Das Kriegsspiel, Die Kaempfe«. – Zu dieser Zeitschrift vgl. Anm. 22.
15 Karl Bechtel: [Bericht über das Winterlager 1922/23 in Isny]. In: Brandenburg/Daur, Brü-
cke zu Köngen (Anm. 11), S. 87 f., hier S. 87.
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 169
scholl ungehört:
›schliess aug und ohr für eine weil.‹.16
16 [Anonym]: Das Lied. In: Seidel, Danksteine (Anm. 12), S. 44. – Vgl. [Anonym]: Lieder der
Südlegion (Anm. 12), Lied 1: »Schließ aug und ohr«; vgl. Friedrich Gundolf: Schließ aug
und ohr für eine weil. In: Ders.: Gedichte, Berlin 1930, S. 96. – Die Vertonung erschien
zuerst 1931 in der bündischen Zeitschrift ›Jugendland‹ der ›Ringgemeinschaft deutscher
Pfadfinder‹; die Quellenangabe auf der letzten Seite nennt Gundolfs Gedichtband.
17 Vgl. die zeitgenössische Selbstbestimmung der ›dj.1.11.‹ durch ihren Führer: Eberhard
Koebel: Der gespannte Bogen. Eine Flugschrift zur deutschen Jungenschaft, Tyrker 10/12,
Berlin [1931], S. 12: »Die Jungenschaft ist kein Programm und keine Methode, sondern ein
Milieu, das die Jugend, wenn sie auf die Stimme ihrer Tiefen hört, sich schafft.« – Diese
Definition bezieht sich vor allem auf die autonomen Bünde der späten Weimarer Republik,
allerdings kamen solche lokalen Bündigungen auch innerhalb größerer Verbände vor.
18 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte
seit 1890, Berlin 1930, S. 522.
19 Ebd., S. 516.
20 In seinem Geleitwort zu Heinrich Ahrens: Die deutsche Wandervogelbewegung von den
Anfängen bis zum Weltkrieg, Hamburg 1939, schrieb Fritz Blättner, S. VI: »das hier ge-
zeichnete Bild erwecke den Eindruck, als sei die Geschichte des Wandervogels eine Kette
von Trennungen, Verhandlungen und Wiedervereinigungen gewesen«.
21 Daher wird hier nicht der 1930 gegründete ›Bund Deutsche Jungentrucht‹ behandelt, der
in seiner Zeitschrift ›Der große Wagen‹ (1933–1935) zahlreiche Bezüge auf Stefan George
veröffentlichte. Der Gründer des Bundes, Karl Christian Müller, hatte bei Ernst Bertram
promoviert; seine Lyrik lehnte sich stark an George an. Zu Müller vgl. Torsten Mergen:
170 Michael Philipp
Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut
Ansolt (1900–1975), Göttingen 2012; zur Jungentrucht ebd., S. 143–182.
22 Vgl. Wandervogel Norddeutscher Bund: Bundes-Zeit-Schrift, Privatdruck, hektographiert,
o. O., wohl unregelmäßig erschienen von November 1920 bis September 1922; unvollstän-
dig im Archiv der Jugendbewegung (AdJ), Burg Ludwigstein, dort etwa die Ausgaben 1920,
Nr. 2 und 4 sowie vier Ausgaben vom März bis September 1922. Verf. dankt dem AdJ für
die Bereitstellung von Kopien dieser Ausgaben.
23 Vgl. Boeckh, Königsbühl (Anm. 13); ders.: Unser Lebensrecht. In: Der Weisse Ritter, 2, 6
(1922), S. 122–130; ders.: »Schicksal Königsbühl«. In: Ebd., S. 206–224. – Vgl. auch die ano-
nymen Beiträge, von denen einige von Boeckh stammen könnten, in: Fest-Schrift für Lager
und Akademie Haselbach, Königsbühler Blätter 1, Pfingsten 1924.
24 Vgl. Lähn, Von der geistigen Heimat (Anm. 12).
25 So spielte in dem hinsichtlich des Gruppenstils einflussreichsten Bund der späten 1920er
Jahre, der ›dj.1.11.‹ unter Eberhard Koebel (tusk), Stefan George keine Rolle. – Zu ›dj.1.11.‹
und Koebel vgl. u. a. Helmut Grau: d.j.1.11. Struktur und Wandel eines subkulturellen jun-
gendlichen Milieus in vier Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1976; Fritz Schmidt: Ein Mann
zwischen zwei Welten. Eberhard Koebels politische Entwicklung, seine ersten Jahre in der
Emigration und seine Wirkung auf illegale dj.1.11, Edermünde1997; vgl. auch Eberhard
Koebel-tusk: Werke, 12 Bde., Edermünde 2002–2005.
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 171
Im November 1920 erschien ein kleines, hektographiertes Heftchen von gerade ein-
mal 16 Seiten Umfang in einem Umschlag aus schlichter grauer Pappe – die erste
Ausgabe der ›Bundes-Zeit-Schrift‹ des ›Wandervogel Norddeutscher Bund‹.26 Von
derartigen Periodika brachte die Jugendbewegung im Lauf der Jahrzehnte hunderte
hervor. Viele ähnelten sich, doch bei diesem Heft war die Typographie besonders.
Titel, Bundesname, Datum und Zählung waren in einer Schrifttype gedruckt, die
den von Melchior Lechter für die Einbände der Bücher Stefan Georges verwandten
Versalbuchstaben zum Verwechseln ähnelte. Auch die typographische Gestalt der
Texte im Inneren erinnerte an Georges Schriftästhetik. Sie waren in einer Druck-
typen nachempfundenen Handschrift aus unverbundenen Buchstaben mit dem cha-
rakteristischen ›e‹ aus einem Halbkreis und dem ›t‹ ohne Oberlänge geschrieben, wie
der Dichter sie ausgeprägt hatte.
Nicht nur diese ästhetische Anlehnung zeigte eine demonstrative Orientierung
an George – auf der ersten Textseite sind wie ein Motto die vier Zeilen der ›AUF-
SCHRIFT‹ aus den ›Hymnen‹, Georges erstem Gedichtband, abgedruckt:
26 Bundes-Zeit-Schrift, 1,1 (November 1920); Ex. im Besitz des Verf.; diese Ausgabe befindet
sich nicht im AdJ.
27 SW = Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung.
Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff. Bd. II: Hym-
nen, Pilgerfahrten, Algabal, S. 8; der dort als ›AUFSCHRIFT‹ bezeichnete Vorspruch war
noch nicht in der Erstausgabe der Hymnen (Berlin 1890) enthalten, er kam erst in der
1. öffentlichen Ausgabe, dem Band, der die ersten drei Bücher Georges versammelt, hinzu:
Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, Berlin 1899, auf dem Titel dort als 2. Ausgabe bezeich-
net. – In der 2. Zeile muss es heißen: »BEI WEISSEN MAUERN«.
28 Vgl. [Hans] Dziedzioch: Von der Gründung des Bundes. In: Bundes-Zeit-Schrift, 1, 2 (De-
zember 1920), S. [8–12], hier S. [12].
29 Zum ›Jung-Wandervogel‹ vgl. Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit, Dokumentation
der Jugendbewegung. Bd. 2, Düsseldorf – Köln 1968, S. 183–230.
172 Michael Philipp
schrieb.30 Auch im Bericht eines anderen Führers erscheint der Prozess der Eini-
gung als schicksalhaft empfunden. Da wird ein »stummes Drängen, ein zielsicheres
Blikken [!] wollender Jugend nach vorwärts: ›Führt uns zum Bund!‹« beschrieben,
die Getriebenheit Einzelner, die Gleiches wollten: »Wer dann sich bei uns einfindet,
komme, weil er so handeln muss. Wir erwarten ihn in der Stille und ohne jubelnden
Heil-Ruf.«31 Die aus der großen Menge Ausgeschiedenen sahen sich im Kampf ge-
gen »die Verlotterung« der anderen Gruppen.32 Zugleich waren sie sich über ihren
Standort noch unsicher: »Wir reichen mit unseren Lebensfasern weder recht in die
alte noch in die neue Generation hinein. Fremd, abweisend, feindlich unser Ver-
halten zur Umwelt,« hieß es im Dezember 1921, und mit Blick auf die geringe Zahl
der Folger: »Von hundert kaum einer der zu uns gehört. Aus unseren Reihen selbst
die wenigsten bis zum Ende treu. Dies unsere Lage. Klingt da nicht fast wie ein Not-
schrei der Ruf ›Es lebe der Bund‹.«33
Auch wenn mit dem in einem späteren Heft gebrachten Aphorismus von Leonar-
do da Vinci, »Wer sich an einen Stern bindet der kehrt nicht um«,34 eine Verbindung
zwischen Bund und Stern und damit zu Georges 1914 erschienenen Gedichtband
›Der Stern des Bundes‹ gezogen werden kann, muss sich die Verwendung des Begriffs
»Bund« keineswegs auf George beziehen. Spätestens seit der Gründung des ›Wan-
dervogel. Deutscher Bund‹ im Januar 1907, einer Abspaltung aus dem ›Alt-Wan-
dervogel‹, war dieser Terminus für jugendbewegte Zusammenschlüsse eingeführt.35
Gleichwohl war der ›Stern des Bundes‹ im ›Wandervogel Norddeutscher Bund‹ ver-
traut; im März 1922 brachte die ›Bundes-Zeit-Schrift‹ daraus die Gedichte ›Fragbar
ward Alles da das Eine floh‹ und ›Die einen lehren: irdisch da – dort ewig‹.36
Auch Joachim G. Boeckh deutete die 1924 erfolgte Herauslösung der ›Jungmann-
schaft Königsbühl‹ aus dem ›Bund der Köngener‹ als schicksalhaft,37 wenn er von
der »Strenge eines von höheren Mächten gebotenen Weges« schrieb. Dabei seien
jugendbewegte Formen allein kein Kriterium für die neue Qualität, wie er mit Be-
griffen aus dem ›Stern des Bundes‹ erläuterte: »Wir haben [...] es immer vermieden,
von uns als einem ›neuen Adel‹ zu reden. Wir konnten nie anerkennen, daß wir von
Anfang an, einfach weil wir ›bewegt‹ waren, auch schon in einem ›neuen Stand‹
seien.« Das Erreichen dieses Standes scheint für Boeckh keine Frage des Wollens
oder Könnens gewesen zu sein: »Wir waren uns ganz klar, daß wir uns auch nie aus
30 Kurt Paetow: [Redebeitrag, ohne Titel]. In: Bundes-Zeit-Schrift, 1,4 (Dezember 1921),
S. [3 f.], hier S. [3].
31 Dziedzioch, Von der Gründung (Anm. 28), S. [8].
32 Paetow, [Redebeitrag] (Anm. 30), S. [3].
33 [Anonym]: [ohne Titel]. In: Bundes-Zeit-Schrift, 1,4 (Dezember 1921), S. [11].
34 Leonardo [da Vinci]. In: Bundes-Zeit-Schrift, 2 (September 1922), S. [1].
35 Zum ›Wandervogel. Deutscher Bund‹ vgl. Kindt, Die Wandervogelzeit (Anm. 29), S. 142–
175. – Zum Begriff des Bundes vgl. grundlegend Hermann Schmalenbach: Die soziolo-
gische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, 1
(1922), S. 35–105.
36 Bundes-Zeit-Schrift, 2 (März 1922), S. [7]; vgl. SW VIII, S. 47, 78.
37 Vgl. Boeckh, Unser Lebensrecht (Anm. 23), S. 122: »Vielmehr wurzelte unser Dasein im-
mer in einem Unfaßbaren, Allerletzten, das wir als ›Schicksal‹ bezeichneten und das uns
eine ungeheure Sicherheit und Gewißheit gab.«
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 173
eigener Vollmacht in einen solchen hinein›bewegen‹ konnten, sondern daß nur eine
Macht über uns uns dahineinversetzen, also ›Bund‹ werden lassen könnte.«38
Bei George sah Boeckh einen vergleichbaren Weg. »Wer die gewaltige Kluft
zwischen dem ›Vorspiel‹ und dem ›Siebenten Ring‹ kennt, der weiß, daß mit der
Erkenntnis und mit der Forderung keineswegs immer zugleich das Geschenk des
lebendigen Bundes zuteil wird«, schrieb er mit Blick auf die Entwicklung in Georges
Werk von der Suche nach Sinn und Weg im ›Vorspiel‹ zum ›Teppich des Lebens‹
und der erfüllenden Maximin-Erfahrung, die im Zentrum des ›Siebenten Rings‹
steht.39 Boeckh, der aus dem Pietismus der Bibel-Kreise kam, scheute sich nicht,
beide Erfahrungen, die Georges und die der Bündigung, mit dem für das neutesta-
mentliche Pfingstereignis gebräuchlichen Begriff der »Ausgießung« zu bezeichnen.
Für Boeck war diese eine Befreiung, wie er mit mystifizierenden Chiffren schilderte:
»Wir haben die große Spur ins Freie gefunden, wir haben den Ruf der Wälder gehört
und sind ihm gefolgt. Und wir haben aus der geheimnisvollen Losung das Tiefste
herausgehört: den Ruf zur Bündigung.«40
Die Entstehung der ›Südlegion‹ beschrieb Kurd Lähn 1933 noch immer zeitnah,
aber mit abgeklärterem Pathos als einen aus sich selbst entstandenen Prozess: »an
nächtlichen feuern einsamer waldseen und auf verlassenen ruinen waldbedeckter
bergkämme brach aus den tiefsten schichten eigenen wesens ein lebendiger quell
hervor, der wesensähnliche suchte und mitriss.« Allgemeiner als in den Schriften der
vorgenannten Bünde hieß es bei Lähn über die literarischen Orientierungsgeber: »die
worte deutscher dichter und denker, die weisen alter volkslieder wurden hier wieder
lebendig wie nie zuvor. sehnsucht war alles, sehnsucht nach der heimat, nach dem
fernen und verlorenen.« Lähn betonte die romantische Lebenshaltung, die der Jugend
vorbehalten gewesen sei, »denn sie war im alltagskampf um die eigene existenz und
die wege zur macht, zur karriere und zu öffentlichen positionen unbrauchbar.«41
Während Lähn hier die Konflikte auf das Berufsleben bezog, beschrieb das
Gedicht eines nichtgenannten Mitglieds der Südlegion den gemeinsamen Weg der
Bundesfindung über Zweifel und Auseinandersetzungen hinweg. Dabei habe sich
die Gruppe
Die »tafeln« sind ebenso ein Anklang an den ›Stern des Bundes‹ wie das Motiv des
»stern[s]«, mit dem die Lösung in Verbindung stand. Nach zermürbendem Streit, so
38 Boeckh, »Schicksal Königsbühl« (Anm. 23), S. 210. – Vgl. Stefan George: ›Neuen adel den
ihr suchet‹ und ›AUF NEUE TAFELN SCHREIBT DER NEUE STAND‹, SW VIII, S. 85, 92.
39 Boeckh, »Schicksal Königsbühl« (Anm. 23), S. 135.
40 Ebd., S. 145.
41 Lähn, Von der geistigen Heimat (Anm. 12), S. 9.
174 Michael Philipp
hieß es weiter, »stieg auf der stern im gottlosen land / und legte um uns das festeste
band«.42
Auch wenn nicht in allen Fällen ein expliziter Verweis auf George gegeben ist,
ruft doch der gezielte Einsatz von Begriffen, die auch in seinen Gedichten eine
Schlüsselrolle spielen, wie Stern, Bund, Stand oder Tafeln Georges Werk auf. Dieses
darf für große Teile der Bünde als bekannt vorausgesetzt werden, gehörte doch das
gemeinsame Lesen von Gedichten zur Gruppenpraxis: »das lebendige dichterwort
aus jungem munde wurde uns zum stärksten erlebnis einer ganzen fahrt«, schrieb
etwa Kurd Lähn über Unternehmungen der ›Südlegion‹.43 Über seine prägenden
Erfahrungen der George-Lektüre hat er sich ebenso geäußert wie andere Bündische.
»Und einen Dichter haben wir alle gelesen«, hieß es im März 1922 in der ›Bundes-
Zeit-Schrift‹ des ›Wandervogel Norddeutscher Bund‹, »einmal ging wohl jeder durch
ihn hindurch von unsrer ganzen seltsamen Generation«. Ohne den Namen Georges
zu erwähnen, bemerkte der Autor, das gegenwärtige Deutschland sei »nicht mehr
ohne ihn zu denken, wiewohl es ihn nicht kennt«. Sein Werk wurde als ein Einbruch
»in eine bestenfalls halb gedankliche halb ätherische andere Welt« beschrieben, den
alle als Gleiches erlebt hätten: »Mit seinen Versen sind wir aufgewachsen, im Klang
seiner Strofen ist uns das Neue aufgeglüht.«44
In einer anderen Tonlage berichtete Joachim G. Boeckh von seinen Erfahrungen
mit George-Gedichten, die er in einer 1925 erschienenen autobiographischen Er-
zählung der Christoph genannten Hauptperson widerfahren ließ. Sie begannen mit
dem ›Teppich des Lebens‹. Über die als Erweckung empfundene Erfahrung hieß es
überschwänglich: »Und nun ist’s wie Hall der Trompeten, wie festliches Dröhnen.
Der Engel kommt und trägt ›der reichsten blumen last‹ und ›das schöne leben‹ grüßt
Christoph. Er hört nicht mehr auf zu lesen. Er holt sich ein Buch nach dem andern.«
Alles andere, etwa die kurzfristige Annäherung des Protestanten an den Katholizis-
mus, war vergessen, denn: »Das Neue Leben fordert alles. Der Stern des Bundes ist
aufgegangen, und Christoph zögert nicht, ihm zu dienen. Der Siebente Ring hat sich
geschlossen. Traum und Tod sind vorbei, Sagen und Sänge werden lebendig und ein
neues Jahr der Seele beginnt: ›Nun spricht der Ewige: Ich will, ihr sollt.‹«45
Der Lesende war begeistert »von neuem Führertum, vom Meister, vom Dienst
und von der Treue, vom Wort, das nur einmal gesprochen wird und von der Lehre.
Und dann vom Tiefsten: vom Maß.« Auch das »Bild des neuen Adels« beeindruckte,
vom Adel, »der das Geheimnis wahrt, der Träger des Bundes« sei. Die Erkenntnis,
dass im ›Stern des Bundes‹ eine als gleich aufgefasste Haltung ausgedrückt war, er-
fuhr die literarische Figur als überwältigendes Glücksgefühl: »Also auch über dem
anderen Bund steht der Stern? Das Reich steht nicht auf uns allein! Hört das Sig-
nal! Sind wir bereit? Stehen auch wir fest gegen den Feind?«46 Diese bellizistische
Dramatisierung mochte sich den Zeitumständen der 1920er Jahre und dem Gefühls-
haushalt des heranwachsenden Autors verdanken.
Nüchterner beschrieb Kurd Lähn 1934 in einer in Versen gehaltenen Schilderung
seiner ›Knabenjahre‹, so der Titel, die persönliche Ansprache aus einem George-
Buch, das ihm sein älterer Freund gegeben hatte:
Zugleich begriff sich der Jugendliche als Teil einer ähnlich empfindenden Gemein-
schaft:
Nachdem ihn der Freund verlassen habe, sei ihm die Erinnerung an diesen geblieben
und
46 Ebd., S. 65.
47 [Kurd Lähn]: Knabenjahre. In: Seidel, Danksteine (Anm. 12), S. 66–69, hier S. 68 f. – Die
Beiträge in diesem Band sind anonym; aus Markierungen in einem Ex. mit einer Dedi-
kation Lähns vom Oktober 1948 (im Besitz des Verf.) lässt sich auf Lähn als Autor des
Gedichts schließen.
176 Michael Philipp
Erläuterung. Der ›Stern des Bundes‹ wurde, ohne seinen Titel anzuführen, als ge-
heimnisvolles »Heiliges Buch« bezeichnet, das einen alten Fluch gelöst habe:
Da ward er der Retter. Und der den Stern über dem BUND leuchten liess
war es der auch in dämmernder Ferne ein VOLK verhiess:
WIE MUSS DER TAG ERST SEIN • GEWÄHR UND HOFFEN •
WO DU ERSCHIENEN BIST ALS SCHLEIERLOSER
ALS HERZ DER RUNDE ALS GEBURT UND BILD
DU GEIST DER HEILIGEN JUGEND UNSRES VOLKS!48
Das achte Gedicht aus dem ›EINGANG‹ vom ›Stern des Bundes‹, das die Erschei-
nung der Maximin-Figur feiert und als Ankündigung einer von der deutschen Ju-
gend bestimmten Zukunft wertet,49 galt hier als nicht hinterfragte Aussage. Wer
diese Verse auf sich bezog, wer sich mit ihnen zur »heiligen jugend« zählte, mochte
sein Selbstwertgefühl erhöhen. Zugleich zeigt diese Anmaßung aber auch, wie ähn-
lich Sprech- und Rezeptionshaltung waren.
Auf die Figur Maximins, zentrales Mythologem Georges, hob auch Joachim G.
Boeckh ab. In die ›Jungmannschaft Königsbühl‹ sei die »Botschaft Stefan Georges
allmählich immer erregender und entscheidender« getreten, so Boeckh 1926,
»eine Tatsache, die uns aufs Tiefste erschütterte.« Nach einer Zeit des Zweifelns
und der Prüfung sei die Gewissheit entstanden, mit George sei ein neues Zeitalter
angebrochen: »die Nacht ist wirklich zu Ende, der Tag beginnt. Unsere Blicke in
den grauenden Morgen, unser Horchen auf die ankündenden Wächter der letzten
Nachtwache hatte uns nicht betrogen.« Mit der Botschaft Georges meinte Boeckh
die Verkündigung Maximins, den er mit den »Herrschern der früheren Reiche«, mit
Apollon, Bakchos oder Christus, verglich. Aber darüber sei nicht zu reden: »Wer das
Wort angenommen hat, wird stille. Es ist die große Stille der innerlich gewonnenen
Sicherheit, es ist das befreiende ruhige Atmen, wenn man weiß, daß die beinahe
zersprengenden Spannungen des gläubigen Wartens gelöst sind.« Mit einem leicht
abgewandelten Zitat aus dem ›Stern des Bundes‹ erläuterte Boeckh, wie er diese Stille
empfand: »es ist jene Ruhe, die einen überkommt, wenn man den ›Fußbreit Landes‹
gefunden hat, der einem den sicheren Stand in dem Toben und Wanken der Umwelt
verbürgt.«50
Der religiöse Überschwang Boeckhs verdankt sich wohl auch seiner pietistischen
Herkunft, die ihn mit Erweckungserlebnissen vertraut gemacht haben dürfte. Wel-
che konkrete Form auch immer Georges Denkbild Maximin für Boeckh angenom-
men haben mochte – seiner Selbstaussage gemäß bildete es das Fundament seiner
Selbstverortung. Damit schrieb er George eine weit über das dichterische Werk hi-
nausreichende Bedeutung zu. Diese bezog sich für die hier behandelten bündischen
Gruppierungen und ihre Führer auch auf andere Bereiche. Wie bei keinem anderen
Dichter war bei George das Werk umlagert von einer Vielzahl ›weltanschaulicher‹
Aspekte, die sich teils aus der Dichtung ableiteten, teils von den Angehörigen sei-
nes Kreises, etwa im ›Jahrbuch für die geistige Bewegung‹ 1910–1912, propagiert
wurden.51 So spielten die von George und seinem Kreis beschworenen ›Ahnen‹
Hölderlin und Nietzsche und seine Bezugnahme auf die Antike auch in den Bünden
eine Rolle.
Wenn George in den vorliegenden Schriften als Vollender und Erfüller dargestellt
wurde, dann zumeist mit Blick auf Hölderlin und Nietzsche, zwei Autoren, die er
nicht nur in Gedichten gewürdigt hatte und die in Publikationen des George-Kreises
behandelt wurden, sondern die auch Teil einer Traditionsreihe von Geistesgrößen
war, die George aufgestellt hatte. Sie begann mit Homer und Platon und führte über
Shakespeare und Goethe zu Hölderlin und Nietzsche und schließlich – zu George.52
Nietzsche habe »den neuen Dichter geahnt«, aber nicht mehr gesehen. So be-
hauptete die ›Bundes-Zeit-Schrift‹ vom November 1920 eine Vorläuferschaft Nietz-
sches, ohne George namentlich zu nennen.53 In der Ausgabe vom März 1922 hieß es
im Anschluss an ein Zitat aus ›Wie wenn am Feiertage‹ von Friedrich Hölderlin:54
»Der Beiden Grössten Leben hat tragisch geendet, wie eben noch immer Held und
Tragik zu einem Schicksal zusammengeschmiedet sind.« Hölderlin und Nietzsche
seien »zugrunde gegangen aber das Werk das sie, der eine seherisch geahnt, der
andere bildhaft gestaltet, haben« gehe jetzt »seinen Siegesgang über die Erde«.55
Joachim G. Boeckh zählte neben Goethe Hölderlin und Nietzsche zu den »Ge-
waltigen des deutschen Geistes«, der eine für ihn »der trunkene Seher«, der andere
51 Zum Jahrbuch für die geistige Bewegung vgl. Rainer Kolk: Frühe Wissenschaftsprogram-
matik: Das Jahrbuch für die geistige Bewegung. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan
George und sein Kreis. Ein Handbuch, 3 Bde., Bd. 2, Berlin–Boston 2012, S. 588–594.
52 Zur Reihe »erlauchter Ahnen« vgl. Morwitz, Kommentar (Anm. 49), S. 347; im Gedicht
›Hier schliesst das tor: schickt unbereite fort‹ geht es um den nicht genannten, als »heh-
ren Ahnen« bezeichneten Friedrich Hölderlin, vgl. SW VIII, S. 100. – Zur ›Heroenreihe‹
Georges vgl. auch Michael Thimann: Mythische Gestalt – magischer Name – historische
Person: Friedrich Gundolfs Bibliothek zum Nachleben Julius Caesars und die Traditions-
forschung. In: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hg.): Geschichts-
bilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 317–330, hier S. 325.
53 [Anonym]: Geschichte I. In: Bundes-Zeit-Schrift, 1,1 (November 1920), S. [14 f.], hier
S. [15].
54 Friedrich Hölderlin: Wie wenn am Feiertage ... In: Ders.: Gedichte 1800–1806, Sämtliche
Werke. Bd. 4. Hg. von Norbert von Hellingrath, 3. Aufl., Berlin 1943, S. 151–153, zitiert
werden ebd., S. 151 f. die Verse der 3. und 4. Strophe: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es
kommen, [...] / Und wie im Aug’ ein Feuer dem Manne glänzt, / Wenn hohes er entwarf; so
ist / Von neuem Zeichen, den Thaten der Welt jezt / Ein Feuer angezündet in der Seele der
Dichter.«
55 [Anonym]: [ohne Titel]. In: Bundes-Zeit-Schrift, 2 (März 1922), S. [3 f.].
