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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.

COM/WSNWS

Nr. 41 / 6. 10. 2018


Deutschland €5,10
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Polen (ISSN00387452) ZL 32,–
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Mein Kind, sein Handy und ich


Vom richtigen Umgang mit der Generation Smartphone
Dänemark dkr 53,–
BeNeLux € 5,80

Bayern vor der Wahl Elektroautos und Flammenwerfer Artenschutz


Fremd im eigenen Land: Was Tesla-Chef Elon Musk Die letzte Hoffnung
die CSU falsch gemacht hat denkt groß und liebt den Irrsinn für Elefanten
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Warum hatte man früher eigentlich


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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Steuern?
Betr.: Titel, Mekong, Frauen-SPIEGEL Lass ich machen.
Über kaum ein Thema wird in Familien so häufig diskutiert
wie über den Umgang mit dem Handy. Wann es benutzt
wird, wie lange, ob es noch ein hilfreiches Werkzeug ist
oder ob es den Nutzer eher zum Befehlsempfänger degra-
MARCO KASANG / DER SPIEGEL

diert. Braucht es Regeln für den Umgang mit dem Gerät


und, wenn ja, welche? Mit diesen Fragen hat sich ein Team
von SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteuren um Mi-
riam Olbrisch beschäftigt. Sie sahen sich in Familien um,
sprachen mit Experten und überprüften auch den eigenen
Umgang mit dem Smartphone. Olbrisch war zu Beginn
Olbrisch der Recherche überrascht, als sie las, dass Jugendliche
durchschnittlich 98-mal am Tag das Handy in die Hand
nehmen. Sie startete einen Selbstversuch, protokollierte ihr Nutzerverhalten – und
stellte fest, dass sie selbst täglich mehr als 90-mal zum Handy griff. Wie Jugendliche
in Deutschland mit dem Handy umgehen, welche Ratschläge Experten geben, erzählt
die Titelgeschichte. Seite 46

Der Mekong, Südostasiens längster Fluss, legt von seinem Ursprung im Hochland
Tibets bis zu seiner Mündung südlich von Ho-Chi-Minh-Stadt mehr als 4300 Kilo-
meter zurück, er verbindet China mit den fünf Ländern Laos, Myanmar, Thailand,
Kambodscha und Vietnam. Als SPIEGEL-Korrespondent Bernhard Zand mitten im
Monsun zu einer Reise entlang des Flusses aufbrach, erwartete er, dort auch auf ein
paar Europäer und Amerikaner zu stoßen. Statt-
dessen traf er an Ausländern fast nur Chinesen,
die dort Eisenbahnen errichten, Handel treiben,
Häuser bauen. »Der Westen ist in Südostasien
eher als ferne Erinnerung präsent«, sagt Zand,
»die Gegenwart wird von China geprägt.« Der
machtbewusste und reiche Nachbar dominiert
die Staaten am Mekong wirtschaftlich und zu-
nehmend auch politisch. »Was wir hier in den
nächsten Jahren erleben werden«, erklärte ein
chinesischer Unternehmer Zand in Laos, »ist
eine Invasion.« Seite 94 Zand in Laos

Vor 100 Jahren erstritten die Frauen in Deutschland das Wahlrecht; vor 50 Jahren
begann mit Tomaten, geworfen von einer Studentin auf Studenten, die neue Frauen-
bewegung; vor einem Jahr erreichte die #MeToo-Debatte Deutschland. Das sind drei
VLH.
gute Gründe, um in einer Sonderausgabe des SPIEGEL zu beschreiben und zu analy-
sieren, wie es um die Rolle der Frauen in unserer Gesellschaft bestellt ist, wie es um
die Gleichberechtigung steht und auch um Deutschland selbst. Wie modern ist dieses
Land wirklich? Konzipiert wurde
diese Ausgabe von der Redakteu-
rin Barbara Supp, geboren 1958, Wir machen Ihre
umgesetzt hat sie die Ideen mit
ihrer Kollegin Cathrin Schmiegel,
geboren 1990. Gemeinsam blicken
Steuererklärung.
sie mit anderen Autorinnen und
Autoren auf das, was in diesem
Land geschieht, und haben dabei
voneinander gelernt. Supp erfuhr von Schmiegel einiges über das Verhalten im Shit-
storm, Schmiegel erfuhr von Supp einiges über die Deutung problematischer Politiker
wie Horst Seehofer. Das Heft erscheint am Mittwoch, es wird mit acht verschiedenen
Titelbildern ausgeliefert, Abonnenten erhalten ihre Variante nach dem Zufallsprinzip.
Außerdem beginnt bereits am Montag die Themenwoche #frauenland mit Beiträgen
auf SPIEGEL ONLINE, SPIEGEL TV und den Social-Media-Kanälen.
www.vlh.de
DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 3
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
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Inhalt
72. Jahrgang | Heft 41 | 6. Oktober 2018

Titel Pressefreiheit Warum der


Journalist Adil Yiğit
Familie Viele Jugendliche mit einem T-Shirt die Presse-
leben durch ihr Smartphone – konferenz des türkischen
was macht das mit ihnen? . . . 46 Präsidenten störte . . . . . . . . . . 38

Regeln In Frankreich ist Strafjustiz Ein Priester


das Handyverbot bei Eltern soll die Kirche um Hundert-
und Lehrern beliebt . . . . . . . . 53 tausende Euro betrogen
und das Geld sofort wieder
Erziehung Warum ich ausgegeben haben . . . . . . . . . . 40
meinem Sohn ein
Smartphone schenke ....... 54 Forschung Die fragwürdige
Kooperation des Instituts
für Zeitgeschichte mit dem
Deutschland Bundesnachrichtendienst . . . 42

Leitartikel Die Politik sollte Föderalismus Landespolitiker


die Autobranche endlich versprechen ihren

MANNGOLD / IMAGO
zu ihrem Glück zwingen . . . . . 6 Bürgern neue Feiertage . . . . . 44

Meinung Im Zweifel links /


So gesehen: Die AfD hat jetzt Gesellschaft
auch ein Herz für Juden . . . . . 8

SPD-Politiker rügen Rüstungs-


Die große Entfremdung Früher war alles schlechter:
Amputationen /
exporte nach Saudi-Arabien / Der CSU droht bei der Landtagswahl am Was macht ein Pilzberater
Männerquote für Medizin- ohne Pilze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
studenten? / Klöckner ohne Elan 14. Oktober ein Desaster: ein Ergebnis weit unter
für gesündere Bienen . . . . . . . 10 40 Prozent. Ministerpräsident Markus Söder Eine Meldung und ihre
versucht im Wahlkampf zu retten, was zu retten Geschichte Wie ein Vater im
Parteien Der unaufhaltsame ist. Doch die Ursachen für den Niedergang Wattenmeer um das Leben
Niedergang der CSU ....... 14 seiner Söhne kämpfte . . . . . . . 57
liegen tief. Seiten 14, 22
Bayern Markus Söder ist der Provinz Die Einwohner des
unbeliebteste Ministerpräsident schrumpfenden Dorfes
der Republik – nun changiert Nordhalben ringen um die
er zwischen Polterer und nach- Zukunft ihrer Heimat . . . . . . . 58
denklichem Staatsmann . . . . 22
Ortstermin In Neuhardenberg
Union Der CDU-Abgeordnete wird das Jubiläum
Norbert Röttgen über zum 40. Jahrestag von
die Fehler der Ära Merkel . . . 26 Sigmund Jähns
Weltraumflug gefeiert . . . . . . 63
Koalition Das Geheimtreffen
von SPD-Frauen mit der
Kanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Wirtschaft
REUTERS

Rechtsextremismus Wer Im Hambacher Forst lagert


steckt hinter der mutmaßlichen mehr Braunkohle, als
Terrorzelle »Revolution Genie und Wahn das Energieunternehmen
Chemnitz«? . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 RWE je braucht / Bundes-
Mit Elektroautos und Raketen will Elon Musk die regierung erwartet niedrigeres
Antisemitismus SPIEGEL- Welt verändern. Aber sein impulsiver Charakter Wirtschaftswachstum . . . . . . . 64
Gespräch mit der ehemaligen
Zentralratsvorsitzenden
wird zum Risiko für seine Milliardenunternehmen Karrieren Der ebenso geniale
Charlotte Knobloch über den Tesla und SpaceX. Die US-Börsenaufsicht wie irrlichternde
rechten Hass in Deutschland 34 hat Musks Alleinherrschaft nun gebrochen. Seite 66 Unternehmer Elon Musk ... 66

4 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Währungsunion Der europäi- Wissenschaft


sche Rettungsschirm ESM wird
wichtiger und mächtiger . . . . 72 Wem die neue Immuntherapie
gegen Krebs heute schon hilft /
Handel Firmenchef Dirk Erotik in der Aufklärung /
Roßmann im SPIEGEL- Wie soll Psychoterror bestraft
Gespräch über die Schwierig- werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
keiten, als Unternehmer
Zivilcourage zu zeigen . . . . . . 76 Artenschutz Trotz des Banns
wollen Millionen Chinesen
Konzerne Deutsche Betriebe nicht auf Elfenbein verzichten –
kommen auffallend das Töten der Elefanten
gut in Ungarn zurecht ...... 80 geht weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Mathematik Eines der größten


Ausland Rätsel der Zahlentheorie ist

MICHAELA PLAMBECK
gelöst – oder doch nicht? . . . 110
Putins Agenten fürs Grobe /
Eine filmische Attacke gegen Klima Der Physiker Jochem
die Kirche entzweit Polen . . . 82 Marotzke über einen Fehler
in den Szenarien zur Erd-
Großbritannien Wie Regierungs- erwärmung, der erfreut . . . 111
chefin Theresa May mit Jagd nach dem weißen Gold
der Europäischen Union doch Forensik Rechtsmediziner
noch eine Einigung für Noch ziehen eine halbe Million Elefanten durch wollen mithilfe der
den Brexit finden könnte . . . 84 Afrikas Savannen, aber die Population schwindet Herzschrittmacher von Toten
Verbrechen aufklären . . . . . 112
USA Der Rechercheur und
rasant; ihre Stoßzähne verlocken Wilderer zum
Pulitzerpreisträger Töten. China hat nun den Handel mit Elfenbein
David Cay Johnston verboten – kann dies die Tiere retten? Seite 106 Kultur
über Donald Trumps
dubiose Finanzen . . . . . . . . . . . 88 Glosse: Schafft hundert
Literaturnobelpreise! / Streit
Analyse Auseinandersetzung um Raubkunst / Kolumne:
um US-amerikanischen »Ich bin kein typischer Zur Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Richter Brett Kavanaugh
könnte der Republikanischen Kapitalist« Europa Der Historiker Heinrich
Partei nützen . . . . . . . . . . . . . . . 90 August Winkler fordert
Im SPIEGEL-Gespräch erzählt der Drogerie- ein liberales Kerneuropa . . . 116
Irak Stecken Islamisten pionier Dirk Roßmann, wie ihm die Psychologie aus
hinter mysteriösen Morden mancher Lebenskrise half und warum Manager Verlage Warum Rowohlt
an bekannten Frauen? . . . . . . 92 ohne Leitung auf
auch politische Verantwortung tragen. Seite 76
die Buchmesse geht . . . . . . . 122
Südostasien Am Flusslauf
des Mekong lässt Literatur Ein Roman erzählt
sich eine Welt besichtigen, die ungewöhnliche
in der China seine eigenen Freundschaft zwischen
Regeln durchsetzt . . . . . . . . . . . 94 Arthur Schnitzler
und Sigmund Freud . . . . . . . 124
MICHAEL APPELT / DER SPIEGEL

Sport IdentitätSPIEGEL-Gespräch
mit der Philosophin Isolde
Weltmeisterinnen in Charim über die pluralisierte
Männerdomänen / Magische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 128
Momente: Triathlon-
Weltmeister Jan Frodeno über Fernsehkritik »The Roma-
seinen schönsten Sieg . . . . . . . 99 noffs«, die neue Serie von
Matthew Weiner . . . . . . . . . . 131
Fußball Wie das Beraterteam »Niemand bleibt, wie er war«
von Cristiano Ronaldo
die Amerikanerin Kathryn Die Migration verändere nicht nur das Land, Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Mayorga zum Schweigen sondern jeden Einzelnen, sagt die Wiener Impressum, Leserservice . . . 132
brachte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Philosophin Isolde Charim im SPIEGEL-Gespräch. Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Nachruf Graciano Rocchigiani »Das ist die Zumutung, mit der wir leben Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
(1963 bis 2018) . . . . . . . . . . . . . 103 müssen.« Denn ein Zurück gebe es nicht. Seite 128 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 138

Titelbild-Illustration: Francesco Ciccolella für den SPIEGEL 5


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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hilfe zum Aussterben


Leitartikel Die Regierung muss die Autobosse härter anpacken, wenn sie die Industrie retten will.

ie Autolobbyisten haben sich ihre Boni für dieses die Regierung für diesen Regelverstoß Strafen von bis zu

D Jahr redlich verdient. Ihren vorerst letzten großen


Erfolg errangen sie in der Nacht von Montag
auf Dienstag. Sie waren die klaren Gewinner des
Dieselgipfels im Kanzleramt – auch wenn die Bundes-
5000 Euro pro Auto verlangen. Diesen Trumpf aber traut
sie sich bislang nicht zu ziehen.
Ähnlich kraftlos tritt sie den Konzernen auch beim
Klimaschutz entgegen. Svenja Schulze wird am Dienstag
regierung ihren Kompromiss später als einen Durchbruch nach Brüssel zum EU-Umweltrat fahren. Im Gepäck
für Millionen Autofahrer verkaufte. hat sie den Vorschlag Deutschlands, die CO2-Grenzwerte
In Wahrheit ist die Umtauschaktion älterer gegen neuerer für Pkw bis 2030 um 30 Prozent zu senken. Ursprünglich
Dieselfahrzeuge nichts anderes als ein gigantisches Absatz- wollte sie diese um 45 Prozent reduzieren, was für
programm für Dieselproduzenten. Die Höfe der Konzerne die Erreichung der deutschen Klimaziele dringend not-
und Autohändler sind übervoll mit Fahrzeugen, die aus wendig wäre. Doch der Druck von Autokonzernen
Angst vor drohenden Fahrverboten niemand kaufen moch- und Betriebsräten zeigte auch hier Wirkung.
te. Seit Montagnacht können Bei beiden Vorgängen, den
sich die Autobauer berechtigte Dieselfahrverboten und den
Hoffnungen machen, diese doch CO2-Grenzwerten, erliegt die
noch loszuwerden. Behilflich Politik einem schweren Irrtum.
waren ihnen Bundesverkehrs- Sie glaubt, den Konzernen mit
minister Andreas Scheuer (CSU) laschen Grenzwerten und laxer
und Svenja Schulze, seine SPD- Aufsicht einen Gefallen zu tun.
Kollegin aus dem Umweltres- Dabei würde sie ihnen genau
sort. Kauft diese Wagen, und ihr mit dem Gegenteil helfen: Der
braucht keine Angst vor Fahr- Staat würde die Autoindustrie
verboten zu haben, so lautete mit einer strengeren Regulie-
die Botschaft. Dabei müssten rung stärken.
sie selbst wissen, dass ihr Ver- Das ist die Lehre aus dem
ILLUSTRATION: WOLFGANG AMMER

sprechen unseriös ist. Dieselskandal. Der millionen-


In einer Reihe von Städten fache Betrug machte es den
sind die Schadstoffkonzentratio- Herstellern möglich, an einer
nen so hoch, dass sie auch in Technik festzuhalten, die zum
wenigen Jahren noch nicht un- Aussterben verdammt ist.
ter die vorgeschriebenen Grenz- Der Staat schaute dabei zu
werte gesunken sein dürften. lange einfach weg. Deshalb ist
Sie sinken nicht genug, weil er mitverantwortlich dafür,
auch viele der neuen Fahrzeuge, dass die Autoindustrie viel zu
die sich ahnungslose Kunden jetzt bei der Tauschaktion spät auf die Technologie der Zukunft setzte: den Elektro-
zulegen können, zu viele Stickoxide ausstoßen. Kein Politi- motor. Die japanischen Hersteller sind mit ihren Hybrid-
ker kann den Neubesitzern garantieren, dass Verwaltungs- autos längst weiter. China will die Vormacht der deutschen
richter in einem oder zwei Jahren nicht auch für diese Au- Konzerne mit der Elektrifizierung des Antriebs brechen
tos Fahrverbote aussprechen. und sichert sich die Rohstoffe für die Produktion von Batte-
Es ist atemberaubend, wie milde die Spitzen des Staates rien. Die Deutschen hingegen steuern halbherzig in das
die Autoindustrie wieder mal davonkommen ließen. Man neue Zeitalter. Für diese Erkenntnis reicht der Besuch im
»erwarte« von den Konzernen, Dieselautos mit Stickoxid- Verkaufsraum deutscher Autohersteller: Wer dort einen
Katalysatoren nachzurüsten, heißt es vorsichtig im jüngs- Familienwagen mit Elektromotor sucht, wird kaum fündig.
ten Kompromisspapier. Schon am nächsten Tag erklären Strenge Kohlendioxid-Grenzwerte der EU würden die
die ersten beiden Autohersteller, dass sie bei dieser Aktion deutsche Autoindustrie zwingen, endlich das Ende des
auf keinen Fall mitmachen werden. Verbrennungsmotors einzuleiten. Denn nur mit Elektro-
Dabei könnte die Bundesregierung die Autokonzerne fahrzeugen ließen sich die gesetzlichen Bestimmungen ein-
sehr wohl zur Nachrüstung zwingen. Es läge in ihrer Macht, halten. Beim EU-Umweltrat in der kommenden Woche
den Herstellern hohe Strafen aufzubrummen. In den ver- könnte sich Ministerin Schulze also um die Zukunft der
gangenen Monaten wurden illegale Abgasmanipulationen deutschen Automobilindustrie verdient machen und für hö-
bei Hunderttausenden Autos festgestellt, unter anderem bei here CO2-Grenzwerte stimmen. Sie täte nicht nur der Um-
Daimler und Audi. Diese Fahrzeuge mussten bereits per welt einen Gefallen, sondern auch den mehr als 800 000
amtlichem Rückruf in die Werkstätten. Zusätzlich könnte Beschäftigten der deutschen Autobauer. Gerald Traufetter

6 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Meinung So gesehen

»Betriebsräte
Jakob Augstein Im Zweifel links
in der FDP«
Der Schlaf der Vernunft Was die anderen Parteien von
der AfD lernen können
Wenn man sich heute mit mystische Erleuchtung ersetzen nüch-
Film- oder Tonaufnahmen terne Schlussfolgerungen. Die Logik ● An diesem Sonntag wird die deut-
des Mannes befasst, den kennt die Schlussregel des Modus sche Parteienlandschaft um eine
die Deutschen »Führer« ponens: Wenn a zutrifft und b aus a Gruppierung reicher sein. Bislang
nannten, wundert man folgt, dann trifft auch b zu. Wir wissen, gab es so langweilig-logische Verei-
sich zwangsläufig: Diesem das gilt nicht in Träumen, im Märchen, nigungen wie die »Arbeitsgemein-
Wahnsinnigen sind wir gefolgt? in der Dichtung – zu unserem Entset- schaft Sozialdemokratischer Frauen«
Und dann wartet man wieder auf den zen müssen wir feststellen: Inzwischen oder die »Mittelstands-Union«,
nächsten Tweet von Donald Trump. gilt es auch nicht mehr in der Politik. die in der CDU irgendwas mit Mittel-
Oder man liest Berichte vom Parteitag Das Stammesdenken folgt anderen stand macht. Die AfD will auch
der britischen Konservativen. Regeln: Wir haben unseren glorrei- in dieser Hinsicht erfrischend neue
Jacob Rees-Mogg, den die britischen chen Führer, die ihren verruchten Wege gehen. Unter ihrem Dach
Boulevardzeitungen lieben, sagte dort, Despoten. Wir unsere großartige Reli- wird sich am Sonntag nicht etwa
es müsse Schluss sein mit der »Unter- gion, die ihren primitiven Aberglau- der »Arbeitskreis besorgter Bürger«
werfung« Großbritanniens unter die ben. Wir sind ein nobles Volk, die nur
EU. Wenn das Königreich erst einmal rückschrittliche Wilde. Unsere Solda-
nach seinen eigenen Regeln leben ten sind heldenhaft, ihre brutal.
dürfe, »hat es wieder den Platz in der Im Dunkeln blühen die Verschwö-
Welt, den es verdient«. rungstheorien. Im Westen haben die
Gewiss, der amerikanische Präsident Leute Angst vor Muslimen, im Osten
ist nicht der deutsche Diktator und haben sie Angst vor Muslimen und
der Brexit nicht der Zweite Weltkrieg. Schwulen, vor den Juden haben sowie-
Aber die Fähigkeit, mehr oder weniger so alle Angst. Vom Verbündeten zum
Wahnsinnige ins Amt zu befördern Gegner ist es nur ein kleiner Schritt.
und sich als Gesellschaft selbst ohne Man geht zusammen auf die Jagd und
Not massiven Schaden zuzufügen, fällt dann übereinander her. Gestern gründen, das wäre ja fad, sondern,
hat offenbar nicht nachgelassen. Im verteufeln italienische und österrei- halten Sie sich fest, die »Juden in
Gegenteil. Wir beobachten einen chische Rechtspopulisten noch gemein- der AfD«.
neuen Siegeszug der Unvernunft. sam Brüssel und die Migration. Heute In einer Erklärung schreiben die
Trump und die Brexiteers haben zanken sie um Südtirol. Gründer, »dass eine Allianz der
im Westen einer neuen Form der Zur Panik besteht jeder Anlass. Rechtskonservativen in Europa mit
Epistemologie den Weg bereitet: Es Denn was die anderen können, das dem Judentum äußerst naheliegt«.
geht nicht darum, die Wirklichkeit können die Deutschen schon lange. Natürlich. Bei Lichte betrachtet, gibt
zu beschreiben – sondern eine neue zu es keine bessere Heimat für die in
erzählen und sie in der Erzählung An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Deutschland einst verfolgten Juden
zu erschaffen. Instinktreaktionen und Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. als eine Partei, die die seit dem Ur-
vater Abraham vorgeschriebene
rituelle Beschneidung jüdischer Män-
Kittihawk ner ablehnt und die immer wieder
Probleme mit offenen Antisemiten
in ihren Reihen hat. »Ich begrüße
diese Gründung«, sagt der AfD-
Mann Björn Höcke, der das Holo-
caust-Mahnmal in Berlin ein »Mahn-
mal der Schande« nannte. »Vielfalt
ist die Stärke der AfD.«
Vielleicht sollten die anderen Par-
teien diesem Beispiel folgen. Wie
wäre es mit einer »Arbeitsgemein-
schaft grüner Porsche-Fahrer«? Den
»Betriebsräten in der FDP«? Oder
der »Interessengemeinschaft antika-
pitalistischer Hedgefonds-Manager«
in der Linken? Klingt bekloppt? Egal.
Von der AfD lernen heißt schließlich
siegen lernen. Christoph Schult

8 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Wenn ein Hashtag einen


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Deutschland
»Während die CSU fröhlich Bayern modernisierte, versäumte sie es, sich selbst zu modernisieren.« ‣ S. 14

STEFAN SAUER / PICTURE ALLIANCE


Küstenschutzboot bei der Verladung in Mukran bei Sassnitz

Diplomatie

SPD-Politiker gegen Rüstungsexporte


Regierung erlaubt Ausfuhr von Radarsystem und Patrouillenbooten nach Saudi-Arabien.

G Die jüngsten Waffenexporte nach Saudi-Arabien alarmie- genehmigt, Riad hat noch weitere bestellt. Auch die diploma-
ren die SPD-Fraktion. »Wir bezweifeln, dass die Lieferungen tische Annäherung zwischen Außenminister Heiko Maas
vom Koalitionsvertrag gedeckt sind«, kritisiert der stellvertre- (SPD) und seinem Amtskollegen Adel al-Jubeir sehen viele
tende Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. »Für uns ist es Genossen kritisch. Mittels einer Abstimmung wollen die
eine Frage der Glaubwürdigkeit, dass bis auf Weiteres keine SPD-Politiker die Fraktion nun auf einen restriktiven Kurs
Waffen mehr nach Saudi-Arabien geliefert werden«, sagt der einschwören. »Eine mögliche Beteiligung von deutschen
zuständige Berichterstatter Florian Post. Obwohl im Koaliti- Schiffen an der Seeblockade gegen den Jemen, die zu einer
onsvertrag auf Drängen der SPD verankert wurde, dass keine unerträglichen humanitären Katastrophe geführt hat, ist
Waffen mehr in Länder exportiert werden, die unmittelbar nicht nur moralisch nicht akzeptabel, sondern auch völker-
am Jemenkrieg beteiligt sind, erlaubte die Bundesregierung rechtswidrig«, schreibt Post in einem Brief an Fraktions-
jüngst den Verkauf des Radarsystems »Cobra«. Zudem wur- chefin Andrea Nahles. Es sei daher »nicht vertretbar, weitere
de die Ausfuhr von acht Patrouillenbooten an Saudi-Arabien Boote nach Saudi-Arabien zu liefern«, so Post. CSC, MGB, VME

Union Gremiums am Montag nach der Wahl dung immer »die Namen von drei Poli-
CSU-Chef Seehofer angezählt vorbereitet werden. Das wäre ein bei- tikern aus Berlin« nennen. Gemeint war
spielloser Vorgang und käme einer Ent- neben Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
G Kurz vor der bayerischen Landtags- machtung des Parteichefs gleich. Auch und CSU-Landesgruppenchef Alexander
wahl machen die Gegner von Parteichef ein Sturz Seehofers ist nicht ausgeschlos- Dobrindt auch Bundesinnenminister
Horst Seehofer in der CSU mobil. Mehre- sen. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Seehofer. Aus dessen Umfeld heißt es,
re Mitglieder des CSU-Vorstands wollen Peter Ramsauer sagte am vergangenen der CSU-Chef wolle dem Druck nicht
Seehofer von möglichen Koalitionsver- Montag im Parteivorstand, ehemalige weichen. Er sei gewählter Parteivor-
handlungen ausschließen. Ein entspre- Wähler, die sich von der Bayern-Partei sitzender und könne nicht einfach ab-
chender Beschluss soll für die Sitzung des abgewandt hätten, würden als Begrün- gesetzt werden. RAN

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Gesundheit überall die Parität der Geschlechter, in Kulturpolitik


Männerquote für der medizinischen Versorgung schon des- Berlin finanziert
halb, weil auch unsere Patienten Männer
Medizinstudenten und Frauen sind. Diese Parität wünsche Kissinger-Verehrung
ich mir bis in die Chefetagen: In meinem
Claudia Schmidtke, 52, Profes- Gebiet, der Herzchirurgie, gibt es G Das Auswärtige Amt (AA) unter-
sorin für Herzchirurgie, CDU- deutschlandweit keine Chefärztin. stützt das »Kissinger Center for Global
Bundestagsabgeordnete und SPIEGEL: Viele Mediziner versorgen Affairs« an der School of International
JAN KOPETZKY

Mitglied im Gesundheitsaus- keine Patienten in Deutschland, sondern Advanced Studies in Washington. Mit
schuss, über Maßnahmen zur gehen ins Ausland, in die Pharmaindus- drei Millionen Euro finanziert das AA
besseren Patientenversorgung trie oder zu Versicherungen. Wie groß ist bis 2021 einen Helmut-Schmidt-Lehr-
das Problem? stuhl am Center. Lange hatte das Amt
SPIEGEL: Der Ärztemangel nimmt insbe- Schmidtke: Jedes Jahr verlieren wir rund bestritten, Mittel für das Center zur
sondere auf dem Land zu; Sie fordern als 2000 Ärzte ans Ausland! Es gibt eine Verfügung zu stellen, das Henry Kissin-
Gegenmaßnahme eine Männerquote für etwas veraltete Zahl, von 2003, nach der ger ehren soll. Der frühere Nationale
Studenten. Warum? fast 40 Prozent derer, die ein Medizinstu- Sicherheitsberater und US-Außenminis-
Schmidtke: Etwa zwei Drittel der heuti- dium beginnen, am Ende nicht als Ärzte ter war mitverantwortlich für die Bom-
gen Studienanfänger sind weiblich, was praktizieren. bardierung des neutralen Kambodschas
daran liegt, dass der Numerus clausus vie- SPIEGEL: Sollte man nicht einfach mehr
lerorts bei 1,0 liegt und Mädchen die bes- Mediziner ausbilden und später das Stu-
seren Abiturnoten haben. Später fällt es dium splitten in einen Zweig für Prakti-
jungen Eltern schwer, Beruf und Familie ker und einen für alle anderen?
zu vereinbaren; viele der Mütter unter Schmidtke: Eine Erhöhung der Studien-
den Ärztinnen können nur Teilzeit arbei- plätze wäre gewiss sinnvoll. Aber die
ten. Auch die Facharztausbildung fällt Finanzierung ist schwierig: Ein Medizin-
meist in die Kinderphase. Es wäre mir lie- studium kostet mindestens 200 000 Euro.
ber, wenn wir den Mangel durch bessere Die Kosten tragen die Bundesländer.
Vereinbarkeit ausgleichen könnten, aber SPIEGEL: An der Universität Lübeck wäh-
dort sind wir noch lange nicht. Wenn wir len Sie Medizinstudenten mit aus. Kön-
daher nicht mehr Männer an den Hoch- nen Sie bei der Auswahl Weichen stellen
schulen zulassen, fürchte ich zukünftig für die spätere Versorgung?
existenzielle Versorgungsprobleme. Schmidtke: Dagegen, dass sich mehr
SPIEGEL: Wäre eine Männerquote für Frauen vorstellen, wegen ihrer guten
Studierende denn rechtlich zulässig? Noten, können wir nichts tun. Aber wer
Schmidtke: Wenn es Frauenquoten für sagt, er oder sie möchte später eine Pra-
Aufsichtsräte gibt, warum sollte es keine xis auf dem Land übernehmen: Den soll-

SVEN SIMON
für Hochschulen geben? Wir brauchen ten wir künftig bevorzugen. AB

Kissinger, Schmidt in Washington, D.C., 1974


Dieselkompromiss derum mehr Schadstoffe produzieren.
Umweltbundesamt Das UBA ist eine nachgeordnete Behörde 1969, die Verlängerung des Vietnam-
des Bundesumweltministeriums, dessen kriegs und die Machtübernahme des
zweifelt an Wirksamkeit Ministerin Svenja Schulze (SPD) den Diktators Augusto Pinochet in Chile
Kompromiss mit ausgehandelt hat. Er 1973. Wie ein Tonbandmitschnitt
G Die Beschlüsse der Koalition auf dem sieht neben Tauschprämien auch eine belegt, wünschte er dem sozialdemo-
Dieselgipfel am vorigen Montag reichen Nachrüstung älterer Diesel mit Stickoxid- kratischen Kanzler Willy Brandt den
mutmaßlich nicht aus, um Fahrverbote in katalysatoren vor, sofern dies technisch Tod an den Hals (SPIEGEL 20/2014).
allen deutschen Städten zu verhindern. möglich ist. Die Details dieser Maßnah- Als das AA und das Bundesverteidi-
Dies befürchtet das Umweltbundesamt me sind noch nicht geregelt, genauso gungsministerium der Universität Bonn
(UBA). »Wir sehen nicht, dass sich damit wenig wie die Frage, ob die Autokonzer- 2013 eine »Henry-Kissinger-Professur
die Grenzwerte bis 2020 einhalten lassen ne dieses Angebot bezahlen. FRI, MAB, GT für Internationale Beziehungen und
werden«, sagt Marion Wichmann-Fiebig, Völkerrechtsordnung« stifteten, gab es
Leiterin der Abteilung Luft. Skeptisch breite Proteste. Die derzeitige Zuwen-
sind die Beamten insbesondere, ob die dung für das Kissinger Center geht auf
Tauschaktion älterer gegen neuere Diesel- eine Initiative von vor zwei Jahren
fahrzeuge sich als wirksam erweisen zurück, an der Kissinger selbst beteiligt
SNAPSHOT-PHOTOGRAPHY / ULLSTEIN BILD

wird. Schon der Autotausch, der nach war. Mit dabei: Bundestagspräsident
dem Dieselgipfel 2017 anlief, brachte Wolfgang Schäuble (CDU), damals
wenig positive Auswirkungen auf die Finanzminister, und Bundespräsident
Luftqualität, wie das UBA feststellte. Frank-Walter Steinmeier (SPD), seiner-
»Die Lösung, die wir jetzt haben, ist belie- zeit Außenminister. Der Umweg über
big unkonkret«, moniert Expertin Wich- einen Schmidt-Lehrstuhl ist erklärbar:
mann-Fiebig. Auf Kritik stößt bei ihr, Der SPD-Politiker und Kissinger waren
dass die Prämien auf Neufahrzeuge befreundet. Erste Lehrstuhlinhaberin
besonders hoch ausfallen, wenn die Kun- ist die Historikerin Kristina Spohr, eine
den größere Modelle wählen – die wie- Demonstrant in Berlin im März Bewunderin der beiden Politiker. KLW

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 11


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Regierung
Spott über Spahn
G Die USA-Reise von Gesundheitsmi-
nister Jens Spahn (CDU) sorgt im Aus-
wärtigen Amt für amüsiertes Kopfschüt-
teln. Unter Berliner Diplomaten hieß es
nach der Kurzvisite Spahns in Washing-
ton, D. C., Anfang der Woche, der Trip
habe eher der Profilierung des CDU-
Manns denn relevanten Sachgesprä-
chen gedient. Spahn hatte während
seiner Zweitagesreise in die amerikani-
sche Hauptstadt auch einen Termin bei
John Bolton, dem Sicherheitsberater
von US-Präsident Donald Trump. Das
Treffen im Weißen Haus wollte der mit
Spahn eng befreundete US-Botschafter
in Berlin, Richard Grenell, anbahnen.
Entgegen den Gepflogenheiten wurde
die Botschaft in Washington dabei

PATRICK PLEUL / DPA


zunächst nicht einbezogen. Der US-
Botschafter avisierte Spahn als auf-
strebenden Konservativen, treuen
Amerika-Freund und möglichen künfti-
gen Kanzler. Allerdings reichte Gre-
Glyphosat krankheitsanfälliger werden. Grund sei nells Einfluss offenbar nicht so weit wie
Die Trägheit die Veränderung der Darmflora der Tiere erhofft: Als der Termin vom Weißen
durch das Herbizid. Die Studie werde Haus bis zuletzt nicht bestätigt wurde,
der Bienenministerin vom zuständigen Julius-Kühn-Institut schaltete Spahn die deutsche Botschaft
»intensiv geprüft«, so das BMEL, um ein. Kurzfristig wurde das Treffen dann
G Die für die Bewertung von Pflanzen- »notwendige weitere Schritte im Rahmen möglich. Seinen Amtskollegen, US-
schutzmitteln zuständige Bundesbehörde der Zulassung oder dem Bienenschutz« Gesundheitsminister Alex Michael
sieht nach erster Prüfung einer neuen Stu- zu ermitteln. Den Grünen ist das zu Azar, traf Spahn in Washington indes
die zur Bienentoxizität des umstrittenen wenig. »Wenn dieser Paukenschlag die nicht; Azar war nicht in der Stadt. Mit
Pestizids Glyphosat »keinen unmittel- selbst ernannte Bienenministerin nicht Bolton, einem Hardliner der Trump-
baren Handlungsbedarf«. So erklärte es weckt«, fragt der grüne Bundestagsabge- Administration, tauschte sich Spahn
das Bundesministerium für Ernährung ordnete Harald Ebner, »was muss dann nach eigenen Angaben über das Thema
und Landwirtschaft (BMEL) in einem noch passieren, damit Julia Klöckner Bioterrorismus und Epidemien aus.
internen Schreiben. Ende September ver- endlich Handlungsbedarf sieht und den Unter den Diplomaten in Berlin
öffentlichte das Wissenschaftsmagazin versprochenen Glyphosat-Ausstieg wirk- wundert man sich, dass dieses Thema
»Proceedings of the National Academy of lich angeht?« In 2017 war die in Deutsch- bei den regelmäßigen Gesprächen zur
Sciences« die Studie eines Biologenteams land abgesetzte Menge des Glyphosat- Sicherheitskooperation zwischen den
der US-Universität Austin. Derzufolge Wirkstoffs um fast ein Viertel angestiegen Vereinigten Staaten und Deutschland
könnte das weltweit vertriebene Glypho- gegenüber dem Vorjahr: von 3780 auf bisher nie auf der Tagesordnung
sat eine Ursache dafür sein, dass Bienen 4694 Tonnen. AB stand. MGB, RAN

AfD-Wahlkampf seit Kurzem eine »Conservare Communi- sagt Nieschalk. Wer sich hinter der
Propaganda von der cations GmbH« aus Hamburg auf. Doch »Conservare Communications« verbirgt,
sowohl das Handelsregister als auch das wollte David Bendels, Chefredakteur des
Briefkastenfirma zuständige Gewerbeamt sowie die Ham- »Deutschland Kuriers«, nicht sagen; eine
burger Handelskammer teilen mit, dass SPIEGEL-Anfrage zu Geschäftsführung
G Den Machern des AfD-nahen Propa- ihnen die Firma nicht bekannt sei. Bei der und Eigentümern des Unternehmens ließ
gandablatts »Deutschland Kurier« droht angegebenen Firmenanschrift handelt es er unbeantwortet. Ähnlich wortkarg gab
juristischer Ärger. Die Hamburger Behör- sich um eine Briefkastenadresse mit Post- sich Bendels in der Vergangenheit über
de für Kultur und Medien prüft eine mög- weiterleitung. »Das Impressum des die Finanziers seines »Vereins zur Erhal-
liche »Verletzung des Impressumrechts ›Deutschland Kuriers‹ erfüllt nicht einmal tung der Rechtsstaatlichkeit und der bür-
nach Hamburgischem Pressegesetz«, wie die gesetzlichen Mindestanforderungen«, gerlichen Freiheiten«, der die AfD seit
ein Behördensprecher mitteilt. Anlass ist urteilt der Anwalt Malte Nieschalk, 2016 mit millionenschweren Werbekam-
eine Änderung im Impressum der Publi- Experte für Presserecht in Berlin. Es fehle pagnen unterstützt und bis vor Kurzem
kation, die im laufenden Landtagswahl- nicht nur eine ladungsfähige Adresse des als Herausgeber des »Deutschland Ku-
kampf in Bayern bereits an Zehntausende verantwortlichen Redakteurs, sondern riers« fungierte (SPIEGEL Nr. 20/2018). Bei
Haushalte verteilt und in der zur Wahl auch ein gesetzlicher Vertreter des he- Verstößen gegen die Impressumspflicht
der AfD aufgerufen wurde. Als Herausge- rausgebenden Verlages. »Da ist jetzt die droht nach dem Telemediengesetz eine Geld-
ber der Zeitung und ihrer Website tritt zuständige Ordnungsbehörde gefragt«, buße von bis zu 50 000 Euro. AMA, RED, SRÖ

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Deutschland

Fluch der Moderne


Parteien Die CSU durchlebt die schwierigste Zeit ihrer Geschichte. Wie konnte sie die absolute
Mehrheit verspielen, obwohl es Bayern wirtschaftlich besser geht als je zuvor?
Porträt einer verunsicherten Partei kurz vor der Landtagswahl. Von Markus Feldenkirchen

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D
ie Gruft von Franz Josef Strauß Es geht um eine Partei, die ihr Land so
liegt am Ende des Friedhofs, im hemmungslos verändert hat, dass es ihr
Schatten der Klosterkirche von selbst fremd wurde.
Rott am Inn. Man muss ein paar
Stufen hinabsteigen zu jenem Ort, über »Adelgundis, wo hab ich die Uhr vom
den der CSU-Politiker Peter Gauweiler Strauß?«, ruft Wilfried Scharnagl.
sagt: »Dort ist unser Herz begraben.« »Die müsste oben sein.«
Spinnweben durchziehen den dunklen »Dann hol sie doch mal bitte.«
Raum vor der Nische, in der die Leichna- Wenig später kommt Frau Scharnagl mit
me von Franz Josef und seiner Ehefrau dem guten Stück ins Esszimmer und legt
Marianne eingemauert sind. In der Ecke sie vor ihn auf den Tisch. Scharnagl, 79,
steht ein Entfeuchtungsgerät, das aus den blickt sie verzückt an, die Uhr.
Tagen von Strauß’ Tod am 3. Oktober 24 Jahre lang war er Chefredakteur der
1988 stammen könnte. Durchfegen müsste Parteizeitung »Bayernkurier«, des Zentral-
man auch mal wieder. organs der CSU. Auf dem Tisch liegt die
Ein paar Tage zuvor wäre »Dr. h. c. Kopie eines »Bild«-Artikels über Strauß
Franz Josef Strauß«, so die Inschrift im Be- und ihn von 1985. »Was ich denke, schreibt
ton, 103 Jahre alt geworden. Zwei Kränze Scharnagl«, lautet die Schlagzeile. Ein
mit Schlaufen liegen Anfang September Strauß-Zitat. Scharnagl nimmt die Uhr in
auf dem Boden, einer von der »Landes- die Hand, die Strauß so oft trug, eine sil-
hauptstadt München«, einer mit der Auf- berne Omega, Modell Speedmaster Profes-
schrift »In Liebe, Deine Kinder«. Von der sional. Nach Strauß’ Tod bekam er sie von
CSU oder der Staatskanzlei ist zum Ge- dessen Kindern zum Geburtstag geschenkt.
burtstag kein Kranz gekommen. Sie blieb stehen bei fünf vor halb sieben.
Ein älteres Ehepaar betritt die Gruft. Es Scharnagl schießen Tränen in die Augen.
kannte Strauß noch persönlich, der hier »Ich muss da immer ankämpfen, dass es
in der Klosterkirche geheiratet mich nicht zu sehr berührt. Es ist
und eine Zeit in Rott gelebt hat. da eine tiefe Traurigkeit«, sagt er.
Die beiden stellen sich schwei- »Ich muss mit Strauß immer noch
gend vor die Ruhestätte, den Kopf BAYERN fertig werden, mit dem Verlust,
gesenkt, die Hände vor dem nach 30 Jahren.« Zusammen sind
Schoß gefaltet. »Gott sei Dank, sie um die Welt gereist, haben als
dass er all das nicht mehr erleben muss«, Vertreter Bayerns die Großen dieser Erde
sagt der Mann, als sie die Gruft wieder getroffen. Deng Xiaoping, der beim Tref-
verlassen haben. fen einen Spucknapf neben sich stehen hat-
Es sind schwere Zeiten für die CSU. te. »Der hatte eine Art zu spucken, dass
Plötzlich ist denkbar, was zu Strauß’ Zei- sich der Napf gedreht hat.« Einmal im Jahr
ten undenkbar war: ein Absturz weit unter fuhren sie privat für ein paar Tage mit dem
40 Prozent bei der Landtagswahl am Geländewagen über die Alpen bis nach
14. Oktober. Im aktuellen ARD-Bayern- Südfrankreich. »Das war die verlorene
trend ist die CSU gerade auf 33 Prozent Zeit, die wir gesucht haben.«
gesunken. Für eine Partei, die jahrzehnte- Strauß wird in Bayern auch deshalb bis
lang wie selbstverständlich absolute Mehr- heute verehrt, weil er die Industrialisie-
heiten holte und sich nicht ohne Grund als rung eines armen Agrarstaates, in dem
Staatspartei verstand, sind 33 Prozent eine nach dem Krieg fast jeder Zweite in der
Katastrophe. Als würde der FC Bayern die Landwirtschaft arbeitete, wie kein Zweiter
SEBASTIAN WIDMANN / IMAGO

Saison auf dem Relegationsplatz beenden, vorantrieb. So konnte aus dem ärmsten
ach was: direkt absteigen. Bundesland die Nummer eins werden.
Weil nichts mehr gilt, was ehemals si- Im Scharnagls Esszimmer hängen Dut-
cher war, ist die Partei tief verunsichert. zende Kruzifixe in jeder Variante an der
Verunsicherung äußert sich oft in Verhal- Wand. Hinter ihm sitzen zwei Puppen
tensauffälligkeiten – und davon waren zu- adrett gekleidet auf einem Stuhl. Es wirkt,
letzt einige zu beobachten, vor allem bei als wäre die Zeit stehen geblieben.
Parteichef Horst Seehofer, der Drama- »Die Entwicklung meiner Partei macht
Hut eines Strauß-Verehrers im queen der CSU. Sie, die lange Allmächti- mich traurig«, sagt Scharnagl, er spricht
oberbayerischen Gaißach gen, merken, wie ihnen die Kontrolle über leise und langsam. Es lief nicht gut für ihn
»Gott sei Dank, dass er das nicht das Volk entgleitet, wie etwas auseinan- in den vergangenen zwei Jahren. Knochen-
mehr erleben muss« derdriftet. Aber es fehlt das Verständnis brüche, ein Schlaganfall. »Die CSU ist ein
dafür, wie es so kommen konnte. großer Teil meines Lebens«, sagt er in sei-
Eine Geschichte über die CSU im Jahr nem Stuhl. Er humpelt noch heute brav
2018 ist zwangsläufig eine tragische. Sie zu den Vorstandssitzungen.
handelt vom Aufstieg zur stärksten und ei- Wenn er den Erfolg des Landes sehe,
gentümlichsten Volkspartei Deutschlands die offiziellen Zahlen, das Wachstum der
und von der Endlichkeit des Erfolgs. Die Wirtschaft, die Arbeitslosenquote von
Ursachen für den Schwund sind zahlreich, 2,8 Prozent, wenn er sehe, wie schön und
und sie ragen weit über die Seltsamkeiten attraktiv Bayern sei, so attraktiv, dass alle
des Horst Seehofer hinaus. dorthin ziehen wollten, dann könne er

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nicht glauben, dass seine geliebte CSU aus-


gerechnet jetzt in ihrer größten Krise ste-
cke. »Das ist völlig absurd.«
Scharnagl hat vieles durchgestanden mit
seiner Partei, die Spendenskandale, die
Amigo-Affäre, die 43,4 Prozent bei der
Landtagswahl 2008, das bislang schlech-
teste Ergebnis, das sie nach 40 Jahren
Alleinherrschaft für kurze Zeit in eine
Koalition mit der FDP zwang. »Aber ein
Ergebnis mit einer Drei am Anfang? Das
ist unvorstellbar.« Er schüttelt den Kopf.
»Wie kann es sein, dass die CSU bei die-
ser großartigen Lage nicht besser dasteht?
Dass wir in Umfragen Resultate haben, die
grotesk sind? Ich versteh’s nicht. Ich ver-
steh die Menschen nicht.«
Wie viele in der Parteiführung hadert
Scharnagl mit der Undankbarkeit der
bayerischen Bürger. Und wie sie hadert er
mit Angela Merkel, der viele die Haupt-
schuld an der Misere geben. Horst Seeho-
fer habe recht mit seiner Aussage, dass die
Migrationsfrage die Mutter aller Probleme
sei. »Aber die Merkel begreift das nicht.
Die wird das nie verstehen«, sagt Schar-
nagl. »Die Frau Merkel ist ein Unglück.
Sie ist ein Unglück für die Union.«
Leider sei seine CSU »eine gefügige Par-
tei« geworden. Sie traue sich nicht, den
Bruch mit der Schwesterpartei zu riskie-
ren. »Es muss mal krachen. Aber das tut’s
nicht. Es ist grotesk, wie Merkel und See-
hofer sich letzten Endes doch wieder zäh-
neknirschend einigen.« Scharnagl wirkt
ratlos. Niemand wisse, wie man aus dem
aktuellen Dilemma rausfinde. Niemand.

Im Oberneukirchen ist die Welt der CSU


noch intakt. Bei der Landtagswahl 2013
kam sie in dem 850-Einwohner-Ort auf
85,2 Prozent. »Da musst du selbst am Tag
mit Licht fahren«, sagen die Leute. »Weil
der Ort so tiefschwarz ist.«
Landwirt Rupert Staudhammer, ein Ortsverbandsvorsitzender Staudhammer: »Wir hatten immer über 80 Prozent«
Mann mit kräftigem Händedruck und
braun gebrannter Haut von der Feldarbeit,
leitet den CSU-Ortsverband seit fast Staudhammer steht auf und steigt ins 80 Prozent der Dorfkinder seien Mitglied
30 Jahren. In seinem Flur stehen riesige Auto, er will sein Dorf zeigen, jenes Bio- im Trachtenverein. Der Schützenverein
Kuhglocken, die an bunten Bändern hän- top, in dem die CSU all die Jahrzehnte so sei auch stark besetzt. Die Vereine waren
gen, Auszeichnungen für prächtige Rinder, prächtig gedeihen konnte. Man habe sich all die Jahrzehnte Vorfeldorganisationen
die er gezüchtet hat. Seit 1828 firmiert der bei der Siedlungspolitik für das »Einhei- der CSU. Für den Erfolg spielten sie eine
Hof unter dem Namen Staudhammer. »Ich mischenmodell« entschieden, sagt er hin- ähnlich große Rolle wie die Kirche und das
bin schon der dritte Rupert.« Er wohnt ter dem Steuer seines BMW. Wer in Ober- Wirtshaus. Und der Bayerische Rundfunk
hier mit seiner Frau, seiner Mutter, 70 Kü- neukirchen bauen will, muss aus der Ge- natürlich. Aber auf den ist auch kein Ver-
hen und dem ältesten Sohn samt Familie. meinde kommen oder in ihr arbeiten. »Da lass mehr.
»Wir hatten immer über 80 Prozent, bei kommen automatisch weniger Fremde.« Staudhammers Wagen hält im Orts-
jeder Wahl«, erzählt er. »Diesmal sind wir Einmal habe man das Modell im Gemein- kern, zwischen Wirtshaus und Kirche. In
gut, wenn wir über 70 kriegen.« Schon bei derat kurz gelockert. »Da haben wir aber Bayern besucht nur noch jeder zehnte Ka-
der Bundestagswahl vor einem Jahr holte gleich auf die Finger gekriegt. Seither ist tholik regelmäßig den Gottesdienst. In
die AfD 15 Prozent in Oberneukirchen. es wieder sehr strikt.« Das führe zu einem Oberneukirchen mag die Quote etwas bes-
»Davon 80 Prozent CSU-Wähler«, sagt starken Gemeinschaftsgefühl. »Und die ser sein, aber auch hier bröckelt etwas.
Staudhammer, der jeden Dorfbewohner CSU ist irgendwie Teil von dem Ganzen.« Wenn es schlecht läuft, haben sie bald
und dessen Wahlverhalten persönlich Staudhammer fährt nun am Haus der nicht mal mehr ihren eigenen Pfarrer.
kennt. »Man muss aber auch sagen: Wir Freiwilligen Feuerwehr vorbei. »Unsere »Kirche und Wirtshaus, das ist ja etwas,
haben jetzt gar keine Flüchtlinge da bei Jugendfeuerwehr ist in Husum gerade was sich gegenseitig bedingt«, sagt Staud-
uns. Keinen einzigen. Aber gut.« deutscher Meister geworden«, erzählt er. hammer. Leider würden im Wirtshaus die

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Deutschland

Pächter immer häufiger wechseln, da fehle Ganz Europa habe sich verändert, sagt Wiese gestellt. Es wirkt so harmonisch, als
die Konstanz. Söder. Bayern könne sich nicht von inter- gehörte beides zusammen, als hätte nicht
Früher habe der Wirt die Gemeinde- nationalen Trends loskoppeln. Auch zu der Herrgott, sondern die CSU diese wun-
politik ebenso stark mitgeprägt wie der Strauß’ Zeiten habe die CSU selten mehr derbare Natur erschaffen.
Pfarrer, sagt Staudhammer. »Aber heute als zehn Prozent über dem Bundesdurch- Manchmal gelingt sie noch, die Insze-
gibt es ja ganz andere Kommunikations- schnitt der Union gelegen. »Nennen Sie nierung der Symbiose von Land und Par-
möglichkeiten. Da holen sich die Leute ihre mir ein Land in Europa, das die Stabilität tei, von schönen Bergen und weniger schö-
Meinung aus dem Internet.« Und die Mei- von Bayern hat.« nen Amtsträgern. »Oberbayern ist schön,
nung im Internet ist, anders als die Meinung Er zählt alle Faktoren auf, die nichts mit Bayern ist schön«, ruft Söder den Stamm-
der Wirte, nicht zwingend pro CSU. ihm, dem Spitzenkandidaten, zu tun ha- tischbesuchern zu. »Es gibt kein schöneres
Ministerpräsident Markus Söder ver- ben. Jetzt ist die Digitalisierung an der Land auf der Welt.« Wie unironisch er das
sprach im Wahlkampf ein Programm zur Reihe. Die physische Präsenz der CSU, sagt, hat etwas Faszinierendes.
Förderung der Wirtshauskultur. »Weil ich der analoge Teil, sei intakt. Nach wie vor. Der Saal der Gaststätte ist rappelvoll,
nicht nur möchte, dass die Kirche, sondern Der Unterschied sei, dass es heute zudem viele Dirndl, viele Trachtenjanker. Aber
auch das Wirtshaus im Dorf bleibt.« Es ist einen digitalen Teil gebe. »Die Digita- auf den Tischen stehen mehr Kaffeetassen
verständlich, dass die CSU Institutionen lisierung führt natürlich auch zu einer und Wassergläser als Bierhumpen. Das hät-
wiederbeleben will, denen sie so viel ver- Veränderung der Demokratie. Es bilden te es so früher auch nicht gegeben.
dankt. Wie sie es tut, hat etwas Verzwei- sich Echokammern und Filterblasen, die Söder spricht von den »großen Persön-
feltes. Im Frühjahr ordnete die Staatsre- sich gegenseitig in Fake News bestätigen, lichkeiten« an der Spitze des Freistaats:
gierung an, dass in allen Amtsstuben Kreu- emotional und auf Dauer immer radikaler von Strauß, Stoiber und natürlich von sich
ze hängen müssen. Wie in den Fünfzigern. werden.« selbst. Dieses CSU-Gen sei offenbar wei-
Die Forschungsgruppe Wahlen hat vor Anders als die analoge Welt lässt sich tergegeben worden, erklärt er: »Wie bei
Kurzem in einer Umfrage für die CSU- die digitale weniger effektiv lenken. Es ist Coca-Cola, da gibt’s so ’ne Geheimformel,
nahe Hanns-Seidel-Stiftung die gesell- ein Kontrollverlust, der seiner Partei die kennen nur die Chefs. So ein CSU-
schaftspolitischen Einstellungen der schwer zu schaffen macht. So gesehen ist Gen.« Der Name Seehofer fällt nicht.
Bayern gemessen: Integration von Auslän- die CSU eine Digitalisierungsverliererin. Als später Fragen gestellt werden dür-
dern, Energiewende, Ganztagsbetreuung, »Leider gibt es auch aufgrund der Digi- fen, treiben die Gäste nicht die Gene ihrer
Gleichberechtigung von Schwulen und talisierung zuweilen eine Wahrnehmungs- Ministerpräsidenten um. Ein Mann mit
Lesben. Bei keinem Thema gab es eine verzerrung«, ergänzt Söder. »Es ist para- Trachtenhut erhebt sich. »Wir haben ges-
Mehrheit für traditionelle Positionen. dox, dass es uns zum einen objektiv so gut tern einen Stammtisch gehabt, und da hat
Der Wertewandel in der Gesellschaft wie nie geht und wir subjektiv so gespalten der Alois eine Idee zu der Wohnungsnot
schreitet auch in Bayern voran, die Säku- wie nie sind. Da muss es einen Anker ge- gehabt«, sagt er. »Die wor gar ned
larisierung, die Individualisierung, die Ego- ben, der Richtung und Kompass ist. Das schlecht.« Die Wohnungsnot liege ja vor
zentrik und Ausdifferenzierung. Die baye- muss der Ministerpräsident sein.« Sein allem am Zuzug der großen Firmen, die
rische Bevölkerung denkt heute viel mo- Ziel sei es, unter all den schwierigen Be- ihre Leute mitbrächten, weshalb dann, lo-
derner und ist somit viel gesamtdeutscher, dingungen das Beste für die CSU heraus- gisch, die Preise stiegen. »Wenn da jetzt
als die CSU es wahrhaben will. zuholen. eine große Firma kommt und 1000 Leute
Gut 8 Millionen Einwohner hatte Bay- anstellt, dann sollen die mindestens für
ern, als sie 1945 erstmals den Ministerprä- An einem sonnigen Vormittag im Sep- 500 Leute Wohnungen bauen müssen.
sidenten stellte. 13 Millionen sind es heute. tember hat die CSU zum Sonntagsstamm- Also i find die Idee gar ned schlecht.« Der
Aus der ganzen Republik sind Menschen tisch auf die Ebersberger Alm geladen. Vor Mann erntet donnernden Applaus. Eine
nach Bayern gekommen, angezogen vom der Gaststätte hat jemand ihre drei kräfti- befriedigende Antwort bekommt er nicht.
Versprechen auf Arbeit und Wohlstand, gen blauen Buchstaben auf eine saftige Als Nächstes steht eine Mutter von zwei
nicht aus Liebe zur CSU. Die Partei wird Kindern auf. Sie will von Söder wissen,
so von ihren eigenen Erfolgen eingeholt. wie er die Kinderbetreuung verbessern
Die Bedingungen seien schwieriger ge- will. »In der Grundschule hört der Unter-
worden, sagt Markus Söder beim Ge- richt oft schon um 11.30 Uhr auf. Und da
spräch über die Entwicklung seiner Partei. ist es für Eltern wirklich schwierig.«
»Der wirtschaftliche Erfolg hat viele ange- In Bayern können sich viele Polizisten,
zogen, die mit dem Bayernmythos noch Krankenschwestern oder Straßenbahnfah-
nicht so vertraut sind.« Er erinnert an die rer nicht mehr leisten, in jener Stadt zu
alte CSU-Landesleitung in der Nymphen- wohnen, in der ohne sie alles zusammen-
burger Straße. Die stand in einem gutbür- bräche. Nicht nur in München, auch in
gerlichen Münchner Viertel. Gegenüber Bamberg, Nürnberg oder Erlangen.
wurde »Kir Royal« mit der Urmünchner Ein solches Bayern ist nicht über Nacht
Figur Baby Schimmerlos gedreht. Die heu- entstanden, es ist auch das Ergebnis von
tige Landesleitung liege in der Mies-van- Politik oder besser: von unterlassener
der-Rohe-Straße. Da gehe es schon mal Politik. »Das wäre Franz Josef Strauß nie-
mit dem Namen los. Klar, international an- mals passiert«, sagt Peter Siebenmorgen,
gesehener Baumeister, alles wunderbar. Verfasser der umfassendsten und kennt-
Aber: »Das gesamte Viertel dort ist kos- nisreichsten Strauß-Biografie. »Er hätte
mopolitisch. Hier arbeiten Mitarbeiter gro- spätestens vor zehn Jahren ein giganti-
ßer Weltfirmen. Das sind Leute, die haben sches Wohnungsbauprogramm gestartet.«
in Berlin, in London oder den USA gear- Seit Jahren behauptet die CSU auch,
beitet. Das Verständnis für die Besonder- sich um die digitale Infrastruktur zu küm-
heiten Bayerns, das Bayern-Gen, ist da Ehrenvorsitzender Stoiber mern. Sie führt das zuständige Bundes-
nicht so selbstverständlich.« Mehr Laptop als Lederhose verkehrsministerium in Berlin. Aber die