178 Michael Philipp
»der einsame Rufer Zarathustra«.56 An Hölderlin hob er »die Reinheit seines Glau-
bens, die springende Fülle und zwingende Klarheit seiner Ankündigung eines neuen
Reiches, sein mit ungeheurem Griffel gezeichnetes Bild der schwindenden Nacht
und des kommenden Tages, seine brünstige Hingabe an das Vaterland« hervor, und
betonte, wie diese Merkmale eine »unerhörte Bestätigung, Ueberhöhung und Si-
cherung unserer ersten dämmernden Erkenntnisse« bedeutet hätten.57
Auch Kurd Lähn berief sich mehrfach auf Gestalten, die im George-Kreis eine
Rolle spielten, darunter auch Friedrich II.,58 den Bamberger Reiter,59 Napoleon60 und
Goethe. Hölderlin und Nietzsche nannte er wiederholt in einem Zusammenhang,
wobei er wie schon die ›Bundes-Zeit-Schrift‹ deren gemeinsames Schicksal beton-
te: ȟberall und immer ist der weg nach innen von tapferen menschen beschritten
worden, die weder opfer noch entbehrungen gescheut haben, die lebensschicksale
eines Hölderlin, Nietzsche ... zeugen hierfür.« Lähn sah hier eine Konsequenz, die
er als vorbildlich darstellte: »wir wissen aus ihnen, dass nichts grösseres und opfer-
bringendes in der geschichte besteht als die geradlinigkeit eines derartigen lebens-
weges, als die treue zu seinen bildern, die achtung der tradition seines volkes, die
erfüllung seines wesens aus heimatlichen kräften.«61
Für Hölderlin wie für Nietzsche sei die Antike »ausgangspunkt und mitte des
denkens« gewesen – für Lähn und seinen Bund ›Südlegion‹ ein entscheidendes
Moment, wie er für die Gruppenpraxis herausstellte: »antiken geist atmen unsere
herrlichsten lieder, antikes fühlen und lebendiger klang erfüllen uns beim singen.
spartanerhaftes leben ist uns regel geworden«.62 Das Bild des Südens und die »ent-
scheidende verwandlung des nordmenschen durch den süden« hätten Goethe,
Nietzsche und George gebracht.63 Lähn zitierte Friedrich Gundolf, nach dem
George »der erste Deutsche« gewesen sei, »der zu griechischen formen gedrängt
war aus seinem gleichen, nicht aus seinem anderen‹.«64 Er referierte eine Aussage
Gundolfs, nach der »die antike kultur in den schichten Georges charakters und in
den urformen seines menschentum vorhanden« gewesen sei. Ausführlich zitierte er
einen bekannten Passus aus den ›Blättern für die Kunst‹, der Georges Wertschätzung
der griechischen Antike betont und der mit den Worten beginnt »dass ein strahl von
hellas auf uns fiel«.65
Wie bei George ließen sich in den Werken der antiken Autoren Verse finden, die als
Ausdruck eigener Wünsche oder Vorstellungen wie Motti verwendet werden konn-
ten. Ging es in diesem Pindar-Zitat um Betonung und Gleichzeitigkeit der Rolle
von Geist und Körper, führte Kurd Lähn einen Heraklit zugeschriebenen Ausspruch
an, der den Wert eines Einzelnen gegen eine Masse aufwiegt: »einer gilt mir zehn-
tausend, wenn er der trefflichste ist«.68 Dieser Satz mochte für einen Bund, der wie
die ›Südlegion‹ auf nur wenige Mitglieder setzte, als Losung gelten. Diese Zahl und
ihre Verwendung im Sinn einer Geringschätzung der Masse erinnert auch an das
Gedicht ›Ihr baut verbrechende an maass und grenze‹ aus dem ›Stern des Bundes‹.69
Eine Schrift für das Pfingstlager 1924 der Jungmannschaft Königsbühl beschäf-
tigte sich ausführlich mit der Platonischen Akademie. Dem nicht namentlich ge-
kennzeichneten Beitrag war ein längeres Zitat aus Platons ›Gastmahl‹ vorangestellt,
das von Liebe, Freundschaft und geistiger Zeugung handelt.70 Nach dem Gedicht
›Vorklang‹ aus dem ›Siebenten Ring‹71 ging es in jenem Heft um die »ursprünglich
elementare Naturgewalt des Eros«. Diese sei »bei Platon geläutert und gewandelt zu
einer geistigen Kraft, welche die Seele ergreift und adelt: ein Adel, der auch auf den
Körper zurückstrahlt«.72 Das Folgende liest sich wie ein pädagogisches Programm,
das auf der Meister-Jünger-Konstellation beruht: »Dem Griechen« habe sich »in
der Schönheit der Natur wie in der leiblichen Vollkommenheit des Menschen das
Göttliche« verkörpert: »Er liebte leidenschaftlich das Hohe, Göttliche, er sah es in
der Schönheit verkörpert; wenn er nun einen schönen jungen Menschen erblickte,
mußte er um des in ihm verleiblichten Göttlichen willen auch diesen Menschen
66 [Anonym]: Geschichte III, Ende. In: Bundes-Zeit-Schrift, 1, 3 (April 1921), S. 3–5, hier S. 5.
67 Vgl. Pindar: Die Einung. In: Bundes-Zeit-Schrift, 2 (März 1922), S. [5]; gedruckt ist die
1. Strophe der 6. Nemeischen Ode.
68 Lähn, Von der geistigen Heimat (Anm. 12), S. 14. – Vgl. Heraklit: Fragmente, griechisch
und deutsch. Hg. von Bruno Snell, 6. Aufl. München 1976, S. 19: »Einer gilt mir zehntau-
send, so er am meisten taugt.«
69 Vgl. SW VIII, S. 31: »Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen / Zehntausend muss
die heilige seuche raffen / Zehntausende der heilige krieg.«
70 Königsbühler Blätter 1 (Anm. 23), S. 5: »Ich wüßte denn auch keine höhere Gabe als einem
Jüngling den treuen Freund und diesem den Geliebten. [...]«. Das Zitat folgt der Überset-
zung von Platons Gastmahl durch Rudolf Kassner (Jena 1922).
71 Vgl. Stefan George: VORKLANG. In: SW VI/VII, S. 135.
72 [Anonym]: Ueber die Idee der Akademie. In: Königsbühler Blätter 1, (Anm. 23), S. 7–13,
hier S. 7 f.
180 Michael Philipp
lieben so wie er war.« Daraus leitete der Autor einen pädagogischen Ansatz ab: diese
Liebe habe ihn gedrängt, den Jüngeren »der geist-leiblichen Vollendung noch nä-
herzubringen, indem er ihm seine männliche Kraft und seine Weisheit schenkte.«
So habe er »Körper und Geist seines jungen Freundes« veredelt und sei auch selbst
dieser Veredelung teilhaftig geworden.73
Das hier beschworene Idealbild der Platonischen Akademie vom gegenseitigen
»Geben und Nehmen zwischen Aelteren und Jüngeren, zwischen Freund und
Freund, zwischen Meister und Jünger« solle auch für die ›Jungmannschaft Königs-
bühl‹ gelten – nicht ohne den Hinweis darauf, dass »der Führer keusch sich zurück-
hält«. Solche Vorstellungen hätten sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts heraus-
gebildet, etwa bei Friedrich Nietzsche, Erwin Rohde und Jakob Burckhardt. Aber der
Autor nannte seine aktuellen Bezugsgrößen, vier Wissenschaftler aus dem George-
Kreis: »Heute schreiten Albrecht von Blumenthal, Friedemann, Gundolf, Bertram
voran auf dem Wege der neuen Wissenschaft, sie alle befruchtet vom Geist ihres
Meisters George.«74 Auch wenn die Platon-Rezeption im George-Kreis vielschich-
tiger war – die erosbestimmte persönliche Pädagogik einer behaupteten Nachfolge
Platons war der Anknüpfungspunkt für die ›Jungmannschaft Königsbühl‹.
In den ›Königsbühler Blättern‹ findet sich 1924 die bedauernde Notiz, Platon wer-
de »leider nur als geschichtliche Erscheinung, wenig als heute wirkende Kraft be-
trachtet«.75 Auch diese Aussage schließt an eine Auffassung an, wie sie im Kreis um
George gehegt wurde – die griechische Antike und insbesondere Platon nicht als his-
torisches Phänomen zu werten, sondern aus seinem Werk für die Gegenwart gültige
Werte und Normen abzuleiten. Die Aktualisierung der Antike beschwor Kurd Lähn
mit Blick auf Hölderlin und Nietzsche: »was für viele nur tote zeichen vergangener
welten und zeiten sind, das war jenen genannten lebendig und nahe.« Diese Ver-
lebendigung und Aktualisierung machte Lähn auch für die Südlegion aus: »und alle
worte und namen aus deutschem lande und antiker welt wurden lebendig und ver-
liessen den platz der toten begriffe, den sie vorher besessen hatten.«76
Der Wunsch, aus früheren Epochen der Geistesgeschichte Maßstäbe für die Ge-
genwart abzuleiten, verband sich mit einer Kritik am Rationalismus dieser Gegen-
wart, wie sie ebenfalls im George-Kreis vorherrschte. Lähn beklagte an der moder-
nen Lebensweise die »beziehungslosigkeit zu allem organischen leben«77 und meinte
mit einem Zitat aus Goethes ›Faust‹: »Wen die ›sterngegönnten stunden‹ erreichen
73 Ebd., S. 8.
74 Ebd., S. 12. – Gemeint sind der Archäologe Albrecht von Blumenthal, der Hölderlin-For-
scher Heinrich Friedemann, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, sowie die Germanisten
Friedrich Gundolf und Ernst Bertram.
75 Königsbühler Blätter 1 (Anm. 23), S. 11.
76 Lähn, Von der geistigen Heimat (Anm. 12), S. 17 f.
77 Ebd., S. 16.
Eine geistige Heimat. Zur George-Rezeption der Bündischen Jugend 181
sollen, der muss durch ›magisch wort‹ seine ›vernunft‹ binden lassen.«78 Er betonte,
»wie sehr gerade mittelbar durch George die jugend zum süden geführt wurde, wie
sehr ihr romantischer und mystischer zug eine reaktion gegen die allzu-rationalis-
tisch-wissenschaftlichen erschliessungen der südlichen kulturwelt« darstelle.79
Auch die ›Königsbühler Blätter‹ beklagten, dass die »trockene zerlösende Wort-
wissenschaft mehr und mehr überhandnahm und die Welt entzauberte.« Die Wis-
senschaft habe sich in Einzeldisziplinen getrennt, sie sei »losgelöst vom Urgrund des
zeugenden Lebens und seiner allumfassenden Einheit.« Selbst die Philosophie, »die
doch alles Einzelwissen überwölben sollte«, sei »zur Wissenschaft herabgedrückt«
worden. In diesem Sinn formulierte Joachim G. Boeckh 1926 als Aufgabe der Erzie-
hung die »Bewahrung« der Jungen seines Bundes »vor dem zermalmenden Zugriff
der Zivilisation«.80
In der ›Bundes-Zeit-Schrift‹ hatte es im März 1922 geheißen, nach den Höhe-
punkten des Hellenismus und des Mittelalters sei »der Mensch uneins geworden,
zerspalten, zerrissen in seine Triebe und seine Gedanken.« Verzweiflung und Hoff-
nungslosigkeit hätten seitdem das Leben bestimmt, »denn das einige Leben selbst
ist verloren gegangen.« Aber Rettung zeichne sich ab, wie der ungenannte Autor
mit der Strophe »Schon wölbt sich wieder eine welt« von Friedrich Gundolf aus den
›Blättern für die Kunst‹81 erläuterte: »Der Ausweg, von dem wir träumten ist uns in
diesen Jahren fassbarer geworden. Es gilt noch einmal die Kluft zu schliessen, die die
Einheit des Lebens bis zur Vernichtung zerrissen hat.«
Derartige Ansichten seien »nicht Jedermanns Sache«, hob die ›Bundes-Zeit-
Schrift‹ hervor, gab sich aber überzeugt, das Werk gehe »seinen Siegesgang über
die Erde von den Wenigen, denen es Wirklichkeit ward zu den Vielen, denen es
einmal Leben werden wird.« Eine neue Bewegung möge von einzelnen geweckt
und geführt werden, »aber verrät sie das Volk, geht niemand mit, so bleiben nur
die Trümmer ihrer gigantischen Pläne den Nachfahren.« In der Gegenwart wie in
jeder »Entscheidungszeit« seien »noch immer die ›Wir‹ Heerbann und Schicksal
des Kommenden!«.82 Zu dieser Avantgarde, von der aus die Zukunft für das große
Ganze gestaltet werde, zählte der Autor sich und seinen Bund.
Auch Joachim G. Boeckh betonte, die ›Jungmannschaft Königsbühl‹ fasse die
gemeinsamen Unternehmungen keineswegs als selbstgenügsam auf, es gehe um
»Treue, Zucht, Herrschaft, Dienst, Liebe, Heimat.« Er eröffnete eine über den ei-
genen Kreis hinausreichende Perspektive in der Ausrichtung auf den Einsatz für das
»Volk«: »Nun aber ans Werk des Tages, zum Dienst für Volk und Land«. Diese Blick-
richtung verband er ausdrücklich mit George, auch wenn er den Namen des Dich-
ters nicht nannte: »dann wird des Sehers Wort wahr,« lautete die Einleitung für ein
langes Zitat aus Georges Gedicht ›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹, das ein »jung
78 Ebd., S. 13. – Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goe-
thes Werke. Hg. Erich Trunz. Bd. 3, 6. Aufl. Hamburg 1962, S. 146–364, hier S. 197: »Emp-
fangt mit Ehrfurcht sterngegönnte Stunden«.
79 Lähn, Von der geistigen Heimat (Anm. 12), S. 30 f.
80 Boeckh, »Schicksal Königsbühl« (Anm. 23), S. 222.
81 Vgl. [Friedrich Gundolf]: Schon wölbt sich wieder eine Welt [Gedicht]. In: Blätter für die
Kunst, 11/12 (1919), S. 46. Nicht wieder in: Ders.: Gedichte, Berlin 1930.
82 [Anonym]: [ohne Titel]. In: Bundes-Zeit-Schrift, 2. Jg. (März 1922), S. [2–6], hier S. [4 f.].
182 Michael Philipp
geschlecht das wieder mensch und ding / Mit echten maaßen mißt« beschwört.83
Das am Ende zitierte »neue reich«, ein Schlüsselbegriff für George, der zum Titel
seines letzten, 1928 erschienenen Gedichtbandes wurde, war auch für Boeckh ein
Schlüsselbegriff, den er immer wieder gebrauchte.
Die Südlegion verortete sich, anders als der ›Wandervogel Norddeutscher Bund‹
oder die ›Jungmannschaft Königsbühl‹, nachdrücklich in einem gesellschaftlichen
Abseits, sah sich aber als Teil des deutsches Volkes und forderte etwa »die achtung
der tradition« des Volkes. Kurd Lähn betonte mit Nietzsche, wie wichtig es sei, »sich
im süden zu entdeutschen – aber dies’ nur, um deutscher zu werden als vordem,
um hellenischer zu werden, um nurdeutsch zu werden.«84 Lähn betonte, die Jugend
habe »sich fast unbeschränkt ihrem führer George verschrieben«,85 und bescheiden
formulierte er: »es mag vermessen klingen, wenn wir sagen, dass in diesem ›geiste‹
die jugend sich als die nachfolger unserer grossen fühlt, dass sie ihre aufgabe darin
sieht, das erbe der väter neu zu erwerben, um es lebendig zu erhalten.« Ziel dieser
Nachfolge sei der Weg zu sich selbst: »In diesem geiste und in diesem sinne bedeutet
ja nur, dass die jugend ähnlich fühlt und ähnliches will, dass die jugend ihre tradition
darin sieht, den weg in den süden zu suchen, um zu sich selbst zu kommen«.86 Darin
lässt sich mit Blick auf die Entstehungszeit der Schrift – das Vorwort ist auf den
Februar 1933, den Monat nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten,
datiert – auch eine Distanzierung zur politischen Gegenwart des NS-Staates lesen.
Zusammenfassung
Die Autoren der hier vorgestellten Schriften dürften dem Milieu des konservativen
Bildungsbürgertums angehört und damit einer typischen Klientel der George-Re-
zeption der 1920er Jahre entsprochen haben. Diese reichte weit über die Jugend-
bewegung hinaus. Tendenzen von Antirationalismus, Ordnungsvorstellungen oder
Idealismus und Begriffe wie Reich, Treue, Dienst, Gefolgschaft waren in weiten
Teilen des Bürgertums der Weimarer Republik verbreitet – nicht zuletzt unter jun-
gen Männern in ihrer adoleszenten Orientierungsphase. Die Dichtung Georges,
die Mystifizierung seiner Person als geistiger Führer und die Konstruktion einer
›Weltanschauung‹ in den Schriften des George-Kreises boten vielfache Identifika-
tionsmöglichkeiten. Auf die abstrakten Begriffe ließen sich die unterschiedlichsten
Vorstellungen projizieren und umfassende Weltbilder entwerfen, die den lyrischen
Aspekt von Dichtung weit hinter sich ließen. Daneben erschlossen George und die
Schriften seines Kreises die europäische Kultur von der Antike bis Nietzsche – für
In der Geschichte der bündischen Jugend zu Beginn der dreißiger Jahre verbanden
sich mit zwei herausragenden Führerpersönlichkeiten neue, markante Formen jun-
genschaftlichen Lebens, das sich auch einer politischen Orientierung anfangs ver-
eint und dann antagonistisch nicht mehr entziehen konnte und wollte. Es sind diese
Gründer der ›Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929‹ Eberhard Koebel (1907–
1955), genannt ›tusk‹, und Karl Christian Müller (1900–1975), der 1929 als ›teut‹
die ›Trucht‹ im vom Völkerbund verwalteten Saarland begründete.
Müller, 1923 bei Ernst Bertram promoviert mit einer Arbeit über den lyrischen
Prosastil Jean Pauls, Studienrat mit den Fächern Deutsch und Religion, repräsentier-
te im Hinblick auf eine komplexe George-Rezeption in der freien Jugendbewegung
drei Ansätze zugleich: Er war Lyriker mit dem Pseudonym ›Teut Ansolt‹, literatur-
wissenschaftlicher Essayist und als ›Trucht‹-Führer Herausgeber der Jungenzeit-
schrift ›Der Große Wagen‹ bis zu deren Verbot Anfang 1935.
Blaues Leinen mit Golddruck, der altnordischen Elhaz-Rune in der Mitte als Sig-
num, die Gedichte zyklisch in zwölf Gruppierungen jeweils auf den unteren Teil der
Textseite gerückt in Minuskeln bis auf den Strophenbeginn – nicht nur diese Auf-
machung versucht, sich der damals neuen Gesamtausgabe der Werke Stefan Georges
bei Bondi anzunähern, sie steht auch formal sowie thematisch, z. B. mit abgekürzten
Widmungen (»An L.«), »Sprüchen«, jahreszeitlichen Begehungen im Wir-Duktus
(»Wir gehen zwischen traum und traum auf schwindelbrücke«2) und Themen wie
»Der Krieg« oder »Gebieter« in gesuchter und durchaus belesener George-Nachfol-
ge. Die zweite Seite nach dem Titelblatt macht diese Nähe zum Programm mit einem
Zitat aus ›Der Stern des Bundes‹: »Seitdem ich ganz mich gab hab ich mich ganz«.3
Diese paradoxe Selbstfindung lässt sich hier zunächst als Müllers poetisch imitative
Rezeption Georges verstehen. Doch hinter jedem Motto verbirgt sich als zweite Bot-
schaft der Verweis auf den ursprünglichen Zusammenhang. Diese Hingabe ist bei
George ein Dienst der Liebe, der einhergeht mit dem Wunsch nach Vereinigung
und Erkenntnis an der Grenze der Autonomie.4 Zu der beglückenden Totalität von
Selbstentfaltung und Selbstauslöschung bedarf es eines Du und einer Gemeinschaft.
Der Erlebnishintergrund von Müllers Gedichten ist die heimatliche Fahrtenwelt
Jugendlicher. Auch wenn diese Texte sich auf die Zeit vor der Gründung des eigenen
Bundes bezogen, blieb ›Der Kranz des Jünglings‹ die Basisschrift der ›Trucht‹, für
die noch Weihnachten 1934 in ›Der Große Wagen‹ geworben wurde. Müllers Titel-
gebung wirkt ambivalent: Zum einen kann es der Abschiedskranz für den Toten sein
oder zum anderen der Weihekranz für den neuen Epheben, der in Gefolgschaft zum
Meister spricht:
Formt ›Teut Ansolt‹ Georges Maximinerlebnis aus dem ›Siebten Ring‹, herabgestuft
von der ästhetischen Theophanie, als eher kollektiven Knabenkult ab? Er sucht si-
cherlich nach einem bedeutsamen Äquivalent. Im Mittelpunkt des ›Kranzes‹ steht
›Den Freunden der Heimatstadt‹, denen ein neues gewaltiges, nicht genanntes Bild
erschien als »aufwärtsziel«.6 »Die Knaben« vollziehen illuminiert die Sonnenwende
nach ›Wandervogel‹-Tradition:
Die Erneuerung durch Feuer und morgendliches Lichtbad solle zugleich eine Ver-
jüngung bringen:
4 Vgl. Christophe Fricker: Dienst der Liebe. In: Ders. (Hg.): Krise und Gemeinschaft. Stefan
Georges Stern des Bundes. Frankfurt a. M. 2017, S. 255–260, hier bes. S. 258 f.
5 Ebd., S. 60.
6 Ebd., S. 26.
7 Müller, Kranz (Anm. 1), S. 27.
8 Ebd., S. 28.
Stefan George als Leitbild in Karl Christian Müllers Jungenbund ›Trucht‹ 187
Erscheinen Freundschaft und Schönheit hier durch die Natur geläutert, so kommt
ihnen in anderen Gedichten ein deutlich erotisches Moment zu, das sich der Meta-
phorik von Jäger und »schönem Wild« auch reziprok bedient und sich in der Dich-
tung als Lob realisiert.9
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des ›Kranz des Jünglings‹, der keine Fortset-
zung fand – ›teut‹ schrieb fortan vor allem militante Fahrtenlieder –, trat Müller
mit einer prosodischen, universalen Gestalttheorie hervor, die terminologisch sehr
gewollt im Kapitel »Das deutsche Gerüttme« nach Hölderlin auch Stefan George
exemplarisch in die Analyse einbezieht:
Kein Gedicht Georges hat in der Gestalt diese Herbe und Strenge wie das ›An die To-
ten‹. Es gibt auch keinen anderen Stern in unserer dunklen Nacht wie diesen, der uns
zu solchem Ernst befeuern könnte als der über den Opfern unseres Weltkrieges. Die
Rhythmen dieses Gedichtes sind beispiellos in ihrer Härte und Geradheit. Es sind die
Rhythmen, die aus dem innersten Guß deutscher Gestalt sind, ohne jedes Beiwerk, ohne
jede Breite, jede Schmalheit; sie sind der Urgrund deutschen Gerüttmes.10
Auch bei anderen Beispielen u. a. aus ›Der siebente Ring‹ treten inhaltliche Aspekte
wie hier der Heroismus hinter einen reinen Formalismus zurück, aus dem dennoch
erstaunliche Schlussfolgerungen gezogen werden: »George hat unser neues Volk und
unser neues Reich begründet, doch lebt er selber darin erst im scheidenden Blick ...
Umso mehr ist sein Werk eine Verdichtung, Adelung der Welt und der Gestalt«,
besonders für eine Schar, »die der gemeinsame Geist und das gemeinsame Wort zu
einem überpersönlichen Leib gebildet hat.«11
Für seine Gemeinschaft entwickelte ›teut‹ in den jungenschaftlichen Schriften
ab 1931 ein Heroismus-Konzept, das sich nationaler Mythen bediente, während es
›tusk‹ weltoffen nach japanischen Leitbildern ausrichtete.12 Das war eine deutliche
aktuelle Einengung des Begriffes der Gestalt, die wie im George-Motto zum ›Kranz
des Jünglings‹ noch auf eine individuelle Ganzheit bezogen war und sich in der
Freundschaft verwirklichen sollte. Anders als Friedrich Gundolf, der in der Goethe-
Monographie seine vielzitierte Definition auf »große Menschen« bezog, denen er
»eigenes Schicksal, eigene Schöpferkraft, eigene Gestalt« zusprach als überzeitliche,
einheitliche Wesen, sah Müller einen ganzen Komplex von Einflüssen, auch zeitbe-
dingten, die er ›Prägen‹ nannte.13 Dazu trug er mit seinem ›Großen Wagen‹ später
dadurch bei, dass nunmehr heroische Gestalten als Leitbilder aus der deutschen Ge-
9 Vgl. ebd., S. 34 f.
10 Karl Christian Müller: Die rhythmischen Masze, Berlin 1929, S. 124.
11 Müller, Masze (Anm. 10), S. 121.
12 Verf.: Warum noch über Karl Christian Müller schreiben? In: »kcmuellerteut.blogspot.de«,
vgl. Kap. 2 ff.
13 Müller, Masze (Anm. 10), vgl. S. 7 f. sowie Friedrich Gundolf: Goethe, Berlin 1917, S. 4.
188 Reinhard Pohl
schichte Raum gewannen.14 Man darf bei Müllers begrifflicher Eigenwilligkeit die
schon bei Gundolf konstatierte schöpferische Seite des adaptierten Gestaltbegriffs
nicht übersehen: ›Teut Ansolt‹ dichtete nicht als einziger Bündischer. Dichterische
Gestaltung und gar Vertonung des in der Natur Erlebten gehörte zu den Übungen
eines jeden heranwachsenden Mitglieds der Gemeinschaft, deren Forum vor allem
die vielen Zeitschriften bildeten.
Nachdem sich der Bundesgenosse Eberhard Koebel im April 1932 zunächst der
Kommunistischen Partei zugewandt hatte, entwickelte sich Karl Christian Müllers
›Gau‹, die jetzt ›Deutsche Jungentrucht‹ hieß, über die Saar hinaus von Danzig bis
Norddeutschland und gewann an Reputation und Autorität.15 Geschützt durch das
Saar-Statut, wurden sowohl die Jungentrucht als auch deren ›Großer Wagen‹ im Au-
gust 1933 von der Gleichschaltung und Auflösung der Jugendverbände zu Gunsten
der HJ amtlich noch ausgenommen. Dessen ungeachtet muss man die bündischen
und literarischen Aktivitäten Karl Müllers unter den Aspekten von Kontinuität und
Anpassung seiner Überzeugungen genau im Auge behalten. Er war vorauseilend
heimlich bereits im April 1933 der NSDAP beigetreten. Arno Klönne weist zu Recht
darauf hin, dass ein Großteil der Methoden und Gestaltungsmittel der NS-Jugend-
arbeit ihren Ursprung im Bündischen hatten, so in der Gliederungsterminologie,
dem Führer-/Gefolgschaftsprinzip, Formen der Fahrt und Lager, Geländespiel und
Heimabend mit Liedgut und Kultstil u. a. m.16 Noch sah ›Teut Ansolt‹ mit seinem
dramatischen Jungenspiel ›Der Waffenstillstand‹ vom Frühjahr 1933 Spielraum für
seine Gruppierung unter verschärften eigenen Werten:
Die neue deutsche Jugend sucht das Bild und die Deutung ihrer Gestalt. Aus ihrer Ge-
sinnung soll es entwachsen und zugleich soll es sich rückwirkend wieder als eiserne
Zucht in ihre Seelen und Leiber brennen.
Der unerbittliche Dienst, den sie sich heute auferlegt, soll nicht dumpf und schwer in
ihnen lasten, sondern die Sterne des höheren völkischen Sinnes durchhellen und jenes
Bewußtsein von Art und Wollen geben, das jene Unerschütterlichkeit schenkt, die von
keiner Mühsal zermürbt werden
kann.17
Ob dieser Ansatz sich unter großem politischem Druck noch in der ›Jungentrucht‹
oder besser dem ›Jungvolk‹ der HJ realisieren ließe, blieb Mitte 1933 noch unent-
schieden. Die Jugendbünde im Reich sollten zur Vollendung der nationalen Revo-
lution rücksichtlos bekämpft werden und besonders »der gespreizte Dünkel ihrer
Führerklüngel. Die ekelerregende Frechheit, über Hintertreppen zur Einflußnahme
auf die Jugendgestaltung kommen zu wollen«.18 Überwachungen, Verfolgungen,
besonders von untergetauchten Gruppen, Auflösung von Lagern mit Waffenge-
walt, Verhaftungen und Verurteilungen gehörten zum Kampf gegen die Bündischen
in den nächsten Jahren. Das war ›teut‹ in Saarbrücken und auf seinen Reisen ins
Reich nicht entgangen. Welche Konsequenzen waren dringend zu ziehen, um die
Mitglieder der ›Trucht‹ zu schützen? Wie lange und wie überhaupt konnte man die
Bedrohungen abwenden?
Müller selbst hatte für sich persönlich eine nationale literarische Karriere ins
Auge gefasst, die er sofort in der neu gegründeten monatlichen NS-Kulturzeitschrift
›Die Westmark‹ begann. Als ›Teut Ansolt‹ veröffentlichte er sein Gedicht ›Grenz-
land‹ in der ersten Nummer vom Oktober 1933.19 Dass es in Frakturschrift erschien,
belegte seinen Anpassungswillen. Um einen ideologischen Perspektivwechsel geht es
ihm auch im November 1933 kurz vor Georges Tod unter dem gleichen Pseudonym
in dem Beitrag ›Stefan George / Der Dichter und die Zeit‹.
Wer in Stefan George den sich abgrenzenden elitären Dichter sieht, täuschte sich, so
Teut Ansolt. Denn »George ist der tiefste Erreger der ersten umfassenden Wandlung
unseres Volkes«,20 dessen Einfluss sich Schritt für Schritt verwirklichen werde wie
schon zu Beginn des Jahrhunderts im untergehenden Abendland, als er das Wesent-
liche aus der europäischen Allvermischung kelterte.
Da fand er in München den Jüngling, der ihm die Leibwerdung des ersehnten neuen
Deutschen war, da geschah das unerhört deutsche Ereignis, dessen Tiefe und Bedeu-
tung uns kaum schon faßbar wird und von dem ich nur das Oberflächlichste sage, wenn
ich andeute, daß hier zum ersten Mal Deutschland nicht mehr aus einer fremden Mitte
empfangen lebte, aus der abendländischen, sondern männlich aus dem eigenen Blut und
eigenen Geist Gestalt ward. Maximin, leibhaft der erste und zum erstenmal vollendete
Deutsche, ihn schaute der Dichter in immer neuen Gesichten.21
In jener Epoche habe die deutsche Jugendbewegung zu einem neuen Sinn gefunden:
»Hölderlin und der maximinische George waren ihre Führer«.22 Nach dem Welt-
krieg habe er eigenes und völkisches Schicksal in eins gesehen. Er habe die Zer-
trümmerung der verrotteten alten Welt seherisch vorweg genommen zu Gunsten
neuer Werte der Völker.
In einer nationalen Geographie ordnete Müller-Ansolt sodann George als West-
deutschen, ja fast ›Westmärker‹, dem uralten Kulturboden in gestalterischer Vor-
macht einer deutschen Mitte zu.
George sah als seinen wahren Folger den Mann der staatlichen Tat und wußte, daß
dieser nicht aus dem Kreis der derzeit Herrschenden käme, sondern aus der Schicht der
instinktsicheren, blutvollen, alles wagenden Schicht des namenlosen Volkes. So stand
der unbekannte Soldat Adolf Hitler auf und schuf aus dem Chaos eines zertrümmerten
und sich selber zertrümmernden Deutschland mit den namenlosen Kameraden das
Neue, das dritte Reich.23
Hundertfach lasse sich aus den Sätzen der beiden [George und Hitler], von München
geprägten, die Verwandtschaft bezeugen.24
Auch wenn einzelne Elemente dieser Zusammenschau sich zuvor bei Karl Müller
finden ließen, so fragt man sich doch, was diese Bewertung Georges zu dem Zeit-
punkt bezwecken sollte. Es ist zum einen eine Anbiederung an das neue Regime.
Müller deutet Georges Sehertum, den Kreis und die Figur Maximins von äußerst
positiver Auswirkung auf die Sendung Adolf Hitlers, dem deswegen fast messia-
nische Züge zukommen, weil sie hyperbolisch hier noch über Maximins Theopha-
nie hinausreichen sollten. Diese nationale Vereinnahmung Georges bewirkte aber
noch ein Zweites: Sie versuchte indirekt, Müller selber zu entlasten. Der bündische
Führer ›teut‹ wollte und musste sich der möglichen bedrohlichen Unterstellungen
von Elitetum, erotischem Knabenkult und undeutschen Wertvorstellungen durch
Umwertungen entledigen.
Sogar das früher konstitutive Landschaftserlebnis der Jungengruppen verändert
sich in der neuen Zeit. Auch das sei durch Stefan George inspiriert worden:
Das Jahr der ›Einzel‹seele wandelt sich in das Jahr der ›deutschen‹ Seele. Und schon
im letzten Teil des ›Siebenten Rings‹ beginnt George die Runen der deutschen Land-
schaft zu werfen. Jetzt hat er die Macht, sie zu deuten. Städte, Berge, Ströme werden zu
deutschen Zeichen.25
21 Ebd.
22 Ebd., S. 66.
23 Ebd., S. 67.
24 Ebd., S. 68.
25 Karl Müller: Das Gesicht der Erde. Der deutsche Sinn der Landschaft. In: Die Westmark II,
Februar 1934, S. 231–235, hier S. 234. Zum folgenden Zitat s. S. 235.
Stefan George als Leitbild in Karl Christian Müllers Jungenbund ›Trucht‹ 191
Aber erst Hitler habe die Aneignung der bedrohten Landschaft vollendet:
Er schenkte dem Männlichen wieder sein eigenstes Gesetz, das Heldische. Er schenkte dem
Mütterlichen seinen Urboden, die freie Scholle und das reine Blut.
Weihnachten 1933 gab ›Teut‹, ›Führer der Trucht‹, die ›Lieder der Trucht‹ heraus
und verabschiedete sich zugleich von ihnen:
So gilt in erster Reihe das Heft uns selber, und zwar als Stufe zu vollendeterem Werk.
Die Stufe dieses Werkes fällt zusammen mit der Zeit, da die Trucht im Erlebnisraum der
bündischen Jugend stand. Dieser Erlebnisraum ist abgesunken. Wir schreiten in neues
26 Vgl. zur Orientierung Philipp Gresser: Die Rezeption im ›Dritten Reich‹. In: Achim Aurn-
hammer/Wolfgang Braungart/Stefan Breuer/Ute Oelmann u. a. (Hg.): Stefan George und
sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 2012. Bd. 2, S. 1007–1015.
27 Vgl. ebd., S. 1009, dort zus. mit Anm. 235.
28 Vgl. ebd., S. 1010, dort besonders auch Anm. 243, und S. 1014.
29 Vgl. zum Folgenden Stefan Breuer: Rezeption und Wirkung des George-Kreises. Die
bündische Bewegung. In: Aurnhammer u. a., George und sein Kreis (Anm. 26), Bd. 2,
S. 1199–1212. Hier bes. S. 1203, 1205 und zu Paetel das Zitat Stefan Breuers S. 1207. Siehe
auch S. 1221 die Entlarvung Maximins als »pseudoreligiöses Trugbild« durch Hans Rößner
1938.
30 Ebd.
192 Reinhard Pohl
Land. So möchten wir in diesem Heft abschließen mit jener Welt, die als Stufe uns im-
mer erhalten bleiben wird.31
Als Stufen, auf denen man offenbar gern verharrte, lassen sich die letzten drei Num-
mern des ›Großen Wagens‹ von 1933 lesen, die ab Heft II innen mit dem Haken-
kreuz statt der ›Truchtrune‹ versehen sind. Ein vielfältiges Jungenleben, besonders
auf Abenteuerfahrten nach Chile, Italien oder in den Balkan, wurde in gewohnter
Tradition mit eigenen Fotos, Gedichten und Erzählungen in Minuskel-Schrift doku-
mentiert und reflektiert. Noch stand der Zeitbezug am Rande wie die oben erwähnte
Genehmigung der Deutschen Jungentrucht oder die Werbung für den »Waffen-
stillstand«.32 ›teut‹ selber erzählte von seiner Balkanfahrt, dass er seine Jungen das
Horst-Wessel-Lied an der albanischen Grenze mit Sieg-Heil und Hitlergruß singen
ließ.33
Nach einer Pause von sechs Monaten erschien das vierte Heft. Der neue Schriftlei-
ter war Dr. Karl Müller selbst, der seine Themen heldische Freundschaft und Gefolg-
schaft ehrgeizig fortsetzte und dabei auch mehrfach Stefan George zitierte – diesen
allein noch in der Kleinschrift. In seinem programmatischen Nachwort wird der
politische Standort bestimmt:
Unterdessen hat die Trucht eine entscheidende Entwicklung durchgemacht. Sie hat ihre
Jungengruppen allmählich in die Hitlerjugend und ins Jungvolk entlassen, da sie sich
darüber klar ist, dass die neue Gestalt des Jungenlebens nur dort sich entscheidet und
nicht in Gruppen, die abseits stehen.34
Damit hörte der ›Große Wagen‹ auf, wie noch 1933 eine Jungenschrift zu sein. Eine
ältere Leserschaft sollte hinfort von fremden, namhaften nationalen Beiträgern vor
allem stärker historisch und literarisch ausgerichtet werden, wozu Müller auch seine
Kontakte der ›Westmark‹ dienlich wurden. Dabei sollte eine Entdeckung der neuen
Zeit sie leiten, dass »nicht der einzelne dichtet, sondern das Volk«.35
In seinem einleitenden Beitrag zu »Gefolgschaft« zeigt er den großen Zusammen-
hang auf:
Wir sehen, wie in Hölderlin, in Nietzsche (Zarathustra), in Stefan George die Gefolgschaft
als die deutsche Präge der Gemeinschaft aufkeimt. In Hölderlin ist sie Verheißung, in
Nietzsche das Tiefumworbene, nie Erreichte, in George das gnadenhaft erstmalig Erleb-
te und Gedeutete. In der Jugendbewegung, den Stoßtrupps des Krieges, in den Freikorps
beginnt das Neue zu dämmern. In Hitler wird dieser Geist Sturm des ganzen Volkes und
erobert das Herz des Volkes und die Herrschaft im Reich.36
Ohne Kommentar Georges Text von 1907 beim Umblättern auf Hitler zu beziehen,
jenem das eigene Leben zu weihen, steht sicherlich nicht im Einklang mit den In-
tentionen des Dichters. Man sieht sich hier schon wie vor einer nationalen Votivtafel.
Zur Alternative fehlte Müller wohl der Mut. Bei einer »ergreifenden« Morgenfeier im
Januar 1934 im Stadttheater Saarbrücken zum Gedächtnis des »deutschen Dichters
Stefan George«, an der Müller sicherlich teilnahm, war eine von Neu geschaffene,
sehr gelobte Büste Georges auf der Bühne aufgestellt. Anstatt diese bildlich zum Zitat
hinzuzufügen, nimmt Müller die von Neu ebenfalls geschaffene Hitlerbüste hinzu
und ideologisiert den Eid.38
Es sind ansonsten die »Gestalten« Georges aus ›Der siebente Ring‹, d. h. Templer,
Widerchrist und als Gegenbild der Verräter aus ›Der Brand des Tempels‹, die neben
Nibelungen, Konradin und Wallenstein für die Typologie der Gefolgschaft mottohaft
ausgewählt werden.39 Methodisch hatte Müller bereits im vierten Heft über »Hel-
dische Freundschaft« so seine dreistufige Typologie des opferbereiten Knaben-He-
roismus mit den Schlussstrophen aus ›Der Waffengefährte‹ I und II unter Berufung
auf George zu festigen versucht.40 Im Septemberheft (IV, 1934), ›Jugend im Schick-
sal der Völker‹, steigerte er dieses Ideal im Blick auf die jetzt älteren Leser zum Blut-
opfer des Soldatentums in den Zeiten des höchsten völkischen Lebens.
Der ›Große Wagen I‹ vom Januar 1935 widmete sich »Geheimnissen der Natur«.
Hier wird in jungenbezogener, bis auf die Majuskeln nicht verzerrter Weise ein Text
Georges als Ganzes eingefügt. Es steht zusammen mit einer Vertonung ›Das Lied‹
(»Es fuhr ein knecht hinaus zum wald ...«) aus ›Das neue Reich‹.41 Der Knecht kehrt
aus einer anderen Zeitdimension in seine alte, gealterte Welt zurück und findet sich
nicht mehr zurecht. Dass dieser Text die Vorkriegsausgaben des ›Großen Wagen‹
beschließt, liest sich wie eine Allegorie unschuldig naiver diskontinuierlicher Zeit-
erfahrung, auf die ich gleich zurückkomme.
Ab März 1935 gehörte das Saargebiet wieder zum deutschen Reich. Unerwarteter-
weise wurde die ›Trucht‹ mit ihrer so ambitioniert angepassten Zeitschrift verboten.
Karl Müller arbeitete dennoch in der ›Westmark‹ publizistisch weiter, obwohl seine
Schriften ebenfalls verboten worden waren, passte seine Überzeugungen weiterhin
an und nahm trotz seiner bündischen Herkunft eine im regionalen nationalsozia-
listischen Kulturbetrieb beachtliche Rolle ein, bis in die Kriegsjahre hinein. Von der
›Jungentrucht‹ und Stefan George hatte er sich verabschiedet.
Als er 1948 aus der britischen Gefangenschaft in Ägypten nach Saarbrücken zu-
rückkehrte, sah er sich in der Rolle des Knechtes, der fremd aus einer anderen Zeit in
die zerstörte gegenwärtige Welt heimkehrte. Was er zu den Katastrophen jener Zeit
beigetragen hatte, verschwieg er allerdings wie z. B. seine antisemitischen Aufsätze,
seine NS-Schulungskurse oder seine Tätigkeit als Marinepropagandist in der Ägäis.
Auch für seine Verantwortung für mögliche Opfer seines Heroismus-Konzeptes
stand er nicht ein. Dafür spann er Legenden über seinen bündischen Widerstand,
ständige Verfolgung und Bedrohung oder über seine Kommandantur auf Santorin,
die er nie innehatte: »Nur kinder horchten seinem lied«. Er gründete eine zweite
›Trucht‹ mit den elitären Prinzipien (›Nomoi‹) der ersten und trat als Lyriker wieder
in der saarländischen Literaturszene auf, an deren organisatorische Spitze er sich
setzte. Stefan George, den viele neue junge Bündische in jenen 50er Jahren erstmals
zu verstehen und kreativ zu pastichieren versuchten, hatte ihm literarisch nichts
mehr zu sagen.42
41 SW III, S. 126 f.
42 Vgl. allg. Torsten Mergen: Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von
Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900–1975), Göttingen 2012. Siehe auch Verf.:
»Begegnung mit Spiro«. Historizität und Legende in einer Erzählung von Erich Scholz.
In: Schürmann u. a. (Hg.): »... und die Karawane zieht weiter«. Freundesgabe für Jürgen
Reulicke, Ebersdorf 2015, S. 335–348. – Abschließend zwei Schlüsselzitate aus Müllers
Briefwechsel mit Werner Helwig, Literaturarchiv Saar – Lor – Lux – Elsass. Saarbrücken,
Nachlass KCMüller, Mappe 192, vom 8.1.1955: »In meinen Schriften ist nichts, was man
mir politisch vorwerfen könnte.« Zu George ebd. am 18.12.1962: »Die völlige Unanwend-
barkeit Georges beispielsweise erweist sich mit jedem Aufschlagen seiner Bücher mehr.« –
Zur bündischen George-Rezeption ab den 50er-Jahren s. exemplarisch Berthold Daut:
Stimmen und Schatten, Wiesbaden 1993 sowie den Exkurs des Verf. In: »bertholddaut.
blogspot.de«.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 195
1 Vgl. zur Kritik an der Quellenferne der Historiographie zur Jugendbewegung insgesamt
Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015,
S. 12; aus der Perspektive der historischen Rezeptionsforschung Verf.: Zwischen Wandern
und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürger-
lichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923, Göttingen 2016, S. 19–29.
2 Friedmar Apel: Einmal kommt die große Zeit. Umbruchvorstellungen in der Jugendbewe-
gung. In: Daniel Meyer/Bernard Dieterle (Hg.): Der Umbruchsdiskurs im deutschspra-
chigen Raum zwischen 1900 und 1938, Heidelberg 2011, S. 55–64, hier S. 57. Selbst wenn
dies für einzelne Gruppen der Jugendbewegung zutreffen mag, wäre für andere Gruppen
beispielsweise nach dem Einfluss des Expressionismus auf Diskurse und Rhetoriken des
Umbruchs zu fragen.
3 Vgl. beispielsweise Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in
der Literatur um 1900, Köln – Weimar – Wien 2006, hier S. 119 f.: »Insbesondere die Kom-
promisslosigkeit Georges war es wohl, die viele seiner jungen Leser weitaus mehr beein-
druckte als die Inhalte seiner ästhetizistischen Programmatik«.
4 Exemplarisch die Interpretation von Apel, Umbruchvorstellungen (Anm. 2), S. 57, nach der
es sich bei Georges Gedicht ›Wer je die flamme umschritt‹ um die Geltendmachung eines
»charismatischen Führerprinzips« handele. Dies lässt sich zweifellos plausibel machen;
ebenso naheliegend wäre aber die Annahme, dass die jugendbewegten Leserinnen und
Leser dieses Gedicht weniger als Verpflichtung auf eine Person, sondern auf die Idee und
die Gestalt des Bundes gelesen haben.
196 Malte Lorenzen
Lesers in den Mittelpunkt rückt,5 und den Untersuchungen von Rainer Kolk6 und
Johann Thun7 zur George-Rezeption in einzelnen Bünden ist vor allem ein Beitrag
von Stefan Breuer zum George-Handbuch zu nennen. Im Zusammenhang seiner
Darstellung der politischen Rezeption Stefan Georges setzt sich Breuer auch mit
der Rezeption Georges in der Bündischen Jugend auseinander.8 Hierfür greift er
auf jugendbewegte Rezeptionszeugnisse in Büchern und Zeitschriften zurück und
kommt so zu gut begründeten und im Quellenmaterial fundierten Thesen über die
George-Rezeption in der Bündischen Jugend. Zwar findet Breuer durchaus Spuren
einer George-Lektüre in der Jugendbewegung. Skeptisch ist er allerdings hinsichtlich
eines nachweisbaren Einflusses von George auf die Bünde in dem Sinne, dass sich
durch ihn grundlegend neue Ideen oder Stilmittel etabliert hätten, denn »die bün-
dische Bewegung vollzog sich bei den George-abstinenten Bünden wie ›Adlern‹ und
›Falken‹, ›Geusen‹ oder ›Schilljugend‹ nach exakt denselben Mustern wie bei denen,
die gern auf George-Formeln rekurrierten«.9
Angesichts der damit bereits vorliegenden Forschungsergebnisse scheint es we-
nig zielführend, noch einmal in pauschalisierender Weise allgemeine Thesen zur
George-Rezeption in der Jugendbewegung vorzutragen. Stattdessen sollen weitere
Quellen erschlossen werden, um die von anderen erzielten Befunde zu validieren
und gegebenenfalls auf eine breitere Basis zu stellen. Da sich Breuer, Kolk und Thun
in ihren Beiträgen auf die Zeit ab 1924 konzentrieren, soll hier vornehmlich der vo-
rangehende Zeitraum berücksichtigt werden, genauer: die Jahre von 1914 bis 1924.
Denn tatsächlich lassen sich für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg keine Belege für
eine George-Rezeption in der Jugendbewegung finden – ein Umstand, auf den später
zurückzukommen sein wird.
Im Zentrum der folgenden Überlegungen wird die Frage nach Wirkungs- und
Einflussverhältnissen zwischen Jugendbewegung und George stehen. Hierfür ist es
nötig, nicht nur die jugendbewegten Rezeptionszeugnisse zu analysieren, sondern
die dort formulierten Ideen, Konzepte und Begriffe mit solchen aus dem George-
Kreis zu vergleichen und sie in das Spektrum der zeitgenössischen Kulturkritik ein-
zuordnen. Darüber hinaus soll durch die Untersuchung verschiedener Zeitschriften
aus unterschiedlichen Spektren der Jugendbewegung die Diversität und Heterogeni-
tät der jugendbewegten George-Rezeption herausgearbeitet werden.10
5 Justus H. Ulbricht: Jugend mit George – Alfred Kurellas Ideen von 1918. Versuch einer
Kontextualisierung. In: George-Jahrbuch 9, 2012/13, S. 219–241.
6 Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945.
Berlin 1998, S. 441–449; Kolk untersucht dort die Zeitschrift ›Der Weiße Ritter‹ aus dem
Umfeld des ›Bundes der Neupfadfinder‹.
7 Johann Thun: Der Bund und die Bünde. Stefan George und die deutsche Jugendbewegung.
In: Thorsten Carstensen/Marcel Schmid (Hg.): Die Literatur der Lebensreformbewegung.
Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900, Bielefeld 2016, S. 87–104; Thun untersucht
die George-Rezeption im Bund ›Südlegion‹ und im Bund ›Die Werkleute‹.
8 Stefan Breuer: Politische Rezeption. In: Achim Aurnhammer/Wolfgang Braungart/Stefan
Breuer/Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Berlin–Boston
²2016. Bd. 2, S. 1176–1225, hier S. 1199–1212.
9 Ebd., S. 1223.
10 Auf die Notwendigkeit zur synchronen und diachronen Differenzierung der Jugend-
bewegung hat innerhalb der George-Forschung vor allem Kolk, Gruppenbildung (Anm. 6),
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 197
Absichtlich wurde davon abgesehen, in diesem Hefte jene Dichtung, die aus dem Kreise
um Stefan George hervorging, in die Betrachtung einzubeziehen. Es sind nicht nur Ge-
16 Biografische Informationen zu Hans Alt waren bislang nicht auffindbar; es handelt sich
bei der Kennzeichnung Alts als ›Laienkritiker‹, insofern lediglich um eine vorläufige
Mutmaßung.
17 Vgl. hierzu grundsätzlich Lorenzen, Wandern (Anm. 1), S. 135–148.
18 Auch im George-Kreis ist das Verstummen gegenüber den Veröffentlichungen Georges
nicht unbekannt. Überliefert ist die Reaktion Karl Wolfskehls, der George nach Erhalt eines
Privatdrucks des ›Stern des Bundes‹ die Mitteilung machte: »Heut ist Verstummen Pflicht«;
hier zit. nach Kolk, Gruppenbildung (Anm. 6), S. 280. Vgl. hierzu außerdem Wolfgang
Braungart: Gundolfs George. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 43, 1993,
S. 417–442, hier S. 420, der auf Friedrich Gundolfs Selbsteinschätzung hinweist, erst durch
George »die bloß negative Kritik« überwunden und die Fähigkeit zur »Affirmation« erlangt
zu haben.
19 Vgl. u. a. Ernst Lehmann: Gundolfs Cäsar. In: Der Weiße Ritter 4, 1924/25, S. 66–68; Hans
Schmeer: [Rezension zu:] Friedrich Gundolf: Heinrich von Kleist. In: Der Weiße Ritter 2,
1924/25, S. 154–156.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 199
gensätzlichkeiten formaler Art, die hier eine Grenze ziehen. Es bleibe einem besonderen
Heft vorbehalten, die Beziehungen zwischen Georgescher Dichtung und der Jugend-
bewegung aufzuzeigen.20
Erschienen ist ein solches Heft der ›Freideutschen Jugend‹ nicht. Entscheidend ist
an der knappen redaktionellen Vorbemerkung dennoch zweierlei: Zunächst die Er-
kenntnis, dass die Jugendbewegung weit davon entfernt ist, George ausschließlich in
begeisterter Zustimmung zu rezipieren; zweitens die Tatsache, dass George dennoch
eine Relevanz zugeschrieben wird, aufgrund der eine lediglich knappe Auseinander-
setzung mit ihm ausgeschlossen wird.
Zumindest für die wohlwollende und die emphatische Rezeption Georges in der
Jugendbewegung gilt nun, dass sie eindeutig kulturkritisch fundiert ist. Kulturkri-
tische Aspekte gab es in der Jugendbewegung allerdings seit ihren Anfängen, und
in vielen ihrer programmatischen Texte tritt deutlich der Anspruch hervor, eine
kulturreformerische Bewegung zu sein.21 Insofern stellt sich die Frage, warum die
intensive Auseinandersetzung mit George und seinem Werk erst so spät, nämlich
nach dem Ersten Weltkrieg einsetzt. Zwei Bedingungen, die diese Entwicklung er-
möglichen, spielen hierbei eine Rolle.
Die erste dieser Bedingungen liegt im Werk Stefan Georges begründet, in der
Abkehr vom ästhetizistischen Frühwerk und seiner Neuerfindung als lehrhafter
Dichter. Diese Entwicklung war allerdings mit dem 1914 erschienen ›Stern des Bun-
des‹ im Wesentlichen abgeschlossen.22 Nimmt man ihre Zeitschriften als Maßstab,
wurde der Band in der Jugendbewegung unmittelbar nach seiner Publikation aller-
dings zunächst kaum wahrgenommen und hat somit auch keine breitere Rezeption
Georges initiiert.23
Zwar finden sich seit 1914 vereinzelt Gedichte von Stefan George in einigen Zeit-
schriften abgedruckt, beispielsweise das Gedicht ›Der Jünger‹ aus dem ›Teppich des
Lebens‹ in der ersten Nummer des ›Aufbruch‹, einer kurzlebigen Zeitschrift vom
linken Flügel der freideutschen Bewegung.24 Dort ist aber noch nichts von der
inhaltlich konsistenten Begeisterung für das Werk Georges zu erkennen, die nach
dem Ersten Weltkrieg einsetzen wird. Das Gedicht wird von der pazifistischen, mit
sozialistischen Idealen sympathisierenden Gruppe um den Herausgeber Ernst Joël
lediglich zur Darstellung eines Ethos funktionalisiert, das sich in der Treue und Hin-
20 Vorbemerkung. In: Freideutsche Jugend 7, 1920, S. 222. Das Heft widmet sich vor allem
dem Expressionismus.
21 Vgl. zum Zusammenhang von Jugendbewegung und Kulturkritik u. a. Walter Rüegg (Hg.):
Kulturkritik und Jugendkult. Frankfurt a. M. 1974.
22 Die Frage nach verschiedenen, scharf abzugrenzenden Phasen im Werk Georges ist in
der Forschung notorisch umstritten. Vgl. zu diesem Problem – pars pro toto – Wolfgang
Braungart: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: Aurnhammer/Braungart/Breuer/Oelmann
(Hg.), George (Anm. 8), Bd. 2, S. 495–550, der auf Entwicklungen ebenso aufmerksam
macht wie auf Kontinuitäten.
23 Insofern sind gegenüber der noch von Kolk, Gruppenbildung (Anm. 6), S. 280, kolportier-
ten Legende, die Kriegsfreiwilligen des ›Wandervogels‹ hätten den ›Stern des Bundes‹ 1914
im Tornister mit zur Front genommen, Zweifel angebracht.
24 Vgl. Anonym: Die Stunde des Aufbruchs. In: Der Aufbruch 1, 1915, S. 1.
200 Malte Lorenzen
gabe an eine inhaltlich nicht spezifizierte Idee ausdrückt; eine nähere Auseinander-
setzung mit Stefan Georges Werk oder den in den Publikationen des George-Kreises
vertretenen Ideen findet hingegen nicht statt. So ist es auch nicht überraschend, dass
der dem Abdruck folgende Aufsatz von Friedrich Bauermeister über den ›Klassen-
kampf der Jugend‹ mit einer George ganz und gar fremden Terminologie aufwartet.
Der Großteil der Jugendbewegung bleibt während des Ersten Weltkrieges oh-
nehin weitgehend den Traditionen der Vorkriegszeit verpflichtet. Das bedeutet
in politischer Hinsicht eine Identifikation mit dem bestehenden System und eine
Orientierung an Konzepten von ›Heimat‹ und ›Vaterland‹. Zwar begreift man sich
vielfach als Avantgarde, die ein anderes Leben probiert und dadurch als Vorbild zu
wirken versucht; die Vorstellung aber, einer Elite anzugehören, dürfte in der Jugend-
bewegung der Vorkriegszeit kaum zu finden sein. Auch am Literaturgeschmack der
Bünde ändert sich während des Krieges nichts. Der Schwerpunkt jugendbewegter
Literaturrezeption liegt eindeutig im Rahmen dessen, was innerhalb der Heimat-
kunstbewegung und der (literarisch) konservativen Teile der Lebensreformbewe-
gung publiziert wird.
In der Auseinandersetzung mit George wird dies in einer Kritik sichtbar, die Max
Bondy in der ›Freideutschen Jugend‹ eben jenem ›Aufbruch‹ widmet. Bondys Ar-
tikel ist vor allem eine Polemik gegen pazifistische und sozialistische Tendenzen
in Joëls Zeitschrift, die aber auch deren Literaturprogramm berücksichtigt. Im
Hinblick auf »Ernst« und »Ehrlichkeit des Wollens« vermag Bondy zwar durchaus
Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Kreis um den »Aufbruch« zu erkennen;
»letzten Endes« aber schwebe ihm »ein kräftigeres, weniger molluskenhaftes, männ-
licheres, heldenhafteres seelisches Menschentum [vor], als wie es etwa Franz Werfel,
Stefan George darstellen [...]«.25 Ob das Urteil über George auf eigener Lektüre
beruht, zumal seiner neuesten Veröffentlichungen, mag zweifelhaft sein;26 es zeugt
jedoch von der Persistenz einer im rechtskonservativen und rechtsextremen Spek-
trum des Kaiserreichs verbreiteten Ablehnung Stefan Georges, die vor allem auf die
ästhetizistischen Aspekte seines Werkes abzielt und ebenfalls mit einer dichotomen
Unterscheidung von positiv konnotierter »männlicher« und negativ konnotierter
»weiblicher« Literatur operiert.27
Erst mit dem Ende des Krieges werden deutliche Veränderungen in den Rezepti-
onsgewohnheiten der Jugendbewegung sichtbar. Innerhalb der akademisch gepräg-
25 M.[ax] B.[ondy]: Der Aufbruch und die Freideutsche Jugend. Zweierlei Jugendbewegung.
In: Freideutsche Jugend 11, 1914/15, S. 232–234, hier S. 233 f.