FOTOS: DIETER MAYR / DER SPIEGEL 17


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Deutschland

Funklöcher in Bayern sind dennoch ge- Zentrale. Nicht in Berlin. Wir beschließen Teil des Infinity Hotel & Conference Re-
waltig. hier.« Es sei ein historischer Glücksfall, sort Munich ist. Daneben stehen ein
Zwei große Leitsätze, zwei große Ver- dass die CSU schon 1945 gegründet wurde, McDrive, eine Allianz-Niederlassung und
sprechen habe es in der Geschichte der die CDU erst später. Damit sei ihr die Ei- ein Sportzentrum. Auf der langen, beto-
CSU gegeben, sagt Siebenmorgen. »Kon- genständigkeit nicht mehr zu nehmen ge- nierten Auffahrt des Konferenzzentrums
servativ heißt, auf der Seite des Fortschritts wesen, trotz aller Versuche von Konrad feuern die Schützen in ihren Trachten zur
zu marschieren.« Das war Strauß’ Credo. Adenauer bis Heiner Geißler. Begrüßung drei Salven in die Gewerbege-
»Laptop und Lederhose« hieß der Slogan, »Es ist ein struktureller Vorteil, den man bietsluft. Die Stadtkapelle spielt einen
den Edmund Stoiber gern zitierte. Der ist nutzen kann, ohne sonderlich intelligent zünftigen Marsch. Sie geben sich alle
nun 20 Jahre alt. Seither wartet Bayern sein zu müssen«, sagt der Passauer Polito- Mühe, einen Hauch von Heimatgefühl in
auf einen neuen beherzten Politikentwurf, loge Heinrich Oberreuter, selbst seit diese seelenlose Moderne zu blasen, aber
von dem alle Bürger profitieren. 50 Jahren CSU-Mitglied und intimer Ken- es wirkt, als hätte sich der Alm-Öhi in ei-
Als der Stammtisch in Ebersberg been- ner der Partei. »Aber man kann dieses nen MediaMarkt verirrt.
det ist, schreitet Edmund Stoiber, sein Was- Erfolgsprinzip auch versauen, wenn die Im Innern der neuen, meterhohen Ver-
serglas balancierend, über die Terrasse des Qualität des politischen Personals weiter anstaltungshalle verlieren sich die Gäste
Ausflugslokals. Er trägt ein weiß-blau abnimmt.« an den langen Tischreihen. Der Raum ist
kariertes Hemd und Trachtenjanker, aber Strauß und Stoiber wussten diese Son- viel zu groß. Es erklingt kein Prosit der
er passt noch immer besser zum Laptop derrolle noch zu nutzen. Nachdem Strauß Gemütlichkeit, sondern das Rauschen der
als zur Lederhose. Die Gäste verneigen die Industrie nach Bayern geholt hatte, hol- Klimaanlage. Obwohl es draußen warm
sich vor ihm. »Grüß Gott, Herr Minister- te Stoiber die Hochtechnologie. Gegen ist, frieren die Leute.
präsident.« Wie kein zweiter Lebender Ende seiner Amtszeit verfiel Stoiber einem Der Ortsverbandsvorsitzende kommt
verkörpert der Ehrenvorsitzende Stoiber regelrechten Spar- und Modernisierungs- bei seiner Ansprache gleich auf die neue
die einstige Größe und Allmacht der CSU. wahn und verlor das Gespür für die Stim- Halle zu sprechen. »Das Ballhausforum
Er bestellt einen Räucherfischteller auf mung im Lande. So oder so hatte dieses würde es ohne die CSU Unterschleißheim
Salat. »Ach, und ein Wasser hätt ich gern.« Wachstum seinen Preis. nicht geben. Deshalb ist es passend, dass
Dann bemerkt er, dass er schon eins in der wir unsere 70-Jahr-Feier in diesem Ball-
Hand hält. »Ach ne, ich hab ja schon eins.« An diesem Sonntag will der CSU-Orts- hausforum begehen.« Da sitzen sie nun
Er müsse mal eine Anekdote erzählen, verband Unterschleißheim seinen 70. Ge- einsam und fröstelnd. Immerhin wird alles
sagt Stoiber. Die erkläre letztlich die ganze burtstag feiern. Alle sind gekommen, mit per Livestream übertragen.
Kraft der CSU. Er erzählt von den Koali- denen die CSU solche Jubiläen traditionell Der Abend ist ein Sinnbild für die Lage
tionsgesprächen im Jahr 1983, als CDU, feiert. Der Heimat- und Trachtenverein der CSU. Sie hat das Land vielerorts auf
CSU und FDP über die neue Regierung »Die Würmbachtaler e. V.«. Der Schützen- den neuesten Stand der Technik gebracht
verhandelten und er Strauß nach Bonn be- verein »Eichenlaub«. Die Katholischen Ar- und die Globalisierung mit offenen Armen
gleiten durfte. Strauß habe gleich zu Be- beitnehmervertreter. Der Männergesang- begrüßt. Aber es ist zudem etwas kühler
ginn erst mal allerhand Sonderforderun- verein Lohhof. Die Freiwillige Feuerwehr. und unpersönlicher geworden. Auch da
gen aufgetischt, Projekte, die speziell für Die Schützenkompanie Unterschleißheim. wurde sie Opfer ihres eigenen Erfolgs.
Bayern gedacht waren. Irgendwann habe Die Stadt Unterschleißheim liegt im
der CDU-Ministerpräsident Ernst Al- Norden Münchens, im sogenannten Auf der Terrasse von Uli Hoeneß ist das
brecht auf den Tisch gehauen: Das könne Speckgürtel, wo es wirtschaftlich derart Idyll noch intakt. In der Ferne glitzern die
ja wohl nicht sein, dass hier ein Bundes- brummt, dass die Stadt ein riesiges Ge- Alpen, unten liegt der Tegernsee, auf dem
land lauter Extrawürste einfordere. Er hät- werbegebiet umgibt. Die Feier findet im an diesem sonnigen Septembertag noch
te da für Niedersachsen auch manche Son- neu errichteten Ballhausforum statt, das einmal die Segelboote spazieren gefahren
derwünsche. »Tja, Herr Albrecht«, entgeg- werden. Hinter dem Gartenzaun läuten
nete Strauß trocken. »Dann müssen Sie die Glocken glücklich grasender Kühe.
eben auch eine eigene Partei gründen.« Hund Ben hat sich unter den Holztisch
Stoiber ist heute noch begeistert, wenn gelegt. Hoeneß hat Butterbrezen vorberei-
er die Geschichte erzählt. Er lacht laut auf. tet. Er selbst ist nicht Mitglied der CSU,
»Genau das ist es! Das ist der Unterschied. aber er gehört zu jenem bayerischen Kos-
Die Eigenständigkeit!« mos aus Politik, Wirtschaft und Partei, in
Ohne sie wäre die CSU tatsächlich nie dem alle irgendwie zusammenhalten und
geworden, was sie ist. Sie erlaubte ihr, in von gemeinsamen Interessen zusammen-
Bonn oder Berlin immer wieder Politik für gehalten werden.
Bayern durchzusetzen, darunter die unse- Über eines müsse man sich im Klaren
lige Pkw-Maut, auch wenn der Rest der sein, sagt Hoeneß: »Wenn die CSU ein
Republik kein Interesse daran hatte. Erst schwaches Ergebnis kriegt, wird es Bayern
in dieser Woche erreichte die CSU im Ko- nicht mehr so gut gehen wie heute.« Seine
alitionsausschuss, dass Ferkel bei der Kas- Fingerkuppe tackert auf die Tischplatte,
tration weiter nicht betäubt werden müs- wie um den Satz festzunageln.
sen. So wünschten es die bayerischen Fer- Hoeneß ist in brennender Sorge über
kelzüchter. Es gibt nur eine Partei in die politischen Entwicklungen. Wenn er
Deutschland, die rücksichtslos Regional- den Fernseher anmache und Reden wie
interessen in der Bundesregierung durch- neulich in Chemnitz höre, »da hast du das
drücken kann. Gefühl: Du bist wieder bei 1933«. Wenn
Stoibers Stimme wird nun leise, fast ge- ihn seine »Steuergeschichte« nicht lähmen
heimnisvoll, er hat den Kopf weit über die würde, hätte er schon längst die Stimme
Räucherfische gebeugt: »Die Kirche steht Ex-Mitglied Kremmling erhoben. Sein Fax quillt über mit Anfragen
bei uns in München«, raunt er. »Also die »Ich vermisse das geliebte C« von Talkshows.

18 FOTOS: DIETER MAYR / DER SPIEGEL


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den Weißwürsten. Fast zehn Jahre lang


hat er den Ortsverband in der 1300-Ein-
wohner-Gemeinde Görisried im Allgäu
geleitet. Sein Ordner erzählt seine Ge-
schichte mit der CSU, die Geschichte einer
Entfremdung.
Kremmling, 65, ist ein freundlicher Herr
mit Kuhfell-Clogs an den Füßen. Seine
Frau und er betreiben im Nachbardorf ei-
nen Friseursalon. In der Freizeit organi-
siert er Friedensgebete, seine Frau sitzt im
Vorstand der Kirchengemeinde.
Als er im Juni austrat, taten es ihm meh-
rere Vorsitzende aus den Nachbargemein-
den gleich. Kremmling zieht das Antwort-
schreiben der Partei vom 3. Juli aus seinem
Ordner, das letzte Dokument: »Wir erhiel-
ten die Nachricht, dass Sie aus der CSU
ausgetreten sind. Wir haben Ihren Austritt
vollzogen und bestätigen dies hiermit.«
»Jeder Kaninchenzüchterverein würde
nicht so eiskalt reagieren«, sagt Kremm-
ling. Sein Ablösungsprozess begann, als
Horst Seehofer Kanzlerin Merkel auf der
Bühne des CSU-Parteitags im Herbst 2015
öffentlich die Leviten las. Mehrfach
schrieb Kremmling an den CSU-Chef, im-
mer wieder warnte er, dass der Rechtsruck
infolge der Flüchtlingskrise der Partei scha-
de. Er kritisierte die Forderung nach einer
»Obergrenze« und die Radikalisierung der
Sprache. »Ich vermisse dieses C, das ge-
liebte C«, sagt Kremmling, der gläubige
Christ, über seine frühere Partei. »Das C
ist zur Worthülse geworden.« Eine Ant-
wort von Seehofer bekam er nie.
Seit seinem Austritt fühlt sich Kremm-
ling wie ein Geächteter im Dorf. »Wenn
du austrittst, musst du aufpassen, dass sie
dich nicht teeren und federn.« Manche tä-
ten jetzt so, als würden sie ihn auf der Stra-
ße nicht erkennen. Seine Frau und er mer-
ken auch, dass weniger Kunden in ihren
AfD-Kandidatin Ebner-Steiner: »Horst Seehofer macht Wahlwerbung für uns« Friseursalon kommen.
Neulich hat Kremmling Katharina Schul-
ze geschrieben, der Vorsitzenden der baye-
Es gebe ja viele Parallelen zwischen der CSU zu viel Kraft gekostet. Je länger er rischen Grünen. Er empfinde es als wohl-
CSU und dem FC Bayern, sagt Hoeneß. redet, desto klarer wird, dass er Seehofers tuend, wie sie in der aufgekratzten Lage
Beides seien Erfolgsgeschichten. Beide sei- Verhalten nicht mehr verstehen kann. Ei- so offen und sympathisch bleibe. Schulze
en von starken Persönlichkeiten geführt gentlich, sagt Hoeneß, habe es die CSU antwortete gleich. Auch das gefiel ihm.
worden. Aber dann kommt er auf die Un- leicht. »Es ist eine Schande, wie sie diesen Reinhard Kremmling ist nicht der ein-
terschiede zu sprechen. »Wenn wir in der Traum von einem Land so wenig vermark- zige liberale Christ, dem die Grünen eine
Führung des FC Bayern Meinungsverschie- ten. Sie haben es nicht geschafft, das, was neue Heimat bieten. Die CSU kämpft heu-
denheiten haben, dann bleibt das unter sie gut machen, gut zu verkaufen.« te einen Kampf an zwei Fronten, links wie
der Decke. Wir streiten uns manchmal, Neulich war Hoeneß bei einer Podiums- rechts, zu beiden Seiten bröckelt ihr Fun-
dass die Wände wackeln. Aber wenn wir diskussion. Dort erklärte ein Mann, dass dament. Sie verliert Menschen wie
aus der Tür rauskommen, ist alles einig er vor Kurzem aus der CSU ausgetreten Kremmling an die Grünen und viele an-
und friedlich.« Horst Seehofer und Mar- sei. Aber der Partei sei das egal gewesen. dere an die AfD.
kus Söder dagegen lieferten sich lange eine Hoeneß war fassungslos. »Wenn bei mir je- Viele CSUler sehnen sich längst nach
Schlammschlacht, ehe Seehofer Söder un- mand austritt, rufe ich da an und versuche, der guten alten SPD als Gegner zurück.
ter bis heute sichtbaren Schmerzen das ihn zu retten«, sagte er auf dem Podium. Die kam zwar selten über 30 Prozent, gab
Amt des Ministerpräsidenten überließ. aber das gewünschte Feindbild ab, um die
»Der Gegner in meinem Bett, das ist der Reinhard Kremmling, der Mann, den eigenen Anhänger zu mobilisieren. Im
gefährlichste«, sagt Hoeneß. Man müsse Hoeneß gern gerettet hätte, hat einen Umgang mit der SPD war man erfahren,
nachts in Ruhe schlafen können, ohne zu großen weißen Ordner mit der Aufschrift sie spielte immer brav nach den alten
fürchten, eine drübergebraten zu bekom- »CSU-Ortsverband« auf den Gartentisch politischen Regeln. Mit der AfD hat man
men. Ihr Generationenkonflikt habe die gelegt, gleich neben die Schüssel mit es nun mit einem Gegner zu tun, der auf

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 19


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Deutschland

Guerillataktik setzt. Damit um ihren Status kämpfen, in


hat die CSU keine Erfahrung. Deutschland wie in Europa.
Die Deggendorfer AfD- Bei der CSU fällt der
Kandidatin Katrin Ebner- Schwund nur stärker auf,
Steiner bestreitet ihren Wahl- weil sie alles jenseits der ab-
kampf mit vier freiwilligen soluten Mehrheit als unter ih-
Helfern. Zwei begleiten sie rer Würde empfindet. Ergeb-
zum Infostand, zwei hängen nisse von 50 Prozent sind
Plakate auf. 63 Mitglieder hat im Zeitalter der gesellschaft-
die AfD in Deggendorf. Die lichen Differenzierung und
Bayern-AfD beschäftigt eine der Aufsplitterung der Partei-
Vollzeit- und eine Halbtags- enlandschaft aber wohl end-
kraft, für den Wahlkampf hat gültig zur Illusion geworden.
sie das Personal vorüberge- Dennoch hat die Partei
hend verdoppelt. viel zu ihrer Krise beigetra-
Es ist ein ungleicher gen. All die Jahre war es ihr
Kampf. Hier die Staatspartei gelungen, sich selbst zu er-
mit ihren 140 000 Mitglie- neuern. Sie brauchte nicht
dern, die fast drei Viertel aller die Wähler, die sie zum Nach-
Landräte stellt und überall denken in die Opposition
bestens vernetzt ist. Dort die schickten. Ihr Gespür war
AfD, die im Grunde nur eine wach genug, um sich rechtzei-
gewitzte Werbeagentur zu tig selbst zu hinterfragen, ge-
bieten hat, deren Plakate ge- treu dem Motto des Kabaret-
nau auf die Achillesferse des tisten Gerhard Polt: »Wir
Gegners zielen: »Wir halten, brauchen keine Opposition,
was die CSU verspricht«, weil wir sind schon Demokra-
heißt es da. Oder: »Wo CSU ten.« Dieses Gespür ist der
draufsteht, ist Merkel drin«. Führung zuletzt abhandenge-
»Funktioniert beides sehr kommen.
gut«, sagt Ebner-Steiner. Am schwersten aber wiegt

DIETER MAYR
Es gebe ja leider kaum ein Paradoxon: Während die
noch bayerische Lokale, hat- CSU fröhlich das Land mo-
te sie vor dem Treffen gesagt. dernisierte, versäumte sie es,
Sie schlug dann das Gasthaus Parteiurgestein Gauweiler sich selbst zu modernisieren.
Zur Knödelwerferin am Deg- »Alle Ziele sind erreicht« Seit Jahren reproduziert sie
gendorfer Stadtplatz vor. den gleichen Typus an der
Dort bestellt sie Zwetschgen- Spitze; männlich, rabaukig,
röster mit ordentlich Sahne. Sie lacht viel Mauschelei sei immer die Schattenseite ih- mehr oder weniger gerissen. Für Frauen
an diesem Nachmittag, es könnte kaum res Erfolgs gewesen. oder Migranten ist bis heute kaum Platz.
besser laufen. Schon bei der Bundestags- Die CSU habe überall ihre Spitzel, sagt Beim Parteitag vor drei Wochen muss
wahl hatte die AfD in Deggendorf und im Ebner-Steiner. Sie kenne Bedienstete der irgendjemandem aufgefallen sein, dass alle
angrenzenden Bayerischen Wald rund Stadt Deggendorf, die nicht an ihrem AfD- wichtigen Reden von Männern gehalten
20 Prozent geholt. Jetzt sind die Progno- Stand stehen bleiben dürften. »Für diese werden: Generalsekretär, Parteichef, Mi-
sen noch besser. »Das ist schon peinlich Leute ist es wie ein Befreiungsschlag, nisterpräsident. Man schob dann noch
für die CSU«, sagt Ebner-Steiner. wenn sie jetzt heimlich AfD wählen kön- eine Diskussionsrunde zwischen die Re-
Es sei nicht nur die Flüchtlingspolitik, nen. Die sagen: Jetzt muss mal Schluss den, an der gleich sechs Frauen teilnehmen
die die Leute zur AfD treibe, sagt sie und sein mit den Amigos und der sozialen Kon- durften: Sie sprachen kurz über Hebam-
spricht dann über die großen und kleinen trolle.« Dieses Empfinden habe sich über men, Sterbebegleitung, Pflege, Familien-
Skandale örtlicher CSU-Politiker: dass der Jahre angestaut. Das Fass zum Überlaufen geld. Damit war auch das erledigt.
Landtagsabgeordnete seine Frau mal auf gebracht habe dann die Flüchtlingspolitik. Letztlich habe man die große Zäsur von
Staatskosten im Büro angestellt habe. Dass Auch da, sagt Ebner-Steiner, verstehe 1989/90 noch nicht richtig verarbeitet, sagt
die Firma eines lokalen CSU-Politikers, sie die CSU nicht. »Man kann die AfD so Peter Gauweiler, während er auf dem Sofa
ein Bauunternehmer, den Zuschlag für den leicht bekämpfen, aber sie tun es einfach seiner Münchner Kanzlei an einem Ziga-
Bau einer Flüchtlingsunterkunft bekom- nicht.« Vor allem Horst Seehofer mache rillo zieht. Gerade die CSU leide heute un-
men habe. Sie lacht. »So ist das bei uns. alles falsch. »Der ist für uns wie ein Pres- ter einer Erfolgsdepression. »Alle Ziele
Alle dürfen ihren Zaun nur 1,50 Meter sesprecher. Der macht Wahlwerbung für sind erreicht: Moskau erledigt, der Kom-
hoch ziehen. Aber wenn du in der CSU uns.« Sein Satz, die Migrationsfrage ist die munismus besiegt, Bayern die Nummer
bist, darf er gern zwei Meter hoch sein.« Mutter aller Probleme, sei großartig für eins in Deutschland. Mehr gewinnen
Schon zu Strauß’ Zeiten habe sich die die AfD. »Er hebt das Thema immer wie- kannst du ja gar nicht.«
CSU zu einem »Dividendenverein« ent- der hoch. Und jeder weiß, dass die AfD Jetzt befinde man sich eben in einer
wickelt, sagt dessen Biograf Siebenmor- dieses Thema dominiert. Ich versteh nicht, Übergangsphase. Die CSU müsse sich neu
gen. Die verschiedensten Leute hätten sich dass die das nicht kapieren.« erfinden, sie brauche eine Neubegrün-
unter ihrem Dach versammelt, weil sie sich dung, sagt Gauweiler. »Aber das sind quä-
davon einen persönlichen Profit erhofften. Die CSU ist nicht allein mit ihrer Wehmut lende Prozesse, bis aus der Verpuppung
Einen Bauauftrag der öffentlichen Hand nach der Vergangenheit, nach der stolzen wieder ein Schmetterling wird.«
habe man anders kaum bekommen. Die alten Zeit. Fast alle Volksparteien müssen

20 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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WORK: gemacht für die Arbeit, gebaut für Sie.

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EIN UNTERNEHMEN DER DEUTSCHE POST DHL GROUP
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Deutschland

Über sieben
Brücken
Bayern Markus Söder ist mit Ruppigkeit und aggressivem
Ehrgeiz nach oben gekommen. Im Landtagswahlkampf entdeckt
er seine sanfte Seite. Es ist ein Rollenwechsel, mit dem der
Ministerpräsident, wie bei allem, zu weit geht. Von Anna Clauß

S
o einen Satz sagt nur Markus Sö- bewerber kam nicht einmal vor. Stattdes-
der: »Bademäntel sind toll.« Am sen zitierte er das pastorale Bonmot des
besten, sie sind weiß. Und aus ehemaligen Bundespräsidenten Joachim
Frottee. So wie die Bademäntel, Gauck: vom Herz, das weit sei, aber die
die Udo Jürgens auf Konzerten bei der Zu- Möglichkeit zur unbegrenzten Aufnahme
gabe getragen hat. von Fremden nun mal nicht.
Normalerweise reicht Söder Geschen- Vor weniger als einem Jahr hat er in sei-
ke, die man ihm nach seinen Bierzelt- nen Reden meist den Hinweis unterge-
auftritten überreicht, an den Hofstaat wei- bracht, wie viele Universitäten (»zwei«)
ter. Alkohol an die Lederhosenträger von oder Kita-Plätze (»mehrere Hundert-
der Jungen Union, Pralinen an tausend«) man von dem Geld,
die Pressedame, Wurstspeziali- das die Flüchtlingskrise den Steu-
täten an den Fahrer, der Söder
mit Tempo 180 zu fünf Wahl- BAYERN erzahler gekostet hat, in Bayern
hätte schaffen können. Nun rich-
kampfveranstaltungen am Tag tet er an die Flüchtlingshelfer im
befördert. Bierzelt ein »herzliches Vergelt’s
Den weißen Bademantel aber hat der Gott«, wie man in Bayern das Danke-
Ministerpräsident Bayerns behalten. Er be- schön nennt.
kam ihn nach seiner Rede im Festzelt von In seiner Regierungserklärung vor ein
Moosburg überreicht. Markus Söder sei ja paar Tagen wurde Söder ganz pathetisch.
Udo-Jürgens-Fan, hatte sein Parteikollege Es müsse Schluss sein mit »Ego first«. Er
dazu gesagt. biete »Gemeinwohl, Ausgleich und Kom-
Wie auf Kommando reckte die Kapelle promiss«. Das hat er gesagt, ohne rot zu
ihre Trompeten in die Höhe. Man hätte werden.
an dieser Stelle »Denn immer, immer wie- Brücken wolle er bauen, rief er im Ple-
der geht die Sonne auf« erwartet. Es er- num des Landtags. Brücken für ein
klangen dann aber doch die Noten der menschliches Bayern, Brücken für ein mo- Presslufthammers. Asyltourismus! Kruzi-
Bayernhymne. Markus Söder, im weißen dernes Bayern, Brücken zu einem freiheit- fixe statt Kopftücher!
Bademantel, faltete die Hände und sang lichen Bürgerstaat, Brücken zwischen Als bayerischer Finanzminister wollte
ergriffen mit. Gott mit dir, du Land der Stadt und Land, zwischen Humanität und er das verschuldete Griechenland aus der
Bayern, dessen Oberhaupt seit März die- Ordnung. »Wir bauen Brücken in die Eurozone drängen, weil »irgendwann je-
ses Jahres der fränkische Verkleidungs- Welt«, kündigte er an und natürlich »Brü- der bei Mama ausziehen muss«. Die Mis-
künstler Markus Söder ist. cken in die Zukunft«. Markus Söder gibt sion scheiterte. Dafür räumte Ellenbogen-
Dem Mann ist nichts peinlich. Das hat jetzt den Retter der Demokratie. Die Über- genie Söder im Kampf um den Stuhl des
sich nicht verändert. Ansonsten hat sich treibung ist das Stilmittel, dem er in all sei- bayerischen Ministerpräsidenten erst die
Markus Söder im letzten halben Jahr einer nen Rollen treu geblieben ist. nette Ilse Aigner aus dem Weg, dann den
atemberaubenden Metamorphose unter- Amtsinhaber Horst Seehofer.
zogen. Der Mann, der als Generalsekretär Als Europaminister sah er sich als bayeri- Söders Trumpf war immer, dass er keine
der CSU einen Ruf als der »größte Kotz- scher Außenminister. Als schwarzer Um- Angst davor hatte, unbeliebt zu sein. Er
brocken der deutschen Politikszene« ver- weltminister gab er den Atomkraftgegner, musste aber auch noch nie als Spitzenkan-
teidigte, hat sich in einen kuschelweichen das Finanzministerium trieb er als Chef didat eine Landtagswahl gewinnen. Nach
Staatsmann verwandelt. des bayerischen »Steuer-FBI« zu Rekord- aktuellen Umfragen liegt die CSU bei 33
Markus Söder, das war immer: Zuspit- einnahmen, als Heimatminister spielte er Prozent. Die absolute Mehrheit scheint
zung, die wehtut. Aufmerksamkeit um je- den Retter des ländlichen Raums. unerreichbar. Söders persönliche Beliebt-
den Preis. Den wunden Punkt des Gegners Die Kunst des Brückenbauens hat Mar- heitswerte sind noch niederschmetternder.
finden und verbal voll reinbohren. Der kus Söder bislang wenig unter Beweis ge- In den letzten vier Monaten sind sie um
neue, sanfte Markus Söder will niemanden stellt. Sein Vater war zwar Maurer, dieses 14 Prozentpunkte gefallen.
verletzen. Talent hat Söder aber nicht geerbt. Seine »Es war nie schwerer, bayerischer Mi-
Er redete im Bierzelt, bevor er den Ba- Worte hatten häufig die nicht unbedingt nisterpräsident zu sein als in diesen Zei-
demantel anziehen durfte. Das Wort Asyl- Zusammenhalt fördernde Wirkung eines ten«, hat er selbst erkannt. Aus Berlin kam

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MATTHIAS FERDINAND DÖRING


CSU-Politiker Söder nach seiner Rede im Moosburger Festzelt im September: Kuschelweicher Staatsmann

Gegenwind statt Unterstützung: Flücht- pern, sondern auch liberale Typen wie kanzlei einen »Reifungsprozess« erlebt.
lingskrise, Koalitionskrise, Regierungs- Wolfgang Kubicki. In Bayern hatte das Er spüre »eine Verantwortung des Amtes«,
krise, Krise der Volksparteien, die AfD im Krachlederne schon immer Konjunktur. die es ihm wichtig erscheinen lasse, »das
Glück. Alles schlimm, alles richtig. Aber Auch als Poltergeist hätte Söder hier an- Auseinanderdriften der Gesellschaft zu
das Hauptproblem der CSU in Bayern ist: treten können. überwinden«. Weshalb er sich vorgenom-
der Spitzenkandidat. men habe, »niemanden persönlich anzu-
Man muss ihn nur anschauen, um Bayern, diese Mischung aus Wunderland greifen, sondern mit Argumenten zu dis-
Zweifel zu bekommen am neuen, weichen und Schurkenstaat, will doch in Wahrheit kutieren«. Er wolle »die emotionale Bin-
Brücken-Söder: Breitbeinig, massig oder, keinen braven Landesvater. Sondern einen dung« zwischen Volk und Volksvertretung
freundlich formuliert, uneitel steht er vor Anführer, der im Rest der Republik Angst stärken.
den Leuten. Seine schwarzen Lederschuhe und Schrecken verbreitet. Er hat das mal ausgerechnet: 250 000
sind so verbeult, als würde er die Tour Trotzdem hat Markus Söder entschie- Bayern hat er mit seiner Tour durch die
durch Bayerns Bierzelte zu Fuß absolvie- den, sich beim Stil der Grünen-Führung et- Bierzelte bislang persönlich erreicht.
ren. Mit dem eleganten Slim-Fit-Konser- was abzuschauen und den Robert Habeck »Zählt man die Festzüge mit, sind es
vativismus eines Sebastian Kurz kann Sö- der CSU zu geben. Soft, naturverbunden, doppelt so viele«, freut er sich. Aubinger
der nicht mithalten. nachdenklich. Auf Instagram postet er Fo- Herbstfest, Volksfest Gillamoos, Kirch-
Vielleicht hätte er dem alten Söder treu tos von sich mit hochgekrempelten Hosen- weihzelt Gunzenhausen, Stadthalle Deg-
bleiben sollen. Es gibt ja eine Sehnsucht beinen am Münchner Isarufer. Oder einen gendorf, so geht das jeden Tag. Im Gepäck
nach kernigen Typen in der Politik, un- Kameraschwenk über nicht näher definier- hat er einen Sack Wahlgeschenke, größer
verstellt und authentisch. Angela Merkels te türkisblaue Wellen: »Am schönsten ist als der vom Weihnachtsmann. Landes-
einschläfernder Politikstil hat auf Bundes- es einfach am Wasser.« Hashtags Bayern, pflegegeld, Familiengeld, Baukindergeld
ebene zur Renaissance einer Haudrauf- Sommer, Baden, relax, cool, Söder. Plus, 1000 Euro pro Jahr für die bayeri-
Männlichkeit geführt, die nicht nur einige Er redet inzwischen auch wie Habeck. schen Hebammen. Söders Regierungs-
AfD-Abgeordnete im Bundestag verkör- Er habe nach dem Einzug in die Staats- erklärung zu Beginn des Wahlkampfs um-