26 Es bleibt auch nicht unwidersprochen; in einer Erwiderung schreibt Eduard Heimann:
Noch einmal »Der Aufbruch«, Verteidigung und Kritik. In: Freideutsche Jugend 3/4, 1916,
S. 91–95, hier S. 92: »Denn wer Georges Dichtungen schon einmal ablehnen zu müssen
glaubt, der kann das, wie uns scheint, nur aus einer Abneigung gegen die Strenge, ja Härte
seines Wesens begründen, gegen den unerbittlichen Willen zur Form, durch den dieser
zielbewußte Künstler sich von manchen anderen naiv schaffenden unterscheidet. Allenfalls
also könnte man ihn ›starr‹ nennen; das entgegengesetzte Urteil ›molluskenhaft‹ entspringt
nicht einem so ernsthaften Bemühen, wie es der Gegenstand des Urteils, der Ort der Ver-
öffentlichung und die unausbleibliche Wirkung auf eine unorientierte Leserschaft erfor-
dern«.
27 Vgl. hierzu Philipp Gresser: Deutschsprachige George-Kritik 1898–1945. In: Aurnhammer/
Braungart/Breuer/Oelmann (Hg.), George (Anm. 8). Bd. 2, S. 976–1016, hier S. 977–979.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 201
ten ›Freideutschen Jugend‹ beginnt man sich für den Expressionismus zu interessie-
ren, für russische und asiatische Literatur, die Kunst der sogenannten »Primitiven«
und für sozialistische Ideen und Autoren.28 Daneben finden sich verstreute Hinweise
auf eine Rezeption Stefan Georges, die zwischen kritischer Distanz und einer Adap-
tion Georgescher Lyrik für die eigenen Ideen schwankt.
Exemplarisch für den letzteren Fall steht ein unter dem Eindruck des Waffen-
stillstandes verfasster Artikel von Wilhelm Hagen,29 der sich mit den Ursachen des
Ersten Weltkriegs und den Konsequenzen für die Nachkriegsordnung auseinander-
setzt und dabei Gedichte Georges nutzt, um seine eigenen Thesen zu illustrieren und
zu bekräftigen.30 Als Motto vorangestellt ist dem Aufsatz Georges Gedicht ›Auf neue
Tafeln schreibt der neue Stand‹. Das Gedicht aus dem ›Stern des Bundes‹, das Ju-
gendemphase und Umbruchsrhetorik verbindet wie kein anderes in Georges Werk,
dient Hagen zur Einstimmung des Lesers auf ein zentrales Thema seines Artikels,
auf die Notwendigkeit zur Umgestaltung des politischen Systems, der Kultur, des
Sozialsystems und der individuellen Lebensführung nach dem Ende des Krieges.
Dieser gilt Hagen als »ein gewaltiges Erdbeben der alten Zeit, der Krampf eines in
sich folgerichtig bis zur Selbstvernichtung durchgeführten, auf einseitigen Grund-
sätzen aufgebauten Lebensprozesses«. Gleichzeitig begreift er ihn aber auch als
»Geburtsschmerz einer neuen kommenden Zeit«.31 Der im Gedicht mit Chiffren
der Generationalität zum Ausdruck gebrachte Konflikt zwischen dem Alten, Über-
lebten und dem Jungen, Neuen, dessen gewaltsames Potential im achten Vers auf-
scheint (»Ihr sollt den dolch im lorbeerstrauße tragen«), wird von Hagen so auf die
jüngste Vergangenheit des Weltkrieges und der revolutionären Gegenwart projiziert.
In diesem Kontext erscheint Georges bereits 1914 veröffentlichtes Gedicht geradezu
als Apologie der deutschen Novemberrevolution, die von Hagen – zeithistorisch be-
sonders bemerkenswert – mit einem unumwundenen Eingeständnis der deutschen
Kriegsschuld verbunden wird.32
Orientiert vor allem an Thesen von Rudolf Pannwitz,33 zeichnet Hagen ein ge-
schichtsphilosophisches Bild, nach der die Katastrophe des Weltkrieges Resultat
28 Vgl. zur Geschichte der ›Freideutschen Jugend‹ vor allem Dietmar Schenk: Die Freideut-
sche Jugend 1913–1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster
1989; vgl. zur gleichnamigen Zeitschrift auch Lorenzen, Wandern (Anm. 1), S. 105–110,
zur dortigen Literaturrezeption ebd., v. a. S. 273–294.
29 Vgl. zum Arzt und Hygieniker Wilhelm Hagen (1893–1982), von 1941–1943 Amtsarzt in
Warschau und später Präsident des Bundesgesundheitsamtes, den entsprechenden Per-
soneneintrag bei Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor
und nach 1945? Frankfurt a. M. 2003, S. 218 f.
30 Dies deckt sich mit Beobachtungen von Kolk, Gruppenbildung (Anm. 6), S. 446 f., zur
Zeitschrift ›Der Weiße Ritter‹, in der »Elemente der Lyrik Georges in den eigenen Text«
montiert werden, um so, durch die »virtuelle Autorität des Dichters«, eigene Positionen zu
bekräftigen.
31 Wilhelm Hagen: Revolution. In: Freideutsche Jugend 1, 1919, S. 3–10, hier S. 3.
32 Ebd., S. 8.
33 Vgl. zu Rudolf Pannwitz aus der Perspektive der George-Forschung die biografische Skizze
von László V. Szabó: Pannwitz, Rudolf. In: Aurnhammer/Braungart/Breuer/Oelmann
(Hg.), George (Anm. 8). Bd. 3, S. 1566–1569.
202 Malte Lorenzen
einer »Krisis der europäischen Kultur« gewesen sei,34 die ihre Ursache nicht zuletzt
in einem Verlust der Synthese grundsätzlicher Polaritäten gehabt habe, namentlich
in einer einseitigen Betonung von »Willen« und »Logos« gegenüber »Bindung« und
»Eros«.35 Das Denken in Polaritäten und Dichotomien ist freilich typisch für den
zeitgenössischen Diskurs der Kulturkritik, und es begegnet einem in den Publika-
tionen aus den Kreisen um George ebenso wie in der Jugendbewegung und den
jugendbewegten Rezeptionszeugnissen zu Stefan George immer wieder.36 Auch Ha-
gens Lösung ist alles andere als ungewöhnlich und lässt sich in komplexeren Formu-
lierungen auch im Umfeld Georges finden: Wo die Kultur krisenhaft erschüttert ist,
bedarf es einer »Epoche neuer Kultur«, gekennzeichnet durch die »organische Ver-
bindung von Wille und Einfügung, von Eros und Logos«.37 Interessanter ist da schon
der Weg, den Hagen der ›Freideutschen Jugend‹ aufzeigt. Voller »Befürchtungen [...],
ob uns die Politik nicht wurzellos machen wird, uns den Boden innerlichen Lebens,
den wir in Gemeinschaft gewonnen haben, entziehen [wird]«, plädiert er dafür,
zwei engverschlungene Ringe zu bilden. Den einen nach innen gerichtet, und in der Ab-
schließung aus dem Unbedingten die Lebensform gestaltend, den anderen nach außen
gewandt ins tätige Leben, dort wirkend und schaffend. Zwischen beiden muß starkes
Leben strömen, der Mensch der Tat muß stets den Blick von der Tagesarbeit wieder in
den Kreis der Stillen lenken zu der Flamme.38
Wenn Hagen hieran anschließend Verse aus Georges Gedicht ›Wer je die flamme
umschritt‹ zitiert, macht er, ob wissentlich oder nicht, auf eine bemerkenswerte Ko-
inzidenz zwischen seinem Konzept und der präferierten Lebens- und Arbeitsform
des George-Kreises aufmerksam. Denn auch dort wird ja nicht nur intern die Bildung
einer kleinen Elite mit spezifischen (ästhetischen) Gemeinschaftsformen betrieben;
mit dem Drängen Georges auf eine wissenschaftliche Laufbahn seiner ›Jünger‹ und
durch die vielfach erfolgten Universitätskarrieren wirkten die Menschen um George
zumindest in der Wissenschaft tatsächlich »ins tätige Leben« hinein.39
Findet bei Wilhelm Hagen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg also noch
eine selektive Aneignung von Gedichten Georges statt, die dadurch erleichtert
wird, dass beide am selben kulturkritischen Diskurs partizipieren und verbreitete
Topoi aufgreifen, fällt es George mit der Zeit immer schwerer, in der akademisch
geprägten, zum Teil mit sozialistischen Idealen sympathisierenden ›Freideutschen
Jugend‹ Anhänger zu finden. Zwar wird Ende 1919 auf einer Redaktionskonferenz
ihrer Zeitschrift noch erwogen, mit Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Friedrich
34 Hagen, Revolution (Anm. 31), S. 3, darin den Titel von Pannwitz’ Hauptwerk aufgreifend.
35 Ebd., S. 4–7.
36 Vgl. zur Geschichte und Topoi kulturkritischen Denkens grundsätzlich Georg Bollenbeck:
Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007; sowie
Ralf Konersmann: Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008.
37 Hagen, Revolution (Anm. 31), S. 9.
38 Ebd., S. 10.
39 Vgl. hierzu vor allem Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und
der George-Kreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien 1997.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 203
Wolters drei der engsten Vertrauten Stefan Georges als Mitarbeiter zu gewinnen;40
doch bereits 1920 wird in der ›Freideutschen Jugend‹ ein Vortrag von Carl Maria
Weber publiziert, in dem George neben Rilke und Dehmel nur mehr als Vorläufer
der »jüngsten Lyrik« geführt wird.41
Besonders deutlich wird die zunehmende Diskrepanz zwischen den Konzepten
des George-Kreises und Teilen der Jugendbewegung bei Lisa Tetzner. Die wan-
dernde Märchenerzählerin und spätere Kinderbuchautorin gehörte zwar nie einer
jugendbewegten Organisation an, stand der Bewegung aber zeitweise sehr nahe.42 In
einem 1924 von Martin Rockenbach herausgegebenen Sammelband über ›Jugend-
bewegung und Dichtung‹ erscheint ein Beitrag von ihr über ›Die literarischen Weg-
bereiter der Jugend‹. Tetzner schildert dort ihre eigene Lesebiographie und schreibt
im einzigen vorliegenden Beispiel einer weiblichen George-Rezeption aus dem Um-
feld der Jugendbewegung:
Ich war ein Mädchen von 17 Jahren, mir selber fremd und unwissend, in den Jahren
des Unverstandenseins von daheim, an enge Bürgertraditionen gebunden, mit dem
dumpfen Drang nach Befreiung jenes unerklärlichen Ichs, als mir ein junger Freideut-
scher (ich selbst hatte erst viel später Fühlung mit der Bewegung) Nietzsche und Rilke
in die Hände gab. Gewiß, ich habe damals nur wenig verstanden, aber ich habe ver-
standen, daß es noch etwas Höheres gab und daß sich das Leben lohnte, daß es höhere
Ziele und Ideale gab, die nicht in jenem kleinbürgerlichen Alltag der vergangnen [sic]
Generation lagen. Die Bücher, die mir bis dahin zugänglich gewesen waren, wurden
wesenlos, Stefan George, Tagore, ja auch der gute brave Cäsar Flaischlen folgten und
wandelten mich, sie trieben mich hoch, trieben mich vorwärts und lösten alles Unklare
und Verworrene.43
Unklar bleibt zwar, welche Aspekte von Georges Lyrik es genau sind, die Lisa Tetz-
ner bei ihren adoleszenten Problemen geholfen haben. Sicher ist aber, dass sie auf
Tetzner eine Wirkung hat, die der zuvor erwähnten Funktionalisierung im ›Anfang‹-
Kreis ähnelt. Wiederum ist der von Georges Lyrik ausgelöste Wunsch zu erkennen,
ein von Idealen bestimmtes Leben zu führen, ohne dass die Ideale aber konkret
benannt würden.
Allerdings gehört George auch für Tetzner – trotz ihrer jugendlichen Begeiste-
rung für »diese[n] Feiertagsmensch[en] und Priester«, der »über all das nüchtern
40 Vgl. Kurzer Bericht über die Schriftleiterbesprechung am 18. November 1919, Archiv der
deutschen Jugendbewegung, N 123, Nr. 19.
41 Carl Maria Weber: Vom Geist der jüngsten Lyrik. Ein Vortrag. In: Freideutsche Jugend 7,
1920, S. 232–235. Weber (1890–1953) war selbst Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt ver-
diente er als Lehrer, unter anderem an der Odenwaldschule; vgl. Reinhard Müller: Art. Carl
Maria Weber. In: Hubert Herkommer/Konrad Feilchenfeldt (Hg.): Deutsches Literatur-
Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Bd. 28, Zürich u. a. 2008, S. 488 f.
42 Vgl. zur Biografie Tetzners vor allem Elena Geus: »Die Überzeugung ist das einzige, was
nicht geopfert werden darf«. Lisa Tetzner (1894–1963). Lebensstationen – Arbeitsfelder.
Diss. masch. Frankfurt a. M. 1999.
43 Lisa Tetzner: Die literarischen Wegbereiter der Jugend. In: Martin Rockenbach (Hg.): Ju-
gendbewegung und Dichtung, Leipzig – Köln 1924, S. 5–12, hier S. 8.
204 Malte Lorenzen
44 Ebd.
45 Ebd., S. 11 f. Dass hier kein notwendiger Zusammenhang besteht, zeigt das Beispiel Alfred
Kurellas; vgl. Ulbricht, Jugend (Anm. 5).
46 Vgl. hierzu neben Schenk, Freideutsche Jugend (Anm. 28) vor allem Reinhard Preuß: Ver-
lorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–
1919, Köln 1991; sowie Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur
Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920, Köln 1988.
47 Vgl. hierzu vor allem Ulrich Linse: Siedlungen und Kommunen der deutschen Jugend-
bewegung. Ein Überblick und eine Interpretation. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen
Jugendbewegung 14, 1983, S. 13–28.
48 Vgl. zur Charakteristik und Geschichte der Bündischen Jugend vor allem Ahrens, Bün-
dische Jugend (Anm. 1).
49 Vgl. zur ›Bündischen Jugend‹ als »Szene« bzw. »Kommunikationsgemeinschaft« ebd.,
S. 19.
50 Ebd., S. 10.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 205
der Semantik, in den Bildwelten und in der Ideologie zwischen George-Kreis und
Jugendbewegung, die es den jugendbewegten Lesern wesentlich erleichtert, Zugänge
zum Werk Georges zu finden. Konkret betrifft dies insbesondere die in der Jugend-
bewegung und im George-Kreis verbreiteten Erziehungskonzepte, die Idee des Bun-
des, kulturkritisch fundierte Rückbezüge auf utopische Vergangenheiten und nicht
zuletzt den Jugendkult. Neben den Transformationen im lyrischen Werk und in
der Poetologie Stefan Georges als erster Ermöglichungsbedingung müssen also die
Transformationsprozesse in den Gruppen und Bünden als zweite Ermöglichungs-
bedingung der George-Rezeption in der Jugendbewegung verstanden werden.51
Die Folgen dieser Verschiebungen lassen sich vor allem an Aufsätzen zeigen, die
1923 in der Zeitschrift ›Wandervogel‹ erschienen sind. Sie sind Teil einer vom ›Alt-
Wandervogel‹ herausgegebenen Sondernummer ›Das Heft unseres Bundeswillens‹
und dokumentieren die Ergebnisse einer Arbeitswoche des Bundes in Gotha.
Der ›Alt-Wandervogel‹ hatte sich bereits vergleichsweise früh durch die 1920
erfolgte Trennung in einen Jungen- und einen Mädchenbund und durch den Aus-
schluss aller Mitglieder über 20 Jahren ohne eine leitende Funktion in Richtung der
sich formierenden Bündischen Jugend entwickelt.52 Mit der Übergabe des Bundes-
führeramtes von Ernst Buske an Georg Götsch im Frühjahr 1923 wurden dann erste
Schritte unternommen, den ›Jugendbund‹ in einen ›Lebensbund‹ zu transformieren:
Das Vorbild Griechenlands vor Augen, fordert Götsch zur Lösung der »Aufgabe
unserer Notzeit« die Verschmelzung von »Schönheit und Frische der Jugend mit
voller Tatkraft des Mannestums und herbstsonniger Weisheit des Alters«.53 Götschs
Text bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass das von ihm formulierte Konzept des
Lebensbundes andere Einflüsse kennt als die des antiken Griechenlands. Parallelen
zu den pädagogischen Konzepten des George-Kreises lassen sich zwar leicht heraus-
arbeiten, hatten doch auch dessen Mitglieder für »ein Lehrer-Schüler-Verhältnis«
51 Vgl. hierzu auch Arnold Bork: [Rezension zu:] Friedrich Gundolf, George. In: Beiblätter
zum Weißen Ritter 6, 1922, S. 301–304, hier S. 303, der sich mit Gundolf explizit gegen »die
irrige Ansicht vom ›Ästheten‹ George« wendet; um dies in der Jugendbewegung zu akzep-
tieren, waren aber erst einmal Veränderungen im poetischen Konzept Georges nötig. Wolf-
gang Braungart, Poetik (Anm. 22), S. 500 hat allerdings auch darauf aufmerksam gemacht,
dass »Archaismen, kostbare und auffallende, sich unterscheidende, ja affektierte Wörter
und Wendungen, die irritierende Kleinschreibung [...], die Stilisierung der Schrift, die aus-
gestellte Bewusstheit und Feierlichkeit der Gesamtinszenierung« nicht nur für das Früh-
werk, sondern auch für die späte Lyrik kennzeichnend sind. Dennoch findet eine für die
jugendbewegte Rezeption entscheidende Entwicklung statt. Während die frühen Gedichte
weit stärker geprägt sind von einer Schreibhaltung der »Kunst für die Kunst«, dominiert im
Spätwerk eine Schreibhaltung der »Kunst für das Leben«; vgl. hierzu ebd., S. 524. Die damit
einhergehenden Veränderungen in der Rhetorik und die neuen semantischen Felder und
Bildwelten erleichtern es seinen jugendbewegten Lesern erheblich, Verbindungen zwischen
Georges Lyrik und der eigenen Lebenswelt herzustellen.
52 Vgl. zur Entwicklung des ›Alt-Wandervogels‹ Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbe-
wegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf – Köln 1974, S. 87–90 und Ahrens:
Bündische Jugend (Anm. 1), S. 104 f.
53 Georg Götsch: Woher – wohin? Eines Bundes Weg und Wille. In: Wandervogel 1/2/3, 1923,
S. 19–24, hier S. 23 f.
206 Malte Lorenzen
plädiert, »das vom Eros in antiker Tradition geprägt war«.54 Um aber tatsächlich
mehr als bloße Affinitäten zu konstatieren und regelrechte Einfluss- und Wirkungs-
verhältnisse zu identifizieren, wäre es zum einen nötig, die zeitgenössischen Eros-
und Lebensbunddiskurse detailliert nachzuzeichnen. Gerade im Kontext der Ju-
gendbewegung wäre hierbei sicherlich an Gustav Wyneken zu denken, der innerhalb
der zeitgenössischen Reformpädagogik einflussreich Vorstellungen vom ›pädagogi-
schen Eros‹ propagiert hatte, die auch in die Jugendbewegung hineinwirkten. Zum
anderen wäre es notwendig, die Lese- und Bildungsbiographie von Georg Götsch zu
untersuchen. Nur so wäre es möglich festzustellen, ob Götsch die Diskussion ent-
sprechender Konzepte im Umfeld Stefan Georges überhaupt wahrgenommen hat.
Zu potentiellen Einflüssen könnte jedoch jene Arbeitswoche der ›Führerschaft‹
des ›Alt-Wandervogels‹ gehören, die, folgt man den Artikeln von Hermann Goern
und Hans Alt, nicht zuletzt der intensiven Auseinandersetzung mit der Person und
dem Werk Stefan Georges diente. Von ihnen ist es vor allem Hans Alt, der die päda-
gogischen Möglichkeiten und Ziele der Jugendbewegung fokussiert. Im Mittelpunkt
seines Beitrags über ›Grenzen u. Mitte des Wandervogels‹ stehen kulturkritisch
fundierte Überlegungen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Jugend-
bewegung. Für ihn müssen bereits die Anfänge des ›Wandervogels‹ als Versuch
verstanden werden, die als krisenhaft empfundenen Probleme der Gegenwart zu
überwinden:
Die Absage an »alle zweckhafte Zielbestimmtheit« ist vor allem als Kritik an der
funktional ausdifferenzierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer
Zweckorientierung und ihrer Notwendigkeit zum Spezialistentum zu interpretieren.
Ihr wird ein jugendlicher Freiraum entgegengesetzt, eine jugendliche Eigenwelt, in
der sich dem Individuum die Möglichkeit zu einem »gesamtmenschlichen Dasein«
biete. Dafür könnte durchaus der George-Kreis Pate gestanden haben, dessen Er-
ziehungskonzept ebenfalls darauf beruhte, »im Kreis für die Jugendlichen eine
57 Carola Groppe: Widerstand oder Anpassung? Der George-Kreis und das Entscheidungs-
jahr 1933. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im National-
sozialismus und der DDR, Paderborn 1997, S. 59–92, hier S. 71; vgl. außerdem Kolk,
Gruppenbildung (Anm. 6), S. 166 f. Vgl. überdies den Hinweis von Wolfgang Braungart:
Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S. 86, auf
»Georges Selbstverständnis, der sich modernismuskritisch als ganzheitliche Persönlichkeit
verstanden und sein Leben im Kreis mehr und mehr als vorbildliche, umfassend erzieheri-
sche Aufgabe begriffen hat.«
58 Ein entscheidender Unterschied zwischen George-Kreis und Jugendbewegung ist aller-
dings die Rolle von Erwachsenen. Wenigstens in einzelnen Bünden wurde von Zeit zu Zeit
versucht, mit dem Programm einer jugendlichen Selbsterziehungsgemeinschaft Ernst zu
machen und in der Folge alle erwachsenen Mitglieder auszuschließen.
59 Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag
zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin 1912.
60 Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 1), S. 25.
61 Skeptisch äußert sich hierzu allerdings Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges
Neues Reich, München 2010, S. 50, der zumindest Georges späte Rollenlyrik als Ausdruck
für den resignierten Rückzug eines Dichters interpretiert, der »den Kampf gegen die Mo-
derne faktisch aufgegeben hatte.«
62 Vgl. hierzu grundsätzlich auch den Hinweis von Kolk, Gruppenbildung (Anm. 6), S. 429,
dass die Moderne-Kritik im George-Kreis zwar in ihrem sprachlichen Niveau und ihrer
Kompromisslosigkeit herausragt, inhaltlich jedoch alles andere als originell ist.
208 Malte Lorenzen
Teilnehmer der Woche die Selbstfindung und Selbstreflexion des Bundes als Bund
mittels der Aneignung der Lyrik Georges in Formen ästhetisch-sozialer Praxis von
weitaus größerer Bedeutung. Dafür spricht jedenfalls die rückblickende Darstellung
von Hermann Goern:
Wie die Aussprachen dort in Gotha und die Gedanken der einzelnen immer klarer
wurden und plastischer von Tag zu Tag, und alle sich enger unter den einen erkannten
Willen stellten, wie einer sich dem anderen weiter öffnete und näher zu ihm trat, da
wich das letzte Trübe, das das Zeichen noch verhüllte, und über uns stand strahlend
groß und erdennah der Stern des Bundes.
So durften wir die letzte Feierstunde nur Stefan George weihen und aus dem großen
Lebenswerk die Dichtung nur vom ›Stern des Bundes‹ wählen.63
Viel mehr lässt sich über diesen festlichen Höhepunkt des Treffens von Hermann
Goern nicht erfahren, weder über die genaue Auswahl der Gedichte noch über den
Ablauf der Feierstunde. Das ist auch beabsichtigt. Der Moment, in dem sich für
Goern die eigentliche Bund-Werdung des ›Alt-Wandervogels‹ mit der Lyrik Georges
vollzieht, ist nicht für die Augen einer breiten Leserschaft bestimmt; er wird als sin-
guläres Ereignis arkanisiert – wozu auch die rhythmisierte Prosa Goerns beiträgt,
die sich immer wieder der Sprache Georges angleicht64 – und bleibt nur in der Er-
innerung der Anwesenden als verpflichtendes Erlebnis präsent. Dem entspricht
eine grundsätzliche Arkanisierung des Phänomens des Bundes: »Denn Geheimnis
ist das schweigende Geschehen, das Menschen hier und da zum Bund verbindet.
Nur Raunen gibt es scheu und leis dem Nächsten weiter in zager Ehrfurcht vor dem
Höchsten«.65 Der Bund, umgeben von einer Aura des Esoterischen und Geheimnis-
vollen, wird für seine Mitglieder zu einem Rückzugsort in einer »Zeit der grimmen
Not«.66 Das meint nur bedingt die unmittelbaren politischen Verhältnisse. Wichtiger
für Goerns Darstellung ist eine viel weitreichendere Skepsis gegenüber Fortschritts-
pathos, (demokratischer) Diskursvielfalt, funktional ausdifferenzierter Gesellschaft
und – ganz grundsätzlich – der Aufklärung.67
63 Hermann Goern: Was gibt uns Stefan »George«? In: Wandervogel 1/2/3, 1919, S. 10–18,
hier S. 13.
64 Hieran wird der autoritäre, Zustimmung heischende Zug in Georges Lyrik innerhalb der
jugendbewegten Literaturrezeption vielleicht am deutlichsten sichtbar; über ihn zu schrei-
ben scheint für Goern nur dadurch möglich zu sein, sich ihm sprachlich anzugleichen.
Kritische Distanz gegenüber dem Autor und seinen Gedichten, die ihren Ausdruck auch
in einer eigenen Sprache fände, wird hier vollends aufgegeben. Dem entspricht auf Seiten
Georges die Tendenz zur Affirmation, die Wolfgang Braungart wiederholt betont hat; vgl.
u. a. Braungart, Poetik (Anm. 22), S. 519. Dieser Wunsch nach Affirmation gegenüber der
Kunst im Allgemeinen und gegenüber der eigenen Lyrik im Besonderen führt nicht zuletzt
verschiedene Versuche mit sich, die Deutung seines Werkes zu kontrollieren, von den Ri-
tualen des Vorlesens im Kreis bis hin zum Maximin-Kult; vgl. hierzu ebenfalls Braungart,
Katholizismus (Anm. 57), v. a. S. 95 f.
65 Goern, George (Anm. 63), S. 11.
66 Ebd.
67 Vgl. ebd., S. 12: »Zauberer und Dunkelmänner sind gar geschäftig am Werk, besonders in
einer Zeit, die bis zum Ersticken mit Aufklärung gesättigt ist«. Ob Goern bewusst Begriffe
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 209
Wir kehren um in stille Täler der Vergangenheit, die seitab blühen von dem Wahn des
Tages, und wollen unseren Durst und heiße Stirnen kühlen an klaren Quellen, die aus
tiefen Schächten steigen. Dort treffen Stimmen uns erlauchter Ahnen, die aufs neue
immer wieder uns erschüttern in Höhen und in Tiefen.68
Das bedeutet nichts anderes als eine Abkehr von den politischen, gesellschaftlichen
und kulturellen Prozessen der Gegenwart. Auf ihre grundsätzliche Ablehnung rea-
giert Goern mit der Hinwendung zu einer nicht näher definierten Vergangenheit.
Anderswo in der Jugendbewegung wird der mittelalterliche Ordensritter zum Ideal
erkoren, »der gelernt hatte, Dienst und Herrschaft zu vereinen und unnachgiebig
sich selbst wie auch anderen gegenüber zu sein«.69 Erneut lassen sich Einflüsse aus
dem George-Kreis vermuten – zu denken ist etwa an Friedrich Wolters in Aus-
einandersetzung mit der frühneuzeitlichen Feudalstruktur entwickeltes Modell von
›Herrschaft und Dienst‹70 –, doch hat Rüdiger Ahrens plausibel gemacht, dass sich
der jugendbewegte Rückbezug auf den Ordensritter vor allem der breiten Rezeption
von Oswald Spenglers ›Preußentum und Sozialismus‹ verdankt.71
verwendet, die ganz wesentlich zum antisemitischen Diskurs gehören, lässt sich aus dem
Rest des Artikels nicht erschließen; vgl. grundsätzlich zum Antisemitismus in der Jugend-
bewegung Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte der Jugend-
bewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991, sowie Gideon Botsch/Josef Haverkamp
(Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus von rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen
Jugendtag« bis zur Gegenwart, Berlin – Boston 2014.
68 Ebd.
69 Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 1), S. 72.
70 Vgl. Friedrich Wolters: Herrschaft und Dienst, Berlin 1909. Vgl. in diesem Zusammen-
hang auch Paul Bommersheim: Mittelalterliche Kirchenlieder. In: Freideutsche Jugend 7,
1921, S. 171–174, hier S. 171 f., eine Rezension zu Wolters’ ›Hymnen und Sequenzen‹,
einer Übertragung mittelalterlicher christlicher Lyrik. Bommersheim sieht in Wolters
den Vermittler einer »Gemeinschaftsdichtung«, in der »das Glied der Gemeinde und die
Gemeinde, aber nicht der bloß Einzelne [singt]« und die dadurch ein kulturkritisch-uto-
pisches Potential offenbart; vgl. zur jugendbewegten Mittelalterrezeption und ihrem Kon-
text auch Verf., Wandern (Anm. 1), S. 289–291.
71 Vgl. Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 1), S. 67–72. Hieran wird ein grundsätzliches Pro-
blem jeder rezeptionshistorischen Untersuchung des Verhältnisses der Jugendbewegung
zu Stefan George sichtbar. In der Konzentration auf einen Autor liegt die Gefahr, seine Be-
deutung zu überschätzen und die Bedeutung anderer Autoren bzw. sogar weitgefächerter
Diskurse zu vernachlässigen. So kommen beispielsweise Otto Neuloh/Wilhelm Zilius: Die
Wandervögel. Eine empirisch-soziologische Untersuchung der frühen Jugendbewegung.
Göttingen 1982, S. 81 f., aufgrund ihrer Befragung ehemaliger Wandervögel zu dem Er-
gebnis, dass Walter Flex, Hermann Löns und Hermann Popert die meistgelesenen Autoren
waren; Stefan George folgt erst mit einigem Abstand. In der George-Forschung hingegen
herrscht mitunter die Tendenz vor, die Rolle der Jugendbewegung für die Popularisierung
Stefan Georges und den Absatz seiner Werke überzubetonen. Dies ist unter anderem bei
210 Malte Lorenzen
Auch im Fall des zeitgenössischen Jugendkults lässt sich schwerlich ein unmit-
telbarer Einfluss Georges belegen. Gerade hier wäre stattdessen eher nach einem
umgekehrten Wirkungsverhältnis zu fragen, hatte die Jugendbewegung doch einen
entscheidenden Anteil daran, dass Begriff und Konzept von ›Jugend‹ mit zahllosen
Heils- und Erlösungshoffnungen umgeben wurden.72 Der Jugendkult des George-
Kreises mit seiner Apotheose des jung verstorbenen Maximilian Kronberger zum
jugendlichen Gott Maximin erscheint in diesem Kontext nur als besonders eigenwil-
lige Ausprägung eines ohnehin verbreiteten Denkmusters. Nichtsdestotrotz greifen
jugendbewegte Leser die Figur Maximins dankbar auf und bemühen sich, sie für
eigene Anliegen fruchtbar zu machen. Während die wissenschaftliche Auseinander-
setzung mit dem Kult um Maximin immer wieder »in der mehr oder weniger offen
eingestandenen Schwierigkeit [mündet], diesen Kult wirklich zu erfassen und ge-
nauer zu beschreiben«,73 haben die jugendbewegten Literaturkritiker dieses Problem
nicht; sie sind nicht auf wissenschaftliche Standards festgelegt, ja nicht einmal auf
solche einer sachlichen Literaturkritik. Stattdessen können sie mit dem Maximin-
Kult so umgehen, wie es ihnen unmittelbar eingängig ist. In der jugendbewegten
Literaturkritik bedeutet das in der Regel, sich ein literarisches Phänomen nach dem
Maßstab der eigenen bündisch-jugendbewegten Identität und der Nützlichkeit und
Anwendbarkeit anzueignen. Folgerichtig betont Hans Alt in seiner Interpretation
Maximins Rolle als Vorbild. Stefan George habe in seinem »doppelten Berufe« als
»der große Weise, der große Erzieher« »das Bild erfüllter Jugend und göttlichen
Menschentums auf[gerichtet]: Maximin. [...] Mit seinem lichten Wandel vor den
Augen, werden wir am ersten die Gefahr erkennen, die über allem Modernen liegt:
durch Überspannung zu gewinnen, was nicht aus erfülltem Wachstum aufsteigt«.74
Im Fortgang seiner Argumentation bedeutet dies nichts anderes als ein Plädoyer für
jugendliche Selbsterziehungsgemeinschaften, in denen ihre Mitglieder unbehelligt
von den Zumutungen der modernen Gesellschaft wachsen und reifen können.
Komplexer gestaltet sich die Interpretation von Arnold Bork, der sich freilich
auch vom Gegenstand seiner Rezension leiten lässt, von Friedrich Gundolfs 1920
publizierter ›George‹-Monographie:
Klaus Landfried: Politik der Utopie – Stefan George und sein Kreis in der Weimarer Re-
publik. In: Werner Link (Hg.): Schriftsteller und Politik in Deutschland, Düsseldorf 1979,
S. 62–81, hier S. 76, der Fall, der die gestiegenen Verkaufszahlen Georges seit 1918 mit
seinem Erfolg in der Jugendbewegung korreliert. Dem steht beispielsweise eine Äußerung
von Hans-Georg Gadamer gegenüber, der anmerkt, dass zu Beginn der 1920er Jahre »die
Dichtung Georges überall in einer jungen Generation in steigendem Maße aufgenommen
wurde«, und eben nicht lediglich in der Jugendbewegung; vgl. Hans-Georg Gadamer:
Stefan George (1868–1933). In: Hans-Joachim Zimmermann (Hg.): Die Wirkung Stefan
Georges auf die Wissenschaft. Ein Symposium. Heidelberg 1985, S. 39–49, hier S. 42.
72 Vgl. zum zeitgenössischen Jugendkult, der vor allem auch ein Kult um die männliche Ju-
gend ist, und zu seiner literarischen Vermittlung vor allem Dahlke, Jünglinge (Anm. 3); vgl.
außerdem Frank Trommler: Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen
Deutschland. In: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.): »Mit uns zieht
die neue Zeit«. Der Mythos Jugend. Frankfurt a. M. 1985, S. 14–49.
73 Lothar van Laak: Mythen, Mythisierungen, Religion. In: Aurnhammer/Braungart/Breuer/
Oelmann (Hg.), George (Anm. 8), Bd. 2, S. 751–770, hier S. 762.
74 Alt, Grenzen (Anm. 15), S. 31 f.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 211
Sein [Stefan Georges, M. L.] Eros entzündet sich an dem Jüngling Maximin, der ihm, als
er schon fast die Hoffnung verlor, auf seinem Lebenspfade begegnete und bald darauf
verstarb. Der geliebte Jüngling wird ihm zum Vertreter der ›heiligen Jugend unseres
Volkes‹. Er vergottet ihn persönlich und damit zugleich den jugendlichen deutschen
Menschen schlechthin. Diesem gegenüber werden alle Gefühle lebendig, wie sie der
Glaube an eine Gottheit in gewöhnlichem Sinne erregt. Der größte Gewinn aber beruht
darin, daß nun wieder eine Mitte da ist, deren Licht nach allen Seiten hin zu strahlen
vermag. [...] Um die Gottheit schließt sich ein Kreis, ein Bund, und dieser Bund wächst –
langsam vielleicht – aber stetig und sicher, und so ist die kostbare Gewißheit da, daß
wieder neues Volk wird, das sich in einem neuen Reich zusammenschließt.75
Die Bundwerdung, von der Bork hier spricht, bezieht sich zunächst einmal auf
George und seinen Kreis. Mit der Vorstellung eines kommenden »neuen Volkes«
aber und mehr noch mit der angesprochenen Vergottung des »jugendlichen deut-
schen Menschen schlechthin« erweitert sich ihm der Blick hin zur Jugendbewegung:
Wirklich verstehen können das Werk [gemeint ist Gundolfs ›George‹, M. L.] eigentlich
nur die Angehörigen des Georgeschen Kreises selbst und dann alle, die in der deutschen
Jugendbewegung stehen. Diese aber werden um so unmittelbarer dadurch ergriffen
werden, und für sie kann die Bedeutung des Buches nicht hoch genug angeschlagen
werden. Der Jugendbewegung fällt daher die Aufgabe zu, sich die hohen Gedanken
innig zu eigen zu machen und für ihre Verwirklichung zu kämpfen. Was ihre Anhänger
hier lesen, ist ja bis auf die Worte dasselbe, was in ihnen selbst als Sehnsucht lebt. Die
Begriffe vom Kreise, vom Bunde, vom neuen Menschentum, vom Volk und vom neuen
Reich braucht man nur zu nennen, um Verwandtes anklingen zu lassen. Und nur in den
Kreisen der Jugendbewegung wird man es begreifen, was George überhaupt will, wenn
ihm der jugendliche deutsche Mensch zum Gotte der neuen Kultur wird.76
Die Jugendbewegung wird damit nicht nur zum eigentlichen Adressaten der Lyrik
Stefan Georges. Sie wird darüber hinaus zu der sozialen Formation, von der letzt-
lich die Erfüllung und Verwirklichung seiner Ideen zu erwarten ist. Dafür bedarf
sie der Kenntnis von Georges Lyrik aber recht betrachtet gar nicht; denn die Über-
einstimmung in der Kritik an Kultur und Gesellschaft und in den verfolgten Lö-
sungsansätzen ist der Lektüre des Georgeschen Werks vorgängig. Er bringt nur zum
Ausdruck, »was in ihnen selbst als Sehnsucht lebt«; oder, in den Worten Hermann
Goerns: »Was immer die Besten unter uns gewollt haben und wollen, die Seltensten
und Begnadetsten nur leben konnten und keiner sagen durfte, das bringt George uns
in seiner Form, um die er mit der Sprache rang, bis sie ihn selber segnete.«77
75 Bork, Gundolf (Anm. 51), S. 303. Arnold Bork (1888–1963) war enger Vertrauter von Edu-
ard Spranger, arbeitete als Lehrer und publizierte pädagogische Monografien, Unterrichts-
werke und Artikel in pädagogischen Fachzeitschriften; für entsprechende Hinweise danke
ich Sven Reiß.
76 Ebd., S. 304.
77 Goern, George (Anm. 63), S. 17.
212 Malte Lorenzen
George gilt der Jugendbewegung darum auch nicht als ›Meister‹, der in und
durch seine personale Präsenz und sein persönlich gesprochenes Wort Orientierung
bietet. Er ist vor allem ein »Mitstreiter« im Versuch zur Begründung einer »neuen
Kultur«.78 Dennoch wird ihm in der jugendbewegten Literaturkritik eine Funktion
zugeschrieben, die ihm aus einer schließlich doch privilegierten Position zuwächst.
Relevant sind hierfür Vorstellungen, die sich seine Leser sowohl von seiner Lebens-
führung als auch vom Entstehungsprozess seiner Lyrik machen.
Das Autorschaftsmodell, das in den jugendbewegten Texten über George bevor-
zugt zur Anwendung kommt, ist das des ›poeta vates‹, des von einer transzendenten
Quelle inspirierten Dichters. Vor allem Hermann Goern ist bemüht, dieses Bild von
George zu vermitteln: »Eine Kraft ist über ihn [Stefan George, M. L.] gekommen, die
ihn so erfüllt, daß er sie mitteilen, austeilen muß. Sie bestimmt ihn zum Künder und
Führer«.79 Gleichzeitig ist er aber bestrebt, den Vorgang der Inspiration nicht als Akt
der Willkür auszuweisen, der den Menschen Stefan George nur zufällig getroffen
hat, denn »nur als Kämpfer und Sucher konnte George zu den höchsten Weihen
irdisch-ewigen, kosmischen Menschentums gelangen«.80 Während die göttliche In-
spiration Georges Stimme also als privilegiert ausweist, die sie von anderen radikal
unterscheidet, dient Goerns Hinweis auf die vorher notwendigen Anstrengungen
dazu, George trotz seiner Unerreichbarkeit als Dichter zum Vorbild für das eigene
Leben zu machen. Als vorbildliche Person garantiert er – »der große Gesamtmensch,
der ewiges, überzeitliches Menschentum gestaltet und selbst verkörpert«81 – die
Möglichkeit, als Individuum die Widersprüche der Moderne zu überwinden und
die »Schöpfung körperlich-seelischer Einheit, die Wiedererweckung des leibhaften
Menschen« zu erreichen.82
Nicht immer ist dabei eindeutig zu entscheiden, ob sich die George zugeschrie-
benen Eigenschaften und die Äußerungen über seine Lebensweise eher seiner Lyrik
oder den Publikationen der Kreismitglieder über George verdanken.83 Sicher ist
lediglich, dass die Kenntnisse der jugendbewegten George-Leser über den Dich-
ter in aller Regel textuell vermittelte sind; Berichte über persönliche Kontakte sind
äußerst selten und dürften für die Rezeption Georges in der Jugendbewegung kaum
eine Rolle gespielt haben.84 Tatsächlich bleibt Stefan George für die jugendbewegten
Leser und Literaturkritiker in gewisser Weise ungreifbar. Das wirkt bis in die Zei-
chensetzung hinein. Hermann Goern stellt seinen Aufsatz unter die titelgebende
Frage: Was gibt uns Stefan »George«? Die ungewöhnlichen Anführungszeichen, in
die der Nachname des Dichters gesetzt ist, lassen sich als graphische Ausgestaltung
des verehrenden Raunens verstehen, mit dem der Name Georges mitunter genannt
worden sein mag; sie schaffen jedenfalls eine beim Lesen sinnlich nachvollziehbare
Distanz.85
Diese herausgehobene Stellung Georges wird im Verlauf des Artikels semanti-
siert und mit seiner zurückgezogenen Position im öffentlichen Leben verknüpft. Sie
kann ihm dann als Vorzug ausgelegt werden: »Nie hat er wie die vielen Führer-sein-
Wollenden um die Jugend geworben, um sich eine Gefolgschaft zu sichern. Er, der
unsagbar hoch von unserer Jugend denkt und wie kein anderer an sie glaubt.«86
Die öffentliche Zurückhaltung Georges wird von Goern nicht als Ausdruck einer
elitären Haltung verstanden, von der dann auch die jugendbewegten Gruppen und
ihre Mitglieder betroffen wären. Stattdessen begreift er sie als bewundernswerte Dis-
tanz zu den Spielregeln der jungen Demokratie und zur unübersichtlichen, pluralis-
tischen Stimmenvielfalt in Kultur und Politik.87
Andererseits erwächst gerade aus dem Fehlen persönlicher Nähe zu George die
Möglichkeit, ihm bis zu einem gewissen Punkt mit Skepsis zu begegnen. Auch wenn
Arnold Bork George letztlich ebenfalls begeistert begrüßt und ihn als »Künder eines
neuen Gottes«88 preist, erweist er sich gegenüber einzelnen Aspekten der Kreisha-
giographie resistent:
Der Aufbau des Inhaltes [von Gundolfs George-Buch, M. L.] erscheint oft etwas kon-
struktiv. Es ist doch mitunter sehr fraglich, ob sich Georges Entwicklung wirklich so lo-
gisch formulierbar vollzogen hat. An Stelle eines organischen Gesetzes glauben wir ge-
legentlich ein unfruchtbares rationales Schema zu spüren. Der Grundfehler des Werkes
aber liegt darin, daß Gundolf nie die Frage aufwirft, ob George das, was er wollte, auch
zu gestalten vermocht hat, was bei nicht wenigen Gedichten mindestens zweifelhaft
erscheint. Gundolf nimmt das als selbstverständlich von vornherein an und wertet nun
seinen Meister nach seinem hohen Wollen. Und doch würde sicherlich das Werturteil
manchmal weniger günstig ausfallen, wenn man das Verhältnis zwischen Wollen und
Können immer in Rechnung zöge. Etwas peinlich wirkt es in diesem Zusammenhange
auch, wenn zum Vergleich mit George fortwährend Dante, Shakespeare und Goethe
herangezogen werden. Ohne daß Gundolf es ausspricht, hat man unwillkürlich das
Gefühl, als wolle er George mit diesen Weltdichtern auf eine Stufe stellen. Und das ist
85 Gleichzeitig nimmt Georges Name durch die Anführungszeichen Züge eines Marken-
namens, eines Labels an. Seine Nennung genügt, um beim Hörer/Leser die Vorstellung
bestimmter Eigenschaften und eines bestimmten ›Lifestyles‹ aufzurufen.
86 Goern, George (Anm. 63), S. 13.
87 Vgl. hierzu ebd., S. 12: »Viele Stimmen sind um uns heute, vielzuviele. Jeder glaubt etwas
sagen zu müssen, und jeder möchte um jeden Preis gehört werden. Der eine breitet die
Liebesarme weit aus und möchte alle, alle die da leben, erlösen und beglücken. Der an-
dere predigt einen guten Zweck und jener die Partei. Sind auch welche, die von seltsamen
Fiebern und Müdigkeiten reden, – ihr persönliches Leid verklären und die Menschen mit
solcher Passion dornenkrönen wollen.«
88 Bork, Gundolf (Anm. 51), S. 303.
214 Malte Lorenzen
bei aller Bewunderung für George als eine bedenkliche Überhöhung seines Wesens zu
bezeichnen.89
Die auch von George bewusst betriebene Traditionsbildung wird von Bork einzig
und allein Gundolf zugeschrieben. Allerdings bringt er für »diese Mängel des Bu-
ches« durchaus Verständnis auf, denn: »Das Buch ist von einem Jünger geschrieben,
der von tiefer, ehrfürchtiger Liebe für seinen Meister erfüllt ist«.90 Damit kennzeich-
net er gleichzeitig den entscheidenden Unterschied zwischen Gundolfs Verhältnis
zu George als »Jünger« und seinem eigenen. Er ist zwar ein Verehrer Georges – ein
Jünger aber ist er nicht. Dies trifft auf die Jugendbewegung überhaupt zu, zumindest
dann, wenn dem Konzept des ›Jüngertums‹ die persönliche Bindung an die verehrte
Person zugrunde gelegt wird.91 Und es ist für die jugendbewegte George-Rezeption
entscheidend: Denn die Freiheit von den im George-Kreis gepflegten Ritualen des
Vorlesens bedeutet auch eine Freiheit von der mit ihnen einhergehenden Kontrolle
über den Sinn der Gedichte Georges.92 So brauchen die jugendbewegten Leser die im
›Stern des Bundes‹ umschrittene Flamme weder als Symbol für den Kreis Georges
noch für den ›Meister‹ selbst noch für den jungen Gott Maximin zu lesen. Statt-
dessen steht es ihnen frei, in ihr ihren eigenen Bund symbolisiert zu sehen oder noch
konkreter die ganze reale Flamme des Bundesfeuers, um das sich die Gemeinschaft
versammelt und das Gedicht rezitiert.
Diese, aus der fehlenden persönlichen Verpflichtung auf George resultierenden
Freiheiten, die im Ergebnis dann auch eine gänzlich andere Ästhetik und gänzlich
andere Formen ästhetisch-sozialer Vergemeinschaftung mit sich bringen, sind
schließlich eine Bedingung dafür, dass George selbst die Jugendbewegung keines-
wegs für bedeutungslos hielt oder nur als willkommene Leserschaft wahrnahm, die
den Absatz seiner Bücher zu steigern vermochte. Während die Jugendbewegung der
Weimarer Republik in ihm vielfach einen Mitstreiter für die gemeinsame Sache sah,
begriff George sie offenkundig als Konkurrenten im Werben um die Jugend.93 Dafür
sprechen private Äußerungen aus dem Kreis94 ebenso wie Friedrich Wolters’ 1930
publizierte Kreismonographie, in der er die Jugendbewegung rundheraus für »er-
storben« erklärt. Mangelnde Kenntnis der aktuellen Entwicklungen in den Bünden
dürften hierfür höchstens am Rande verantwortlich sein. Vielmehr macht Wolters
der Jugendbewegung das »auf nichts gegründete Vertrauen« zum Vorwurf, »sich
89 Ebd., S. 302.
90 Ebd.
91 Vgl. zu Gundolfs Konzept von ›Gefolgschaft und Jüngertum‹ und den Unterschieden ge-
genüber Friedrich Wolters’ Konzept von ›Herrschaft und Dienst‹ grundsätzlich Groppe,
Bildung (Anm. 39), S. 234 f. und dies., Widerstand (Anm. 57), S. 73–77.
92 Vgl. zu den Ritualen des Vorlesens im George-Kreis grundsätzlich Braungart, Katholizis-
mus (Anm. 57), v. a. S. 154–175; zur sozial verpflichtenden und den Sinn kontrollierenden
Funktion des Vorlesens ebd., S. 170 f.
93 Vgl. hierzu auch Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S. 109.
94 Überliefert ist eine briefliche Äußerung Max Kommerells – der selbst enge Kontakte zur
Jugendbewegung hatte –, nach der er Willi Dette durch regelmäßiges gemeinsames Lesen
»aus der Gefahrenzone« der Jugendbewegung »retten wollte«; Max Kommerell an Stefan
George, 21.6.1929, zit. nach: Braungart, Poetik (Anm. 22), S. 537.
Stefan George in der jugendbewegten Literaturkritik 215
selber führen und erziehen zu können«95 – und das heißt hier einzig und allein,
ohne Stefan George.
Die Analyse von Beispielen jugendbewegter George-Rezeption in den Zeit-
schriften der Gruppen und Bünde hat erwiesen, dass sie sich keineswegs auf einen
uneingeschränkt positiven Bezug auf George reduzieren lässt. Neben emphatischer
Zustimmung finden sich auch Belege für eine kritische Auseinandersetzung mit
George. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass im Falle einer zustimmenden Bezug-
nahme auf ihn unterschiedliche Strategien der Adaption und Funktionalisierung
zur Anwendung kommen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass der Beginn einer
breiteren George-Rezeption in der Jugendbewegung zusammenfällt mit mehrfa-
chen Krisenphänomenen. Wenn Wolfgang Braungart Georges Anziehungskraft auf
junge Menschen damit erklärt, dass seine literarischen Rituale Ordnungsschemata
bereitstellen, die »für die Phase der Rollendiffusion in der Pubertät symbolisch-äs-
thetische und darum so überzeugende Orientierung boten«,96 sind diesem indivi-
dualpsychologischen Erklärungsansatz die politischen Umbruchsprozesse nach dem
Ersten Weltkrieg und die Transformationsprozesse innerhalb der jugendbewegten
Szene zu Beginn der 1920er Jahre zur Seite zu stellen. Auch dabei bot Georges Lyrik
Orientierung; sich seine Stimme zu leihen durch das Zitat seiner Gedichte oder
durch die Berufung auf zentrale Ideen und Begriffe aus dem George-Kreis ermög-
lichte es den Autoren in den jugendbewegten Zeitschriften, mit einer über die eigene
Stimme hinausreichenden Autorität zu sprechen. Nichtsdestotrotz ist Stefan Breuers
Erkenntnis, nach der der Einfluss Georges auf die Jugendbewegung geringer gewe-
sen sei, als gemeinhin angenommen wird, auch für die Zeit bis 1924 zuzustimmen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte die Jugendbewegung auch ohne George die Ent-
wicklung hin zu elitären und männerbündischen Konzepten genommen und hätte
auch ohne ihn der Demokratie und der Republik ablehnend gegenüber gestanden:
»Aber da sein Werk nun einmal da war und einige Anerkennung genoss, lag es nahe,
sich seiner zur Verstärkung zu bedienen«.97 Dennoch haben meine Überlegungen
gezeigt, dass eine weitere Auseinandersetzung mit der George-Rezeption in der
Jugendbewegung lohnen kann. Der Vergleich von in beiden sozialen Formationen
verbreiteten Überzeugungen könnte nähere Kenntnisse darüber ermöglichen, wie
sich spezifische kulturkritische Konzepte verbreitet und durchgesetzt haben. Darü-
ber hinaus könnte eine vertiefte Untersuchung von kollektiven und individuellen
Bildungs- und Lesebiographien die Möglichkeit bieten, im Einzelnen vielleicht doch
einen prägenden Einfluss Georges zumindest auf einzelne jugendbewegte Leser
nachzuweisen.
95 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte
seit 1890, Berlin 1930, S. 515 f.
96 Braungart, Gundolfs George (Anm. 18), S. 418.
97 Breuer, Politische Rezeption (Anm. 8), S. 1223 f. Dies erklärt auch, warum Stefan George
in Ahrens, Bündische Jugend (Anm. 1) keine Rolle spielt; weder ist er der einzige in den
Bünden gelesene Autor noch kommt ihm für deren Entwicklung eine entscheidende Rolle
zu; vgl. dazu den offenbar kritischen Hinweis von Thun, George (Anm. 7), S. 88, auf eine
fehlende Erwähnung Georges in Ahrens’ Arbeit.
›Läuterung des Samens‹ 217
dulci coniugi
In dem Beitrag ›Von Benjamin sprechen‹ beschreibt George Steiner ein Treffen mit
Gershom Scholem im Wintersemester 1972/73 im Hotel Schweizerhof in Bern, bei
dem die beiden – zuerst spielerisch, dann mit »tiefe[m] Ernst«– »zwölf Vorausset-
zungen für einen Studenten«,2 der an einem Seminar über Benjamin teilnehmen
will, festlegen. Die beiden unterhalten sich am gleichen Tisch, »an dem er [scil.
Scholem] und Walter Benjamin miteinander gegessen hatten.«3 Von diesen zwölf
Voraussetzungen kann und soll hier nur die von Scholem aufgestellte zweite (mit
Auslassungen) zitiert werden:
[...] ein Studium der deutschen Jugendbewegungen, nicht nur der von Gustav Wyneken,
dem ersten Lehrer Benjamins, sondern flächendeckend, die Suche nach Jüngerschaft,
die damals in Deutschland betrieben wurde, am dramatischsten im Stefan-George-
Kreis, aber in so vielen anderen Gruppen ebenfalls. Und schon allein die Geschichte des
Terminus ›Führer‹ mit seinem ethischen, mystischen Beiklang: der Lehrer, der Meister,
das beispielhafte Vorbild [...]. Im Kern dieses Konstrukts liegen die für den jungen deut-
schen Juden angelegten Spannungen zwischen assimilatorischem Nationalismus und
neu aufkommendem Zionismus. Es gibt die immer angespannteren Debatten um Ge-
stalten wie Buber und später Rosenzweig. Und die Auswirkungen dieser Debatte und
dieser Spannungen und Dialektik auf Benjamin [...] zusammengefasst in Herzls berühm-
ten zweideutigen Titel ›Altneuland‹, welches das zionistische Israel sein soll und doch,
wie wir wissen, nach Bismarck’schen Idealen eines Nationalstaates gebildet wurde, so
dass die tragische fausse situation von Anfang an bestand.4
1 Dass die Bedeutung Stefan Georges für Walter Benjamin ohne den früheren Einfluss Gus-
tav Wynekens auf den jungen Benjamin nicht richtig bewertet werden kann, hat Geret Luhr
so formuliert: »[...] weil sich ohne Berücksichtigung von Wynekens Lehre auch das Ver-
hältnis Benjamins zu Stefan George nicht erfassen lässt.« Geret Luhr: Ästhetische Kritik der
Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan
George, Marburg a. d. L. 2002, S. 230.
2 George Steiner: Von Walter Benjamin sprechen. In: Ders.: Die Logokraten, München 2009,
S. 33.
3 Ebd., S. 32. Walter Benjamin lebte von 1917–1920 in der Schweiz, wo Scholem im Mai 1918
nach seiner endgültigen Ausmusterung aus dem deutschen Heer dauerhaft zu ihm stieß.