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 23


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TWITTER.COM/MARKUSSOEDER

FUTURE IMAGE / IMAGO


Wahlkämpfer Söder mit Weltall-Logo bei der Jungen Union, mit Schauspielerin Glas in einer Grundschule: Jeden Tag eine gute Tat

fasste 100 Ankündigungen. 1,5 Wohltaten Antwort, dass Schulbeginn erst um 7.30 nach kurzer Denkpause: »Ich kenne den
pro Redeminute. Uhr sei, bestraft er mit einem wütenden Menschen Markus Söder nicht.«
Vielleicht hätte die Umarmungsstrategie Blick. Hungrige Kinder sind für Markus Immer will er im Mittelpunkt stehen.
mit einem anderen Spitzenkandidaten ge- Söder ein gutes Fotomotiv, ansonsten reine Das ist der Hauptgrund, warum seine
zündet. »Der macht das doch nur, weil ...«, Zeitverschwendung. Umarmungsstrategie nicht funktioniert. Er
sagen die Leute über Markus Söder. Bei al- Er muss jetzt eine halbe Stunde zusam- sucht die Nähe der Bürger, aber eine emo-
lem, was er tut, werden ihm unlautere Mo- mengekauert auf Zwergenstühlen zwi- tionale Verbindung fehlt.
tive unterstellt, Machterhalt und Egoismus schen dem Ehepaar Glas hocken. Das hät- Es ist eher Spott, den er immer wieder
hauptsächlich. Leicht lässt sich übersehen, te gern noch mehr Geld, um noch mehr auf sich zieht. Zum Start des 700 Millio-
dass Markus Söder in Wahrheit ein skan- Schulen mit Brotzeit vor Unterrichtsbe- nen Euro teuren bayerischen Raumfahrt-
dalfreier Politiker ist. Jedenfalls haben Heer- ginn versorgen zu können. programms »Bavaria One« am Dienstag
scharen an Journalisten in den vergangenen erschuf die Junge Union ein Logo, das Sö-
Jahrzehnten versucht, ihm Skandale nach- Als Markus Söder endlich inmitten wu- ders wuchtiges Konterfei umrahmt von
zuweisen. Erfolglos. Der CSU-Vorsitzende selnder Grundschüler am Frühstücksbuffet Sternen zeigt. Der Nachwuchs wollte sich
Seehofer attestierte Söder 2012 den Hang steht, wiederholt er permanent die glei- offenbar bei Major Markus einschleimen.
zu »Schmutzeleien«. Der Weltöffentlichkeit chen drei Sätze. Wie heißt du? Woher Dem war es nicht zu blöd, ein Foto des
blieb er bis heute eine Erklärung schuldig, kommst du? Noch jemand Orangensaft? Söder-Logos mit sich davor auf Instagram
worauf er damals anspielte. War es Söder, Geselligkeit, wohl in keinem Bundesland zu posten, versehen mit dem Hinweis: »So
der die »Bild«-Zeitung auf die Schwanger- demonstrativer zelebriert als in Bayern, sieht Zukunft aus.«
schaft von Seehofers Geliebter in Berlin ge- geht ihm vollkommen ab. Das ist im Bier- Die plumpe Eigenwerbung überlagert
bracht hat? Nach allem, was man weiß, zelt nicht anders als in der Grundschule. den Fakt, dass »Bavaria One« eines seiner
führt die Spur eher zu der Frau selbst. Wenn die Blaskapelle das »Prosit der Ge- wenigen visionären Projekte ist. Ansons-
Die Oppositionsparteien haben mit ei- mütlichkeit« anstimmt, ist Markus Söder ten macht Söder Politik am Fließband. Je-
nem Untersuchungsausschuss zum fünf meist schon zum nächsten Bierzelt enteilt. den Tag eine gute Tat. Dem Richtfest für
Jahre zurückliegenden Verkauf staatlicher Dass er einmal etwas aus dem Bauch he- die neue Umweltstation am Wöhrder See
Wohnungen an einen Privatinvestor ver- raus entscheidet, etwas aus Prinzip tut oder in Nürnberg folgt die Ankündigung einer
sucht, Söder zu beschmutzen. Vergebens. vielleicht sogar der Stimme seines Herzens 400 Meter langen Hyperloop-Teststrecke.
Klar kann man es falsch finden, dass dem folgt, kommt nicht vor. Jede Antwort, und Mit Markus Söder wird es in Bayern mehr
damaligen Finanzminister Söder die Ret- es sind viele, die er jeden Tag gibt, klopft Reiterstaffeln, mehr digitale Klassenzim-
tung der Bayerischen Landesbank wichti- er auf Falltüren ab, bevor er sie gibt. mer, mehr Investitionen in den öffent-
ger war als niedrige Mieten. Illegal war »Herr Söder, welches ist Ihr Lieblings- lichen Nahverkehr geben.
das Geschäft aber nicht. lied von Udo Jürgens?« Er geht die Hits Mitunter wirken seine Kabinettsmitglie-
Dass er Menschen für seine Zwecke in- der Reihe nach im Kopf durch, dann ent- der wie stumme Maskottchen, die neben
strumentalisiert, ist der handfesteste Vor- scheidet er sich für »Ich war noch niemals dem Star der Mannschaft zum harmlosen
wurf, den man Markus Söder machen in New York«. Seine Begründung leuchtet Lächeln verdammt sind. Ein Teamplayer
kann. Zu beobachten an einem Mittwoch- sofort ein: »Mit der Antwort kann man ist Markus Söder nicht. Das muss er aber
morgen um sieben Uhr in einer Grund- nichts falsch machen.« werden, will er sein Land mehr als nur ei-
schule des Münchner Brennpunktviertels Man weiß so viel über ihn: Er mag Ba- nen Wahlkampf lang führen.
Westkreuz. Markus Söder will gemeinsam demäntel, im Abitur hatte er die Note 1,3, »Ich bin kein Ideologe«, sagt Söder über
mit der Schauspielerin Uschi Glas und de- seine Lieblingseissorte ist Pistazie, seine sich. »Machen und kümmern, das ist mei-
ren Verein Brotzeit e.V. Frühstück an Schü- Hunde heißen Bella und Fanny, früh wur- ne Philosophie.« Er will das Gegenmodell
ler verteilen. Der Ministerpräsident bindet de er vom Elternhaus auf Leistung ge- zur Berliner Republik verkörpern, in der
sich eine rote Schürze um und verkündet trimmt. All das erzählt er bereitwillig, alle hinter verschlossenen Türen Krisen-
in Richtung des Fernsehteams, dass er die etwa auf der Veranstaltungsreihe »Söder gespräche führen und außer faulen Kom-
Mittel des Vereins auf eine halbe Million persönlich« in Kinosälen im ganzen Land. promissen nichts auf die Reihe bekommen.
Euro verdoppelt habe. Ein CSU-Vorstandsmitglied aber antwor- Die Sorgen und Nöte seiner Bürger, mö-
Dann dreht er sich zur Pressesprecherin: tet auf die Frage, wie sich der Mensch Mar- gen sie noch so klein sein, sind der Roh-
»Wo sind die Kinder?«, will er wissen. Die kus Söder vom Politiker unterscheide, stoff, der die Politikmaschine Markus Sö-

24 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Deutschland

der am Laufen hält. Söder ist immer dann salto in die Rolle des lieben Landesvaters. Einfachere
am besten, wenn unlösbare Aufgaben war- Beide zahlten mit dem Verlust der persön-
ten: Die Koordination der Fluthilfe 2013 lichen Glaubwürdigkeit.
in Bayern lief über seinen Schreibtisch zü-
gig und geräuschlos. Die Rettung der Baye- Söders Glück ist, dass der Bayern-CSU
Abläufe?
rischen Landesbank ist ihm im Gegensatz Seehofers Schlagzeilen-Schlagzahl inzwi- Dank digitaler Vernetzung
zu den Finanzministern in Hamburg und schen so auf die Nerven geht, dass sie
Nordrhein-Westfalen gelungen. Im Prinzip sich mit Markus Söder solidarisiert. Fällt
macht Söder Politik wie ein Möbelpacker. das Wahlergebnis der CSU in Bayern so mit Kunden, Behörden
Der interessiert sich auch nicht für die fer- schlecht aus wie von den Demoskopen
nen Ziele, sondern ordnet in Kisten ein, vorhergesagt, wird wohl als Schuldiger der und Steuerberater.
was vor ihm liegt, und trägt sie weg, wenn Parteivorsitzende und nicht der Spitzen-
sie im Weg stehen. kandidat entmachtet werden.
Dabei bleibt er, wie in seinem angebli- Markus Söder hätte weniger verloren,
chen Lieblingslied von Udo Jürgens, ein wenn er so geblieben wäre, wie er immer
Mann aus der Provinz, dessen Horizont schon war: permanent im Angriffsmodus.
auch dort endet. »Das Beste für Bayern«, Ein Ministerpräsident in Gefechtsstellung
lautet sein einfaches Motto. Oder noch ba- muss für die Demokratie in Bayern nichts
naler: »Modern sein und bayerisch blei- Schlechtes bedeuten, solange er auch der
ben.« Bundespolitische Ambitionen hat AfD den Krieg erklärt – wie das Markus
Söder keine, europäische Visionen erst Söder auf seiner Rede beim CSU-Parteitag
recht nicht. »Die Zeit des geordneten Mul- übrigens getan hat.
tilateralismus« ist zu Ende, befand Söder Mit Provokation kann er Politikverdros-
mit Blick auf den Brexit in England und senheit vielleicht wirksamer heilen als mit
die Europäische Union. In diesem Satz ist simulierter Bürgernähe. Weil er zu Wider-
am ehesten eine Überzeugung erkennbar: spruch einlädt. Weil Menschen das neue
Söder glaubt nicht an eine große Zukunft Polizeiaufgabengesetz genau durchlesen
des europäischen Projekts. In Söders Welt und sonntags in München demonstrieren
ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders statt in Bayerns schöner Natur zu wandern.
staatsmännisch wirkt das nicht. Und weil der bayerische Leitspruch in der
Anfang August belegte Markus Söder Wahlkabine »Augen zu, CSU« nicht mehr
in einem Beliebtheitsranking aller Minis- gilt. Die Wähler schauen genauer hin, be-
terpräsidenten Deutschlands den letzten vor sie ihr Kreuz machen.
Platz. Weil er das Polternde abgelegt hat- Wäre Weichheit wirklich gefragt, hätte
te? Oder weil das Publikum Schwierigkei- sich die brave Ilse Aigner bei der Kandi-
ten hatte, ihm den weichen Söder abzu- datenkür um die Nachfolge Horst Seeho-
nehmen? Vielleicht war am schlimmsten, fers durchgesetzt. Und die Spitzenkandi-
dass er weder die eine noch die andere datinnen der Grünen und der SPD würden
Rolle durchhielt. sich nicht gegenseitig die Stimmen klauen.
Als im Frühsommer die 14-jährige Su- Die eine fordert mehr Mut, die andere
sanna in Wiesbaden offenbar von einem mehr Anstand. Warum wollte Markus Sö-
irakischen Asylbewerber getötet worden der die beiden mit den reinen Herzen noch
war und im rechten Teil Deutschlands übertreffen? Er hätte die Menschen im
Angst vor gewalttätigen Migranten in eine Freistaat einfach weiter glauben lassen
hysterische Debatte mündete, setzte bei können, dass ihm morgen Teufelshörner
Markus Söder der Beißreflex ein. Er war wachsen. Und in seinem Hobbykeller ein
mit der Erste in der CSU, der per Interview Fallbeil steht.
in der »Bild«-Zeitung die Zurückweisung Markus Söder erzählt, er habe im Wahl-
von Asylbewerbern an der Grenze ins kampf eine neue Erfahrung gemacht. Bür-
Spiel brachte. ger kämen auf ihn zu und sagten: »Die
Im darauffolgenden Sommertheater um CSU wähle ich zwar nicht, aber den Job
den angeblichen Migrationsmasterplan des des Ministerpräsidenten traue ich Ihnen
Innenministers Horst Seehofer rief Söder zu.« Tatsächlich ist es erstaunlich, wie vie-
das »Endspiel um die Glaubwürdigkeit« le Menschen den Ministerpräsidenten auf Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-
aus und brachte weite Teile der Bevölke- den Veranstaltungen bestürmen und um schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
rung und des linksliberalen CSU-Flügels ein Selfie bitten. Teenager, Kellner, Hop- Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
gegen sich auf. Aus dieser Zeit stammt eine fenköniginnen. Sogar der Beamte von der Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
Forsa-Umfrage, in der die meisten Befrag- Bereitschaftspolizei, der zur Brotzeit in im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
ten in Bayern antworteten, das größte Pro- die Münchner Grundschule abbestellt ist,
blem, das Bayern derzeit habe, seien die will ein Foto mit Markus Söder.
CSU und der bayerische Ministerpräsident. Der glaubt, dass es einen bayernweiten
Digital-schafft-Perspektive.de
Auf Platz zwei lag die Migration, auf Platz Konsens gibt, der ihn zum Garanten sta-
drei das Wohnen. biler Verhältnisse in Bayern erklärt habe.
Während Horst Seehofer mit seinem Die Bürger wollten ihn zwar, wählten ihn
Rücktritt vom Rücktritt den Bruch der aber nicht. Das ist, wie gewohnt, übertrie-
Großen Koalition in Berlin abwendete, ben selbstbewusst.
probierte Markus Söder den Rückwärts-

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Deutschland

Röttgen: Es ist einerseits schwierig, sich

»Den Bach runter« von einer Methode zu trennen, die man


entgegen dem Rat vieler mit Erfolg prak-
tiziert hat. Das muss man in Rechnung
stellen. Andererseits kann jetzt kein Zwei-
Union Der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen, 53, fel mehr daran bestehen, dass ein Metho-
über die Fehler von Bundeskanzlerin denwechsel nötig ist. Wenn der unter-
Angela Merkel und den drohenden Absturz der Volkspartei CDU bleibt – was bisher der Fall ist –, dann
wird sich die Systemkrise verschärfen.
Das Jahr seit der Bundestagswahl ist ein
SPIEGEL: Herr Röttgen, die CDU/CSU- Röttgen: Die CDU/CSU ist inzwischen in verlorenes Jahr.
Bundestagsfraktion hat einen neuen Vor- Umfragen unter 30 Prozent, und wenn wir SPIEGEL: Das hieße aber im Klartext, Frau
sitzenden gewählt, gegen den ausdrück- das, worüber wir gerade gesprochen ha- Merkel müsste sich auf dem Parteitag hin-
lichen Wunsch der Parteivorsitzenden. ben, nicht stoppen, wird die Abwärts- stellen und sagen: »Ich sehe ein, dass mein
Was sagt das über den Zustand der Union spirale weitergehen. Die SPD ist in den Politikstil an seine Grenzen gekommen ist.
aus? Umfragen schon jetzt unter 20 Prozent, Lasst uns etwas Neues überlegen.«
Röttgen: Das heißt, dass es einen Wunsch und sie wird auch unter 15 Prozent fallen, Röttgen: Wie Angela Merkel einen Metho-
nach Veränderung gibt, der stärker war als wenn sich nichts ändert. Wenn wir jetzt denwechsel begründen würde, weiß sie
das Votum der Kanzlerin. zunächst darüber diskutieren, wer wann selbst am besten. Es gibt ja auch nicht nur
SPIEGEL: Herr Brinkhaus hat seine Kan- was wird, anstatt uns endlich darauf zu die Parteivorsitzende, sondern eine Gene-
didatur mit keinem inhaltlichen Argument einigen, wo wir politisch hinwollen, wäre ralsekretärin, Stellvertreter und ein Präsi-
begründet. Ist das Verlangen nach Verän- das ein strategischer Fehler mit weitrei- dium. Wir brauchen jedenfalls die klare Bot-
derung mit einem Personalwechsel an der chender Wirkung. schaft, dass wir unsere Art, Politik zu ma-
Fraktionsspitze schon befriedigt? SPIEGEL: Wer soll in Ihrer Partei diese De- chen, ändern werden. Sonst wird es uns
Röttgen: Nein, es muss politisch etwas ge- batte führen? Die Parteiführung bis hin nicht gelingen, verlorenes Vertrauen wie-
schehen. Das zieht dann möglicherweise zur Parteivorsitzenden will sie offenbar derzugewinnen.
auch personelle Fragen nach sich. Es wäre nicht, sonst wäre sie ja längst im Gange. SPIEGEL: Eine Botschaft für den Wandel
naiv, das zu leugnen. Aber ich halte die Röttgen: Ich glaube, dass der nächste Par- – das würde der Kanzlerin nach 13 Jahren
Reihenfolge für entscheidend. Dass sich teitag der CDU Anfang Dezember ein im Amt niemand mehr abnehmen.
politisch etwas verändern muss, ist mit ganz entscheidender sein wird. Bis dahin Röttgen: Ich will gar nicht darüber speku-
Händen zu greifen. Es passiert aber nichts. ist immerhin noch Zeit, und kein Mensch lieren, was das am Ende personell bedeu-
SPIEGEL: Was sollte sich denn ändern? erwartet jetzt das Patentrezept für alles. tet. Wenn wir wieder den traditionellen
Röttgen: Wir erleben in den westlichen Die Führungsaufgabe liegt vor allem darin, Gestaltungsanspruch an Politik erheben,
Demokratien, und seit einiger Zeit auch dass man zu der Selbsterkenntnis kommt, wird man sehen, was daraus folgt. Jeden-
in Deutschland, eine ernste Krise, die ich falls ist das eine notwendige Veränderung.
als systemische Erschöpfung bezeichnen SPIEGEL: Sie reden die ganze Zeit von in-
würde. Die globalen Veränderungen sind »Die Große Koalition ist haltlicher Erneuerung. Was meinen Sie
riesig, und gleichzeitig hat die etablierte unter den bestehenden konkret?
Politik ihren Gestaltungsanspruch auf- Röttgen: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die
gegeben. Das macht vielen Menschen schlechten Möglichkeiten Migrationskrise hat uns völlig unvorberei-
Angst. Wir müssen wieder politisch gestal- die schlechteste.« tet getroffen. Dabei hat Deutschland wie
ten, denn tun wir das nicht, wird es weiter fast alle europäischen Staaten einen Hilfe-
dramatisch den Bach runtergehen. ruf des Welternährungsprogramms der Ver-
SPIEGEL: Das ist ein harter Vorwurf von dass die Politik in den Parteien, vor allem einten Nationen ignoriert. Offensichtlich
jemandem, der einer Partei angehört, die auch in der CDU, wieder beheimatet sein stimmt etwas nicht in unserer Organisation
seit 13 Jahren die Kanzlerin stellt. muss. Das heißt, wir müssen aufhören, uns von Politik, wenn es darum geht, Krisen
Röttgen: Das ist kein Vorwurf, sondern nur mit uns selbst zu beschäftigen. Diese zu erkennen. Selbst wenn sie eigentlich
meine Analyse der Situation. Wir haben Führungsaufgabe muss benannt werden. nicht mehr zu übersehen sind, reagieren
eine harte Realität, die muss man mal an- SPIEGEL: Was Sie beschreiben, ist das Ge- wir nicht. Daraus muss man doch mal
sprechen. Die Mitte schrumpft, die popu- genteil dessen, für das Frau Merkel in den Schlüsse ziehen. Ich kann nicht erkennen,
listischen Ränder wachsen. Anderswo, vergangenen Jahren stand. Sie hat auf Ent- dass wir das bisher getan haben.
etwa in Italien, haben diese Ränder inzwi- politisierung gesetzt. Ihr Konzept der SPIEGEL: Es wird doch durchaus debat-
schen die Regierung erobert. Trotzdem asymmetrischen Demobilisierung war ge- tiert. CDU und CSU haben den jüngsten
fehlt noch immer das Bewusstsein dafür, rade darauf ausgerichtet, politische Debat- Streit über die Flüchtlingskrise gerade erst
wie breit und tief diese Krise ist. Davon ten zu vermeiden. Wie soll jetzt ausgerech- hinter sich.
ist keiner auszunehmen, auch die CDU net Frau Merkel die notwendigen Diskus- Röttgen: Die beiden großen Veränderungs-
nicht. Aber dieser Befund gilt deutlich sionen anstoßen? treiber sind Technologie, vor allem im Be-
über die Regierungsparteien hinaus. Wenn Röttgen: Zunächst einmal muss man sa- reich der Digitalisierung, und Geopolitik.
wir nur eine Oppositionspartei hätten, die gen, dass die Linie von Frau Merkel in der Wir führen in der Union überwiegend un-
dieses Vakuum sinnvoll füllen würde, hät- Vergangenheit außerordentlich erfolgreich produktive Scheindebatten. Die Diskus-
ten wir eine ganz andere Situation. war. In der Eurokrise habe ich auch ge- sion, die wir vor der Sommerpause über
SPIEGEL: Demnach ist die Unionsfraktion meint, man müsse mehr erklären und be- den Masterplan von Horst Seehofer ge-
die Sache falsch angegangen. Eigentlich gründen. Und trotzdem hat die Union bei führt haben, hat uns in eine veritable Re-
hätte man erst definieren müssen, was der Bundestagswahl 2013 fast die absolute gierungskrise geführt. Jetzt frage ich mich:
man inhaltlich anders machen will, um Mehrheit geholt. Ihr Konzept ist also auf- Wo ist eigentlich das Problem geblieben,
dann zu entsprechenden personellen Kon- gegangen. das uns fast zum politischen Selbstmord
sequenzen zu kommen. SPIEGEL: Das klappt nicht mehr. in der Regierung geführt hat?

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schen Nähe zwischen den Schwesterpar-


teien hat sich grundsätzlich nichts geändert.
SPIEGEL: Die CSU glaubt, Angela Merkel
habe die Union zu weit nach links gerückt.
Um Wähler zurückzuholen, sei eine kon-
servative Wende nötig.
Röttgen: Diese Analyse halte ich für falsch.
Eine Partei, die stehen bleibt, die sich als
Glaubensgemeinschaft gegen Veränderun-
gen abschottet, die marginalisiert sich. Was
die CDU unter der Führung von Angela
Merkel geschafft hat, ist, im Zentrum der
Gesellschaft zu bleiben und sich mit der
Gesellschaft zu verändern.
SPIEGEL: Dabei haben Sie aber in den ver-
gangenen Jahren viele Menschen verloren.
Röttgen: Wir verlieren derzeit dramatisch,
weil zu der Finanz- und zur Eurokrise
noch eine weitere Krise hinzugekommen
ist, welche die Menschen viel stärker be-
rührt, nämlich die Migrationskrise. Die ist
nicht mehr abstrakt, sondern mit Gesich-
tern verbunden. Es löst in vielen emotio-
nal und psychisch etwas aus, wenn in sehr
kurzer Zeit sehr viele fremde Menschen
kommen. Das hat die vorher schon vor-
handenen Krisensymptome verschärft.
SPIEGEL: War es im Rückblick ein Fehler,
nicht früh genug zu sagen: Es gibt Grenzen
der Integrationsfähigkeit?
Röttgen: Ja, sicher. Um es klar zu sagen:
Der Fehler war nicht, diejenigen nach
Deutschland zu lassen, die schon in
Europa waren. Das habe ich immer als
praktisch, humanitär und alternativlos an-
gesehen, wenn Sie mir dieses Wort gestat-
ten. Aber es sind jetzt rund eine Million
Menschen aus zum Teil sehr entfernten
Kulturen hier. Anzunehmen, dass wir das
mit unserem traditionellen Integrations-
instrumentarium, das einmal für türkische
Gastarbeiter entwickelt wurde, bewältigen
STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL

könnten, ist unrealistisch. Wir bräuchten


ein ganz neues Integrationskonzept. Aber
darüber debattieren wir nicht.
SPIEGEL: Ist es nicht ein anderes strukturel-
les Problem, dass durch das Entstehen der
AfD jetzt nur noch Parteienkonstellationen
Merkel-Kritiker Röttgen: »Wir verlieren derzeit dramatisch« möglich sind, die immer eine gewisse Belie-
bigkeit haben? Mit der AfD geht es nicht,
also macht man halt Jamaika, Große Koali-
SPIEGEL: Halten Sie die Debatte darüber, Röttgen: Ich war schon nach dem Schei- tion oder vielleicht auch mal eine Ampel?
ob die Union konservativer werden müsse, tern der Jamaikagespräche der Meinung, Röttgen: Es ist in der Tat eine große Ge-
um AfD-Wähler zurückzugewinnen, für dass es nur noch schlechte Lösungen ge- fahr, dass man wegen der AfD nur zu Ko-
hilfreich? ben würde und dass unter den bestehen- alitionen kommt, die sich mathematisch
Röttgen: Das sind oberflächliche, rein tak- den schlechten Lösungen die Große Ko- rechtfertigen, aber nicht politisch. Deshalb
tische Reflexe, die den Bürger nicht er- alition die schlechteste sei. Leider gibt es müssen wir in der Politik wieder strategi-
reichen. Den Bürgern geht es nicht um ideo- keinen Grund, meine Meinung zu ändern. sche Führungskompetenz etablieren.
logische Debatten. Sie erleben diese Verän- Die Große Koalition ist die Regierungs- SPIEGEL: Sie reden sehr viel von Erschöp-
derungswucht, neben der praktisch alle form der systemischen Erschöpfung, die fung. Wäre eine Amtszeitbegrenzung für
anderen Themen und Probleme verzwer- den Wettbewerb auflöst und das Wachs- Kanzler nicht sinnvoll?
gen. Und sie sehen, dass wir uns nicht sub- tum der Ränder befördert. Röttgen: Ich habe von inhaltlicher Er-
stanziell mit diesen Fragen beschäftigen, ge- SPIEGEL: Nicht nur das Parteiensystem, schöpfung geredet, nicht von personeller.
schweige denn Lösungen vorschlagen. auch die Union zwischen CDU und CSU Aber abstrakt gesehen, halte ich eine Be-
SPIEGEL: Lässt sich das, was Sie wollen, scheint sich aufzulösen. grenzung der Amtszeit für sinnvoll.
in einer Großen Koalition überhaupt noch Röttgen: Da bin ich optimistisch. An der Interview: Ralf Neukirch
vermitteln? menschlichen, emotionalen und politi-

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 27


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Deutschland

te Treffen der Frauen mit Merkel erscheint

Phantomtreffen manchen Sozialdemokraten plötzlich un-


passend. Etwa Andrea Nahles, der Chefin.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeiti-
Koalition Die Regierung verheimlicht ein Gespräch zwischen gen macht die nebensächliche Causa zum
Teil einer sich täglich verschärfenden Koa-
Parlamentarierinnen der SPD und der Kanzlerin. Warum aus einem litionskrise. Drei Tage lang geht es um die
harmlosen Termin hinter den Kulissen ein Politikum wurde. alte Frage, wie viel Nähe erlaubt und wie
viel Distanz nötig ist, um als selbstbewuss-
ter Regierungspartner wahrgenommen zu

D as Foto verschwand nur Sekunden,


nachdem es geschossen worden war,
und nun will niemand mehr wissen,
wer es hat. Die einen meinen, es müsse
Der Termin passt den Genossinnen. Ein
Austausch gleich nach der Sommerpause
hat viel für sich, so glauben die SPD-Frau-
en. Schließlich soll der Herbst eine Art
werden und nicht als Unionsanhängsel.
Am Montag, den 10. September, be-
schäftigt sich der Fraktionsvorstand der
SPD mit dem anstehenden Frauengipfel.
sich im Kanzleramt befinden, da habe das Neustart der Koalition werden. Nahles, so schildern es Teilnehmer, hält
Treffen schließlich stattgefunden. Die an- Das Problem ist, dass nach dem Ferien- angesichts des Klimasturzes in der Koali-
deren raunen, das Foto sei im Besitz der ende von Neustart nichts zu spüren ist, im tion wenig von dem Treffen. Andere wei-
Sozialdemokraten, denn die hätten den Gegenteil: Die Stimmung verdüstert sich. sen darauf hin, dass parallel zum Gespräch
Termin doch unbedingt haben wollen. In Horst Seehofer irrlichtert durch die Migra- bei Merkel Maaßen vor dem Innenaus-
jedem Fall aber schlummere es in einer tionspolitik. Am 7. September, fünf Tage schuss aussagen werde, in dem auch einige
Schublade, damit es nur ja nicht unbefugt vor dem geplanten Treffen im Kanzleramt, SPD-Frauen anwesend sein müssten. Wie
verbreitet würde, heißt es. Und jetzt bitte zündelt Hans-Georg Maaßen, der Verfas- solle man denn, so der Tenor, da entspannt
keine Nachfragen mehr. Die Sache sei ner- sungsschutzchef, in der »Bild«-Zeitung. miteinander umgehen?
vig genug. In der SPD gärt es, die Verzweiflung Katja Mast, Nahles’ Stellvertreterin und
Es ist ein merkwürdiger Fall, über den in über die Koalition wächst. Das anberaum- informelle Sprecherin der SPD-Frauen,
diesen Tagen im Kanzleramt und in der
SPD getuschelt wird, als hätte die Bundes-
regierung ein geheimes Atomprogramm auf-
gelegt. Dabei ist der Kern der Geschichte
nicht sehr spektakulär: Angela Merkel hat
sich vor vier Wochen mit knapp 50 Frauen
aus der SPD-Bundestagsfraktion im Kanz-
leramt zu einem Abendessen getroffen. Es
gab Salat und Hühnerfrikassee, drei Stun-
den lang plauderten die Teilnehmerinnen
über dies und das, es entstand ein Gruppen-
bild. Eigentlich keine Riesennummer.
Im Zuge der jüngsten Koalitionskrisen
aber wurde aus dem vermeintlich harm-
losen Termin ein Politikum, von dem nie-
mand etwas erfahren sollte. Weil manche
Beteiligten nicht wollten, dass man vor

PHOENIX
den Landtagswahlen vom Abgrenzen re-
det und dann fröhlich gemeinsam speist,
wurde über das Treffen Stillschweigen ver-
einbart. Kein Foto. Keine Meldung. Nichts.
Was wirkt wie eine Lappalie, ist in Wahr-
heit ein Lehrstück über die Verkrampfun-
gen in dieser Koalition und die Ängste in
der SPD, die zuweilen auch Selbstver-
ständliches zum Gegenstand diffizilster
taktischer Erwägungen werden lassen.
Seinen Ursprung hat der Fall am
14. März, dem Tag der Kanzlerwahl. Mer-
kel steht im Plenum und steckt gerade ihre
Stimmkarte in die Urne, als eine junge
Sozialdemokratin, die Brandenburgerin
Manja Schüle, sie fragt, ob man sich nicht
einmal zusammensetzen könne, um über
PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL

die Zukunft dieser Republik zu sprechen.


Eine Art Frauengipfel. Das ist die Idee.
Schüle selbst will sich nicht dazu äußern,
aber sicher ist, dass Merkel ihren Plan gut
findet. Es dauert ein paar Monate, dann
sendet ihr Büro im Sommer das Signal:
Kommt gern ins Kanzleramt. Am 12. Sep-
tember hätte die Regierungschefin Zeit. Parteichefin Nahles (3. v. l.) mit SPD-Frauen, Kanzleramt in Berlin: Eine Frage des Timings

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schickt am Dienstagmorgen eine E-Mail für einen Ausweis guter Führung, dass
an die Genossinnen. Das Treffen sei wegen Nahles ihre Meinung nach dem Gespräch
Gremiensitzungen abgesagt. geändert habe. Zudem, so wird betont,
Die Nachricht erreicht auch Merkel, habe sie nicht veranlasst, den Termin ab-
pünktlich zu Beginn der Haushaltsdebatte zusagen. Wirklich wohl aber ist nieman-
im Bundestag. Alle sind im Plenum, Olaf dem, weil zu offensichtlich ist, welche Ver-
Scholz stellt seine Pläne vor, es geht um renkungen und Fassaden inzwischen nötig
Überschüsse und Arbeitsplätze. Aber wer sind, um in dieser Koalition überhaupt et-
sich die Aufzeichnung der anschließenden was hinzubekommen. Und sei es eine un-
Debatte aufmerksam anguckt, sieht noch schuldige Verabredung zum Abendessen.
einen anderen Film ablaufen, der mit Etat- Am Mittwoch, den 12. September, fin-
fragen nichts zu tun hat. den sich die SPD-Frauen gegen 18.30 Uhr
Um 10.51 Uhr, es spricht gerade AfD- im Kanzleramt ein. Merkel hat einen Saal
Mann Peter Boehringer, marschiert die in den oberen Etagen reserviert. Nahles
Kanzlerin zu Andrea Nahles. Merkel, so ist nicht dabei. Sie hatte das nie geplant;
erinnern sich die, die das Gespräch von ih- außerdem will sie die Debatte rund um
ren Sitzen hören konnten, zeigt sich über- den Auftritt Maaßens vor dem Innenaus-
rascht. Warum denn jetzt der Termin ab- schuss verfolgen, der zeitgleich stattfindet.
gesagt worden sei, fragt sie. Ob das aus Merkel nimmt sich für die Frauen viel
grundsätzlichen Erwägungen geschehen Zeit. Es gibt einen Aperitif. Die Runde ver-
sei oder ob es nur Terminprobleme gebe. sammelt sich auf dem Balkon, und die
Sie weiß, wie skeptisch viele Genossen der Kanzlerin hält eine Ansprache. Wo sie
Koalition inzwischen gegenüberstehen. gerade Michelle Müntefering sehe, falle
Nein, nein, erwidert Nahles. Nichts Grund- ihr ein, so Merkel, dass sie auch mit Franz
sätzliches. Nur eine Frage des Timings. Ob Müntefering einst versucht habe, ein sol-
man das Treffen nicht verschieben könne? ches Treffen zu organisieren. Das habe lei-
Es ist 10.58 Uhr, als Nahles sich zum der nie geklappt. Umso schöner sei es, dass
Krisentreffen in die hinteren Reihen ihrer es nun gelinge. Es gibt ein paar Lacher.
Fraktion zurückzieht. Eine größere Grup- Das Foto entsteht noch vor dem Essen.
pe von Genossinnen hat sich bereits ver- Es wird, so heißt es, auf Merkels Initiative
sammelt. Ex-Umweltministerin Barbara gemacht. Sie kennt die Macht der Bilder,
Hendricks ist dabei und die Staatsministe- und anders als der SPD helfen ihr solche
rin im Auswärtigen Amt Michelle Münte- Symbole der Überparteilichkeit. Dann set-
fering. Sie sind wegen der Absage irritiert zen sich die Frauen an den Konferenztisch.
und reden aufgeregt auf Nahles ein. Merkels Gästen gefällt das Gespräch.
Während vorn inzwischen ein CDU- Manche sagen im Rückblick, es sei schon
Mann am Mikro ist, berichtet die Frak- deshalb ein gutes Treffen gewesen, weil
tionschefin ihren Parteifreundinnen von die Männer fehlten. Im Saal habe es kein AVIO
Merkels Nachfragen und, so schildern es Alphatier-Gehabe gegeben und keine Damen-Halbschuh
Anwesende, erneuert ihren Vorschlag, das Showauftritte. Ein sachlicher Austausch,
Treffen zu verschieben. Sie brauche in der ruhig und konzentriert. Merkel und die
Causa Maaßen alle Freiheiten. Unter- SPD-Frauen sprechen über das Werbever-
schiedliche Botschaften könnten die Par- bot für Schwangerschaftsabbrüche, über
teibasis verwirren. Es ist ein Dilemma, in
dem Nahles im Grunde jeden Tag steckt.
Wege, mehr Geschlechtergerechtigkeit her-
zustellen, über ein Paritätsgesetz und die
DER SCHUH ZUM
Nicht mitmachen, aber doch dabei sein.
Der großkoalitionäre Spagat schlechthin.
Die meisten Anwesenden sehen die Sa-
Situation im Osten Deutschlands. Natür-
lich gibt es keine Beschlüsse, und bei man-
chen verstärken sich sogar die Zweifel, ob
WOHLFÜHLEN
che anders als Nahles. Sie verstehen nicht, Merkel die Frauenpolitik wirklich ernst
wie man ein lange geplantes Treffen absa- nimmt. Aber die Koalitionskrise, die drau-
gen kann. Einen solchen Termin einfach ßen im Regierungsviertel tobt, scheint im
zu streichen – auch das sei ein politisches Bankettsaal für einen Moment weit weg.
Signal. Protokollarisch sei das ein Foul- Gegen halb zehn löst sich die Runde auf. • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
spiel. Die Stimmung in der Runde: Wir ge- Nichts wird gestreut. Weder in den Nach- • SUPERBEQUEM-FUSSBETT
hen zu Merkel, Maaßen hin oder her. richtenagenturen noch bei Facebook oder • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
Nahles willigt schließlich ein, bittet je- Twitter. Es ist, als hätte dieses Treffen nie-
• GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
doch darum, kein Foto vom Treffen zu ver- mals stattgefunden. Eine erstaunliche Dis-
öffentlichen und sich auch ansonsten zu- ziplin im Zeitalter der digitalen Transpa-
rückzuhalten. Katja Mast muss abermals renz. Jedenfalls für ein paar Wochen.
eine E-Mail schreiben. Diesmal um das ab- Die Nachwehen werden die Beteiligten
gesagte Treffen wieder zu bestätigen. noch ein bisschen beschäftigen. Am kom-
KATALOG UND BEZUGSQUELLEN:
Für Nahles ist es eine schwierige Ent- menden Mittwoch wollen sich die Frauen
www.finncomfort.de
scheidung, und über ihr Verhalten gibt es in der SPD treffen, um das Gespräch im
zwei Deutungen in der Fraktion. Die einen Kanzleramt noch einmal zu resümieren.
lesen die Situation als Beispiel dafür, wie Dann, so heißt es, müsse auch endlich das
schwer es der Chefin mittlerweile falle, Foto verteilt werden. Veit Medick
sich durchzusetzen. Die anderen halten es

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 29 FINNCOMFORT, POSTFACH,


D -97433 HASSFURT/MAIN
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Deutschland

der nun beschuldigten Rechtsextremen sol-

Der Probelauf len bei dem Überfall dabei gewesen sein.


Als terroristische Vereinigung stufte der
Generalbundesanwalt die Truppe zu-
nächst nicht ein. Das änderte sich, als die
Rechtsextremismus Gab es in Chemnitz »Hetzjagden« oder nicht? Ermittler die Einträge aus der geheimen
Während die Republik eine mühsame Debatte führte, Chatgruppe von »Revolution Chemnitz«
hat sich vor Ort offenbar eine neue Terrorzelle gebildet. ausgewertet hatten.
Demnach, so heißt es in einer vertrau-
lichen Analyse des Bundeskriminalamts

A m Tag der Deutschen Einheit nieselt


es in Chemnitz, der Wind pfeift kalt
durch die Laubbäume. Nur ein paar
leere Flaschen stehen im Musikpavillon
bekommen. Die Razzien gehen aufs Konto
von Generalbundesanwalt Peter Frank
und seinen Karlsruher Ermittlern.
Frank treibt seit Langem die Sorge um,
(BKA), könnte die Gruppe den Überfall
am 14. September lediglich als »Probelauf«
gesehen haben, für einen Anschlag, der
womöglich am 3. Oktober stattfinden soll-
auf der Schlossteichinsel. Die verfallenen dass sich nach dem NSU eine neue Terror- te. Ein potenzielles Ziel, vermuten die Er-
Mauern sind mit Graffiti übersät. An einer zelle bilden könnte. Ende 2016 klagte er mittler, könnten Veranstaltungen am Tag
Stelle prangt das Antifa-Zeichen, darunter: acht Mitglieder der »Gruppe Freital« an. der Deutschen Einheit in Berlin gewesen
»Das Volk muss weg«. Sie hatten Sprengstoffanschläge auf Flücht- sein. Möglicherweise habe die Gruppe da-
Bei schönem Wetter treffen sich hier oft lingsunterkünfte und Linke verübt und bei auch im Sinn gehabt, »mittels gezielter
junge, linke Chemnitzer und Flüchtlinge. wurden vom Oberlandesgericht zu hohen Provokation eine Konfrontation der linken
Am Nationalfeiertag aber ist ein anderes Haftstrafen verurteilt. Genauso wie Mit- Szene mit eingesetzten Polizeikräften« zu
Publikum erschienen. Ein paar Männer glieder der »Oldschool Society« (OSS), die initiieren, schreibt das BKA.
stehen an der Anlegestelle und steuern
Modellboote durchs Wasser, andere tragen
schwarze Jacken, trinken Bier.
»Nicht alle Ausländer gehören hierher«,
empört sich ein jüngerer Mann. Ein älterer
schimpft, dass er nichts von dem, was über
die Schlossteichinsel in der Presse stand,
glaubt: »Das ist doch alles von oben ge-
steuert.«
Die Schlossteichinsel ist einer dieser
Orte, die Chemnitz bundesweit im Ge-
spräch halten. Am 14. September über-
fielen Rechtsextreme als selbst ernannte
»Bürgerwehr« Besucher der Insel. Offen-
bar wollten sie für einen größeren An-

VINCENT KESSLER / REUTERS


schlag am 3. Oktober üben.
So weit kam es nicht. Am Montag, nur
zwei Tage vor der möglichen Terroratta-
cke, nahm die Polizei mehrere Verdächtige
fest. Insgesamt acht Männer sollen einer
Terrorgruppe namens »Revolution Chem-
nitz« angehören. Wenn die Ermittler recht Terrorverdächtiger in Karlsruhe, Polizisten: »Nicht immer gewaltfrei«
haben, wollten sie mit Gewalttaten sogar
die Mordserie des »Nationalsozialistischen
Untergrunds« (NSU) übertreffen. ebenfalls eine rechtsterroristische Vereini- Ausgetauscht hatten sich die Männer in
Immer wieder Chemnitz: Nach den gung gebildet hatten. einer verschlüsselten Chatgruppe des Mes-
Ausschreitungen Ende August waren bald Gleich nach den Chemnitzer Ausschrei- sengerdiensts Telegram. Christian K., der
die meisten Kamerateams und Reporter tungen Ende August standen die Karls- mutmaßliche Anführer, soll sie eingerich-
wieder abgezogen. Die Maaßen-Affäre ruher Ermittler im engen Austausch mit tet und sieben Kameraden dazu eingela-
und der Koalitionskrach hatten die Auf- den sächsischen Behörden. Am 21. Sep- den haben.
merksamkeit auf Berlin konzentriert. tember übernahm der Generalbundes- In ihrer geschlossenen Chatgruppe er-
Doch die Debatte um »Hetzjagden« hat anwalt schließlich ein Verfahren gegen gingen sich die Männer in revolutionären
eine viel wichtigere Diskussion verdrängt – mehrere Rechtsextreme wegen der »be- Fantasien. Es gehe um nichts weniger, als
ob sich in der Stadt am Erzgebirge eine sonderen Bedeutung«. die Geschichte zu ändern, schrieb K. am
neue Qualität des Rechtsextremismus of- Es ging um den Überfall auf der Schloss- 10. September gegen 17 Uhr unter dem
fenbart hat. teichinsel. Etwa 15 Rechte kamen an einem Pseudonym »Keily Hase« in einer Art
Die Razzien vom Montag sind ein Freitag gegen 21 Uhr dorthin, ausgerüstet Gründungsaufruf. Man wolle etwas bewe-
Alarmsignal. In der sächsischen Stadt kam mit schlagkraftverstärkenden Handschuhen gen, aber das klappe »leider nicht immer
es nicht nur zum Schulterschluss zwischen und einem Elektroschocker. Erst verlangten gewaltfrei«. Jeder der Männer sei lange
AfD und Pegida mit Rechtsextremen – of- sie von Jugendlichen, die dort einen Ge- genug in der Szene, und sie hätten unter-
fenbar ist dort auch eine braune Terrorzel- burtstag feierten, dass diese ihre Ausweise schiedliche »Fähigkeiten«: Zusammen
le entstanden. zeigten. Dann beschimpften sie eine Grup- könne man »Welten bewegen«.
Die Festnahmen lassen auch erkennen, pe aus Deutschen, Iranern und Pakistanern Am nächsten Abend legte Christian K.
wie wenig es den sächsischen Behörden mit rassistischen Parolen und attackierten kurz vor Mitternacht nach: Die Revolution
gelingt, die rechte Gefahr in den Griff zu sie: Drei Migranten wurden verletzt. Fünf fordere Opfer, »wir werden keine sein«.

30 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Die Feinde waren schnell ausgemacht: Schon vor zwölf Jahren führte er eine Ka- Brandbeschleuniger gewirkt haben. Nach
»Merkel-Zombies«, die »Mediendiktatur meradschaft an, die in Mittelsachsen Angst dem Tod von Daniel H., den Asylbewer-
und ihre Sklaven«, die Antifa und der und Schrecken verbreitete. Die Truppe ber erstochen haben sollen, gingen meh-
»Schwarze Block«. Den NSU, der zwi- nannte sich »Sturm 34«, nach einer einst rere der Rechtsextremen auf die Straße,
schen 2000 und 2007 zehn Menschen er- in der Region Mittweida stationierten SA- an verschiedenen Tagen, immer wieder.
mordete, bezeichnete K. als »Kindergar- Brigade. Ziel der Neonazis: Die Gegend »Wir wollen keine Messermänner«, pos-
tenvorschulgruppe«. »zeckenfrei und braun« zu machen, indem tete einer von ihnen im Internet. Zu einem
Doch es blieb nicht bei solchen Parolen. sie »Linke und Bunthaarige« bedroht und Handyvideo der rechten Proteste schrieb
Die Männer unterhielten sich darüber, wie überfällt. Mehrfach schlugen Mitglieder er: »Volk steh auf und Sturm brich los!« –
sie an scharfe Schusswaffen kommen könn- der Kameradschaft bei ihren »Skinhead- ein Satz aus Joseph Goebbels Rede zum
ten, im Gespräch waren eine Heckler & kontrollrunden« brutal zu. »totalen Krieg«.
Koch MP5 und eine Walther 9 mm. Eine Schon damals prüfte die Bundesanwalt- Christian K., der mutmaßliche Anführer
Waffe sei für etwa 800 Euro zu bekommen, schaft, ob sie das Verfahren gegen »Sturm der Gruppe, schrieb in der vertraulichen
behauptete einer der Männer im Chat, in- 34« übernehmen könnte, auch das BKA Chatgruppe, es sei an der Zeit, »nicht nur
klusive drei Magazinen. Ein anderer sprach und der Verfassungsschutz beschäftigten Worte sprechen zu lassen, sondern Taten«.
von einer Bestellung »bar und anonym«. sich mit der inzwischen verbotenen Trup- Wie weit die Anschlagsplanungen der
Das BKA geht in seiner Analyse davon pe. Doch am Ende blieb die Angelegenheit mutmaßlichen Terrorzelle waren und ob
aus, einzelnen Mitgliedern der Gruppe in den Händen der sächsischen Justiz. Die die Beweise für eine Anklage reichen,
müsse das »Potenzial unterstellt« werden, aber schaffte es erst nach Jahren, die füh- werden die Ermittler in den nächsten
sich solche Waffen tatsächlich zu besorgen. renden Köpfe der Kameradschaft zu ver- Wochen herausfinden, die Verteidiger der
Gelungen war ihnen dies aber wohl noch urteilen: zu milden Bewährungsstrafen, so Beschuldigten wollten sich zunächst nicht
nicht, bei den Durchsuchungen fanden die auch im Fall von Tom W. äußern.
FACEBOOK / STEN E.

FACEBOOK
Beschuldigter Hooligan E., Propaganda auf Facebook: Neue Qualität des Rechtsextremismus

Ermittler lediglich Schlagstöcke, Pfeffer- Die jetzt aufgeflogene Gruppe »Revo- Der Fall der selbst ernannten Chemnit-
spray und ein Luftdruckgewehr. lution Chemnitz« hat eine lange Vorge- zer Revolutionäre aber zeigt, wie selbst-
Nach den Verhaftungen rechnete das schichte. Bereits im Herbst 2013 ging eine bewusst die rechtsextreme Szene ist – und
BKA mit möglichen Nachahmern: Vermut- Facebook-Seite online, die mit Slogans wie wie gefährlich die aufgeregten Debatten
lich auch deshalb sicherte die Polizei die »frei, sozial, national« und »der Volkstod der vergangenen Wochen sind.
zentralen Einheitsfeiern in Berlin in die- naht« auch den Behörden auffiel. Als Sachsens Ministerpräsident Michael
sem Jahr massiv ab. Selbst Präzisionsschüt- Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen Kretschmer (CDU) am 30. August zu ei-
zen und ein Panzerwagen mit aufmontier- wurden die Netzparolen der Neonazis im- nem Bürgerdialog in die Stadt kam, hätte
tem Automatikgewehr waren im Einsatz, mer radikaler, Ausländer bezeichneten sie er dem mutmaßlichen Rädelsführer Chris-
um die Hauptstadt zu schützen. als »Maden«. Einer der heutigen Terror- tian K. begegnen können. Auf einem Foto
Die meisten der nun Festgenommenen verdächtigen, der Dynamo-Dresden-Hoo- trägt K. eine Schutzweste und einen Knopf
bewegen sich seit Jahren in der Neonazi- ligan Sten E., postete bei Facebook eine im Ohr, im Stil eines Spezialeinsatzkom-
Szene. Sie besuchten rechtsextreme Mu- Fotomontage der »Flüchtlingshexe« An- mandos. In ähnlicher Montur wurde der
sikfestivals wie »Rock für Identität« im gela Merkel, die von einem Schwarzen ver- Neonazi auch vor Kretschmers Bürgerdia-
thüringischen Themar, gingen auf Demos gewaltigt wird. Er selbst posierte in einem log angetroffen. Die Polizei hielt den Rechts-
und Fackelmärsche, einige tauchten mehr- T-Shirt mit der Aufschrift »Sieg oder Tod«. extremen auf und nahm ihm die Schutzwes-
fach in den Akten von Polizei und Verfas- In der Wohnung eines Beschuldigten fan- te ab. Zwei Wochen später saß er in Haft.
sungsschutz auf. Allen voran Tom W., 30. den die Ermittler ein großes Hakenkreuz Maik Baumgärtner, Jörg Diehl,
Auf aktuellen Fotos wirkt der Mann an der Wand. Astrid Ehrenhauser, Martin Knobbe,
mit rotblondem Bart, Hoodie und Baseball- Die Ausschreitungen in Chemnitz Ende Wolf Wiedmann-Schmidt, Steffen Winter
cap harmlos. Doch der Eindruck täuscht: August müssen auf die Gruppe wie ein

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Deutschland

»Wir stehen vor einem Ungetüm«


SPIEGEL-Gespräch Charlotte Knobloch, 85, Präsidentin der Israelitischen
Kultusgemeinde von München, über die Angst der Juden vor der AfD, die Nahostpolitik
Donald Trumps und ihre Wut auf US-Botschafter Richard Grenell

Knobloch wurde 1932 in München geboren.


Ihrer Deportation ins KZ Theresienstadt
entging sie, weil eine ehemalige Haus-
angestellte der Familie das junge Mädchen
als uneheliches Kind ausgab. Der Vater,
ein Rechtsanwalt, überlebte den Krieg als
Zwangsarbeiter. Seit 1985 ist Knobloch
Präsidentin der Israelitischen Kultusge-
meinde von München und Oberbayern,
von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des
Zentralrats der Juden.

SPIEGEL: Frau Knobloch, 73 Jahre nach


dem Ende des Holocaust recken in
Deutschland wieder Rechtsextreme die
Hand zum Hitlergruß. Juden werden auf
offener Straße bedroht, und im Bundestag
bezeichnet ein Oppositionsführer namens
Gauland die NS-Zeit als »Vogelschiss«.
Was lösen die Ereignisse der vergangenen
Monate in Ihnen aus?
Knobloch: Diese Ereignisse belasten uns
außergewöhnlich. Mit uns meine ich die
Mitglieder aller jüdischen Gemeinden in
Deutschland. Ich bin eigentlich Optimistin,
das habe ich von meinem gottseligen Vater
geerbt. Er war nach dem Holocaust davon
überzeugt, dass Deutschland wieder eine
Zukunft haben würde. Ich denke oft an
meinen Vater in letzter Zeit. Und ich hoffe,
dass dieses gruselige Schauspiel der letzten
Monate irgendwie so endet wie viele an-
dere zuvor.
SPIEGEL: Sie klingen nicht sehr zuversicht-
lich.
Knobloch: Ich hätte mir nicht vorstellen
können, dass es wieder so schlimm wird.
Neulich war ich in einem Gymnasium mit
300 Schülern und habe den jungen Men-
schen gesagt: Nehmt die Verantwortung
auf, die wir euch übergeben. Seid stolz auf
euer Land, es hat sehr viel geleistet und
leistet es weiterhin. Und während ich das
sagte, dachte ich: Was redest du da?
Stimmt das überhaupt?
SPIEGEL: Sie haben Zweifel?
RODERICK AICHINGER / DER SPIEGEL

Knobloch: Es gab auch schon früher be-


sorgniserregende Entwicklungen. Zum
Beispiel vor einigen Jahren, als in Mün-
chen eine rechtsextreme Demonstration
stattfand, auf der gerufen wurde: »Juden
ins Gas, Juden raus« und die Polizei nicht
einschritt. Aber so schlimm wie heute war
es noch nie. Zum ersten Mal hat eine Par-
tei den Einzug in den Bundestag geschafft, Ex-Zentralratschefin Knobloch: »So schlimm wie heute war es noch nie«

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deren Programm sich zusammenfassen bin ich nicht dazu gekommen. Sein En- setzen, ohne Beweise vorzulegen. Das ist
lässt mit den Worten: Juden raus. gagement ist bewundernswert. ein Bruch in unserer politischen Kultur.
SPIEGEL: Sie meinen die AfD. SPIEGEL: Schulz rief unter anderem, der SPIEGEL: Der Aufstieg der AfD ist un-
Knobloch: Ich möchte sie eigentlich über- AfD-Vorsitzende Gauland gehöre auf den trennbar mit der Flüchtlingspolitik von An-
haupt nicht beim Namen nennen. »Alter- »Misthaufen der Geschichte«. Was bringt gela Merkel verbunden. Fanden Sie es rich-
native für Deutschland« – was für eine Un- es, sich auf das Niveau der Rechtspopulis- tig, dass Merkel im September 2015 die
verfrorenheit. Aber ja: Ich meine die AfD. ten zu begeben? Grenzen nicht geschlossen hat?
SPIEGEL: Ist die Alternative für Deutsch- Knobloch: Wir können doch im Umgang Knobloch: Ich sehe dieses Thema auch vor
land für Sie eine Nazipartei? mit einer Nazipartei nicht mit Knigge ar- der Folie meiner persönlichen Biografie.
Knobloch: Wie soll man eine Partei sonst beiten. Wenn Politiker der AfD die Nazi- Wenn die US-amerikanische Einwande-
nennen, die ein Programm propagiert, das zeit als »Vogelschiss« in der deutschen rungsbehörde Ende der 1930er-Jahre das
jüdisches Leben unmöglich macht? Diese Geschichte bezeichnen und das Holocaust- Visum, das mein Onkel für seinen Bruder,
Partei ist gegen die rituelle Beschneidung Mahnmal ein Denkmal der Schande nen- für seine Mutter und für mich beantragt
und will das Schächten von Tieren verbie- nen, dann müssen wir rhetorisch zurück- hatte, genehmigt hätte, hätte meine Groß-
ten, durch das Fleisch für gläubige Juden schlagen. Wir stehen vor einem Ungetüm. mutter nicht diesen furchtbaren Tod erle-
erst koscher wird. Wir müssen es bekämpfen, bevor es noch ben müssen. Sie war zu alt für die Einreise
SPIEGEL: Es gibt nicht wenige Juden, die stärker wird. in die USA. Es gab ähnliche Schicksale,
sich in der AfD engagieren – wie kann die SPIEGEL: Der Bundespräsident hat nach die ich damals mitbekommen habe. Des-
Partei da judenfeindlich sein? den Exzessen von Chemnitz an das Schei- halb bin ich absolut dafür gewesen, dass
Knobloch: So wie ein Mensch jüdische tern der Weimarer Republik erinnert. Deutschland die Menschen aufnahm, die
Freunde haben und trotzdem ein Anti- Knobloch: Das war nicht übertrieben. im September 2015 im Budapester Bahn-
semit sein kann, so sind jüdische Mitglie- Weimar ist zusammengebrochen, weil hof in furchtbaren Umständen gelebt ha-
der noch längst keine Gewähr dafür, dass sich die Demokraten, die ja eigentlich die ben. Wir sind doch nach 1945 ein humanes
eine Partei nicht antisemitische Tenden- Stütze des Systems sein sollten, weg- Land geworden.
zen aufweist. Die schiere Anwesenheit geduckt haben. Mich bedrückt sehr, dass SPIEGEL: Die CSU sieht Merkels Flücht-
von Juden ist jedenfalls nicht genug, und die Menschen heute nicht in Massen auf lingspolitik als Fehler.
eine Gruppe wie die sogenannten Juden die Straße gehen und demonstrieren. Es Knobloch: Wir dürfen uns nicht verheben,
in der AfD ist kein Beweis für die Abwe- gibt erschreckende Parallelen zwischen das finde ich auch. In erster Linie müssen
senheit von Antisemitismus. Zumal es wir denjenigen helfen, die durch Kriege
ja nicht nur Juden innerhalb dieser Grup- ihre Heimat verlassen müssen. Wenn ich
pe gibt. die schrecklichen Bilder aus Syrien sehe,
SPIEGEL: Unter den etablierten Parteien
»Wir haben kein Anti- dann dürfen wir keinen Moment zögern.
gibt es erhebliche Verunsicherung, wie sie semitismusproblem, weil Aber wir brauchen ein Einwanderungs-
der AfD begegnen sollen. Attackieren, Menschen aus anderen gesetz, um zu entscheiden, wer passt zu
ignorieren, mit Argumenten stellen – alles uns, wer ist integrationsfähig, wen können
wird versucht, nichts scheint zu helfen. Kulturen zu uns kommen.« wir als Fachkraft gut gebrauchen.
Knobloch: Mir gefällt, wie in München SPIEGEL: Gibt es für Sie einen Zusam-
mit dem einzigen Neonazi im Stadtrat um- menhang zwischen Merkels Flüchtlings-
gegangen wird. Der wird von den anderen damals und heute. Man muss sich nur politik und dem zunehmenden Antisemi-
Parteien komplett ignoriert. Er stellt An- die Äußerungen anhören, die Politiker tismus?
fragen, aber die werden einfach nicht be- dieser Partei ungestraft von sich geben. Knobloch: Da bin ich vorsichtig. Wir ha-
antwortet. Sie erinnern an den Aufstieg der NSDAP. ben nicht ein Antisemitismusproblem,
SPIEGEL: Aber im Bundestag hat jeder Ab- Ich persönlich fühle mich wie im Jahr weil Menschen aus anderen Kulturkreisen
geordnete Rechte. Und die AfD ist mit 1928. zu uns kommen. Das wäre doch eine arg
92 Parlamentariern die größte Opposi- SPIEGEL: Sollte die AfD vom Verfassungs- verkürzte Darstellung.
tionsfraktion. Wie kann man die igno- schutz beobachtet werden? SPIEGEL: Es gibt für Sie keinen qualitati-
rieren? Knobloch: Es ist mir absolut unverständ- ven Unterschied zwischen dem europäi-
Knobloch: Es braucht einen Konsens aller lich, warum das nicht längst geschehen schen Antisemitismus aus dem christlichen
anderen Parteien: Die AfD bewegt sich ist. Ich bin fassungslos. Wenn die AfD Abendland und dem muslimischen Anti-
außerhalb unserer freiheitlichen Werte. beobachtet würde, würden sich ihre Ver- semitismus?
Punkt. Mich befremdet, dass es nicht ein- treter in der Öffentlichkeit vielleicht mä- Knobloch: Das habe ich nicht gesagt. Der
mal diesen Konsens bei uns derzeit gibt. ßigen, anstatt die Bevölkerung aufzuhet- muslimische Antisemitismus funktioniert
Wie kann man das anders sehen? zen. Stattdessen gibt es Gerüchte, Herr überwiegend über die Delegitimierung
SPIEGEL: Die Debatte um den Umgang Maaßen … Israels. Und es gibt einen spezifischen An-
mit der AfD entzündete sich jüngst an ei- SPIEGEL: … der scheidende Verfassungs- tisemitismus, der im Koran seine Wurzel
nem sehr emotionalen Auftritt des frühe- schutzpräsident … hat. Das hat auch einen Einfluss darauf,
ren SPD-Vorsitzenden Martin Schulz, der Knobloch: … habe Vertretern der AfD wo- wie sich der Antisemitismus hierzulande
die Rechtspopulisten mit dem Faschismus möglich Tipps gegeben, wie man einer Be- entwickelt.
in Zusammenhang brachte. obachtung durch den Verfassungsschutz SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Knobloch: Ich fand Schulz’ Reaktion ab- entgeht. Wenn das stimmt, wäre das aus Knobloch: Früher war Antisemitismus die
solut richtig. Jeder muss wissen, wen er meiner Sicht eine Katastrophe. Ablehnung einer gewissen Bevölkerungs-
da wählt, wenn er der AfD die Stimme SPIEGEL: Maaßen äußerte Zweifel an der gruppe. Heute ist es schlicht und einfach
gibt. Die Grenzen klar zu ziehen, das ist Echtheit eines Videos aus Chemnitz, das Judenhass.
unsere Aufgabe. Ansonsten helfen wir bei eine Jagdszene auf einen Einwanderer SPIEGEL: Der Antisemitismus hat sich also
der Normalisierung der Rechtspopulisten. zeigt. radikalisiert?
Ich wollte Martin Schulz einen Brief schrei- Knobloch: Ein Mann in seiner Position Knobloch: Absolut.
ben, aber wegen der jüdischen Feiertage sollte nicht einfach so etwas in die Welt SPIEGEL: Gibt es ein Rezept dagegen?