4 Ebd., S. 34 f.
218 Georg Doerr
In dieser, den Gesprächsduktus beibehaltenden Notiz George Steiners ist das Thema
des folgenden Beitrages in nuce vorformuliert. Vor allem werden von Scholem zwei
gegensätzliche weltanschauliche und pädagogische Positionen der Zeit genannt,
zwischen denen damals nicht nur junge Juden sich entscheiden mussten, denn die
jeweiligen Führer, hier Gustav Wyneken und Stefan George, duldeten keine gespal-
tene Loyalität.5
So war Max Kommerell, um nur einen Namen zu nennen, zunächst, wie der
Schüler Walter Benjamin, ein glühender Anhänger Wynekens. Unter der Ägide von
Rudolf Rahn las er Wynekens schulkritische Schriften. Kommerell sah sich bald »[...]
als Agitator Wynekens und verfocht dessen Sache eifrig unter Mitschülern und vor
der Lehrerschaft«.6 Erst 1920, als Student Gundolfs in Heidelberg, näherte er sich
George und seinem Kreis an.7 Nach Luhr kann man auch bei Walter Benjamin
selbst von einem ›Übergang von Wyneken zu George‹ sprechen.8 Von Wyneken
trennte sich Benjamin bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dass auch Stefan
George für den jungen Benjamin eine Leitfigur war, kann auch Adorno nicht be-
streiten: »Außer von Hölderlin zeigte Benjamin eher sich von George, der schon ein
wenig démodé war beeindruckt, als von seinen Altersgenossen. Selbstverständlich
gehörte er nie zum Georgekreis.«9
Das »selbstverständlich« im Schlusssatz Adornos klingt sehr apologetisch, denn
das Bedürfnis, diese Selbstverständlichkeit so hervorzuheben, zeigt die Angst Ador-
nos, Benjamin könnte mit einem Dichter der ›konservativen Revolution‹ in Zusam-
menhang gebracht werden. Darauf wird später zurückzukommen sein.
Zwischen Wyneken und dem George-Kreis bestand, wie erwähnt, ein Konkurrenz-
verhältnis,10 obwohl in Wynekens Schule neben Carl Spittelers Epos ›Olympischer
Frühling‹ auch die Lyrik Stefan Georges gelesen wurde, Letztere allerdings erst ab
5 Carola Groppe: Die Macht der Bildung – Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis
1890–1933, Köln – Weimar 1996 (= Bochumer Schriften zur Bildungsforschung Bd. 3),
S. 372: »Aber weder George noch Wyneken gestanden ihren Anhängern auf Dauer eine
geteilte Loyalität zu: ›Wyneken oder George‹ wie es Reiner in einer Abendansprache in
Wickersdorf 1923 formulierte.«
6 Ebd., S. 372.
7 Ebd., 374 ff. – Einen solchen ›Übergang‹ durchliefen auch Friedrich Gundolfs spätere Frau
Elisabeth Salomon und Paul Reiner (zu diesem s. u.).
8 Luhr, Ästhetische Kritik (Anm. 1), S. 230: »Darüber hinaus hat Benjamins Übergang von
Wyneken zu George durchaus exemplarische Bedeutung«. Neben dem schon genannten
Max Kommerell erwähnt Luhr auch Benjamins Freund Wolf Heinle und – erstaunlicher-
weise – Klaus Mann: »Klaus Mann wiederum ist im Umfeld der Odenwaldschule von Paul
Geheeb [ein Kollege von Wyneken in Haubinda, G. D.] [...] zum Georgeaner geworden.«
9 Theodor W. Adorno: ›A l’écart de tous les courants‹. In: Ders.: Über Walter Benjamin,
Frankfurt a. M. 1970, S. 96–99, hier S. 97.
10 Luhr erklärt dieses Konkurrenzverhältnis mit der Nähe der ›geistigen‹ Deutung der Welt in
beiden Kreisen; sprach man bei George von ›Bund‹ (als Haltung gegen den Materialismus
der Zeit) so bei Wyneken von ›Orden‹. Luhr, Ästhetische Kritik (Anm. 1), S. 235 f.
›Läuterung des Samens‹ 219
1914, so dass der Schüler Benjamin sie dort noch nicht kennen lernen konnte.11
Zum Konkurrenzverhalten der beiden Führer der damaligen Jugend soll hier nur
eine Äußerung Stefan Georges selbst über Wyneken zitiert werden: »Wyneken ist ein
dürrer Rationalist ohne Glauben und Ehrfurcht. Wer durch seine Schule geht, hat
die Grundeigenschaft verlernt, mit der in jeder pädagogischen Provinz das Leben
beginnt.«12
11 Vgl. Peter Dudek: Fetisch Jugend – Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendpro-
test am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Rieden 2002, S. 27 f.: »Vor diesem Hintergrund
[scil. dass der ›platonische Eros‹ dem ›Sexualtrieb diametral entgegengesetzt‹ (S. 26) sei]
wird auch der Kult verständlich, der in Wickersdorf mit dem Schweizer Schriftsteller Carl
Spitteler [...] betrieben wurde. Denn dessen mythologische Verherrlichung des Menschen
als einem neuen Prometheus kam den Vorstellungen Wynekens sehr nahe. Spittelers vier-
teiliges Hauptwerk ›Olympischer Frühling‹, das zwischen 1900 und 1905 entstand, gehörte
in Wickersdorf zur Pflichtlektüre und avancierte zum Kultbuch schlechthin.« Zur George-
Lektüre in Wickersdorf schreibt Groppe, Bildung (Anm. 5), S. 343: »Bereits zwischen 1914
und 1915 hatte Dr. Ernst Schertel, der George persönlich kannte [...] in Wickersdorf ›Ka-
meradschaften‹ eingerichtet und nach Berichten Wynekens kultische, von dem Münchener
Kosmiker-Kreis um Ludwig Klages und Alfred Schuler und ihrer Weltanschauung ange-
regte George-Stunden zelebriert: ›Maskentänze zu einer fremdartigen, auf einer seltsam
umgestimmten Laute hervorgebrachten Musik entfesselten ein neues Körpergefühl und
zu Opferflammen ertönten in einem neuen sakralen Pathos, vorgetragen, die feierlichen
Strophen Georgescher Gedichte‹.«
12 Nach Groppe, Bildung (Anm. 5), S. 322. – Aus dem George-Kreis lassen sich zahlreiche
negative Äußerungen zu Gustav Wyneken und seiner Pädagogik finden.
13 Vgl. Peter Sprengel: Rudolf Borchardt – Der Herr der Worte. Eine Biographie, München
2015, S. 35: »Der Zehnjährige [R. B.] wurde ins westpreußische Marienburg expediert,
nämlich dem Oberlehrer Witte am dortigen Königlichen Gymnasium zur Erziehung über-
geben, und besuchte in den nächsten fünfeinhalb Jahren die Schule seines Mentors [...].«
14 »Der Schüler Benjamin blühte auf. [...] Es war der Wechsel von äußerem Zwang und
Fremdbestimmung zu gegenseitiger Anerkennung und Mitbestimmung.« Astrid Deuber-
Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische
Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 1999, S. 308.
220 Georg Doerr
Lebens damals gesät worden waren.«15 Dieses ›Denkbild‹ wird von Benjamin mit
dem Satz eingeleitet: »Ich war im Traum im Landerziehungsheim in Haubinda, wo
ich aufgewachsen bin.«16 Mit der Zusammenziehung seiner jugendlichen und seiner
aktuellen Erfahrung im Jahre 1932 im (Denk-)Bild als Acker, der im »Traum noch
einmal schmerzhaft« umgepflügt wird, will Benjamin offensichtlich sagen, dass die
Samen, die in Haubinda in ihn gelegt wurden, diejenigen sind, die in seinem späte-
ren Werk aufgegangen sind. Leider hat Benjamin seine beabsichtigte Auseinander-
setzung mit seiner Zeit in der Jugendkulturbewegung nie geschrieben.17 Das hängt,
nach Steizinger damit zusammen, dass Benjamin sich seinen früheren illusionären
Hoffnungen nicht stellen wollte:
Da Benjamin in diesen sporadischen Äußerungen nie über die ›bestehenden und erhoff-
ten Identifikationen‹ Rechenschaft abgelegt hat, bleibt für Trommler seine Kritik am
Missbrauch der ›Jugend als Beschwörungswort‹ steril. Denn von ihr erwartete auch er
›zukunftstrunken‹ eine ›Erneuerung des Lebens‹, musste jedoch die Erfahrung machen,
dass die Kraft des geschwächten Bürgertums nur noch dazu ausreichte, um in Schön-
heit zu sterben. Heinles Selbstmord kann als ein Ausdruck der ›große[n] Regression
des Jugendstils‹ gedeutet werden, dem ›sogar das Bild der Jugend zu einer Mumie ein-
schrumpft‹, so Benjamin in seinem Rückblick auf Stefan George (1933).18
15 Walter Benjamin: Noch einmal. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. von Theodor
W. Adorno [...] hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV, 1, Frank-
furt a. M. 1972, S. 435.
16 Ebd., S. 435. Das Partizip Perfekt »aufgewachsen bin« suggeriert in diesem Traumprotokoll,
Benjamin habe seine ganze Schulzeit in Haubinda verbracht, er war dort aber nur knappe
zwei Jahre, die er selbst aber, wie gesagt, für seine spätere Entwicklung als entscheidend
ansah.
17 Johannes Steizinger: Revolte, Eros und Sprache – Walter Benjamins ›Metaphysik der Ju-
gend‹, Berlin 2013, S. 215 f.
18 Ebd., S. 216.
19 Ebd., S. 216.
20 Luhr, Ästhetische Kritik (Anm. 1), S. 231.
›Läuterung des Samens‹ 221
21 Zu Gustav Wyneken vgl. Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 17–39, und die Biographie von Hein-
rich Kupffer: Gustav Wyneken 1875–1964, Stuttgart 1970.
22 Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 22.
23 Deuber-Mankowsky, Früher Benjamin (Anm. 14), S. 304.
24 Steizinger, Revolte (Anm. 17), S. 90. »Obgleich Wyneken letztgültige Glaubensgewissheiten
ablehnte, verstand er sich als Stifter einer ›modernen Religion‹.«
25 Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 25.
26 Ebd., S. 26.
27 Vgl. dazu Verf.: Stefan Georges neopagane Maximin-Religion – Bricolage und intramun-
dane Eschatologie. In: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Religion, Berlin
2015, S. 53–81, hier S. 57 f. – Dieser für Wyneken und den George-Kreis zentrale Bezug zur
Antike wird bei Luhr nicht thematisiert.
28 Nach Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 26. – Wyneken wurde später mehrfach wegen Pädophi-
lie verurteilt, zuerst 1921; vgl. ebd., S. 17 f.
29 Luhr, Ästhetische Kritik (Anm. 1), S. 232.
30 Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 73.
222 Georg Doerr
zu anderen Flügeln der bürgerlichen Jugendbewegung war sie weder national oder völ-
kisch gesinnt noch antisemitisch eingestellt. Im Gegenteil. Sie war auch der soziale Ort
für viele jüdische Jugendliche und bot ihnen ein Forum zur Identitätsfindung. Bernfeld
schätzte deren Anhängerschaft im Juni 1914 auf ca. 3000 Jugendliche, ein Drittel davon
waren Juden. In Wien hatte die Jugendkulturbewegung ca. 500 Mitglieder, 450 waren
nach seinen [scil. Bernfelds] Angaben Juden.31
Für Wyneken stellte die starke Präsens von Juden in der Jugendkulturbewegung
kein Problem dar,32 sicher noch weniger für den aus Galizien stammenden Sieg-
fried Bernfeld.33
Margarete Kohlenbach hat in einem Beitrag über Walter Benjamin, Gustav Wyne-
ken und die Jugendkulturbewegung aus dem Jahre 200334 zuerst die Jugendkultur-
bewegung dargestellt und im zweiten Teil ihres Aufsatzes die Rolle, die Benjamin in
ihr spielte. Erwähnenswert zu Punkt eins ist, dass Wynekens Bewegung nach seinen
eigenen Worten »[...] eine von unserm Geist gesetzte Gegenwelt [...]«35 darstellt, die
als Gegenkultur von der realen Welt abgegrenzt wird und die deutlich gnostische
Züge trägt. In ›Schule und Jugendkultur‹ schreibt Wyneken:
Aber wir handeln so, als ob wir wüßten, dass, uns unsichtbar, hinter dem Dasein Er-
lösung und Seligkeit auf ihre Stunde warten. Wir kränzen uns mit heiligem Willen, wir
entzünden die Fackeln stolzen und tapferen Glaubens, und so schreiten wir unseren
Weg, ohne Ziel, doch der Richtung gewiss. Wenn es einen Heiland der Welt gibt, werden
wir ihm begegnen; wenn er ausbleibt, so können wir doch nicht anders als in seinem
Sinne wirken.36
Für den kleinen Walter Benjamin in Haubinda spielte dieses Theoriegebäude noch
keine Rolle, entscheidend für ihn war, dass er im Unterricht durch Wyneken zeit-
genössische deutsche Literatur kennen lernen durfte (das war an den staatlichen
Gymnasien in Berlin nicht möglich).37 Dieser Umstand hat nach seinen eigenen
31 Ebd., S. 71.
32 Deuber-Mankowsky, Früher Benjamin (Anm. 14), S. 304, vgl. auch: Dudek, Jugend (Anm.
11), S. 72.
33 Auf den ostjüdischen Siegfried Bernfeld, Benjamins Pendent innerhalb der Jugendkultur-
bewegung in Wien, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Nur so viel: Anders als
Benjamin wählte Bernfeld zuerst den politischen, dann den zionistischen (mit Martin Bu-
ber) und später den sozialistischen Weg innerhalb und nach der Jugendkulturbewegung.
Zu Bernfelds Biographie vgl. Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 52–68, zu Bernfelds Rolle in der
Jugendkulturbewegung: Ebd., S. 69–75.
34 Margarete Kohlenbach: Walter Benjamin, Gustav Wyneken and the ›Jugendkulturbewe-
gung‹. In: Steve Giles/Maike Oerkel (Hg.): Counter-cultures in Germany and central Eu-
rope, Frankfurt a. M. 2003, S. 137–153.
35 Nach Kohlenbach, Benjamin (Anm. 34), S. 141.
36 Wyneken, Schule und Jugendkultur, S. 181; zit. nach: Kohlenbach, Benjamin (Anm. 34),
S. 141.
37 Der Lektürekanon im Deutschunterricht endete bei Kleist. Vgl. Momme Brodersen: Spinne
im eigenen Netz – Walter Benjamin – Leben und Werk, Bühl-Moos 1990, S. 38. Der junge
Benjamin zitiert in einem Beitrag für den ›Anfang‹ einen seiner Deutschlehrer: »Ibsen –
›Läuterung des Samens‹ 223
wenn ick schon det Schimpansengesicht sehe!« Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm.
15). Bd. II, 1, Unterricht und Wertung, S. 38.
38 Brodersen, Spinne (Anm. 37): »Man traf sich wöchentlich zu gemeinsamen Abenden, um
Stücke von Friedrich Hebbel, Arno Holz, Gerhard Hauptmann, Hermann Sudermann,
Frank Wedekind sowie Werke der griechischen Tragiker, des weiteren Shakespeare, Mo-
lière, Henrik Ibsen, Maurice Maeterlinck und August Strindberg in deutscher Übersetzung
zu lesen und zu diskutieren.«, S. 38.
39 Vgl. Anm. 12.
40 Eine ausführliche Darstellung dieses Dilemmas und Benjamins eindeutige Stellungnahme
für den Dualismus von Kulturzionismus und ›Deutschtum‹ findet sich bei Deuber-Man-
kowsky, Früher Benjamin (Anm. 14), S. 282–299.
41 Nach Deuber-Mankowsky, Früher Benjamin (Anm. 14), S. 297.
42 Nach Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 44.
43 Brief an Ludwig Strauß, Nov. 1912; in: Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15), Bd. II,
3, S. 839.
44 Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 48; Wyneken sah Benjamin als einen seiner »Musterschü-
ler«.
45 Ebd., S. 195–206.
46 Ebd., S. 43–48.
47 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M.
1975, S. 10.
224 Georg Doerr
Die von ihm selbst geforderten aristokratischen Ideale sucht er [scil. Benjamin] selber in
den Gemeinschaften zu verwirklichen, mit denen er sich umgibt. Immer wieder betont
er in seinen Briefen den Freunden gegenüber den eigenen Führungsanspruch. [...] Die
Führerrolle, in der er sich gefällt, bringt ihn jedoch in Konflikt mit den anderen ›Führern‹,
was zu immer neuen Kämpfen und Spaltungen in den Gruppen führt.48
Noch im Schweizer Exil bricht Benjamin mit dem alten Jugendfreund Herbert Blu-
menthal, weil dieser ihm die geistige Unterordnung verweigert, wie Scholem be-
richtet.49
Auch für Scholem selbst muss Benjamin die Rolle des geistigen Führers einge-
nommen haben, das klingt zumindest in einer erstaunlichen Tagebuchnotiz Scho-
lems vom August 1916 in der Schweiz an: »Dass er [scil. Benjamin] es vermocht hat,
seine eigene Jugend – dies erste Wunder – aufzugeben und doch mit ihrer [...] Idee
[...] weiterzuleben, macht mich sprachlos.«50
Noch Adorno hat Kenntnis dieser frühen Rolle Benjamins in der Jugendkultur-
bewegung. Er beschreibt dessen damaliges Engagement als Führer mit »[...] intel-
lektuellem Herrschbedürfnis.«51 Über ein Treffen innerhalb der Jugendkulturbewe-
gung, bei dem Benjamin auch tanzt, schreibt er am 5. Mai 1913 in einem Brief »[...]
es wächst hier eine Revolution, die ich mit Sicherheit befehle.«52
In den Texten, die Benjamin unter dem Pseudonym »Ardor« im »Anfang« ver-
öffentlicht, tritt Benjamin als radikaler Agitator von Wynekens Ideen auf. In dem
Beitrag »Unterricht und Wertung« aus dem Jahre 1913 entwirft Benjamin seine
Vision eines künftigen humanistischen Gymnasiums, das – im Gefolge Nietzsches –
deutlich antidemokratische, ja reaktionäre Züge trägt:
Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat ›Vom Nutzen
und Nachteil der Historie.‹ Trotzig, im Vertrauen auf eine Jugend, die ihm begeistert
folgt, sollte es die kleinen modernen Reformpädagogen überrennen. Anstatt moder-
nistisch zu werden und aller Ecken eine neue, geheime Nützlichkeit des Betriebs zu
48 Bernd Witte: Walter Benjamin – Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem
Frühwerk, Stuttgart 1976, S. 17.
49 Scholem, Freundschaft (Anm. 47). Als Herbert Blumenthal im Juli 1917 in Zürich sich
nicht dem von Benjamin »erhobenen unbedingten Führungsanspruch im Geistigen« un-
terordnete »war eine jahrelange Jugendfreundschaft beendet. Den hier zu Tage getretenen
despotischen Zug an Benjamin, der nach Erzählungen mancher seiner Bekannten aus der
Jugendbewegung in jenen Jahren nicht selten hervorbrach und mit seinem sonstigen zi-
vilen Verhalten so scharf kontrastierte, habe ich selbst nur zwei oder dreimal erfahren [...].«
S. 57.
50 Steizinger, Revolte (Anm. 17), S. 222.
51 Adorno, Über Walter Benjamin (Anm. 9), S. 86. In der kürzlich erschienenen Biographie
von Lorenz Jäger: Walter Benjamin – Das Leben eines Unvollendeten, Berlin 2017, heißt es
S. 141 f. dazu: »Geht man noch einmal auf die ›Metaphysik der Jugend‹ zurück, dann findet
man die Selbststilisierung Benjamins in monarchischen Größenvorstellungen: von der
›Hoheit‹ ist dort die Rede, vom ›Königtum, das um uns blühte‹, vom ›erlauchten Wissen‹
und vom ›Königreich des Schicksals‹, die ›unendlich gekränkte, gekrönte Hoheit in uns‹
wird angesprochen [...].«
52 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15). Bd. II, 3, S. 855.
›Läuterung des Samens‹ 225
rühmen. Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte nicht ein fabelhaftes Reich der
›Harmonien‹ und – ›Ideale‹ sein, sondern jenes frauenverachtende und männerliebende
Griechentum des Perikles, aristokratisch; mit Sklaverei; mit den dunklen Mythen des
Aeschylos.53
Aus der Neubewertung der Antike wird hier im Sinne Nietzsches ein Elitebewusst-
sein abgeleitet, das Gymnasium soll eine Akademie für Auserwählte werden, die die
Jugend führen. Und Benjamin sah sich, ganz im Sinne des frühen Nietzsche und
Wynekens, als Teil dieser neuen Elite:
Nach ihm [scil. Wyneken] manifestiert der Geist sich nur in den Genies, den Schaffen-
den, und daher sind auch diese Geistträger allein zu Führern der ›sich selbst erziehen-
den Gemeinschaften‹ ausersehen, in deren Schaffung Wyneken das Ziel seiner Bemü-
hungen sieht. Für die Masse der Jugendlichen, die Gefolgsleute, jedoch kann der Dienst
am Geist – ähnlich wie im Georgeschen Jüngerkreis – nur in der ›freien Hingabe an den
selbstgewählten Führer‹ bestehen.54
von Wyneken, nicht aber von dessen Ideen: »Die Jugend aber gehört nur den Schau-
enden, die sie lieben und in ihr die I d e e über alles. Sie ist Ihren [scil. Wynekens]
irrenden Händen entfallen und wird namenlos leiden. Mit ihr zu leben ist das Ver-
mächtnis, das ich Ihnen entwinde.«59
In einem Brief an den Freund Ernst Schön schreibt Benjamin 1917 über die Jahre
1912–1914 in seiner Zeit in der Jugendkulturbewegung: »Ich hoffe die beiden Jahre
vor dem Kriege als Samen in mich aufgenommen zu haben und von da an bis heute
geschah alles zu ihrer Läuterung in meinem Geist.«60 Auch hier bekennt Benjamin,
dass er den Ideen der Jugendkulturbewegung keineswegs abgeschworen hat, son-
dern dass er sie in geläuterter Form beibehalten will. – Er wird diese Ideen in seinen
Texten in verschlüsselter, oft esoterischer Form weitertragen.61 Dies bestätigt auch
Bernd Witte:
Der selbst auferlegten Pflicht, über jene ›Kraft‹, die ihn mit seinen Jugendfreunden
verband, ›eines Tages‹ Rechenschaft ablegen zu müssen, wird er ebenso wenig nach-
kommen, wie er den Plan realisieren wird, ›den Jugendstil bis in seine Auswirkung in
59 Ebd., S. 886 f.
60 Ebd., S. 888. – Bereits hier spricht Benjamin vom ›Samen‹, den er in der Jugendkultur-
bewegung in sich ›aufgenommen‹ hat, eine Metapher, die er 1932 im Traumbild ›Noch
einmal‹ (s. o.) wiederholen wird.
61 Witte, Benjamin (Anm. 48), S. 19. Als frühes Beispiel einer esoterischen Interpretation
untersucht Witte Benjamins Deutung von Dostojewskis ›Idiot‹. Ebd. S. 23 ff. Vgl. auch:
Steizinger, Revolte (Anm. 17), S. 222: »Ebendiese Konstellation erklärt Scholems Urteil,
dass Benjamins Aufsatz ›Der Idiot‹ von Dostojewskij (1917, 1921) als eine ›esoterische
Äußerung‹ über den toten Freund [scil. Fritz Heinle] gelesen werden müsse.«
62 Witte, Benjamin (Anm. 48), S. 19 f.
63 Dudek, Jugend (Anm. 11), S. 246.
64 Steizinger, Revolte (Anm. 17), S. 216; vgl. auch: Michael Rumpf: Faszination und Distanz.
Zu Benjamins George-Rezeption. In: Peter Gebhardt u. a. (Hg.): Walter Benjamin – Zeitge-
nosse der Moderne, Berlin 1976, S. 51–70, hier S. 57: »Ihr [scil. der Jugendbewegung] hat er
nicht den Bruchteil der Aufmerksamkeit der gedanklichen Arbeit gewidmet, die ihm seine
Kindheitserinnerung wert waren.«
›Läuterung des Samens‹ 227
die Jugendbewegung [zu verfolgen], diese Betrachtung bis an die Schwelle des Krieges
heranzuführen.65
Benjamin hatte und hat auch später stets diesen jungen Lyriker als die Verkörperung
der Schöpfungskraft der Jugend verehrt. Umso tiefer hat ihn der durch die Verzweiflung
über den Kriegsausbruch hervorgerufene Tod des Freundes getroffen. In den autobio-
graphischen Betrachtungen der Berliner Chronik markiert dieses Ereignis für ihn nicht
nur das Ende der eigenen Jugend, sondern auch das einer geschichtlichen Epoche.67
Von 1915–1925 schrieb Benjamin 73 Sonette zum Gedächtnis Fritz Heinles. Von
ihnen soll im George-Teil noch kurz die Rede sein. Immerhin weckt schon die erste
Zeile des ersten (titellosen) Sonetts: »Enthebe mich der Zeit, der du entschwun-
den«68 gewisse Assoziationen.
Michael Rumpf ist zuzustimmen, wenn er in einem älteren Beitrag schreibt: »Die
Zeugnisse für Benjamins lebenslanges Interesse an Stefan George sind zahlreich und
in ihrer Aussage so klar, dass sein Interesse als Verehrung bezeichnet werden darf.«69
Aber auch Rumpf muss eingestehen: »So unübersehbar sein Interesse an George
ist, nie ist George Gegenstand längerer Äußerungen [...].«70 Einen Essay zu Stefan
George wie den zu Karl Kraus hat Benjamin nicht geschrieben.
Die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Stefan Georges reicht aber in
Benjamins Leben weit zurück. Das 1910 entstandene (schwache) Gedicht der ›Der
Dichter‹71 bezieht sich sicher auf Stefan George. In einem Brief an den Jugendfreund
Herbert Belmore aus dem Jahre 1912 lobt Benjamin das ›Jahr der Seele‹, das er bei
anhaltender Lektüre »[...] schön und schöner [...]« findet.72
Später heißt es bei Rumpf in Bezug auf Benjamins Erwähnung der Gedichte ›Lied
des Zwergen‹ und ›Entführung‹: »Stefan George gilt die persönlichste Äußerung,
die Benjamin jemals öffentlich preisgab.«73 Trotz der Ablehnung von Georges Maxi-
min-Religion, also der Wende Georges zu seinen »heiligen Büchern«,74 hat Benjamin
George nur einmal öffentlich kritisiert und zwar im bereits erwähnten Kraus-Essay
aus dem Jahr 1931 (und selbst diese Kritik dient eher einem zweifelhaften Lob von
Karl Kraus als der Kritik an George).75 Kraus hat dieses Lob bekanntlich abgelehnt.76
Die Angriffe auf Jünger aus dem Kreis entsprechen Benjamins Unterscheidung von
George und George-Kreis. Gundolfs Goethe-Monographie wird im Wahlverwandt-
schaften-Essay nach Benjamins eigener Aussage ›exekutiert‹.77 Schon am Titel der
Kritik an Kommerells ›Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‹ kann man
die Ambivalenz in Benjamins Einschätzung des Buches erkennen: »Wider ein Meis-
terwerk.«78
Durch Franz Hessel – einem Mitverfasser des ›Schwabinger Beobachters‹79 – und
Felix Noeggerath,80 der dem George-Kreis während Benjamins Münchener Studien-
aufenthalt von 1915–1917 sehr nahestand, erwirbt Benjamin in München genaue
Kenntnisse der sogenannten Kosmiker-Krise um George, in der sich im Jahre 1904
u. a. Ludwig Klages von George trennte. Wie genau er die Kosmiker und deren
›Weltanschauung‹, v. a. auch Karl Wolfskehl kannte, hebt Günter Heintz hervor.81
Den theoretischen Kopf der Kosmiker, Ludwig Klages, hatte Benjamin als Präsident
73 Ebd., S. 58.
74 So bezeichnet George seine Werke seit dem ›Siebenten Ring‹: »Unter heiligen Büchern ver-
stand der Dichter die Werke seiner Schaffenshöhe: ›Der Teppich des Lebens mit einem Vor-
spiel‹ 1900, ›Der siebente Ring‹ 1907, ›Der Stern des Bundes‹ 1914, ›Das neue Reich‹ 1928,
›Tage und Taten‹ 1903.« Berthold Vallentin: Gespräche mit Stefan George: 1902–1931, Ams-
terdam 1960, S. 51, dort Anm. 74. Vgl. auch: Ludwig Curtius: Stefan George im Gespräch.