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 35


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Deutschland
Die Knobloch: Es wird nicht genügend getan, Knobloch: Ich habe Familie in Israel: eine
spektakulärsten das ist ja das Beängstigende. Seit Jahren
weisen wir auf die Problematik hin. Und
Tochter, mehrere Enkel, zwei Urenkel.
Ich habe eine besondere Beziehung zu
eigentlich gibt es ja Institutionen, die da diesem Land und trete für seine Sicher-
Kriminalfälle gefragt wären. Die Politik zum Beispiel.
Die Sicherheitsbehörden. Die Bildungs-
heit ein, wo immer ich kann. Das israeli-
sche Volk will nichts anderes als Frieden,

aus BERLINS einrichtungen. Alle müssten sich auf die


Fahne schreiben, den Antisemitismus zu
bekämpfen, gerade vor dem Hintergrund
unserer Geschichte. Aber das geschieht
davon bin ich hundertprozentig über-
zeugt. Daher begrüße ich die Nahostpoli-
tik von Trump im Grundsatz. Ich hätte
allerdings die US-Botschaft nicht nach Je-
wildesten Jahren viel zu stiefmütterlich. Wer jetzt allein
den Flüchtlingen den Antisemitismus zu-
rusalem verlegt. Das ist ein so großes
Reizthema, damit erschwert man die Lö-
ordnet, macht sich einen schlanken Fuß. sung von Problemen.
Diese Menschen können, wenn man so SPIEGEL: Sie gehören zur letzten Genera-
will, selber nichts dafür. Sie sind so erzo- tion der Holocaust-Überlebenden, wie sol-
gen worden. len wir die Erinnerung wachhalten, wenn
SPIEGEL: Wo sehen Sie die zentralen Ver- keine Zeitzeugen mehr leben?
säumnisse? Knobloch: Ich setze da sehr auf die jungen
Knobloch: In der Bildung. Wir sind da Menschen, die sich in der heutigen Zeit für
massiv im Hintertreffen. Antisemitismus die Vergangenheit ihres eigenen Landes
bekämpft man nicht, indem man sich nur mehr interessieren als vor 10, 15 Jahren.
mit dem Antisemitismus beschäftigt. Man SPIEGEL: Die Berliner Staatssekretärin
bekämpft ihn, indem man lernt, sein eige- Sawsan Chebli hat Pflichtbesuche von Ju-
nes Land zu lieben und des-
sen Werte zu verteidigen.
SPIEGEL: Sie haben neu-
lich in einem Beitrag für
die israelische Tageszei-
tung »Haaretz« den US-
Botschafter in Deutschland,

RODERICK AICHINGER / DER SPIEGEL


Richard Grenell, scharf da-
für kritisiert, dass er sich als
Verbündeter der Rechts-
populisten in Europa in-
szeniert. Warum haben
Sie sich da so eingemischt?
Knobloch: Wenn Herr Gre-
nell den Aufstieg von Anti-
Establishment-Populisten Knobloch beim SPIEGEL-Gespräch*: »Ich bin Optimistin«
288 Seiten mit zahlreichen Abb. · Gebunden mit SU in einem Land begrüßt, in
C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich dem die extreme Rechte
ins Parlament eingezogen ist, fühlen wir gendlichen in KZ-Gedenkstätten angeregt.
Juden uns bedroht. Dass er diesen Zusam- Wie stehen Sie dazu?
menhang offenkundig nicht sieht, ist ent- Knobloch: Das einzige Lager, wo man
In Berlin tobt in den Jahren von setzlich. Herr Grenell bedient sich dersel- die Tragödie noch wirklich wahrnehmen
1918 bis 1933 nicht nur das ben Sprache wie die AfD. Dieser Kreislauf kann, ist Auschwitz. Solche Besuche kön-
gegenseitiger Ermutigungen gefährdet un- nen aber nur stattfinden, wenn sie vorbe-
verruchteste Nachtleben der Welt, sere liberale Demokratie. Da ist es mir reitet werden. Die jungen Menschen müs-
hier haben auch Mord, Raub und auch egal, ob er US-Botschafter ist oder sen wissen, wo sie da hingehen. Und wenn
sonst was. einer nicht will, darf man ihn nicht dazu
Betrug Hochkonjunktur. SPIEGEL: Hat Herr Grenell sich schon mal verpflichten.
Nathalie Boegel erzählt von bei Ihnen gemeldet? SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich gegen
gewissenlosen Mördern, cleveren Knobloch: Nein. die Stolpersteine, die vor vielen Häusern
SPIEGEL: Würden Sie ihn gern treffen? in deutschen Städten an Juden erinnern,
Betrügern und Kriminellen, die Knobloch: Das käme auf die Inhalte an. die dort bis zu ihrer Deportation durch die
zu Lieblingen der Berliner werden. Ich diskutiere gern und jederzeit mit jun- Nazis gelebt haben?
gen Leuten, die sich einer anderen Idee Knobloch: Diese Art des Gedenkens ist
Und sie zeigt, wie ein
angeschlossen haben, und versuche, sie zu für mich eine Katastrophe. Die Leute
kuchensüchtiger Kommissar überzeugen. trampeln auf den Namen der Ermorde-
die Polizeiarbeit revolutioniert. SPIEGEL: Herr Grenell bezeichnet sich als ten herum, Hunde pinkeln darauf. Der
großen Freund Israels. Münchner Stadtrat hat beschlossen, dass
Knobloch: Freundschaft ist ein ziemlich die Erinnerung auf Augenhöhe statt-
weiter Begriff. Viele Leute nutzen ihn, um finden soll. Ich hoffe, dass unser Beispiel
sich in den Vordergrund zu stellen, weil sie Schule macht.
glauben, es kommt gut an.
SPIEGEL: Wie finden Sie die Israelpolitik * Mit den Redakteuren Christoph Schult und Veit Medick
Donald Trumps? in Knoblochs Münchner Büro.

www.dva.de 36 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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SPIEGEL: Juden, die in Israel leben, kön-


nen oft nicht verstehen, wie man als Jude
Mit SPIEGEL+ nutzen
noch in der Diaspora leben kann.
Knobloch: In der Diaspora oder in
Deutschland?
Sie die ganze digitale
SPIEGEL: Macht das einen Unterschied?
Knobloch: Selbstverständlich. Angesichts
der jüngsten Entwicklungen bekomme ich
diese Fragen häufiger gestellt.
Welt des SPIEGEL.
SPIEGEL: Von wem?
Knobloch: Der Teil meiner Familie, der
in Israel lebt, hat diese Fragen schon
hinter sich. Meine Enkelin ist längst er-
wachsen, aber damals war sie mit der
neunten Klasse in Auschwitz. Das ist in
Israel ein Pflichtbesuch. Sie hat mir einen
sechsseitigen Brief geschrieben und mich
gefragt, wie ich in Deutschland leben
kann.
SPIEGEL: Aus Frankreich gibt es seit den
Mordanschlägen gegen Juden einen regel-
rechten Exodus nach Israel. Sehen Sie
diese Gefahr auch für Deutschland?
Knobloch: Ja, die Gefahr besteht. Es kom-
men Gemeindemitglieder zu mir, die
Angst haben. Das ist teilweise irrational,
teilweise verständlich. Ich versuche, ihnen
trotz allem Mut zu machen. Das gehört
zu dem Optimismus, von dem ich gespro-
chen habe.
SPIEGEL: Haben Sie jemals selbst daran
gedacht, nach Israel auszuwandern?
Knobloch: Nein.
1 Monat
SPIEGEL: Warum nicht?
Knobloch: Erstens spreche ich kein He- SPIEGEL+
bräisch. Zweitens glaube ich, dass es wich-
tig ist, dass es in der Diaspora positive gratis
Stimmen für Israel gibt.
SPIEGEL: Ignatz Bubis, einer Ihrer Vorgän-
ger an der Spitze des Zentralrats, hat zum
Ende seines Lebens gesagt, er habe »fast
nichts« bewirkt. Wie blicken Sie zurück?
Knobloch: Er war da schon sehr krank, als
er das gesagt hat. Ich habe ihn angerufen
und gesagt: Wie kannst du so was sagen?
Ich weiß doch, wie viel du bewirkt hast.
SPIEGEL: Sie ziehen ein positiveres Fazit
als Bubis am Ende seines Lebens?
Knobloch: Ich stelle mir diese Frage jeden
Tag, wenn ich die schlimmen Entwicklun-
gen in Chemnitz und anderswo sehe. Aber
dann denke ich immer wieder: Ich habe
etwas erreicht. Sag ich jetzt ganz einfach
aus dem Bauch heraus.
SPIEGEL: Bubis wollte nie in Israel leben,
aber er wollte dort begraben werden. Sie erhalten vollen Zugriff auf alle Inhalte von SPIEGEL+ auf
Knobloch: Er wollte nicht, dass sein Grab SPIEGEL ONLINE, erfahren mit Daily Update das Wichtigste des
geschändet wird. Und das ist ja angesichts Tages und lesen die digitale SPIEGEL-Ausgabe schon freitags
des zunehmenden Antisemitismus eine
echte Gefahr. ab 18 Uhr.
SPIEGEL: Und wo wollen Sie begraben Testen Sie jetzt SPIEGEL+ 1 Monat gratis! Als Abonnent der
werden? gedruckten Ausgabe können Sie dann für nur € 0,70 weiterlesen.
Knobloch: Ich habe mein Familiengrab
hier in München.
SPIEGEL: Frau Knobloch, wir danken Ih-
nen für dieses Gespräch.
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Deutschland

Ein Mann,
ein T-Shirt
Pressefreiheit Sein Protest vor
dem türkischen Präsidenten hat
den Journalisten Adil Yiğit
bekannt gemacht. Das könnte ihn
vor der Abschiebung bewahren.

E r hat das T-Shirt dabei. Adil Yiğit

STEFAN BONESS / IPON


zieht es aus seiner Aktentasche, eine
knittrige Trophäe. Auf rotem Grund
steht in Weiß: »Gazetecilere Özgürlük«.
In Schwarz als Übersetzung: »Pressefrei-
heit für Journalisten in der Türkei«.
Vier Tage zuvor hat er es in Berlin ge- Aktivist Yiğit bei der Pressekonferenz in Berlin am 28. September: Knittrige Trophäe
tragen, bei der Pressekonferenz des türki-
schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
und Kanzlerin Angela Merkel. Das T-Shirt Genossen gefälscht haben. In einer Woh- schrieb ihm das Bezirksamt Hamburg-Mit-
war der Grund, weshalb Yiğit hinausge- nung, die er angemietet hatte, wurde ein te, die Gründe für seinen Aufenthalt seien
führt wurde, auf Veranlassung von Regie- Waffendepot gefunden. Ende der Neunzi- hinfällig: Die »familiäre Lebensgemein-
rungssprecher Steffen Seibert. Nun ist er gerjahre wurde er zu zwei Jahren und acht schaft« mit seinen beiden minderjährigen
berühmt. Und Seibert steht in der Kritik. Monaten Haft verurteilt. Heute sieht er sich deutschen Kindern bestehe nicht mehr, da
Pressekonferenzen sind keine Kund- nicht als Aktivist, sondern als Journalist: diese mit ihrer Mutter im Ausland wohn-
gebungen. Journalisten sollen fragen, keine »Es gibt zwei Arten von Journalisten. Die ten. »Ferner sind Sie nicht erwerbstätig.«
Statements abgeben. Sie sollen berichten, einen machen ihre Arbeit und verschließen Tatsächlich verdient Yiğit als Journalist
nicht kämpfen. Yiğit hat diese Grenze ansonsten die Augen. Die anderen setzen mehr schlecht als recht. Und er hat einen
überschritten. Das T-Shirt, Größe XL, be- sich für die Menschenrechte ein.« Fehler begangen: 2014 tauschte er seinen
druckt in einem Hamburger Copyshop, Er sei mit zwei Plänen nach Berlin ge- Flüchtlingspass gegen einen türkischen
hat ihn vom Journalisten in einen Aktivis- fahren, sagt Yiğit. Plan A waren Fragen an Pass ein, weil er das Land auf dem Weg
ten verwandelt. Erdoğan: Bereuen Sie es, dass Sie die deut- zur Demokratie wähnte. Jedes Quartal
Für viele ist Yiğit, 60, zur Symbolfigur sche Regierung als Nazis beschimpft ha- muss er nun zum Bezirksamt und die Ver-
der Pressefreiheit geworden. Die Bundes- ben? Sie haben den kritischen Journalisten längerung seines Aufenthalts beantragen.
tagsabgeordnete Sevim Dağdelen (Die Lin- Can Dündar als Terroristen bezeichnet – Er empfindet das als Strafe für seine Ver-
ke) ernannte ihn auf Twitter zum »Held was macht für Sie Terrorismus aus? gangenheit.
des Tages«. Das ist etwas dick aufgetragen, Weil er in der Pressekonferenz nicht Yiğit redet sich in Rage. Er spricht von
auch wenn Yiğit auf Türkisch »Held« be- drankam, griff Plan B: Yiğit zog seinen Pul- türkischstämmigen deutschen Beamten,
deutet; in Gefahr hat er sich nicht begeben. lover aus, zu sehen war das T-Shirt, Blicke die ihrem Heimatland angeblich einen Ge-
»In Ankara wäre ich dafür ins Gefängnis und Objektive richteten sich auf ihn. Er fallen tun wollten. Wenn die Behörden sei-
gekommen«, sagt er. wurde hinausbugsiert, auf Betreiben von nen Aufenthalt nicht verlängern sollten,
Richtig ist aber: Yiğit hat die deutsche Regierungssprecher Seibert. Die Bundes- werde er »die Fiktionsbescheinigung ver-
Regierung vorgeführt. Er hat die Kanzlerin tagsabgeordnete Katrin Göring-Eckardt brennen«, so heißt die vorläufige Aufent-
an einer empfindlichen Stelle erwischt: bei (Die Grünen) empörte sich, für ein solches haltsberechtigung.
der Frage, wie mit Despoten umzugehen Vorgehen gebe es »keine Rechtfertigung«. Er erwähnt den türkischen Asylbewer-
ist. Das könnte ihm helfen, wenn es darum Marion Horn, Chefredakteurin der »Bild ber Kemal Altun, der sich 1983 aus Angst
geht, ob er in Deutschland bleiben darf, am Sonntag«, schrieb: Seibert sei für sie vor einer Abschiebung in Berlin umge-
denn Yiğit droht die Abschiebung. »der größte Skandal«. Er habe »uns Deut- bracht hat: »Wollen die Behörden einen
Für ein Treffen hat er ein türkisches Res- sche und unsere Werte lächerlich gemacht«. zweiten Fall Altun?« Man weiß nicht, ob
taurant in Hamburg vorgeschlagen. 1983 Am Dienstag rechtfertigte Seibert sich das eine leere Drohung ist.
kam er als politischer Flüchtling in die in der Regierungspressekonferenz. Yiğits Am 26. November muss Yiğit wieder
Stadt, seither lebt er hier, schreibt für die politisches Anliegen sei nicht der Grund aufs Amt. Er fragt sich, ob seine T-Shirt-
»taz« und sein Onlineportal »Avrupa Pos- gewesen, ihn hinauszuführen, sagte er. Aktion sich negativ auf die Entscheidung
tası« (»Europa-Post«). »Wenn der Ablauf einer Pressekonferenz auswirken werde. Womöglich ist das Gegen-
Yiğit hat eine Zeitung mitgebracht, die gestört wird, dann ist es auch meine Ver- teil der Fall, und der Berliner Eklat schützt
Erdoğan-freundliche »Sabah« aus Istanbul. antwortung einzugreifen.« ihn. Weil Yiğit in der Türkei Haft drohen
Sie nennt ihn einen »Provokateur« – und Erdoğan grinste, als Yiğit abgeführt wur- könnte – und weil seine Abschiebung für
thematisiert seine kriminelle Vergangen- de. Merkels Miene blieb regungslos. Hätte Deutschland ein erneuter PR-GAU wäre.
heit. Als junger Mann gehörte er Devrimci sie punkten können, wenn sie gesagt hätte: Yiğit packt sein T-Shirt wieder ein. Er
Sol an, der Revolutionären Linken. Die Moment, der Mann bleibt hier? will es sich mit Stecknadeln zu Hause an
militante Gruppe wurde später verboten. Brisant wird der Fall Yiğit durch dessen die Wand pinnen. Alexander Kühn
Von Hamburg aus soll Yiğit Pässe für seine drohende Abschiebung. Vor einem Jahr

38 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Damit werden Kinder


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Deutschland

Markus E. ist im Schwarzwald aufge-

Aus der Armenkasse wachsen, er studiert Theologie und Philo-


sophie an der Universität Freiburg und tritt
in den Jesuitenorden ein. Er macht sein
theologisches Diplom an der Universität
Strafjustiz Ein Priester gefiel sich als Manager, er soll Erlangen-Nürnberg und wird 1995 zum
Kirche und Caritas betrogen haben – angeblich um für seine Priester geweiht.
Gemeinde Gutes zu tun. Am meisten profitierte er selbst. Der junge Geistliche ist umtriebig und
erfolgreich. In Ludwigshafen baut er für
die katholische Bildungsakademie ein
»Zentrum für Soziales Management«
(ZSM) auf, deren Geschäftsführer er ist. Er
will die Kirche mehr wie ein modernes
Dienstleistungsunternehmen organisieren.
Markus E. geht in dieser Arbeit auf, fühlt
sich als Manager.
Das Gehalt, das er als Religionslehrer
und beim ZSM bekommt, geht komplett
an den Orden. »Ich merkte, dass dies auf
längere Zeit nicht meiner Person ent-
spricht«, formuliert es Markus E. vor
Gericht. Das Taschengeld von 100 bis
120 Euro, das ihm als Jesuit im Monat zu-
steht, sei ihm zu wenig gewesen. Er habe

PETER-JUELICH.COM / DER SPIEGEL


über seine wirtschaftlichen Verhältnisse
frei entscheiden wollen.
Statt nun sein Leben als Ordensmann
zu beenden und eine andere Berufslauf-
bahn einzuschlagen, macht E. zweigleisig
weiter. Der Pfarrer gründet eine Unterneh-
mensberatung, einen Ein-Mann-Betrieb,
Angeklagter Markus E., Verteidiger Gärtner: Zu wenig Taschengeld er übernimmt Projekte, hält Vorträge, bie-
tet Seminare und Beratungen an, für einen
Tagessatz zwischen 1600 bis 2200 Euro.

A ls junger Mensch will Markus E. un-


bedingt Priester werden. Er glaubt
an Gott, und dieser Glaube erfüllt
ihn. Er sagt noch heute, er versuche das,
und außerhalb der Kirche in ihn hatten,
ausgenutzt und missbraucht. Er soll Rech-
nungen für Leistungen als Berater gestellt
haben, die er gar nicht erbrachte. Er soll
Ob seine Geschäftspartner gewusst hät-
ten, dass er – »ich weiß gar nicht, wie ich
sagen soll«, sagt Richter Oliver Ratzel –
im Neben- oder Hauptamt Pfarrer war?
was ihm im Leben passiere, aus religiöser Geld genommen haben für Pilgerreisen »Ich habe das nie verheimlicht.«
Perspektive zu deuten. Nichts sei ihm und karitative Projekte, die es gar nicht »War es sogar Teil Ihres Kompetenz-
wichtiger, als anderen Menschen zu helfen. gab. Möglich war all das nur, weil sein Amt ausweises?«
Markus E. weiß, dass er als Mitglied ihm Autorität verlieh. »Nein.«
eines katholischen Ordens Gelübde ab- Die Kirche muss sich zudem fragen las- »Könnte ja sein, so nach dem Motto:
legen muss: dass er sich verpflichten muss, sen, warum keinerlei interne Kontrollen Wir haben es mit vielen Beratern versucht,
zu Armut und Enthaltsamkeit. So etwas funktionierten, sodass sich der Geistliche jetzt nehmen wir mal einen Geistlichen.«
liegt ihm weniger, auch das weiß er, schon offenbar vier Jahre lang bedienen konnte »Nein, so war das nicht.«
als junger Mann. Er legt die Gelübde trotz- und so das Vertrauen in die katholische E. verlässt den Jesuitenorden, bewirbt
dem ab. Kirche weiter ramponierte. sich beim Erzbistum Freiburg. Der dama-
Letzten Endes ist es dieser Widerspruch, Wegen Verdunkelungs- und Fluchtge- lige Personalreferent des Erzbistums ist
der Markus E. in Handschellen in Saal B fahr sitzt der leitende Geistliche des Erz- der heutige emeritierte Erzbischof Robert
des Landgerichts Mannheim geführt hat. bistums Freiburg seit Dezember vergange- Zollitsch, dieser habe ihm zugesichert,
In Hemd und dunklen Jeans sitzt er vor nen Jahres in Untersuchungshaft. Er wuss- dass er seine Nebentätigkeit weiter aus-
der Wirtschaftsstrafkammer und will er- te bereits seit dem Sommer, dass seine üben könne. Dokumentiert wird die Ab-
klären, warum er zwischen Januar 2013 Lügen ihn einholen würden, aber er blieb machung nicht.
und April 2017 seine Pfarrgemeinde im in Lahr, einem 46 000-Einwohner-Städt- Zollitsch wird vernommen, seine Aus-
Schwarzwald, den Caritasverband sowie chen, wo er Priester für zuletzt neun Pfarr- sage protokolliert und vor Gericht verle-
die Ordensgemeinschaft der Mannheimer gemeinden war. Er floh auch nicht zu sei- sen. Er widerspricht dem Angeklagten:
Ursulinen laut Anklage hintergangen und nem Lebensgefährten nach Barcelona, von Man habe damals vereinbart, dass die
um rund 228 000 Euro betrogen hat. Er dem etliche in seiner Gemeinde wussten. »beratende Tätigkeit« nur »für bestehende
muss sich auch wegen des Vorwurfs der Vor Gericht gibt sich Markus E. zu- Mandate« gegolten habe. »Weitere waren
Untreue verantworten. nächst überzeugt, alles aufklären zu keine geplant.«
Die Schadenssumme ist gering für ein können. Er habe Gutes tun wollen, betont Im Erzbistum Freiburg und in seiner
solches Verfahren. Aber es passiert eher er immer wieder. Er sei nicht getrieben Gemeinde ist E. schnell beliebt. Ohne dass
selten, dass katholische Geistliche und von Berechnung, Geldgier und Eigennutz. ihn jemand beauftragt hätte, übernimmt
Seelsorger sich mit Kirchengeldern persön- Er scheint ehrlich überrascht zu sein, er Aufgaben für den Caritasverband Lahr,
lich bereichern. Markus E. hat das beson- dass ihm das im Gerichtssaal nicht viele ein Verein mit 400 Mitarbeitern, getragen
dere Vertrauen, das Menschen innerhalb glauben. von 28 Pfarrgemeinden und zuständig für

40 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Walter Kreye
vier Pflegeeinrichtungen und für sechs de und Bekannte unterstützt. Einer habe liest
Wohnanlagen für Senioren. seine Miete nicht zahlen können, ein ande-
Die Mitglieder des Verbandes wählen rer einen Fußpflege-Salon eröffnen wollen.
Markus E. zum Vorsitzenden des Caritas- Markus E. sagt, er habe das Ausmaß
rats, eine Art Aufsichtsrat und Steuer- seiner Betrügereien erst begriffen, als er von
gremium. Kein anderer will dieses Ehren- den Ermittlungsbericht gesehen habe. An-
amt übernehmen. Markus E. erbarmt sich fangs habe er gedacht, dem zuständigen Georges Simenon
– und kontrolliert sich ab jetzt selbst. Kei- Polizeibeamten sei bei der Summe ein
ner stört sich offenbar an diesem Umstand, Komma verrutscht. Er habe mit weniger
keiner sieht Interessenskonflikte. Markus gerechnet.
E. sagt, der katholische Wohlfahrtsver- Er habe ohne Mandat gehandelt, ja,
band sei zu diesem Zeitpunkt in einer »dra- gibt Markus E. zu. Er habe seine Arbeit
matischen wirtschaftlichen Schieflage« ge- gegenüber dem Diözesan-Caritasverband
wesen. Man sei froh gewesen, dass er sich nicht transparent gemacht, ja. Und er
bereit erklärt habe, Geldgeber für eine Sa- habe auch einen Teufel getan aufzude- Die ersten
jetzt
nierung zu suchen, den Laden auf Vorder- cken, dass er selbst hinter der Firma in 12 Fälle –
mann zu bringen und den Estland steckte. »Das war
Konkurs abzuwenden. nicht in Ordnung«, gesteht erhältlich!
Als hauseigener Unter- Markus E. ein. »Aber ich
nehmensberater gilt er als habe nichts Überflüssiges
engagiert, auf vielen Ebe- getan. Ich habe eine Leis-
nen versiert. Die Caritas- tung erbracht, und die hat
Mitarbeiter sehen ihn als der Caritas auch geholfen.«
ENDRIK BAUBLIES / LAHRER ZEITUNG

ihren Vorgesetzten, der er Der Verband habe sich sta-


gar nicht ist. Und sie den- bilisiert. Zeugen bestätigen
ken, Hochwürden arbeite vor Gericht, dass Markus
ehrenamtlich, wie ein Zeu- E. aus der abgehalfterten
ge vor Gericht bekräftigt. Organisation ein funktio-
Tatsächlich berechnet nierendes System gemacht
Markus E. dem angeschla- hat, das inzwischen als
genen Verband für seinen Vorbild für andere dient.
Einsatz 1200 Euro pro Tag. Pfarrer E. Es war ein Rechnungsprü-
Für die Installation einer Vertrauen missbraucht fer der Erzdiözese, dem
»Datenbank« berechnet er schließlich doch etwas auf-
3000 Euro. Für Schulungen, in denen er fiel und der die Ermittlungen ins Rollen
Caritas-Führungskräften beibringt, Mit- brachte.
arbeitergespräche zu führen, verlangt er 72 Rechnungen hat Markus E. gestellt,
18 000 Euro. Markus E. prüft die von ihm das Gericht zerpflückt jede einzelne.
selbst ausgestellten Rechnungen, befindet Und Markus E. verteidigt jedes Mal wort-
sie für sachlich korrekt und unterzeichnet reich, warum seine Arbeit sinnvoll und
sie schwungvoll mit einem »E.«. die Rechnung deswegen in Ordnung ge-
Der Verband überweist die Summen be- wesen sei. Die Kammer hält ihre Skepsis
denkenlos, das Geld geht auf das Konto nicht zurück, einmal sagt einer der Rich-
einer Firma in Estland. Diese Firma gehört ter ungehalten: »Sie können sich vertei-
Markus E. und einem Mittelsmann, der digen, wie Sie wollen, aber Sie brauchen
die Summe im Ausland versteuert und auf nicht anzunehmen, dass wir Ihnen alles
E.s Privatkonto zurücktransferiert. glauben.«
Keiner hinterfragt, keiner hat Bedenken. Für manche Dinge kann selbst E. keine
Markus E. genießt Ansehen über Kirchen- Erklärung geben. Die Pilgerreisen auf dem
kreise hinaus. Er gilt als gut vernetzter Jakobsweg und die Hilfsprojekte für ar-
Visionär, als sympathisch und hemdsärme- beitslose Jugendliche in Pamplona hatte
lig, zupackend und pragmatisch. Einer, der er erfunden, um Vorschüsse zu kassieren.
motivieren, begeistern, bewegen kann und Die Kasse der Seelsorgeeinheit im Pfarr-
auch bei jungen Leuten punktet. büro ließ er auf 4000 Euro aufstocken, um
Als Dekan verdient Markus E. etwa Bedürftige zu unterstützen, die an der Tür
3500 Euro netto, etwa so viel bekommt um milde Gaben bitten. Meist war aber
er nun nebenbei als Unternehmensberater. wohl er es, der sich laut Anklage daraus
Das Leben mit gefülltem Portemonnaie bediente.
gefällt ihm. Richter Ratzel rechnet ihm vor, Sein Verteidiger Edgar Gärtner hat ei-
dass er von 2013 bis 2017 1,36 Millionen nen Deal ausgehandelt. Am Donnerstag
Euro eingenommen hat. soll Markus E. ein umfassendes Geständ-
Das sei ja nicht wenig gewesen, meint nis ablegen. Dann würde er mit etwa
Ratzel. »Was haben Sie mit all dem Geld vier Jahren Freiheitsstrafe davonkom-
gemacht?« Markus E. holt Luft. »Eine gute men. An das Leben hinter Gittern hat E.
Frage. Ich habe keine großen Anschaffun- sich schnell gewöhnt. Er spricht viel mit
gen gemacht, nicht investiert. Ich habe ein- dem Gefängnispfarrer. Julia Jüttner
fach nicht darauf geachtet.« Er habe Freun-
www.der-audio-verlag.de
41
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Deutschland