In: Ders.: Deutsche und antike Welt: Lebenserinnerungen, Stuttgart 1950, S. 138–157, hier
S. 157. Das obige Kurzzitat gehört in folgende apodiktische Äußerung Georges: »Sie fragen
nach der Verheißung für Deutschland, die im Gedicht Krieg ausgesprochen ist? Merken Sie
sich: Alles, was in den heiligen Büchern steht, ist immer eingetroffen und wird immer ein-
treffen. So geht es immer mit den heiligen Büchern. Wir müssen erst durch die vollendete
Zersetzung hindurch. Aber dann kommt’s wieder besser.«
75 Vgl. dazu: Verf.: Muttermythos und Herrschaftsmythos – Zur Dialektik der Aufklärung um
die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule,
Würzburg 2007 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 588), S. 139 f.
76 Vgl. Christian Schulte: Ursprung ist das Ziel – Walter Benjamin über Karl Kraus, Würzburg
2003, S. 33 ff.
77 Vgl. Brief Benjamins an Scholem vom 27. November 1921. In: Walter Benjamin: Briefe I/
II. Hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno,
Frankfurt a. M. 1978, S. 284: »Darinnen [scil. in der ›Arbeit über die Wahlverwandtschaf-
ten‹] findet die rechtskräftige Aburteilung und Exekution des Friedrich Gundolf statt.«
78 Vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15). Bd. III, S. 252 ff. Der vollständige Titel
lautet: »Wider ein Meisterwerk – Zu Max Kommerell, ›Der Dichter als Führer in der deut-
schen Klassik‹.«
79 Vgl. Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin: die »Kosmiker« Derleth, George, Klages,
Schuler, Wolfskehl und Franziska zu Reventlow; mit einem Nachdruck des ›Schwabinger
Beobachters‹, Frankfurt a. M., 1994, S. 187 ff.
80 Zu Felix Noeggerath vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin und Felix Noeggerath. In:
Merkur. Februar 1981. Bd. 393, S. 134–169.
81 Günter Heintz: Der Zeuge: Walter Benjamin. In: Ders.: Stefan George: Studien zu seiner
künstlerischen Wirkung, Stuttgart 1986, S. 310–345, hier S. 317 f.
›Läuterung des Samens‹ 229
der Freien Deutschen Studentenschaft schon 1914 zu einem Vortrag nach Berlin
eingeladen (die anderen Referenten in diesem von Benjamin organisierten Vortrags-
zyklus waren Martin Buber und Kurt Breysig, ein Anhänger Georges,82 und der ein-
zige von Benjamin akzeptierte Professor der Berliner Universität).83
Für den frühen George-Kreis war Ludwig Klages’ »Broschüre« über Stefan George
ein zentraler Verständigungstext. Benjamin könnte diesen, auch für Stefan George
folgenreichen Text84 gekannt haben.85
Wie Scholem berichtet, wechselte Benjamin 1915 zum Studium nach München,
um dort mit Ludwig Klages, der bis 1904 zu den engsten Freunden Georges gehörte,
in Kontakt zu treten:
Als Benjamin [scil. 1915] nach München ging, wo er zurückgezogen arbeiten wollte,
dachte er auch daran, Ludwig Klages, dessen graphologische Schriften ihn, wie er en
passant erwähnte, sehr angezogen hatten, zu finden. Der war aber, wie er feststellen
mußte, fort – wir wissen jetzt, daß er gerade zwei Monate vorher in die Schweiz ge-
gangen war, weil auch er den damaligen Krieg völlig ablehnte.86
Insofern läßt sich sagen, daß dieser erste nachweisbare Kontakt zwischen dem späte-
ren Stipendiaten des emigrierten Instituts für Sozialforschung und dem umstrittenen
Lebensphilosophen [scil. Benjamins Besuch bei Klages im Jahre 1914 in München] den
Ausgangspunkt für einen ungewöhnlichen Gedankenimport darstellte, der erst mehr
als drei Jahrzehnte später mit der ›Dialektik der Aufklärung‹ einer breiteren Öffentlich-
keit seine Virulenz offenbarte.87
Die im Folgenden weiter aufgeführten Punkte von persönlicher Nähe und der Prä-
senz Stefan Georges und seines Kreises im Werk von Walter Benjamin können nur
Hinweischarakter haben. Eine ausführliche Darstellung würde den hier gegebenen
Rahmen überschreiten.
82 Vgl. Verf., Muttermythos (Anm. 75), S. 127, und Verf., Maximin-Religion (Anm. 27), S. 71.
83 Jäger, Benjamin (Anm. 51), S. 40: »Die akademischen Lehrer, vor allem die anerkannten
unter ihnen, beurteilte Benjamin sehr streng. [...] Nur den Geschichtsphilosophen Kurt
Breysig, der Stefan George nahestand, ließ Benjamin gelten. ›An dieser Universität kenne
ich nur einen einzigen Forscher, und dass er es dahin gebracht hat, dies wird nur durch
seine gänzliche Verborgenheit und seine Verachtung dieser Dinge (vielleicht) entschuldigt.
Diesem gegenüberstehend ist keiner gewachsen‹.«
84 Vgl. Verf., Muttermythos (Anm. 75), S. 127.
85 Vgl. ebd., S. 111.
86 Scholem, Freundschaft (Anm. 47), S. 30.
87 Michael Großheim: »Die namenlose Dummheit, die das Resultat des Fortschritts ist« – Le-
bensphilosophie und dialektische Kritik der Moderne. In: Logos: Zeitschrift für systemati-
sche Philosophie. N.F., 1996. S. 97–133, hier S. 97 f. Vgl. auch: Verf., Muttermythos (Anm.
75), S. 104–172.
230 Georg Doerr
Persönliche Nähe
Im Jahre 1922 wartet Benjamin in Heidelberg im Park stundenlang auf einer Bank
auf das Vorbeigehen Stefan Georges:
Stunden waren mir nicht zuviel im Schlosspark von Heidelberg, lesend auf einer Bank,
den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. Eines Tages kam er langsam
daher und sprach zu einem jüngeren Begleiter.88
Die von Benjamin lange umworbene Bildhauerin Jula Cohn(-Radt) geriet durch
Böhringer, der in Berlin ihr Lehrer war, in Kontakt zum George-Kreis; sie hat in
Heidelberg nicht nur eine verschollene Büste89 von Benjamin geschaffen, sondern
auch eine von Friedrich Gundolf.90
Benjamins Baudelaire-Übersetzungen, zu denen hier nur dieser kurze Hinweis
gegeben werden kann, wirken wie ein Konkurrenz-Unternehmen zu den Überset-
zungen Georges. Später hat Benjamin eingestanden, dass seine Baudelaire-Überset-
zungen im Vergleich zu denen Georges ›metrisch naiv‹91 seien.
Sehr richtig fügt aber Momme Mommsen Benjamins Eingeständnis hinzu:
Dort, wo die Moderne in Baudelaires Lyrik mit Händen zu greifen war, spiegelten seine
[scil. Benjamins] Versuche das Original viel getreuer wider als die Georgeschen.92
Die von Benjamin geplante und wegen der Inflation (1922)93 nie erschienene Zeit-
schrift ›Angelus Novus‹ wollte Benjamin ganz offensichtlich nach Vorbild der Blätter
für die Kunst gestalten.
Auch der Plan einer ›Privatzeitschrift‹, ›Angelus Novus‹, 1922 lehnt sich in den postu-
lierten Inhalten, der Gestaltungsabsicht und der Konzeption eines mit der Zeitschrift
verbundenen Autorenkreises eng an das Vorbild der ›Blätter für die Kunst‹ an.94
In dieser Zeitschrift sollten auch die Dichtungen von Benjamins Freund Fritz Heinle
und von dessen Bruders Wolf erscheinen.95 Ein Vortrag, den Benjamin im Max-We-
ber Kreis zur Lyrik Fritz Heinles hielt, stieß dort auf »völliges und betretenes Unver-
ständnis«.96 Zu dieser Episode schreibt Lorenz Jäger in seiner Benjamin-Biographie:
Geradezu für symbolisch möchte man Benjamins Scheitern in dem erlauchten Zirkel
von Marianne Weber in Heidelberg halten, einem der geisteswissenschaftlichen Zen-
tren der Zeit. Hier trug er im Dezember 1922 vor, was er über die Gedichte von Fritz
Heinle zu sagen hatte. Über das Resultat berichtet er Scholem: ›Dafür habe ich eine
Woche fast Tag und Nacht gearbeitet und die Arbeit im Entwurf zu Ende geführt. Aber
der Vortrag prallte ab. Ich mache mir darüber keine Vorwürfe, denn: wollte ich über-
haupt hervortreten, so war nichts anderes zu tun. Meiner Arbeit hat es genützt‹.97
Der Berliner Kreis wurde in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 durch ein zweites
Ereignis [scil. nach der Begeisterung großer Teile der Jugend für den Weltkrieg] erschüt-
tert, das die traumatische Wirkung des Kriegsbeginns verstärkte. Am 8. August begin-
gen Heinle und Rika Seligson im Heim Selbstmord. Obgleich andere Motive für diese Tat
nicht auszuschließen sind [...] wurde sie von ihren engsten Freunden als Protest gegen
den Krieg gedeutet.98
Dem Freund durch eigene Poesie und durch Vortragstätigkeit ein Denkmal zu setzen,
stellt sich Benjamin zur Aufgabe und schloß damit vermutlich auch an das Vorbild des
›Maximin-Zyklus‹ im Siebenten Ring und an die ihm bekannten Widmungsgedichte Ste-
fan Georges im ›Stern des Bundes‹ an. [...] Zwischen 1915 und 1925 widmete er Heinle
eine umfangreiche Sonettfolge.99
Benjamin, der seit dessen Tod den verstorbenen Fritz Heinle, auch in dem 1928
erschienenen Beitrag ›Über Stefan George‹,100 immer nur als ›mein Freund‹ bezeich-
nete, hat dem Verstorbenen im Zeitraum von zehn Jahren 73 Sonette gewidmet, die
lange als verloren galten und erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zufällig
wiederaufgefunden wurden.101
Auch zu diesen Sonetten an Fritz Heinle können hier nur knappe Hinweise
gegeben werden, denn eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser erstaunlichen
Parallele zu Georges Maximin-Kult – dort Gedächtnis eines vergöttlichten Toten
Noch in seinen Sonetten auf Heinle, die seit 1915 entstehen, zeigt sich, daß Benjamin
mit äußerster Kraft den an das sprachliche Kunstwerk gerichteten Ansprüchen der
George-Schule und ihrer Formenwelt zu entsprechen gewillt ist, und wer will, kann auch
in seinem Kult um den toten Freund einen fernen Nachklang jenes Rituals vernehmen,
mit dem George Maximilian Kronenberger als ›Maximin‹ zum Gott der Jugend erhöht
hatte.105
Im 34. Sonett an Fritz stößt man auf Bilder aus dem Bereich Geburt / Mutterschaft /
Ernährung des Neugeborenen, wie man sie, mutatis mutandis, aus dem Maximin-
Zyklus kennt. Wie bei George wird das sprechende Ich zum Kind des Angerufenen,
das in diesem Gedicht vom angerufenen Freund genährt (›gesäugt‹) wird. Auch der
Kranz, ein zu Maximin gehörendes Requisit,106 fehlt nicht:
Auch in diesem Sonett, wie in den übrigen, wird der verstorbene Freund, anders als
in Georges Maximin-Gedichten, nicht vergöttlicht, sondern nur erinnert. Steizinger
betont sogar, dass gerade im Sonett 34 die »Differenz« zwischen den beiden Freun-
den erhalten bleibt:
Benjamins Sonette zeugen dagegen von der Anstrengung, in die größtmögliche Ähn-
lichkeit der Liebenden jene Differenz einzuschreiben, die es erlaubt, bei sich zu bleiben.
Der Widerstand gegen die Versuchung zu verschmelzen und die Annahme der Qual der
Trennung verweisen auf sein Konzept der ›Freundschaft der fremden Freunde‹. Dieses
erschöpft sich nicht in der ethischen Forderung, den noch Fernsten zu lieben, sondern
impliziert auch, die Fremdheit des Allernächsten anzuerkennen. Der Schlussvers von
Sonett 34 schildert ihre Offenbarung nichtsdestoweniger als eine dramatische Wider-
fahrnis.108
Wie später für die Beziehung von Benjamin und Adorno bildete auch für die zeitlich
kurze Freundschaft (1913–1914) von Benjamin und Heinle das Werk von Stefan
George den ›Rahmen‹. Nach Deuber-Mankowsky habe der Katholik Heinle die
(heidnische) ›fleischgewordene Verschmelzung‹109 im ›Stern des Bundes‹ freudig
begrüßt, während Benjamin als Jude sie strikt ablehnte.110 Diese ›Differenz‹ zwi-
schen den beiden Freunden würde folglich auch den Unterschied zwischen Georges
Maximin-Dichtung und Benjamins Sonetten an den toten Freund ausmachen.
Seine [scil. Benjamins] Rolle in der damals freilich von ihren spätern Manifestationen
überaus verschiedenen Jugendbewegung – er zählte zu den Hauptmitarbeitern des
›Anfangs‹ und war mit Wyneken befreundet, bis dieser zu den Apologeten des ersten
Krieges überging – vielleicht sogar sein Hang zu theokratischen Vorstellungen ist vom
selben Schlag wie sein Typus von Marxismus, den er orthodox, als Lehrstück zu überneh-
men meinte, ohne zu ahnen, was er in produktivem Mißverständnis damit anstellte.111
Und weiter im Text folgt eine Behauptung, die jedes gesellschaftliche Engagement
Benjamins zum Missverständnis erklärt:
Nicht schwer ist es, die Vergeblichkeit solcher Ausbruchsversuche, des hilflosen sich
Angleichens an die heraufdämmernden Mächte zu durchschauen, vor denen es keinem
mehr gegraut haben muss als Benjamin [...] Der Unmöglichkeit seiner Eingliederung war
er sich bewusst und hat doch das Verlangen danach nicht verleugnet.112
Benjamins Marxismus wird von Adorno genauso wenig ernst genommen wie sein
früher radikaler Einsatz für die Jugendkulturbewegung, ja ersterer wird sogar als
›Missverständnis‹, wenn auch als ›produktives,‹ bezeichnet.113
Adorno gibt sich weiter verwundert, dass der junge Benjamin im damaligen Ber-
lin der Vorkriegszeit nicht bei den Literaten (des entstehenden Expressionismus)
zu finden gewesen sei, sondern ausgerechnet bei der Jugendbewegung. Er versucht
das, wie gesagt, zu erklären mit Benjamins Sehnsucht nach einem (irgendeinem)
Kollektiv, (irgend-)einer Gemeinschaft und deutet damit Benjamins persönliche
Entwicklung wie auch die historischen Gegebenheiten nach seinem Gusto um.
Nach Adornos Auffassung habe Benjamin seinen ›Genius‹ – auch diese Wortwahl
wirkt befremdlich – an das falsche Objekt verschwendet. Vermutlich will Adorno
mit dieser Operation Benjamins ›rechte‹, und damit ungehörige Jugendsünde durch
Psychologie erklären und ›entschärfen‹.
Zum Habitus Benjamins heißt es weiter bei Adorno:
Seine private Haltung näherte zuweilen dem Ritual sich an. Man wird den Einfluss Ste-
fan Georges und seiner Schule, von der ihn philosophisch in seiner Jugend schon alles
trennte, darin zu suchen haben: er lernte von George Schemata des Rituals.114
Wie für die Jugendbewegung soll auch für die Beeinflussung Benjamins durch
George und seinen Kreis gelten, dass Benjamin nur Äußerlichkeiten, aber keine
Inhalte von Georges ›Lehre‹ übernommen habe. Diese Äußerung klingt – wie ge-
sagt – apologetisch, denn sie will sagen, dass Benjamin rein äußerlich ›Schemata des
Rituals‹ aus dem George-Kreis übernommen hat. Denn man muss sich zumindest
fragen, ob man ›Schemata des Rituals‹ so vollständig von den Inhalten des Rituals
trennen kann. Auch muss Benjamin zumindest Menschen gekannt haben, von de-
nen er diesen Habitus übernehmen konnte.115 George selbst hat er nachweislich
nie persönlich getroffen, nur einmal in Heidelberg, im Park, aus der Ferne gesehen.
Immerhin gesteht Adorno dem Einfluss der George-Schule eine Wirkung auf Ben-
jamins Stil zu, wobei im folgenden Zitat doch deutlich wird, dass auch die Inhalte
dieser Schule Benjamin beeinflusst haben müssen:
An die Georgesche Schule, der er mehr verdankt, als der Oberfläche des von ihm Gelehr-
ten sich anmerken ließe, gemahnt ein Bannendes, Bewegtes zum Einstand Zwingendes
seiner philosophischen Gestik, jene Monumentalität des Momentanen, die eine der
maßgebenden Spannungen seiner Denkform ausmacht.116
Wie Adorno, zumindest in seiner ›Charakteristik‹, geht auch Heintz davon aus, daß
George die Schreib- und Denkweise Benjamins nachhaltig bestimmt habe. Während
Adorno dabei zu auratisch-mythisierendem Wortmaterial greift (›bannen‹), bedient
sich Heintz aus dem Wörterbuch der Psychoanalyse oder der Medizin, um die Nach-
haltigkeit von Georges Bedeutung für Benjamin hervorzuheben.117
115 Wie eng Benjamin auch persönlich mit Gestalten um Stefan George verflochten war, zeigt
Heintz, Zeuge (Anm. 81), S. 316, der folgende Namen aufzählt: »Jula Radt, Ernst Blass, Au-
gust Ferdinand Cohrs, Ludwig Klages, Kurt Breysig, Franz Hessel, Karl Wolfskehl.« Später
faßt Heintz seine Ausführungen resümierend zusammen: »Diese leicht dokumentierbare
Tatsache, daß Benjamin einen nicht unerheblichen Teil seiner geistigen Existenz in einer
George huldigenden Runde realisierte (bis in die späten 20er Jahre) ohne doch dem Kreis
anzugehören, muß als Indiz immerhin zur Kenntnis genommen werden: Das Ensemble der
Fakten verdichtet sich zunehmend.« (ebd., S. 318.)
116 Adorno, Über Benjamin (Anm. 9), S. 38.
117 »Daß die – wie man mit Fug sagen darf – Traumatisierung [scil. Benjamins durch George]
nachhaltig wirkte, sieht man vorrangig daran, daß er Benjamin Handlungsmuster lieferte
und Formkräfte, für sein, des Analytikers, Werk bereitstellte.« Heintz, Zeuge (Anm. 81),
S. 312. – Immerhin wird in dieser Formulierung das ›Gewalttätige‹ spürbar, das für viele
von George ausging: sein seit seiner ›Wende‹ mit dem ›Siebenten Ring‹ immer deutlicher
auftretender Herrschaftsanspruch.
118 Benjamin suggerierte im Jahre 1928 der Redaktion der ›Literarische[n] Welt‹, auch Adorno
zu einer Stellungnahme zu Georges 60. Geburtstag aufzufordern, was diese zwar zusagte,
aber nicht durchführte. In einem Brief an Adorno bedauert Benjamin das ausdrücklich.
Vgl. Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15), II, 3 S. 1439. Dazu schreibt Luhr, Äs-
thetische Kritik (Anm. 1), S. 18. »Auch wenn der Name Stefan Georges im Briefwechsel
236 Georg Doerr
Wenn es das Vorrecht und das unnennbare Glück der Jugend ist, in Versen legitimieren,
streitend und liebend sich auf Verse berufen zu dürfen, so verdankten wir, dass wir
dieses erfuhren, den drei Büchern Georges, deren Herzstück das ›Jahr der Seele‹ ist.121
Diese Gedichte wurden also von den damaligen Freunden immer wieder rezitiert.
Die Erschütterung durch Georges Lyrik, an die Benjamin sich erinnert, ist »immer
von Gedichten nur ausgegangen, die ich in einem bestimmten, eingreifenden Au-
genblick im Munde derer, mit denen ich damals lebte, ein- oder zweimal in meinem
eigenen, gefunden habe.«122
Hier folgt nun überraschender Weise die Ankündigung einer Auseinanderset-
zung mit der Zeit bis zum ersten Weltkrieg, die Benjamin dann doch nicht geschrie-
ben hat, denn es heißt weiter: »Verbunden mit diesen [scil. Freunden] – von denen
heute keiner mehr lebt – nicht durch jene Gedichte, vielmehr durch eine Kraft, von
der ich eines Tages werde zu sagen haben.«123
Bei dieser geheimnisvollen Kraft, deren Herkunft hier nicht erklärt wird, handelt
es sich wohl um jenen ›empfangenen Samen‹, den Benjamin nach dem Bruch mit
Wyneken läutern und weitertragen wollte. Die Formulierung ›von der ich eines Tages
werde zu sagen haben‹ mahnt den Schreibenden gewissermaßen an eine Pflicht, de-
ren Auftraggeber im Dunkeln bleibt. Der Ausdruck ›werde zu sagen haben‹ erinnert
zudem (in der Satzstellung auch durch Inversion) an Propheten-Sprache (›künden
und sagen‹). Wenn diese Deutung zutrifft, fühlt sich der 36-jährige Benjamin also im
Jahre 1928 noch an jene ›Kraft‹ (oder jenen ›Samen‹) gebunden, die er als ›geistiger
Führer‹ in der Jugendkulturbewegung empfangen hat. Dass nun auch der Beginn
des Ersten Weltkriegs, der Selbstmord des Freundes Heinle mit einem von Benjamin
nicht mehr geschätztem Gedichtband Georges, nämlich dem ›Stern des Bundes‹, in
eine ›Konstellation‹ gebracht werden, zeigt, welch große Bedeutung George, der hier
zwischen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno nicht allzuhäufig auftaucht, bildet er
doch auf gewisse Weise dessen Rahmen. [...] Zwischen Benjamin und Adorno herrschte
offenbar von Beginn an ein stillschweigendes Einverständnis über die Bedeutung Stefan
Georges.«
119 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15). Bd. II, 2, S. 622 f.
120 Rumpf, Faszination (Anm. 64), S. 56.
121 Benjamin, Gesammelte Schriften (Anm. 15). Bd. II, 2, S. 623.
122 Ebd., S. 622.
123 Ebd., S. 622 f.
›Läuterung des Samens‹ 237
gleichsam als »geschichtliche Gestalt«124 erscheint, für Benjamin hat und wie sehr er
seine Wende zur Vergöttlichung Maximins im ›Stern des Bundes‹ ablehnt:
Im Frühjahr 1914 ging unheilverkündend überm Horizont der ›Stern des Bundes‹ auf
und wenige Monate später war Krieg. Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er
in unserer Mitte ein. Mein Freund starb. Nicht in der Schlacht. Er blühte auf einem Feld
der Ehre, wo man nicht fällt.125
Dass Benjamin anschließend die »Lehre« Georges und die »[...] Priesterwissenschaft
der Dichtung, die von den ›Blättern für die Kunst‹ gehütet wurde,«126 ablehnt, ist nur
folgerichtig. Dagegen setzt er zwei frühe Gedichte Georges, nämlich ›Das Lied des
Zwergen‹ und ›Entführung‹, die er mit dem höchstmöglichen Lob in einer alter-
tümlichen – an den österreichischen Literaturhistoriker Josef Nadler, den Benjamin
schätzte, erinnernden – Formulierung bedenkt: »Diese Gedichte aber vergleiche im
Massiv des Deutschtums jenen Spalten, die nach der Sage nur alle tausend Jahre sich
auftun und einen Blick ins innere Gold des Berges gewähren.«127
In seiner sehr persönlichen Stellungnahme fährt Benjamin fort mit weiteren
Erinnerungen an Rezitationen von George-Gedichten, darunter auch an eine aus
Georges Dante-Übersetzung in einem »Münchner Atelier«,128 die offensichtlich von
Jula Cohn(-Radt) vorgetragen wurde. Der Text endet mit einem erneuten Bekennt-
nis zu George-Gedichten, »[...] die ich immer allein geliebt habe [...]«.129 Die Titel
dieser, von ihm ›allein geliebten‹ Gedichte nennt Benjamin allerdings nicht. Diese
nicht genannten Gedichte verweisen in einer wiederum enigmatischen Formulie-
rung auf Versäumnisse im eigenen Leben und mit diesen Worten endet der Text:
In diesen Zeilen wird gewissen, nicht genannten Gedichten Georges, eine utopische
Kraft, jedenfalls die Möglichkeit zu einer das Leben verändernden Praxis zugespro-
chen, die nur durch die Schwäche des Lesenden (›Einsamkeit und Versäumnis‹)
nicht realisiert wurden.
In seinem bereits mehrfach erwähnten Beitrag: Der Zeuge Walter Benjamin aus
dem Jahr 1986 kommt Günter Heintz bei der Besprechung dieser ›Stellungnahme‹
Benjamins zu George aus dem Jahre 1928 zu dem Schluss, dass sich Benjamin selbst,
im Jahr 1928, als einzigen überlebenden Zeugen dieser untergegangenen Jugend
sieht, die damals – in der Zeit der Jugendbewegung – mit den Gedichten Georges
gelebt hat:
Aber seiner [scil. eines ›Anwalts‹ aus dem George-Kreis] bedurfte es auch nicht, denn
die Dichtung besitzt ihre eigenen Zeugen. Es ist der [...] Kreis von jungen Menschen, die
über das Gedicht miteinander empfanden. Die besten [...] dieser Jugend sind tot. Ein
Zeuge aber, so darf man den Schreibenden verstehen, lebte noch [...]. Er hieß Walter
Benjamin.131
Heintz vertritt die Auffassung, daß sich Benjamin als der letzte Zeuge einer früheren
kollektiven George-Verehrung in der Jugendkulturbewegung sah, ein Zeuge, der im
Jahre 1928 an Stelle des ›Kreises‹ aufzutreten das Recht hatte. Vermutlich hat Heintz
zumindest teilweise recht, wenn er hier die auf den ersten Blick befremdliche These
aufstellt, Benjamin habe sich als den eigentlichen Sachwalter des Georgeschen Erbes
gesehen. Das fügt sich im Übrigen in Benjamins früher vertretene Position ›George –
nicht George-Kreis‹ und wäre auch ein Beispiel von ›rettender Kritik‹, die am Gegen-
stand das für die eigene geschichtsphilosophische Perspektive Brauchbare herauslöst.
Richtig ist Heintz’ Hinweis, daß Benjamin selbst Georges Werk zweigeteilt hat
und in seinen Texten von 1928 und 1933 betont, daß für die Jugend vor dem ersten
Weltkrieg und für ihn selbst George vor allem ein Dichter (und eben kein Prophet)
gewesen sei: »So ist Georges Wirken in mein Leben gebunden ans Gedicht in seinem
lebendigsten Sinn.«132
Im ›Rückblick auf Stefan George‹,133 der 12.7.1933 unter dem Pseudonym K. A.
Stempflinger zum 65. Geburtstag Georges in der ›Frankfurter Zeitung‹ erschien,
bleibt Benjamins Position in Hinblick auf die Jugendbewegung unverändert, ja er
übernimmt diesbezüglich sogar die entscheidenden Passagen wörtlich aus dem Text
von 1928. Benjamin nimmt die Besprechung des Buches von Willi Koch: ›Stefan
George, Weltbild, Naturbild, Menschenbild‹ (1933) zum Anlass, sich auf dem Hin-
tergrund des von Koch dargestellten Naturbildes Georges noch einmal vom Maxi-
min-Kult zu distanzieren. Seine Kritik am Jugendstil, zu dem er George zählt, als
»[...] Vorgefühl der eigenen Schwäche [...]«134 des Bürgertums, wurde schon erwähnt.
Erwähnenswert ist jedoch ein Satz, in dem sich Benjamin (wieder) als der eigentliche
Sachwalter der Georgeschen Erbes sieht, zumal es hier um den für seine gesamte
Literaturkritik zentralen Begriff der ›rettenden Kritik‹ geht: »Georges großes Werk
ist zu Ende gegangen, ohne im Zeitraum, den sein Wirken ausgefüllt hat, auf seinen
echten und ihm zugeborenen Kritiker gestoßen zu sein.«135
Die ›rettende Kritik‹, die Benjamin George auch noch im Paris des Jahres 1940,
kurz vor dem Einmarsch des deutschen Heeres ›zugedacht‹ hat,136 will er in seinem
letzten Brief aus Paris an Adorno in New York in dessen Essay über den Briefwechsel
George–Hofmannsthal erkennen. Wie im Folgenden deutlicher werden wird, hat
sich Benjamin in diesem letzten Brief an Adorno eine Rettung Georges eher ge-
wünscht als dass Adornos Text diese wirklich leistet.
Wenn es heute überaus schwer erscheinen muss, anders von George zu sprechen als
von dem Dichter, der mit dem ›Stern des Bundes‹ das choreographische Arrangement
des Veitstanzes vorgezeichnet hat, der über den geschändeten deutschen Boden da-
hingeht – so war das von Ihnen gewiss nicht zu gewärtigen. Und diese, unzeitgemäße
und undankbare Aufgabe: eine Rettung Georges. Sie haben sie so schlüssig wie es nur
sein kann, so unaufdringlich wie es sein muss, bewältigt.141
Adorno stellt zwar in seinem Essay George über Hofmannsthal (u. a. ›Trotz‹ bei
George gegen ›Versalität‹142 bei Hofmannsthal), aber eine ›Rettung‹ Georges lag mit
hoher Wahrscheinlichkeit nicht in seiner Absicht.143 Benjamin aber hat sich diese
›Rettung‹ im Mai 1940 gewünscht.
Zum Schluss stellt sich die Frage: Wie hat der zuerst in Haubinda empfangene
›Samen‹ in Benjamins Leben und Werk weitergewirkt?
Wie eine erneute Lektüre von Scholems ›Geschichte einer Freundschaft‹ nahelegt,
versuchte Benjamin in seinen Schweizer Jahren (1917–1920), diesen ›empfangenen
Samen‹ zu ›läutern‹. In diesen Schweizer Jahren hat Benjamin nichts publiziert (wohl
aber geschrieben). Dass ihm während dieser Zeit die jüdisch-theologischen Motive
durch seine Freundschaft mit Scholem wichtiger wurden, ist unbestreitbar. Doch
auch diese Einflüsse befördern die Esoterik, die für einen Teil des späteren Werks
Benjamins so kennzeichnend ist und die bis heute zumindest auch dessen Faszina-
tion ausmacht.
Auch in Benjamins Hang zur Esoterik, den Scholem bezeugt,144 will man die
Nachwirkungen der frühen Prägung durch die Jugendkulturbewegung sehen, die
dann gleichsam verschlüsselt weitergegeben worden seien. Gewisse frühe Motive,
wie z. B. die radikale Kritik am Fortschrittsgedanken, bleiben bis zu den späten ge-
schichtsphilosophischen Thesen erhalten.145
Der im Werk Benjamins immer wieder aufblitzende implizite prophetische Gestus,
der seine Schriften für die späteren Leser der 60er und 70er Jahre (und noch danach)
so anziehend machte, kann man sowohl mit seinem radikalen Engagement in der
Jugendkulturbewegung und der damit eng zusammenhängenden Prägung durch
Gustav Wyneken und Stefan George erklären. Dass dabei auch die Säkularisierung
theologischer Motive (Adorno) eine Rolle spielt, widerspricht dieser These nicht.146
Warum Benjamin später seine Prägung durch die Jugendkulturbewegung so kon-
sequent verschwiegen hat, ist auch Thema der Sekundärliteratur geworden.
Stattdessen habe er über seine ›Berliner Kindheit‹ geschrieben.148 An die Stelle der
angekündigten Auseinandersetzung mit seinem frühen und radikalen Engagement
in der Jugendkulturbewegung, der er in seiner Stellungnahme zu George aus dem
Jahre 1928 eine geheimnisvolle ›Kraft‹ verdankt, sei das Gedenken an seinen Freund
Fritz Heinle getreten.
144 »Verleugnete er doch auch in seinen besten Stunden keineswegs den Gestus des Esoteri-
kers«. Gershom Scholem: Walter Benjaminn. In: Über Walter Benjamin – Mit Beiträgen
von Th. W. Adorno, E. Bloch et al., Frankfurt a. M. 1968, S. 138.
145 Rumpf, Faszination (Anm. 64), S. 62.
146 Theodor W. Adorno/Gershom Scholem: Briefwechsel – »Der liebe Gott wohnt im Detail«,
hg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Bd. 8, Frankfurt a. M. 2015, S. 507. Adorno schreibt
26.2.1969 an Scholem: »Nach wie vor möchte ich zu meiner These stehen, dass auch in der
materialistischen Phase die zentralen Motive Benjamins, säkularisiert, erhalten geblieben
sind. Mein Gott, warum sonst hätte er uns so fasziniert.«
147 Steizinger, Revolte (Anm. 17), S. 222.
148 Ebd., S. 216.
›Läuterung des Samens‹ 241
149 Adorno/Scholem, Briefwechsel (Anm. 146), S. 413: »Der Zufall wollte es, daß ich ihn [scil.
den letzten Brief Scholems] im selben Augenblick auf meinem Schreibtisch vorfand, in
dem ich den Aufsatz von Heissenbüttel las, der mir, in wenig angenehmer Weise vorwirft,
ich hätte den Marxismus Benjamins, den Heissenbüttel, wie den Brechts, für den Marxi-
schen [sic] zu halten scheint, unterdrückt. Man hat’s halt schwer in der Welt.«
150 Ebd., S. 444–466.
Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea 243
Kibbuz ›Hasorea‹ liegt etwa vierzig Kilometer südöstlich von Haifa, in einer Land-
schaft, die ›Emek Jesreel‹, also das ›Tal von Jesreel‹ – nicht ›Tal von Israel‹ – ge-
nannt wird. Heute, nach langen Jahren positiver ökonomischer Entwicklung, ist
diese linkssozialistische, kommunistisch organisierte Gemeinschaftssiedlung ein
ausgesprochen florierender Betrieb; die dort – mit modernsten Techniken – betrie-
bene Fischzucht hat ›Hasorea‹ in diesem Marktsegment geradezu zu einem »global
player«, einem auf dem Weltmarkt erfolgreichen Anbieter gemacht, der zugleich in
Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Biotechnologie führend ist. Haso-
rea, der hebräische Ausdruck bedeutet ins Deutsche übersetzt »Sämann«, gehört
zu jenen Kibbuzim, die die Kürzung staatlicher Zuschüsse durch neoliberale israe-
lische Regierungen seit den achtziger Jahren erfolgreich überstanden haben und
wurde 1936, zu einer Zeit, als in Deutschland die Nürnberger Rassegesetze bereits
verabschiedet und Palästina noch ein britisch verwaltetes Völkerbundsmandat war,
gegründet. Die meisten israelischen Kibbuzim gehören parteipolitisch orientierten
Verbänden an – die Gründer von Hasorea beschlossen früh, sich der Organisation
›Kibbuz Artzi‹, also jenem Verband anzuschließen, der zu der linkssozialistischen
Partei ›Mapam‹ gehört, die lange Jahre marxistisch und an der damals noch be-
stehenden Sowjetunion orientiert war.
Wenn auch auf freiwilliger, auf demokratischer Basis, so stellte doch das Modell
der Kollektiverziehung, wie es bis in die 1970er Jahre die meisten israelischen Kibbu-
zim praktizierten, die radikalste Verwirklichung jenes schon von Platon formulier-
ten Verdachts gegen die Familie dar – oft genug zum Leidwesen sowohl der dort er-
zogenen Kinder als auch deren Eltern. Im Rückblick wird klar, dass es die Gründung
einer landwirtschaftlichen Siedlung auf den unwirtlichen Böden des Palästinas jener
Jahre nicht ermöglichte, dass sich alle jungen Frauen, die hart arbeiten mussten, in-
tensiv um ihre Kinder kümmern konnten, so dass das Modell einer Frühbetreuung
vom 9. Tag nach der Geburt an zunächst eine arbeitsökonomische Notwendigkeit
war. Indes – warum wurde dieses Modell auch nach erfolgter Gründung und Etab-
lierung beibehalten? Anfang der 1980er Jahre erinnerte sich eine inzwischen etwa
siebzig Jahre alte Gründerin:
Warum wir es beibehalten haben, das ist nun wahrscheinlich ihre zweite Frage, das
ist eine ideologische Frage, die ich beantworten kann. Wir strebten ja nach einer sehr
durchgreifenden Kollektivierung und wollten die ganze Lebensform auf kollektiver Basis
gestalten. Und lehnten auch eigentlich, so wie wir es kannten, das Familienleben ab.
Wir wollten eine große Familie sein, wir haben niemals abgelehnt, dass ein Kind seinen
Eltern gehört, und dass es Vater und Mutter hat und dass die Elternliebe zur Erziehung
244 Micha Brumlik
gehört, aber wir strebten einen Kollektivismus an, der sich heute geändert hat [...] also
ich spreche aber jetzt nur für mich persönlich und ich geniere mich überhaupt nicht,
das zuzugeben: Mir persönlich war das sehr schwer, mir persönlich war es schwer, mein
Neugeborenes in das Kinderhaus sofort zu geben, und zwar vom ersten Tag an nach
den acht Tagen im Krankenhaus nach der Geburt, war mir das persönlich sehr schwer.
Ich kann das nicht ableugnen und ich hätte es wahrscheinlich persönlich lieber anders
gehabt. Aber alles andere fand ich ja im Kibbuz nun so positiv, dass ich es eben mit in
Kauf genommen hatte.1
Spätestens seit der Moderne, wenn nicht schon seit der griechischen Antike, ist das
Aufgeben und zur Disposition-Stellen familiärer Bande, zumal jener zwischen Müt-
tern und Kindern, noch stets Ausdruck entweder drückender materieller Zwänge
oder eines entschlossenen weltanschaulichen Willens gewesen. Im Falle ›Hasoreas‹
traf gewiss beides zu, wobei als Besonderheit hinzukommt, dass der dort umge-
setzte weltanschauliche Wille besonders stark ausgeprägt war, genauer, dem Idealtyp
dessen, was man als »Weltanschauung« bezeichnen könnte, in jeder Hinsicht ent-
sprach.
Von all den vielen Kibbuzim, die während der britischen Mandatszeit in Paläs-
tina gegründet wurden, unterscheidet sich ›Hasorea‹ dadurch, dass es geradezu in
Reinkultur ein authentischer Sproß der in Deutschland um die Jahrhundertwende
entstandenen jugendbewegt-bündischen Subkulturbewegung war. Gewiß: viele
Kibbuzim entstanden aus zionistischen Jugendbewegungen vor allem Polens und
Österreich-Ungarns, Jugendbewegungen, die ebenfalls die Formen der bündischen
Jugendbewegung übernommen hatten, aber es dürfte nur ›Hasorea‹ gewesen sein,
dessen Gründer und Mitglieder ihr Ethos dem Leben und Werk Martin Bubers und
Stefan Georges zugleich entlehnten. ›Hasorea‹ wurde von der Jugendgruppe ›Die
Werkleute‹ gegründet, einer späten Abspaltung der 1932 an inneren Spannungen
zugrunde gegangenen ›Kameraden‹. Die ›Kameraden‹ wiederum waren eine meh-
rere tausend jüdische Jugendliche zählende Jugendbewegung, die, 1916, im Jahr der
Judenzählung im deutschen Heer gegründet, eine bewusst jüdische, wenn auch – wie
man das damals nannte – assimilatorische Haltung mit den jugendkulturellen For-
men der bündischen Jugend verband. Wie in allen – nichtjüdischen und jüdischen –
Gruppen der Jugendbewegung üblich, gab es auch unter den ›Kameraden‹ vielfältige
Gruppen und Untergruppen, Arbeitsgruppen und weitere weltanschauliche Zirkel,
so schon lange vor 1932 den von Hermann, später Menachem Gerson gegründeten
›Kreis‹, dem es um eine Intensivierung eines religiös begründeten Gemeinschafts-
denkens ging.
1934, bereits in Palästina, in der Stadt Chedera, hielt Menachem Gerson am Grab
eines wohl kürzlich verstorbenen Mitglieds der Gruppe, Sergej, eine Rede, in der er
die innerjüdische Stellung der ›Werkleute‹ zu charakterisieren suchte:
In unseren Elternhäusern fanden wir fast nichts Jüdisches vor, und von den öffentlichen
Einrichtungen bekamen wir meist nur einen negativen Anstoß. Unsere jüdische Haltung
begann und erwuchs aus einer persönlichen Fragestellung [...] wir stellten fest, dass es
in uns drinnen eine große Zerrissenheit gab, dass bei uns das Intellektuelle in eine Abge-
löstheit geraten konnte, die wir von vorneherein als furchtbar empfanden. Wir merkten,
dass vieles von der edlen Haltung, die wir, vor allem unter dem Einfluß Stefan Georges,
lieben lernten, uns gerade durch unsere jüdische Herkunft lebensmäßig fern lag.2
Das im Rückblick zu verstehen, fällt auf den ersten Blick schwer. Denn: Stefan
George, daran besteht seit Langem kein vernünftiger Zweifel mehr, pflog nicht
nur die Pose eines geistesaristokratischen Sehers, sondern war durchaus – auf den
Spuren Nietzsches – ein Verächter der modernen Massendemokratie, gewiss kein
Mörder der Weimarer Republik, wohl aber ein Nagel zu ihrem Sarg und ein Dichter,
der der völkischen Ideologie keineswegs fernstand. Sein 1921 geschriebenes Gedicht
›Der Dichter in Zeiten der Wirren‹ lässt daran allen Kontextuierungen zum Trotz
keinen Zweifel:
[...]
Der sprengt die ketten fegt auf trümmerstätten
Die ordnung · geisselt die verlaufnen heim
Ins ewige recht wo grosses wiederum gross ist
Herr wiederum herr · zucht wiederum zucht · er heftet
Das wahre sinnbild auf das völkische banner
Er führt durch sturm und grausige signale
Des frührots seiner treuen schar zum werk
Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich.3
Es war also alles andere als ein Missverständnis, als der preußische Kultusminister
Rust, Mitglied der NSDAP, 1933 darauf drang, Stefan George mit dessen Zustim-
mung als ›Ahnherr der neuen Regierung‹ bezeichnen zu dürfen und ihm – nach dem
Hinauswurf der Gebrüder Mann und anderer aus der preußischen Akademie der
Künste – dort eine ›Ehrenstellung ohne jede Verpflichtung‹ anzubieten. Zudem: Ob-
wohl sich der Dichterfürst von jüdischen Jüngern anhimmeln, aus- und unterhalten
ließ, obwohl er von fanatischen Judenhassern als »den Juden untertan« angesehen
wurde, war er durchaus ein – wenn auch nicht besonders fanatischer – Antisemit.
Schon 1905 war ihm die deutsche Hauptstadt – so im Brief an einen Buchillustra-
tor – unsympathisch: »dieser Berliner mischmasch von beamten, juden und huren.«4
Juden galten ihm als besonders geschäftstüchtig, nicht zuletzt in Erinnerung an sei-
ne Kindheit als Sohn eines Weinhändlers, aber eben auch als Repräsentanten einer
»geschäftigen Geistmacherei«,5 als »andere Menschen«, ja als »Fremdstämmige«.6
Das Gedicht enthielt in den Augen seiner jüdischen Anhänger beides: den Inbegriff
der Hoffnung, dass auch Juden allen Stereotypen der Rassenlehre zum Trotz gleich-
berechtigte Mitglieder einer geistesaristokratischen Gemeinschaft werden könnten
(»demselben schoos entsprungne«) – aber eben auch ihre gleichsam ahasverische
Kennzeichnung (»immer schweifend und drum nie erfüllt!«). Enthält die eine Vers-
zeile jenes Versprechen, das nicht wenige assimilierte jüdische Intellektuelle in den
Bannkreis Georges zog, so drückt die andere Zeile schon zwanzig Jahre vor der na-
tionalsozialistischen Machtübernahme eine nie wirklich überbrückte und auch nie
zu überbrückende Distanz aus.
Hermann Gerson, der Gründer und Chefideologe der ›Werkleute‹, wurde 1908 in
Frankfurt an der Oder in einem assimilierten, durch die Inflation verarmten Eltern-
haus geboren und näherte sich schon früh, in Reaktion auf den Mord an Walter Ra-
thenau 1922, sozialistischen Ideen an. Als Leiter einer Ortsgruppe der ›Kameraden‹
lud Gerson 1925 Gustav Wyneken nach Frankfurt/Oder ein und verfiel nach eigener
Auskunft dessen Charisma. Innerhalb der ›Kameraden‹ initiierte Hermann Gerson
den sog. ›Kreis‹, als Gegenstück zu dem von dem Frankfurter Rechtsanwalts, 1932
bei einem Unfall gestorbenen Rechtsanwalts Ernst Wolff gegründeten ›Ring‹, der an-
ders als dieser nicht auf einen freiheitlichen Individualismus, sondern auf eine neue
Form religiös und jüdisch-national begründeter Gemeinschaftsbildung setzte.8
Geistiger Bezugspunkt dieser Gründung war Martin Buber, mit dem Gerson über
lange Jahre einen intensiven Briefwechsel führte und bei dem er vor allem einen Be-
griff für das ihn quälende Problem der Zerrissenheit und des sog. ›Intellektualismus‹
fand. 1919 hielt Martin Buber vor jüdischen Jugendverbänden eine Rede über eine
jüdisch verstandene Freiheit, in der es u. a. hieß:
Unter Intellektualisierung verstehe ich die Hypertrophie des aus dem Zusammenhang
des organischen Lebens herausgebrochenen, parasitär gewordenen Intellekts im Ge-
gensatz zu einer organischen Geistigkeit, in der sich die Totalität des Lebens umsetzt.
Diese Intellektualisierung macht einsam, denn nur von Mensch zu Mensch [...] nicht
7 SW VIII, S. 41
8 Vgl. Martin Gerson: Eine Jugend in Deutschland (ohne Jahr), Archiv des Kibbuz Hasorea,
Nr. 74 vom April 1982.
Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea 247
Als der 1878 geborene Martin Buber diese Rede hielt, war er immerhin älter als
vierzig Jahre und gerade dabei, sich vom überzeugten Befürworter eines deutschen
Sieges im ersten Weltkrieg zum Pazifisten zu wandeln.10 Martin Buber war darüber
hinaus Zionist und – dem nur vermeintlich zum Trotz – einer der wichtigsten, wenn
nicht gar der wichtigste Inspirator der nicht-zionistischen jüdischen Jugendbewe-
gung in der Zwischenkriegszeit. Eines allerdings war Buber nicht: er gehörte nicht zu
jenen realpolitisch gehärteten staatsbildenden Zionisten, denen klar war, dass man
einen jüdischen Staat nur durch wirtschaftlichen Aufbau oder militärische Gewalt
erringen konnte, für ihn war Zionismus letztlich eine spirituelle Haltung:
Zion ist Größeres als ein Stück Land in Vorderasien [...] Zion ist das neue Heiligtum im
Bilde des alten. [...] Es ist der Grundstein des messianischen Menschheitsbaus. [...] An
euch, an der Jugend wird es liegen, ob aus Palästina die Mitte der Menschheit oder ein
jüdisches Albanien wird, das Heil der Völker oder ein Spiel der Mächte. Zion wird nicht
in der Welt erstehen, wenn ihr es in der Seele nicht bereitet.11
Fragt man nun, bei welchen Jugendlichen derlei Ansprachen auf geistig und seelisch
fruchtbaren Boden fielen, so zeigt die Forschung schnell, dass es sich dabei um jü-
dische Jugendliche der Jahrgänge 1910–1920 handelte, im Allgemeinen deutsch-jü-
dischen Elternhäusern entstammten, wobei der übliche Hinweis, es habe sich dabei
um assimilierte Elternhäuser gehandelt, auf diese Elternhäuser nicht zutreffen dürf-
te. Denn immerhin zeigen stichprobenartig erhobene exemplarische Fälle, dass in
vielen Familien zumindest die Mütter noch stark an die religiös-jüdische Tradition
gebunden waren.12 Gleichwohl waren die Bindung an die und die Bewunderung für
die deutsche Kultur – von Schiller und Goethe zu Rilke und George – undiskutiert
und ungebrochen und stellten den über Jahrzehnte zunächst nicht in Frage gestellten
Horizont des eigenen Selbstverständnisses dar. Der gesellschaftliche Antisemitismus
der wilhelminischen Zeit, der sich in den Jahren der Weimarer Republik immer stär-
ker auszuprägen begann, konfrontierte diese Jugendlichen – zumal wenn sie männ-
lichen Geschlechts waren – mit zwei, eng miteinander verwobenen Entwicklungs-
aufgaben: einer Definition ihrer Männerrolle sowie einer Entscheidung, welcher
partikularen oder universalistischen Weltanschauung sie sich anschließen wollten.
Es war Hermann Meier-Cronemeyer, der auf den zunächst befremdenden Umstand
aufmerksam gemacht hat, dass die judenfeindlichen Schriften Hans Blühers, der den
Juden eine ›Männerbundschwäche‹ attestiert hatte, auf das Selbstverständnis der jü-
9 Martin Buber: Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion, Wien – Berlin 1919.
10 Vgl. Ullrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im ersten Weltkrieg, Berlin 2004, S. 139–149.
11 Martin Buber: Zion und die Jugend. Eine Ansprache, zit. nach: Hermann Meyer-Crone-
meyer: Jüdische Jugendbewegung, Teil 1 und 2, Germania Judaica, Köln 1969, S. 39.
12 R.Weigele: Die Werkleute als ein Beispiel der jüdischen Jugendbewegung in der Weimarer
Republik, Unveröffentlichte Magisterarbeit, Heidelberg 2004, S. 14 f.
248 Micha Brumlik
Der westjüdische Jüngling, der zum Bewusstsein seines Verhältnisses zur Gemeinschaft
erwacht, findet sich zwischen zwei Gemeinschaften gestellt, gleichsam zwischen sie
aufgeteilt ... Die eine, der er durch seine Geburt entstammt, die andere [...], die die Spra-
che geschaffen hat, die er spricht und in der er denkt, die die Kultur geschaffen hat, die
ihn gebildet hat ... Aber eines fehlt, ein Letztes, Innerlichstes, das fundamentale Prinzip
der wahrhaften Verbindung mit einer Volksgemeinschaft und doch nur selten in seiner
Bedeutung gekannt und bewusst: das Gemeinschaftsgedächtnis.14
13 Vgl. Meier-Cronemeyer, Jüdische Jugendbewegung (Anm. 11), S. 48, und Verf.: Jenseits des
Eigenen und des Fremden. In: Michael Gröhlich u. a. (Hg.): Transkulturalität und Pädago-
gik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine
pädagpgische Relevanz, München 2006, S. 57–68
14 Buber, Cheruth (Anm. 11), S. 39.
15 Vgl. Meier-Cronemeyer, Jüdische Jugendbewegung (Anm. 11), S. 46.
16 Vg. Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg, 1986.
Die Werkleute und der Kibbuz Hasorea 249
rungsprobe für ein neues Gemeinschafts- und Volkstum stattzufinden hatte. Indes:
»Unsere soziale Arbeit« so die Erinnerung einer der Gründerinnen von ›Hasorea‹,
Der Bund erstrebt die Errichtung einer eigenen Siedlung in Palästina. Die Sondertendenz
des Bundes innerhalb der zionistischen Bewegung ergibt sich durch die bewusste Pflege
der religiösen Werte des jüdischen Volkstums und seiner Geschichte. / Entsprechend
seiner palästinozentrischen Einstellung verbietet der Bund seinen Mitgliedern jede po-
litische Betätigung in Deutschland.18
In den darauf folgenden Jahren unterzogen sich die Mitglieder des Bundes beruf-
lichen Umschulungen und wanderten in kleinen Gruppen nach Palästina aus, um
schließlich 1936 den Kibbuz zu gründen. Hermann Gerson ging es bei alledem noch
1935 um nicht weniger als um die »Herausstellung eines neuen jüdischen Typs«:
»des Menschen, der aus der Versprengtheit und Substanzlosigkeit des Westjuden zu
jüdischer Verbundenheit gelangt«.19 Die Wirklichkeit im Palästina der Mandatszeit
und die Jahre danach sollten auch diese Wünsche und Vorstellungen widerlegen.
1983 gab ein Mitglied zu Protokoll, dass es doch eher um einen liberalen Wunsch
ging; und ein frühes Mitglied von ›Hasorea‹ äußert: »für die Kinder probierten wir
von vorneherein eine Gesellschaft zu schaffen, die ihnen die Möglichkeit gibt, wirk-
lich das, was in ihnen steckt, herauszuleben und zu entwickeln.«20
17 Walter B. Godenschweger/Fritz Vilmar: Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden
gründen den Kibbuz Hasorea. Frankfurt a. M. 1990, S. 47.
18 Zit. nach: Wiegele, Werkleute (Anm. 12), S. 66 f.
19 Hermann Gerson: Werkleute. Ein Weg jüdischer Jugend, Berlin 1935, S. 3
20 Kolb, Utopie (Anm. 1).
250 Micha Brumlik
Indes: gerade dieser Mann musste schließlich einräumen, dass seine vier Söhne
allesamt den Kibbuz verlassen hatten, zwei Söhne wanderten in die USA aus, wäh-
rend die beiden jüngeren Söhne zu streng orthodoxen Juden wurden. Einen Gene-
rationenkonflikt verneinte dieser Vater: »Und es gab eigentlich zwischen meinen
Söhnen und mir, besonders meinen jüngeren Söhnen, die fromm geworden sind,
[...] keine Spannungen. Das ist mehr in der Opposition gegen den Kibbuz als zu mir.
Vielleicht ist da der Kibbuz der Ersatzvater. Ja, vielleicht.«21
Wenn man dieser sehr kurz gehaltenen Fallgeschichte etwas entnehmen kann,
dann womöglich die Einsicht, dass ein interner, begrifflich notwendiger Zusammen-
hang zwischen dem Wunsch, einen neuen Menschentypus zu schaffen und einem
daraus erwachsenden Elitismus, einer Selbstprivilegierung jener, die diesen Wunsch
hegen, existiert sowie dass die ambivalent konflikthafte Beziehung zwischen Eltern
und Kindern jedenfalls dann, wenn sie demokratisch gerahmt ist, den totalitären
Überschuss dieses platonischen Willens wieder aufhebt.
21 Ebd., S. 5.
Autorinnen und Autoren
Wolfgang Braungart Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwis-
senschaft, Postfach 100 131, 33501 Bielefeld
Micha Brumlik Prof. Dr., Zentrum Jüdische Studien Berlin Brandenburg, Sophienstraße 22a,
10178 Berlin
Eckart Conze Prof. Dr., Philipps Universität Marburg, FB 06/Seminar für Neuere Geschichte,
Wilhelm-Röpke-Straße 6c, 35032 Marburg
Georg Doerr Dr., Eichenweg 22, 72076 Tübingen
Michael Fischer Dr. Dr., Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Zentrum für Populäre Kultur
und Musik, Rosastraße 17–19, 7908 Freiburg im Breisgau
Manfred Hettling Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für
Geschichte, 06099 Halle/Saale, Kröllwitzer Straße 44, 06120 Halle/Saale
Rainer Kolk Prof. Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Institut für Germanistik,
Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Am Hof 1d, 53113 Bonn
Malte Lorenzen Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft,
Postfach 100 131, 33501 Bielefeld
Michael Philipp Dr., Museum Barberini, Friedrich-Ebert-Straße 115, 14467 Potsdam
Reinhard Pohl Dr., »Gegenwind«, Magazin Verlag, Schwefelstraße 6, 24118 Kiel
Susanne Rappe-Weber Dr., Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen
Jugendbewegung Burg Ludwigstein, 37214 Witzenhausen
Barbara Stambolis Prof. Dr., Universität Paderborn, Fakultät für Kulturwissenschaften, Pohl-
weg 55, 33098 Paderborn
Hans-Ulrich Thamer Prof. em. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches
Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster
Justus H. Ulbricht Dr., Dresdner Geschichtsverein e. V., Wilsdruffer Straße 2a, 01067 Dresden
Daniel Watermann Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Geschichte,
06099 Halle/Saale, Kröllwitzer Straße 44, 06120 Halle/Saale