Es beginnt ein munteres Geben und Neh- Umgekehrt fragte Direktor Broszat den
Geben und men. Der BND liefert Ablichtungen von
Originaldokumenten aus dem Osten und
Dienst, ob er bei einer Recherche behilf-
lich sein könne. Das Institut übermittelte
eigene Einschätzungen der Lage. Das Insti- Hunderte Namen überwiegend ostdeut-
nehmen tut revanchiert sich mit Protokollen der Ver-
höre von Nazigeheimdienstlern durch die
scher Funktionäre, aber auch westdeut-
scher Politiker und Beamter samt Informa-
Alliierten oder dient den Nachlass eines tionen zum Lebenslauf. Der BND möge
Forschung Der legendäre Beraters von Kanzler Konrad Adenauer an: die Angaben ergänzen oder berichtigen.
Direktor des Instituts für Der werde Pullach »gewiss interessieren«. Vor einer DDR-Reise 1987 bat der Di-
Zeitgeschichte, Martin Broszat, Das alles ergibt sich aus dem Ordner rektor den Geheimdienst um »diskrete
»Kontakte zum Institut für Zeitgeschichte Feststellungen» über einen ostdeutschen
kooperierte heimlich mit (München)« im BND-Archiv. Die Koope- Kollegen, den er verdächtigte, für die Stasi
dem Bundesnachrichtendienst. ration war zum beiderseitigen Nutzen – zu arbeiten: Ludwig Nestler vom »Doku-
und ist doch hochproblematisch. Wer mentationszentrum der staatlichen Archiv-
Quellen auswertet, muss wissen, woher verwaltung« beim Innenministerium der
m 17. Oktober 1986 treffen sich zwei sie stammen, um sie einschätzen zu DDR. Wie Broszat dem BND berichtete,
A
ältere Herren zum Mittagessen in
Pullach. Der eine ist Hans-Georg
Wieck und leitet den Bundesnachrich-
können. Broszat aber hielt sich weitge-
hend an die Absprache, die Herkunft zu
verschleiern. Das Institut legte die BND-
hielt er Kontakt zu Nestler, weil dieser Ar-
chivalien gegen harte Devisen in den Wes-
ten verkaufen wollte, die angeblich aus
tendienst (BND). Der andere ist Martin Papiere unter dem Titel »Dokumentation ideologischen Gründen nicht in der DDR
Broszat, Direktor des renommierten Insti- SBZ / DDR« ab. Bis heute weist nichts die veröffentlicht werden konnten.
tuts für Zeitgeschichte in München. Benutzer auf die Herkunft der 19 Bände Der BND beschloss, Broszat vor Nestler
Der umtriebige Broszat plant ein Hand- hin. Und eingeweihte Institutshistoriker, zu warnen und ihn zu bitten, »alle ihm über
buch über die Sowjetische Besatzungszone die den Bestand auswerteten, verschwie- Ludwig Nestler und seine Arbeiten bekann-
(SBZ), aus der 1949 die DDR hervorging. gen in Publikationen, woher ihr Wissen ten oder künftig bekannt werdenden De-
Noch steht die Mauer, und die DDR-Ar- stammte. tails mitzuteilen«. Ob Broszat dem nach-
chive sind für Westler weitgehend ver- Das seinerzeitige Vorgehen entspreche kam, ist unklar. Trotz der Warnung forschte
schlossen. Broszat hofft auf »Amtshilfe« »nicht den normalen, auf Transparenz und er gemeinsam mit Nestler zur Verantwor-
vom BND. Der Dienst soll ihm geben, was Überprüfbarkeit gerichteten wissenschaft- tung deutscher Eliten für den Zweiten Welt-
seine Agenten über jene Zeit zusammen- lichen Kriterien«, räumt Andreas Wir- krieg, was Aufmerksamkeit erregte, weil
getragen haben. sching ein, heute Direktor des Instituts. Zeithistoriker aus DDR und Bundesrepu-
Sein Gesprächspartner vom Geheim- Trotzdem verteidigt er Vorgänger Broszat: blik erstmals eng zusammenarbeiteten.
dienst, sonst so auf Diskretion bedacht, Im Kalten Krieg habe man nur so an die Öffentlich lobte Broszat sein »persönliches
stimmt zu. Unter drei Bedingungen: BND-Papiere kommen können. Vertrauensverhältnis« zu Nestler.
Broszat dürfe nicht selbst im BND-Archiv Gelegentlich verwischten die Grenzen Die neuen Funde dürften den Druck auf
suchen, sondern müsse sich mit dem be- zwischen Wissenschaft und Geheimdienst. das Institut erhöhen, sich mit der eigenen
gnügen, was Pullach herausgebe. Außer Weil ein SPIEGEL-Redakteur einst aus Geschichte zu beschäftigen. Im Herbst 2017
dem Chefarchivar des Instituts dürfe nie- dem Tagebuch eines verstorbenen BND- kam der Verdacht auf, ausgerechnet das
mand erfahren, woher die Papiere stamm- Mitarbeiters zitiert hatte, bat der Geheim- für seine NS-Forschung bekannte Institut
ten. Und drittens wolle der BND seiner- dienst 1987 den Archivar des Instituts habe jüdische Historiker ausgegrenzt und
seits Unterlagen des Instituts erhalten, »so- nachzuforschen. Der meldete: Das Tage- Naziverbrechen verharmlost (SPIEGEL
weit sie für die Geschichte des deutschen buch befinde sich nicht im Archiv des 42/2017). Inzwischen hat der jetzige Direk-
Nachrichtendienstes von Interesse sind«. Nachrichten-Magazins. tor Wirsching Gelder beantragt, damit ex-
terne Wissenschaftler die Geschichte seines
Hauses aufarbeiten. Auch ins BND-Archiv
will man Einsicht nehmen.
Schon ein erster Blick in die dortigen
Bestände zeigt, dass mehrere Institutsmit-
arbeiter mit dem Geheimdienst kungelten.
Gründungsdirektor Gerhard Kroll wurde
von Pullach seit 1949 als »Sonderverbin-
dung« geführt. Um die militärische Zeit-
geschichte kümmerte sich zeitweise Gene-
ral a. D. Hermann Foertsch, im Hauptberuf
Geheimdienstler. Foertschs Sohn Volker,
ebenfalls beim BND, hielt später in einem
Vermerk fest: Ein beträchtlicher Teil der
Mitarbeiter der BND-Sonderabteilung
»Strategischer Dienst« sei im Institut oder
WERNER BACHMEIER / VISUM

in dessen Umfeld zu finden gewesen.


Die Gesprächspartner vom 17. Oktober
1986 werden zur Aufklärung nichts beitra-
gen. Wieck, 90, kann sich nach eigenen
Angaben nicht erinnern. Broszat starb
1989, kurz bevor sein SBZ-Handbuch ver-
öffentlicht wurde. Klaus Wiegrefe
Bibliothek des Instituts in München: Die Grenzen verwischten

42 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Deutschland

Es ist, als ob bundesweit eifersüchtig in


»Kultivierter den Süden geschaut würde. In Bayern kön-
nen Arbeitnehmer, Beamte und Schüler
zwölf gesetzliche Feiertage landesweit ge-
Neid« nießen, Augsburg hat noch einen arbeits-
freien Tag mehr. Am 15. August begehen
die mehrheitlich katholischen Gemeinden
Föderalismus Viele Landes- Bayerns zusätzlich Mariä Himmelfahrt.

STEFAN PUCHNER / PICTURE ALLIANCE / DPA


politiker versprechen Berlin, wieder mal das Schlusslicht, hat
ihren Wählern neue Feiertage. ganze neun Feiertage.
Die Anzahl der freien Tage legen die
Dann geht der Streit Bundesländer eigenständig fest. Der ein-
los, was gefeiert werden soll. zige bundesrechtlich fixierte Feiertag ist
der Tag der Deutschen Einheit am 3. Ok-
tober. Acht weitere Feiertage von Neujahr

M ittwoch statt Sonntag, so will Vol-


ker Bouffier Politikverdrossen-
heit bekämpfen: Dürften die Hes-
sen künftig unter der Woche an die Urne Mariä-Himmelfahrt-Prozession in Bayern
bis Weihnachten haben alle Bundesländer
in ihren Feiertagsgesetzen festgeschrieben,
der Rest gehört zur Kür.
Wenn irgendwo in Deutschland politi-
treten, glaubt der Ministerpräsident, dann Gleiches Recht, das zieht immer sche Kontrahenten um Stimmen werben,
würde dies ein »Bewusstsein für die Be- taucht das Thema zuverlässig auf. Gleiches
deutung der Landtagswahl stärken«. Und Landespolitiker überbieten sich gerade mit Recht wie die Bayern, das zieht immer.
damit nichts die Bewusstseinsbildung stört, Vorschlägen für zusätzliche Feiertage. Der schleswig-holsteinische FDP-Politiker
möchte Bouffier seinen Bürgern an einem Die Hessen sind nur die Spitze der Be- Wolfgang Kubicki sprach sogar von einem
solchen Wahlmittwoch arbeitsfrei geben, wegung. Geht es nach Bouffier, könnten »neu kultivierten Feiertagsneid«.
als »Feiertag der Demokratie«. seine Bürger auch noch am 31. Oktober Demnächst dürfen sich die Thüringer
Sein Manöver ist ein durchsichtiger Ver- freibekommen: An diesem Datum feiern freuen: Sie werden 2019, fünf Wochen vor
such, sich mit dem Versprechen von mehr Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein der Landtagswahl, erstmals den Weltkin-
Freizeit das Wohlwollen der Wähler zu er- und Niedersachsen ihren neuen Reforma- dertag begehen. »Eltern sehnen sich nach
kaufen. In drei Wochen will Bouffier wie- tionstag, den es in den ostdeutschen Bun- mehr gemeinsamer Zeit mit ihren Kin-
dergewählt werden. Doch auch andere desländern schon länger gibt. dern«, heißt es im Gesetzentwurf der Re-

Ein echter Welterfolg: Laut WHO


ist der Pockenvirus dank globaler
Impfprogramme ausgerottet.

1923
Macht der Diphtherie einen
1980
Stich durch die Rechnung:
der erste aktive Impfstoff
gegen die schwere Atem-
wegserkrankung.

1955
Fieberhafter Forschung
sei Dank: Der Impfstoff aus
inaktivierten Polioviren
schützt vor Kinderlähmung.

Dank der Chemie genießen nicht nur


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gierungsfraktionen von Lin- Anzahl der Feiertage Nur welcher das sein Fraktionschef Raed Saleh will lieber am
ke, SPD und Grünen. Wer im überwiegenden Teil eines Bundes- sollte, entzweite das han- 8. März den Internationalen Frauentag
mag da widersprechen? landes geltende (und nicht stets auf noversche Parlament. Die begehen. Die Linke ist mehrheitlich für
Vergangene Woche war einen Sonntag fallende) Feiertage einen waren für den Buß- den 8. Mai, an dem 1945 der Zweite Welt-
die erste Lesung des Ge- 13 Bayern und Bettag, andere favo- krieg endete. Und die Grünen diskutieren
setzes im Erfurter Landtag, risierten einen Tag des neun unterschiedliche Varianten, vom
12 Baden-Württemberg
seine Macher argumentier- Saarland Grundgesetzes am 23. Mai. Holocaust-Gedenktag am 27. Januar (Be-
ten mit Gerechtigkeit. Es Die Katholische Kirche freiung des Konzentrationslagers Ausch-
gelte, die »Feiertageslücke« 11 Rheinland-Pfalz fühlte sich unangemessen witz 1945) bis zum 9. November (Ausru-
Sachsen
zu schließen und die »Un- Nordrhein-Westfalen
auf die Kirchenspaltung fung der Republik 1918, Reichspogrom-
gleichverteilung innerhalb Sachsen-Anhalt hingestoßen, die jüdischen nacht 1938 und Mauerfall 1989).
der Bundesrepublik zu kom- Gemeinden verwiesen auf Es fehle ein geordnetes Verfahren, um
pensieren«. Die oppositio- 10 Hessen antisemitische Ausfälle Lu- einen neuen Feiertag zu etablieren, kriti-
Thüringen
nelle CDU sprach von »Au- Brandenburg thers. Die Grünen hätten siert der Parlamentarische Geschäftsführer
genwischerei«, einen neuen Niedersachsen lieber zwei neue Feierta- der Berliner Grünen, Daniel Wesener. Da-
Feiertag will allerdings auch Bremen ge gehabt, einen Frauen- bei sei ein breiter Konsens wünschenswert.
sie. Ginge es nach der Uni- Hamburg tag und einen Europatag. »Im Idealfall führt eine solche Diskussion
on, würde statt eines Kin- Mecklenburg-Vorpommern Schließlich stimmten SPD zu einer Selbstvergewisserung und zur
dertags der 1995 abgeschaff- Schleswig-Holstein und CDU ohne Fraktions- Verständigung darüber, was einer Gesell-
te Buß- und Bettag wieder 9 Berlin zwang ab wie bei den gro- schaft gemeinsam wichtig ist.« Doch von
eingeführt. ßen Gewissensentscheidun- diesem Stadium sei man weit entfernt,
Andere Bundesländer haben ähnliche gen. »Das Thema hat uns viele Nerven räumt Wesener ein.
Debatten hinter sich. In Niedersachsen gekostet«, heißt es aus der SPD-Fraktion. Gut reden haben die Politiker im feier-
werden die Menschen ab diesem Jahr Berlin darf bald ähnliche Debatten aus- tagsreichen Süden. Baden-Württemberg
regelmäßig am 31. Oktober des Tages kosten. Zwar möchten die Verantwortli- habe genug Feiertage, begegnete der grüne
gedenken, an dem Martin Luther seine chen, wenigstens in der Feiertagsstatistik, Ministerpräsident Winfried Kretschmann
95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in die rote Laterne loswerden, doch was soll Begehrlichkeiten, auch im Südwesten den
Wittenberg anschlug. Ministerpräsident gefeiert werden? Der Regierende Bürger- Reformationstag einzuführen. »Irgend-
Stephan Weil (SPD) hatte 2017, vor seiner meister Michael Müller (SPD) setzt sich wann müssen wir auch noch arbeiten.«
Wahl im Herbst, einen neuen Feiertag für den 18. März ein, mit dem die März- Matthias Bartsch, Jan Friedmann
versprochen. revolution von 1848 verbunden ist. SPD-

2018
So macht die Grippe keine Ihre Chemie sorgt auch morgen
große Welle: mit den jährlich
neu entwickelten Grippe- mit Kreativität und Forschergeist
impfstoffen gegen Viren- für die Prävention von Krank-
stämme der Influenza.
heiten. So steht einer gesunden

2006
Stoff für die Geschichtsbücher:
Zukunft nichts im Wege.

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vor Gebärmutterhalskrebs steht unter www.ihre-chemie.de.
zur Verfügung.

Diplomaten Immunität.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Fest im Griff
Familie Das Smartphone ist vielen Jugendlichen zu einer Art zweitem Gehirn geworden.
Ein Leben ohne können sie sich nicht einmal vorstellen.
Was macht das mit ihnen? Und was mit ihren Eltern und Lehrern?
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Titel

enn Liva wissen will, wann sie Was machen die nur die ganze Zeit da- Menschen heute einsamer, depressiver,

W ihre Periode bekommt, schaut


sie auf ihr Smartphone. Eben-
so, wenn sie einen Parkschein
lösen möchte, ein Bett im Hostel buchen
mit? Und vor allem: Was machen die Din-
ger mit ihnen? Von den Antworten hängt
auch ab, ob es Regeln braucht und, wenn
ja, welche. Die Debatte durchzieht die
ängstlicher seien als junge Menschen frü-
her. Schuld daran: vermutlich das Smart-
phone.
»In der kommenden Dekade werden
oder herausfinden, wie viele Kalorien sie Schulen ebenso wie die Familien. wir mehr junge Menschen erleben, die
beim Joggen verbrannt hat. Und auch, Frankreich hat für die Schulen eine ein- wohl das richtige Emoji für eine Situation
wenn sie abends nach dem Feiern allein deutige Vorschrift getroffen. Die National- kennen – nicht aber den richtigen Ge-
nach Hause geht, durch die dunklen Stra- versammlung beschloss im Juli für Schüler sichtsausdruck«, schreibt Twenge und
ßen zu ihrem Elternhaus. Sie verschickt bis 15 Jahre: Alle Geräte, die einen Zugang empfiehlt, die Zeit am Smartphone zu
dann Lebenszeichen, kurze Sprachnach- zum Internet ermöglichen, sind auf dem begrenzen, notfalls mit einer App. Von
richten an Freundinnen. Schulgelände und auch auf Ausflügen tabu vollständiger Abstinenz rät sie ab. Teen-
Deren Nummern hat sie nicht im Kopf, (siehe Seite 53). ager, die ständig am Smartphone hingen,
warum auch? Sie sind ja in ihrem Smart- In vielen Familien aber wird gestritten, seien zwar auffallend oft depressiv, aber
phone gespeichert. immer und immer wieder, über das Smart- Teenager, die nie ein Smartphone nutzten,
Liva ist 18 Jahre alt, sie geht in die 13. phone zu diskutieren ist fast so selbstver- seien keineswegs besonders glücklich. »In
Klasse einer Hamburger Stadtteilschule. ständlich, wie es zu nutzen. Viele Eltern kleinen Dosen benutzt, ist es eine nütz-
Derzeit besitzt sie Smartphone Nummer sind besorgt, wenn sie ihre Kinder prak- liche Technologie, die unser Leben erleich-
drei. Das erste Gerät bekam sie, da war tisch nur noch vornübergebeugt erleben, tern kann.«
sie 14 Jahre alt, von ihren Eltern geschenkt. mit fixen Augen und flinken Fingern. Zahl- Die spannendste These der Professorin
Einfach so, es gab keinen besonderen An- reiche Mahner und Warner befeuern die- lautet: Die iGeneration werde langsamer
lass; die anderen hatten halt auch eins. Seit- se Ängste. erwachsen. 18-Jährige verhielten sich heu-
her hat sie das Smartphone immer dabei, Da ist, zum Beispiel, Manfred Spitzer, te wie früher 15-Jährige, 13-Jährige wie
immer in Griffweite: morgens, mittags, der Apokalyptiker des digitalen Zeitalters. früher 10-Jährige. Sie gingen seltener oh-
nachmittags, abends, nachts. Seit vielen Jahren veröffentlicht der Ul- ne ihre Eltern aus, sie tränken weniger Al-
Das Smartphone ist ihr ständiger Beglei- mer Psychiater das gleiche Buch. Was kohol, sie hätten später und weniger Sex.
ter geworden, es ist alles in einem. Es dient sich ändert, ist der Titel. »Vorsicht Bild- Das alles überrascht angesichts hoch-
ihr als Fernseher, Fotoapparat, Laptop, Na- schirm!«, »Digitale Demenz«, »Cyber- frequentierter Websites wie YouPorn oder
vigationsgerät, Stereoanlage, Radio, Stopp- der Dating-App Tinder. Vor nicht allzu
uhr, Schrittzähler, Tageszeitung, Taschen- langer Zeit war aus ebendiesen Gründen
lampe, Taschenrechner, Telefon, Video- die Rede von einer sexuell verwahrlosten,
kamera, Wecker. Und vieles andere mehr.
Man kann es auch so ausdrücken: Das
Smartphone ist die Kommandozentrale ih-
res Lebens geworden, das unterscheidet
Liva nicht von den meisten Jugendlichen
und vielen Erwachsenen. Bleibt die Frage:
55 Quelle:
A. Markowetz

Minuten täglich verbringen wir


mit Social Media: 35 auf WhatsApp,
promiskuitiven Generation, der »Genera-
tion Porno«.
Twenges Studie bezieht sich auf die
USA, aber der deutsche Verlag hat al-
lerlei Zahlen zusammengesucht, die für
Deutschland ähnliche Erkenntnisse nahe-
Wer führt eigentlich das Kommando, wer 15 auf Facebook und 5 auf Instagram. legen. So ging der Anteil der 14- bis 17-
hat die Kontrolle über wen? Der Mensch Jährigen, die schon einmal heterosexuel-
über die Maschine, das Gehirn über das len Geschlechtsverkehr hatten, von 2005
Gerät? Oder doch andersherum? krank!«. Moderne Technologien, so seine bis 2014 um mehr als fünf Prozent zurück.
Der Blick auf Jugendliche wie Liva ist Diagnose, machten kurzsichtig, ängstlich, Der Anteil der 16- bis 17-Jährigen, die Er-
interessant, weil sie zu der ersten Genera- depressiv, dumm, unempathisch, sie ver- fahrung mit Alkohol haben, fiel von 2001
tion gehören, die selbstverständlich mit ursachten Übergewicht, Haltungsschäden, bis 2016 von 97 auf 87 Prozent. Und der
dem Smartphone aufwächst, die selbstver- Bluthochdruck, Diabetes, Schlafstörun- Anteil der 12- bis 19-Jährigen, die mindes-
ständlich digital lernt, kommuniziert, lebt. gen. Auflage: mehrere Hunderttausend tens einmal wöchentlich auf eine Party
Natürlich besitzen und benutzen auch die Exemplare. Man muss kein Prophet sein, gehen, sank zwischen 2006 und 2017 von
meisten Erwachsenen ein Smartphone, um vorauszusehen, dass Spitzers neues elf auf fünf Prozent.
auch sie haben die Geräte in ihren Alltag Buch, »Die Smartphone-Epidemie«, er- Doch dass die junge Generation langsa-
integriert und müssten sich mühsam wie- neut ein Bestseller wird. mer erwachsen wird, kann eine Menge
der umgewöhnen, wenn die kleinen Alles- Spitzer fährt mitunter logische Manöver, Gründe haben. Gut möglich, dass Smart-
könner plötzlich verschwänden. bei denen einem schwindlig wird, und zi- phones sie von persönlichen Interaktionen
Die 18-Jährigen aber kennen es gar tiert Studien nur selektiv, um seine These fernhalten: von Alkohol, von Klubs und
nicht anders, jedenfalls nicht aus eigener zu stützen. Gleichzeitig ist er Chefarzt der Bars, von Sex. »Die Party läuft ständig,
Anschauung. Als sie geboren wurden, be- Psychiatrie an der Uniklinik Ulm, ein an- und zwar auf Snapchat«, schreibt Twenge.
saßen viele Eltern bereits ein Handy. Und erkannter Mediziner und Wissenschaftler, Ebenso möglich ist aber, dass kleinere
sie selbst haben sowieso eins. 92 Prozent unbestritten ein Experte. Bloß: Er ist das Familien dafür sorgen, dass das einzelne
der Kinder im Alter von 12 oder 13 Jahren nicht unbedingt in Medienpsychologie, Kind behüteter aufwächst. Oder dass die
besitzen ein Smartphone, unter den Ju- also auf dem Gebiet, auf dem er sich als junge Generation sich besser mit ihren
gendlichen sind es 97 Prozent – also prak- Autor austobt. Eltern versteht als vorherige Generatio-
tisch alle. Deutlich zurückhaltender im Ton ist ein nen; dass ihr Impuls, dem Elternhaus nach-
Das ist eine beeindruckende Zahl. An- anderes Buch, das seit einigen Monaten mittags und abends zu entfliehen, also
dere Studien haben ermittelt: Kinder und auch hierzulande für Diskussionen sorgt. geringer ist.
Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren ver- »Me, My Selfie and I« heißt das Werk der Die Professorin hat auch beobachtet,
bringen täglich gut zweieinhalb Stunden Psychologieprofessorin Jean Twenge aus dass sich seelische Probleme bei Jugend-
in den sozialen Medien – überwiegend mit den USA, die deutsche Ausgabe erschien lichen und jungen Erwachsenen innerhalb
dem Smartphone. im Mai. Twenge diagnostiziert, dass junge weniger Jahre gehäuft haben, vor allem

ILLUSTRATIONEN: FRANCESCO CICCOLELLA / DER SPIEGEL 47


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Handys sind dort nicht vollständig tabu,


sondern stundenweise erlaubt. »Wir wol-
len den Zugang zu Medien nicht komplett
verbieten, sondern den Jugendlichen die
Kontrolle darüber zurückgeben«, sagt der
Therapeut Magnus Hofmann. Die Patien-
ten sollen zurückfinden in einen normalen
Lebensrhythmus. Jeder Bewohner muss
zur Schule oder zur Arbeit gehen, sich ein
Hobby suchen und regelmäßig an Thera-
piesitzungen teilnehmen.
Das klappte viele Jahre gut, doch seit
Handys zu Smartphones und damit zu
kleinen Hochleistungsrechnern geworden
sind, hat Hofmann ein Problem. Ohne
ihr Gerät fühlten sich manche Bewohner
nackt, als fehlte ihnen ein Körperteil. Es
müsse Grenzen für die Nutzung der Smart-
phones geben. »Sonst fangen die Bewoh-
ner an, darauf heimlich die Spiele zu spie-
len, die vom Prinzip denen ähneln, die
sie hierhergebracht haben.«
Auch für Florian Herford war das Han-
dy längst Ersatzdroge geworden, als er
nach Dortmund kam. »Ich habe Panik be-
kommen, wenn mein Smartphone unter
50 Prozent geladen war.« Herford suchte
sich den Strom überall, hatte immer zwei
Ladekabel und mindestens eine Power-
bank dabei, einen ansteckbaren Akku.
Wie viele andere nutzte er das Smart-
phone, um sich in sozialen Medien wie
Instagram und WhatsApp umzutun. Die
meiste Zeit spielte er aber seine Spiele wei-
zwischen 2012 und 2015. Just in jenem man als Jugendlicher die ganze Zeit ›Fett- ter. In einer Begleit-App eines großen Stra-
Zeitraum, in dem Smartphones sich stark sack‹ genannt wird, macht das was mit tegiespiels schickte er unterwegs Schiffs-
verbreiteten. Sie führt Studien an, die be- einem«, sagt Herford. Seine Wohnung flotten los, die ihn im Hauptspiel voran-
legen, dass Jugendliche, die viel Zeit in verließ er fast gar nicht mehr, er trank li- bringen sollten. »Manche Spieltrophäen
sozialen Netzwerken verbringen, häufiger terweise Energydrinks und bestellte sich konnte man nur unterwegs erspielen.«
depressiv seien, dass sie sich einsamer das Essen nach Hause. Als er fast 300 Ki- Mittlerweile kommt Florian Herford,
fühlten, dass sie schlechter schliefen. logramm wog, hielt er es nicht mehr aus der gerade ein Praktikum als Koch macht,
Aber was bedeutet das? Sind sie un- und wies sich selbst in eine psychiatrische dank der Therapie auch mal ohne sein
glücklich, weil sie an ihrem Smartphone Klinik ein. Smartphone aus. »Am Anfang hat es mir
kleben, weil sie sich auf Twitter mit Hate- geholfen, mein Handy mitzunehmen, es
Speech herumschlagen müssen, weil sie dabei aber auszuschalten. So hatte ich die
sich auf Instagram mit anderen verglei- Jugendliche Smartphone-Besitzer Sicherheit, dass es da ist. Trotzdem war
chen und so noch stärker auf ihr Ausse- Anteil in Prozent nicht mehr alles in zehn Sekunden zu er-
hen fixiert sind als frühere Generationen? reichen, sondern in zwei Minuten.«
Oder kleben sie ständig an ihrem Smart- 98 98 99 Die Geschichte von Florian Herford ist
phone, weil sie unglücklich sind und im 92 extrem. Doch sie zeigt, wie mächtig die
Netz beschäftigt und bestätigt werden Sogwirkung der Geräte werden kann –
wollen? oder vielmehr der Anwendungen, die da-
Bei Florian Herford ist jedenfalls, so viel rauf installiert sind. Dass eine ganze Ge-
steht fest, irgendetwas schiefgelaufen. Her- Quelle: neration aus Gewohnheit zum Smart-
JIM 2017
ford, der im wahren Leben anders heißt phone greift, ist kein Zufall. Snapchat,
und unerkannt bleiben möchte, lebt seit WhatsApp, Instagram: Diese Unterneh-
einem Jahr im »Auxilium Reloaded« im men machen den Griff zum Smartphone
Dortmunder Stadtteil Aplerbeck, Deutsch- zum Grundbedürfnis. Der Sog ist gewollt,
lands erstem Wohnheim für medienab- einprogrammiert in die beliebtesten Apps
hängige Jugendliche. Dort wird er abge- der iGeneration.
schottet von all den Dingen, von denen er zum Auf YouTube wird nach Ende jedes Vi-
sich viel zu lange verführen ließ. Vergleich
2011:
deos automatisch das nächste abgespielt.
Herford, 23 Jahre alt und 1,90 Meter User müssen sich also aktiv gegen weiteres
groß, hatte sich in die Welt der Compu- Entertainment entscheiden, bevor sie die
terspiele zurückgezogen. Im virtuellen 14 22 28 35 App verlassen.
Leben fand er das, was ihm die Realität 12- bis 13- 14- bis 15- 16- bis 17- 18- bis 19- Auf Instagram verschwinden die Storys
verwehrte: Erfolge, Freunde, Glück. »Wenn Jährige Jährige Jährige Jährige in der Regel nur 24 Stunden nach der Ver-

48 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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öffentlichung wieder. Wer nicht mindestens Welche Internetangebote das Gymnasium in Veitshöchheim, einem
einmal am Tag reinschaut, verpasst sie. nutzen Jugendliche am liebsten? Vorort von Würzburg, und ist zugleich
Auf Snapchat signalisieren kleine Flam- Vorsitzender der Bundesdirektorenkon-
men, an wie vielen aufeinanderfolgenden Anteil in Prozent ferenz. »Smartphones und das Internet
Tagen man Snaps – Fotos oder kleine Vi- YouTube 55 69 gehören zu unserem Alltag dazu, die Schü-
deosequenzen – mit einer anderen Person Mädchen Jungen ler sollten lernen, kompetent damit um-
ausgetauscht hat. Wer nicht mindestens zugehen«, sagt der 62-Jährige.
einen Snap pro Tag verschickt, verliert alle Seine Oberstufenschüler dürfen ihre Ge-
zuvor gesammelten Flammen. räte auch außerhalb des Unterrichts be-
WhatsApp 50 30
Der Reiz sozialer Medien besteht vor nutzen, allerdings mit strengen Auflagen:
allem darin, ständig überall dabei zu sein, »Nur in der Bibliothek und im Oberstufen-
wenn auch nur am Bildschirm. Experten raum, und das auch nur zu schulischen
sprechen von der »fear of missing out«, Instagram 37 17 Zwecken«, erklärt Brückner. Wichtig sei,
kurz »FOMO« – der Angst, etwas zu ver- dass dies nicht vor den Augen der Jünge-
passen. Durch das Dauerangebot von In- ren passiere. Die älteren Schüler sollten
formationen entsteht das Gefühl: Aus- Quelle: JIM 2017; schließlich Vorbild sein.
Snapchat 24 8
zeiten sind nicht mehr möglich. Umfrage unter
12- bis 19-Jährigen;
Wer sich nicht daran hält und sich er-
Manche Jugendliche wehren sich da- 1183 Befragte; bis
wischen lässt, dessen Handy wird einkas-
gegen, indem sie komplett abschalten. Facebook 16 15 zu drei Nennungen siert. Die Schüler müssen es sich beim
»Digital Detox« heißt eine noch kleine, Rektor abholen, tadelnde Worte gibt es
aber stetig wachsende Bewegung digitaler dazu. Während der Stunde sind die Gerä-
Abstinenzler, die ihre Geräte selten nut- Google 11 9 te hingegen ausdrücklich erlaubt. Wenn
zen – oder erst gar keins besitzen. der Lehrer es gestattet, dürfen die Schüler
Der Soziologe Klaus Hurrelmann, Mit- Informationen recherchieren oder im On-
autor der Shell-Jugendstudien und wohl wird dann gern nach der Schule gerufen, line-Duden nachschauen.
Deutschlands bekanntester Generationen- als könnten und müssten die Lehrer jedes Was in Veitshöchheim geschieht, klingt
forscher, unterteilt die iGeneration in drei Problem lösen. nach viel Verbot mit ein bisschen Aus-
verschiedene Gruppen. Die größte, die et- Tatsächlich ringen viele Schulen um den nahme, nach dem Versuch der Domesti-
wa die Hälfte der Kohorte umfasst, nennt richtigen Umgang mit dem Smartphone. zierung eines grundsätzlich gefährlichen
er »die Souveränen«. Eine Vorschrift für alle – wie in Frankreich – Geräts. Man muss das Ergebnis nicht
Sie gingen selbstbewusst mit dem Smart- gibt es in Deutschland nicht. Nur der Frei- gutheißen, andere Schulen finden andere
phone um, für sie überwögen die Möglich- staat Bayern kennt landesweite Regeln für Lösungen, aber Brückners Gymnasium
keiten die Gefahren bei Weitem. Mit Leich- den Umgang mit dem Handy. Die Geräte ist damit zumindest einem wichtigen An-
tigkeit orchestrierten sie einen Freundes- müssen dort in Pausen und Freistunden spruch gerecht geworden: vernünftige Re-
kreis aus 30, manchmal sogar 40 engen ausgeschaltet in der Tasche bleiben. Im Un- geln gegen mögliche Risiken auszuhan-
Kontakten, mit denen sie in regem Aus- terricht gilt dasselbe, sofern sie nicht, wie deln, damit der Umgang mit dem Smart-
tausch stünden. »Früher waren bis zu 5 en- Kultusminister Bernd Sibler (CSU) betont, phone nicht zu viel und zugleich nicht zu
ge Freunde normal, durch die digitale für »pädagogische Zwecke« eingesetzt lebensfremd wird.
Kommunikation ist ein Vielfaches davon werden. Möchte eine Schule davon abwei- Wie es den Unterricht verbessern kann,
möglich«, sagt Hurrelmann. Für sie spiele chen, müssen Eltern, Schüler, Lehrer und lässt sich am städtischen Osterbek-Gym-
es keine Rolle, ob sie ihre Freunde persön- die Schulleitung einverstanden sein. nasium in Hamburg beobachten. Klassi-
lich träfen, mit ihnen telefonierten oder Dieter Brückner hat eine solche Aus- sche grüne Tafeln und Kreide gibt es hier
chatteten. »Sie sind in der Lage, über all nahme für seine Schule erwirkt. Er leitet längst nicht mehr. In jedem Klassenraum
diese Kanäle intensive Beziehungen auf-
zubauen.« Sie sind die Gewinner der Di-
gitalisierung.
Weitere 30 bis 40 Prozent – Hurrelmann
nennt sie »die Unsicheren« – gingen weit-
gehend kompetent mit dem Smartphone
um, nutzten aber nur einen Teil der Mög-
lichkeiten, die das Gerät biete. »Sie sind
latent überfordert, ihnen bereitet es viel
mehr Mühe, die Technik zu beherrschen«,
sagt der Wissenschaftler. »Zudem besteht
bei ihnen immer die Gefahr, dass sie sich
von den vielfältigen bunten Angeboten da-
vontragen lassen.« Diese Gruppe brauche
Aufsicht und Regeln.
Bei der dritten und kleinsten Gruppe
müsse dringend gehandelt werden. »Sie
haben sich völlig dem Smartphone hinge-
geben, haben sich zum Sklaven der Tech-
nik gemacht.«
Unsicher, sklavisch – zumindest der
zweiten und dritten Gruppe wäre also da-
mit gedient, wenn sie nicht alleingelassen
würde mit den Dingern. In Deutschland

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Titel

hängen Beamer und digitale Tafeln, da- mit dem Display nach unten auf dem Tisch. werks. Ries hat Kinder im passenden Al-
neben, für die Traditionellen, ein White- Der Ton ist abgeschaltet. ter, auch die waren nur sporadisch in
board, eine weiße Tafel aus Emaille, auf Grünke hat beobachtet, dass die Digi- Papas Klub zu Gast. Die Gründe dafür
die man mit Filzstiften schreibt. »Wir talisierung das Machtverhältnis zwischen seien vielfältig, sagt Ries, einer davon:
hatten Sorge, der Kreidestaub könnte Lehrern und Schülern im Umgang mit das Smartphone.
den Beamer beschädigen«, sagt Björn der neuen Unterrichtstechnik aufweicht – Weil die Jugendlichen ständig kommu-
Grünke, der sich hier um digitalen Un- und im Extremfall umkehrt. »Man muss nizierten, müssten sie sich nicht mehr
terricht kümmert. damit leben können, dass einige Schüler treffen. Und täten sie es doch, machten sie
Grünke, Anfang dreißig, zückt sein uns voraus sind«, sagt er. Das anzuneh- ihre eigene Party, »dem Bier vom Su-
Smartphone und öffnet die App Itslear- men falle nicht jedem Kollegen leicht. permarkt und Spotify sei Dank«. Über
ning, um nachzuschauen, welcher Raum Die iGeneration ist die erste, die schon den Musikstreamingdienst können Millio-
gerade verfügbar ist. Im vergangenen im frühen Jugendalter eine zentrale Kultur- nen Songs jederzeit abgespielt werden.
Schuljahr hat Hamburg die App an einigen technik der Gegenwart besser beherrscht »Kein DJ der Welt kann zeitgleich den Ge-
Schulen zur Probe eingeführt, eine Art vir- als ihre Eltern. Anstatt ihre Kinder anzu- schmack aller Leute bedienen.«
tuelles Klassenbuch plus eine Sammlung leiten und sie zu unterstützen, sehen sich Ries berichtet von einer Szene, die sich
von Aufgaben und Lernhilfen für alle Fä- Eltern gezwungen, Nachhilfe zu nehmen in sein Gedächtnis geheftet hat: Vier Ju-
cher. Alle Schüler und Lehrer sind regis- und ihrerseits belehrt zu werden. Eine gendliche stehen gemeinsam an einem
triert und nach Klassen sortiert. kränkende Erfahrung? Tisch, jeder ein Getränk vor sich – und
Wenn die Fünftklässler neu an seine Die aufgeregten Diskussionen auf El- das Handy in der Hand. Er sei zu ihnen
Schule kommen, erwartet sie als Erstes ternabenden, die Konflikte am heimi- gegangen: »Schreibt ihr euch eigentlich un-
ein Smartphone-Crashkurs. »Die Kinder schen Abendbrottisch: Der Frankfurter tereinander?« Über die verdatterten Ge-
sollen das Handy als Arbeitsgerät be- Psychoanalytiker Martin Altmeyer erklärt sichter muss er noch heute grinsen.
greifen«, sagt Björn Grünke. Bis dahin sie sich mit dem unbewussten Wunsch Auf Konzerten schwenken die Zuschau-
sei es vor allem ein Spielzeug gewesen. Er der Elterngeneration, »eine gesellschaftli- er statt Feuerzeugen nun die Displays ihrer
sei immer wieder erstaunt, wie wenig che Entwicklung anzuhalten, von der sie Handys, drehen Videoschnipsel für die ei-
manche Kinder über ihre Geräte wüss- sich überfordert« fühlt. Er spricht von ei- genen Fans in den sozialen Netzwerken
ten – auch wenn sie stundenlang You- ner »Umkehrung des Ödipuskomplexes«. und posten Selfies. Was auf der Bühne pas-
Tube-Videos anschauten und virtuos In früheren Zeiten habe die ältere Ge- siert, wird zur Nebensache. Stars wie Ali-
WhatsApp-Nachrichten tippten. »Viele neration die Welt widerstrebend an die cia Keys, Bruno Mars und Adele zwingen
scheitern schon an einfachen Aufgaben jüngere weitergegeben, zurzeit wirke es ihre Fans neuerdings zu einer Handypause:
wie einen Screenshot zu machen und so manchmal so, als ob sie die medialisierte Bevor sie den Saal betreten, müssen sie
zu speichern, dass sie ihn wiederfinden.« Welt vorzeitig »wie eine heiße Kartoffel« ihre Smartphones in einen gepolsterten
Nach rund einer Woche seien die Fünft- übergebe, um dem medienkompetenten Beutel geben. Das Sicherheitspersonal ver-
klässler fit genug, um am smarten Unter- Nachwuchs wenigstens »das Vorerbe zu siegelt das Täschchen, der Besucher behält
richt teilzunehmen. vergällen«. das Gerät bei sich. Nutzen kann er es erst
Mit dem Smartphone loggen sich die Jürgen Ries war mal einer, der der Ju- wieder nach der Show, indem er die ver-
Schüler in der Lernsoftware Bettermarks gend nahestand, sie besonders gut ver- riegelte Tasche vor einem Gerät entsper-
ein und finden passende Übungsaufgaben stand. Sie kam zu ihm, in seine Diskothek. ren lässt.
vor, die der Lehrer eingestellt hat. Die Ries ist 60 Jahre alt, sieht aber aus wie Das sichert den Musikern die Aufmerk-
Schüler rechnen auf Papier, die Lösung tra- 50 – was bemerkenswert ist, wenn man samkeit und natürlich auch die Hoheit
gen sie in die App ein und sehen sofort, wie er starker Raucher ist und nahezu über Aufnahmen vom Konzert. Wenn der
ob sie richtigliegen. »Für mich ist das sehr das ganze Berufsleben in Nachtklubs ver- Rockmusiker Jack White, ehemals Front-
praktisch«, sagt Grünke. Er könne jedem bracht hat. 37 Jahre lang führte er das mann der White Stripes, im Oktober in
Schüler Aufgaben auf dessen Leistungs- »Getaway«, die größte und zeitweise ein- Deutschland auftritt, wird er die Handy-
stand zuweisen und spare sich die Korrek- zige Disco Solingens. Generationen von Schlafsäcke erstmals auch hierzulande ein-
turen. »Die Zeit kann ich besser nutzen, Schülern tanzten im Strobo-Licht zu setzen. »Die Musik direkter zu erleben
zum Beispiel zum Erklären.« Chartmusik, tranken Pils, droschen Kicker- könnte die Leute regelrecht umhauen«,
Als der Mathelehrer neulich in das The- bälle in gegnerische Tore, knutschten in hofft er. Jürgen Ries staunt, wenn er solche
ma Flächenberechnung einsteigen wollte, der dunklen Ecke neben der Bar. Geschichten hört. »Hätten wir den Leuten
ließ er seine Schüler trotzdem Karopapier Was Jugendliche früher halt so trieben. verboten, im Getaway ihre Handys zu be-
falten und dann Kästchen zählen. »Das Doch damit ist seit Februar Schluss, min- nutzen, wären sie überhaupt nicht mehr
war viel anschaulicher«, sagt Grünke. »Das destens im »Get«. gekommen.«
Smartphone ist natürlich nur ein pädago- »Es lohnte sich nicht mehr«, sagt Ries. Michel Mennekes zählt zu denen, die
gisches Instrument von vielen.« Werden Seine Füße stecken jetzt in nachtblauen nur noch selten kamen. Der Teenager hat
die Geräte gerade nicht gebraucht, ver- Filzpantoffeln, er kümmert sich in diesen neulich seinen 18. Geburtstag gefeiert, seit
schwinden sie in der Tasche oder liegen Tagen um die Abwicklung seines Lebens- Kurzem besitzt er einen Führerschein und

48 43 Prozent:
eher negativ, weil alle
auf ihr Gerät starren
und weniger miteinander
geredet wird.

Prozent finden, dass sich Smartphones eher positiv


auf das Familienleben oder ihren Freundeskreis
73
Prozent der Befragten
glauben, dass Smartphones
86 Kantar Public für
den SPIEGEL vom
24. bis 26. September,
1039 Befragte

Prozent sind dafür, dass die


Nutzung von Smartphones so wie
auswirken, weil man sich zum Beispiel besser verab- Jugendlichen in ihrer in Frankreich vom Schulbeginn
reden oder über Gruppenchats austauschen kann. Entwicklung eher schaden. bis zum Schulschluss verboten wird.

50 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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kurvt in Mamas Fiat durch So- ten besser handeln als ihre
lingen. Es ist Sonntagabend, Kinder. Die Motzerei über
gleich wird er noch zu einem den Nachwuchs hält die meis-
Kumpel fahren, sie wollen ein ten Eltern nicht davon ab,
Bier trinken. den Austausch mit den an-
Die Freunde werden ein deren Eltern der Klasse wie
bisschen quatschen, sich viel- selbstverständlich per Whats-
leicht ein paar Videos auf You- App-Gruppe zu organisieren.
Tube anschauen. In einer Dis- Ist halt praktisch.
co waren sie zum letzten Mal Dass diese Eltern in diesen
vor Monaten. Auch Kneipen Gruppen dann nur präzise, not-
oder Bars betreten sie nur wendige, zielführende Nach-
selten. »Ich brauch das nicht richten verschicken würden,
so«, sagt Michel Mennekes. weil sie ja selbst ach so ver-
Zusammensitzen, zu Hause nünftig mit dem Smartphone
oder im Sommer auch drau- umgingen, behaupten sie nicht
ßen, Bier trinken, Musik hö- einmal selbst.
ren, quatschen, »chillen halt«, Thomas Feibel kennt diesen
so sehen die meisten Abende inneren Konflikt. Vier Kinder
aus, die er und seine Freunde hat er großgezogen, die jüngs-
zusammen verbringen. te Tochter ist 17 Jahre alt. Erst
Oft genug verlässt er die neulich, da fühlte er sich wie-
vier Wände seines Zimmers der ertappt. Er hatte selbst nur
gar nicht erst. Dann liegt er mal eben die Mails checken
auf dem Bett, manchmal al- wollen, diese eine Nachricht
lein, manchmal mit der Freun- beantworten, und darüber die
din, Laptop auf dem Schoß, Zeit vergessen – als er über
und schaut Serien bei Netflix. den Rand seines Smartphones
Aktuell »Insatiable«, eine Art seine Tochter erblickte, eben-
Neuauflage von Aschenputtel, falls den Kopf über ihr Gerät
in der ein Mädchen gegen seine Pfunde Fernseher, mit PC-Spielen, Konsolen oder gebeugt, hingebungsvoll tippend. »Wir ver-
und Mobbing in seiner Schulklasse kämpft, in Chaträumen verbringen durfte. Fernse- gessen immer wieder, dass wir unsere Kin-
erfolgreich abnimmt und schließlich eine her und Computer, meist klobige Dinger der nicht nur mit dem erziehen, was wir
Misswahl gewinnt. Die erste Staffel um- mit würfelartigen Bildschirmen, waren an ihnen sagen, sondern vor allem mit dem,
fasst zwölf Folgen à 45 Minuten. Menne- einer bestimmten Stelle der Wohnung fest was wir tun«, sagt er.
kes und seine Freundin hatten sie in vier verankert. Und wer zu viel Zeit dort ver- Feibel gilt als einer der führenden Ex-
Tagen alle gesehen. Trotzdem findet der brachte, fiel relativ schnell auf. perten in Sachen Kinder und Digitales. Die
Berufsschüler, er hänge nicht übermäßig Ein Smartphone hingegen passt in die Ratgeber, die er zum Thema verfasst hat,
viel am Handy oder Laptop. Hosentasche, es kann jederzeit und überall tragen Titel wie »Jetzt pack doch mal das
Nachts nimmt er das Smartphone mit hervorgeholt werden. Hier den Überblick Handy weg« oder »Smartphones – aber
ins Bett, er nutzt es als Wecker. Die Inter- zu behalten stellt für Eltern eine beinahe richtig!«. Mit seinen Büchern tourt er
netverbindung kappe er meistens. »Ich unlösbare Herausforderung dar. durch die Republik, liest, hält Vorträge, im
habe zwar einen festen Schlaf, aber ich Hinzu kommt: Ein gutes Vorbild zu sein Publikum sitzen fast immer Eltern von
möchte trotzdem nicht gestört werden.« fällt beim Smartphone schwerer als bei Teenagern.
Seine Freundin müsse ihr Handy nachts allen anderen technischen Neuerungen. »Warum verbringt Ihr Kind so viel Zeit
bei ihren Eltern in der Küche lassen, er- Gameboys? Haben vor allem die Kinder mit dem Smartphone?«, fragt er oft zum
zählt Michel Mennekes. Dort hänge es fasziniert. Playstation? Haben Eltern meist Einstieg und lässt die Erwachsenen erst
meist an der Steckdose, um am nächsten nur zum Abstauben angefasst. Computer? mal schimpfen, über diese blöden Spiele-
Morgen wieder einsatzbereit zu sein. War ein Spielgerät für die Kinder – und Apps, die zum Weitermachen animierten,
Damit die Probleme der Jugendlichen die Erwachsenen waren froh, wenn sie über die Mitschüler, die permanent Nach-
nicht überhandnehmen, wird es, wie im- außerhalb ihres Arbeitsplatzes wenig Zeit richten schickten. Und dann, ganz ruhig,
mer in der Erziehung, auf die Erwachse- damit verbringen mussten. sagt er: »Unsere Kinder hängen am Smart-
nen ankommen. Es ist keine neue Debatte: Dem Smartphone sind beide Generatio- phone, weil wir ihnen eins gekauft ha-
Generationen von Eltern und Kindern ha- nen nahezu gleichermaßen verfallen. Das ben.« Schließlich könne ein 15-Jähriger in
ben Stunden um Stunden darüber gestrit- könnte die unbequeme Seite der Debatte Deutschland nicht einfach mit einem Bün-
ten, wie viel Zeit der Nachwuchs vor dem für viele Eltern werden: dass sie mitnich- del Scheine in einen Handyladen laufen

98
Mal am Tag schalten
Kinder und Jugendliche
10
Minuten vergehen im
Durchschnitt, bis Kinder
18
Minuten vergehen im
Durchschnitt, bis wir wieder
unter 18 Jahren das Display und Jugendliche wieder auf eine Tätigkeit für unser Quelle: A. Markowetz,
ihres Smartphones ein. ihr Smartphone blicken. Smartphone unterbrechen. Universität Bonn, 2015

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also keine Ausreden mehr – im Hause Ditt-


mers herrscht zwischen 18 und 21 Uhr
striktes Smartphoneverbot.
Dabei sei es anfangs vor allem um
den Smartphonekonsum der Eltern ge-
gangen, betont Dittmers, gar nicht den
des Sohnes. Der Elfjährige habe zwar
seit einiger Zeit selbst ein iPhone, im Ver-
hältnis zu seinen Klassenkameraden sei
er damit spät dran gewesen. Und bislang
benutze er das Gerät auch noch nicht
besonders viel.
Seine Eltern hingegen hatten das Ge-
fühl, ständig erreichbar sein zu müssen.
Beide sind selbstständig, sie arbeitet als
Yogalehrerin und Coach, er als Video-
produzent. Wenn sie abends nach Hause
kamen und mit ihrem Sohn zusammen-
saßen, klingelte immer wieder das Telefon.
Irgendein Anruf, den man »unbedingt«
annehmen musste. Ständig blinkte das
Handy, weil Nachrichten ankamen. Und
wenn man dann schon nach dem Handy
gegriffen habe, könnte man auch noch mal
schnell nach der Wettervorhersage schau-
en. »Das war irgendwie nervig«, findet
Dittmers. Auch der Sohn sei genervt ge-
wesen, dass Mama und Papa sich abends
immer wieder ablenken ließen.
Das kann gefährlich werden. Im Juli,
während des sagenhaften Sommers in die-
sem Jahr, meldete sich der Bundesverband
der Schwimmmeister zu Wort: »Immer
mehr Eltern schauen auf ihr Smartphone
und nicht mehr nach den Kindern«, klagte
der Verbandspräsident. Zuvor waren Kin-
der in Hannover, Hamburg und Bremen
in Schwimmbädern und Seen ertrunken
oder aus brenzligen Situationen gerettet
worden.
Ein Siebenjähriger aus Hamburg rief
vor Kurzem zu einer Demonstration auf.
und dafür ein Smartphone samt Vertrag be- der einen gewissen Reifegrad haben, ist Er sei genervt gewesen, dass seine Eltern
kommen. Betretenes Schweigen im Saal. ein Smartphone sinnvoll.« ständig am Handy hingen, statt mit ihm
»Oft ist es noch banaler«, sagt Feibel. Er empfiehlt, in Ruhe nachzufragen, wa- zu spielen, gab der Junge gegenüber
»Die Kinder rutschen in den Smartphone- rum das Kind ein Smartphone haben wol- Medien zu Protokoll. Seine offenbar ein-
besitz einfach so rein, weil die Eltern ih- le, wofür es das Gerät brauche und welche sichtige Mutter hatte die Demo daraufhin
nen ihre abgelegten Geräte weitergeben.« Regeln es selbst für den Umgang vorschla- für ihn angemeldet. Bei dem Marsch
Nicht selten suchten die Erwachsenen ge. »Daran merkt man recht schnell, ob zum Hamburger Schanzenviertel, an dem
nach einer Legitimation, sich selbst ein es für diesen Schritt bereit ist«, sagt Feibel. rund 150 Kinder und Eltern teilnahmen,
neues Modell zuzulegen, obwohl das alte Anschließend sollte man diese Regeln de- saß Initiator Emil mit einem Megafon auf
noch hervorragend funktioniere. »Dass finieren, am besten schriftlich festhalten. den Schultern seines Vaters und rief Pa-
die Kinder sich über das Gerät freuen, »So kann man später leichter kontrollieren, rolen wie: »Flugmodus an! Jetzt sind wir
erleichtert das Gewissen der Eltern.« ob sich alle daran halten.« Einmal im Jahr dran!«
Eine Frage, die immer jemand stelle, sollten die Regeln angepasst werden. Nach Angaben der Polizei endete der
laute: »Ab wann sollte mein Kind ein Die Dittmers aus Hamburg haben für Protestzug friedlich: auf einem Spielplatz.
Smartphone haben?« Eine feste Alters- sich eine radikale Lösung gefunden. Um
Laura Backes, Gregor Becker, Tobias
grenze mag Feibel nicht definieren, »ent- 18 Uhr wandern die Smartphones in den Becker, Katharina Meyer zu Eppendorf,
scheidend ist die Reife des Kindes«. Es Handytresor: einen flachen, grauen, ab- Ann-Kathrin Nezik, Miriam Olbrisch,
gebe Achtjährige, die technisch versiert schließbaren Kasten im Bauernschrank im Christopher Piltz
seien und denen ein Smartphone tolle Schlafzimmer. Heike Dittmers, ihr Lebens-
Möglichkeiten biete, ihr Wissen zu erwei- gefährte und der Sohn Levi sind dann off-
tern. Andererseits kenne er auch ältere line. In die Rückwand des Tresors hat Va- Animation
Generation
Jugendliche, die mit den Geräten nicht ter Gerd drei kleine Löcher für die Kabel Smartphone
verantwortungsvoll umgehen könnten. der Ladegeräte gebohrt. So können die spiegel.de/sp412018handy
»Smartphones wurden für Erwachsene Smartphones aufgeladen werden, wäh- oder in der App DER SPIEGEL
konzipiert«, sagt Feibel. »Erst wenn Kin- rend sie in der Dunkelheit ruhen. Es gibt

52 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Titel

Regeln In Frankreich sind Handys an Schulen verboten. men: Lehrer, Elternvertreter und Schüler
beugten sich gemeinsam über die Schul-
regeln. »Wir haben festgestellt, dass das
Ab in den Rucksack neue Gesetz der Regelung entspricht, die
wir seit Jahren haben«, sagt sie. Ihre
Schüler müssen das Handy beim Betreten
des Gebäudes zwar nicht abgeben. Die
G Der Riss geht durch die Familie. »Ich gen. Und sie benutzen das Handy, um Benutzung der Geräte ist allerdings
bin gegen das Verbot«, sagt Élise Closhour- andere zu mobben.« Die Schüler machten überall verboten – im Unterricht, in der
cade, die Enkelin. »Das Gesetz bringt Fotos voneinander, verschickten sie per Kantine, in den Pausen. »Die Schüler
nix«, sagt Alexis Vanpoucke, ihr Cousin. Snapchat, versehen mit verletzenden kommen trotzdem oft mit dem Handy in
Die Oma aber ist anderer Meinung: Kommentaren. »Das werden sie nun nicht die Schule«, sagt Guinin. Die Geräte
»Keine Handys in Schulen? Völlig richtig! mehr so leicht machen können – zumin- müssten auf lautlos geschaltet werden
Ihr hängt doch die ganze Zeit nur noch am dest nicht in der Schule.« und im Rucksack bleiben.
Handy und sprecht gar nicht mehr mit- Wenn sie einem Schüler das Handy »Ich habe schon zigmal ein Handy
einander«, sagt Marthe Closhourcade. Als wegnehme, dann sei das vor allem ein einkassiert, das ist vor allem bei den
wollte ihre dritte Enkelin die Meinung der Drama für die Eltern, sagt Vignes. »Die Mädchen in der achten Klasse ein großes
Großmutter stützen, sitzt sie ein paar Me- stellen sich mehr an als die Schüler. Drama: Die glauben, sie hätten ihr
ter entfernt in dieser typischen Haltung: Wir haben schon tausendfach Klagen ganzes Leben auf dem Handy«, erzählt
den Oberkörper nach vorn geneigt, den bekommen: ›Wie können Sie meinem die Französischlehrerin. »Da wird sofort
Blick fest aufs Gerät in ihrer Hand gerichtet. Sohn sein Handy wegnehmen, wie soll gefeilscht: ›Madame, ich wollte nur
Anfang September endeten in Frank- ich ihn erreichen?‹« kurz auf die Uhr schauen!‹« Manchmal
reich die großen Sommerferien, die Das Handyverbot hatte Präsident klingle das Handy mitten im Unterricht.
zwei Monate der »grandes vacances«. Emmanuel Macron im Wahlkampf ver- »Was mich am meisten wundert: Es sind
Seitdem ist die Nutzung von häufig die Eltern, die ihre Kin-
Smartphones und allen anderen der im Unterricht anrufen.«
Geräten, die einen Zugang zum Jeder Schule ist selbst
Internet ermöglichen, in Kinder- überlassen, nach welchen
gärten, Grundschulen und dem Regeln das Handy konfisziert
Collège, also der Mittelstufe bis werden kann. An Guinins Col-
zur neunten Klasse, nur noch zu lège wurden die Handys anfangs
pädagogischen Zwecken erlaubt. im Büro des Schulleiters abgege-
Ansonsten ist sie verboten – ben, daraus jedoch oft geklaut.
sowohl im Unterricht als auch in Nun wird das Gerät ausgeschal-
den Pausen. Das Verbot gilt tet und in einen Umschlag
ebenso für Ausflüge oder andere gesteckt, auf dem notiert wird,
Schulaktivitäten außerhalb des wem es gehört und wann es
Geländes, Ausnahmen gibt es beschlagnahmt wurde. Der
für Kinder mit Behinderungen. Umschlag kommt dann in
»Offen zu sein für die Zu- den Safe der Schule. Um das
kunftstechnologien heißt nicht, Gerät zurückzubekommen,
dass wir jede Weise akzeptieren muss ein Elternteil beim Schul-
müssen, wie sie genutzt wer- leiter vorsprechen, frühestens
den«, sagte Bildungsminister Jean-Michel sprochen. »Unser Bildungssystem funk- am nächsten Tag. »Freitags ist das
Blanquer in der Nationalversammlung. tioniert nur für eine kleine Anzahl von Geschrei besonders groß, denn dann ist
Er will mit dem Verbot zahlreiche Ziele Schülern«, sagte er. In fast keinem anderen das Handy mindestens bis Montag weg«,
erreichen: die Chancengleichheit ver- Industrieland hängt die Schullaufbahn sagt Guinin.
bessern, Cybermobbing eindämmen eines 15-Jährigen so stark von der sozialen Marthe Closhourcades Enkel wurden
und die Kinder dafür begeistern, mehr Herkunft der Eltern ab wie in Frankreich. alle schon im Unterricht mit dem Handy
Bücher zu lesen. In sozial benachteiligten In internationalen Tests schneiden die erwischt und mussten das Gerät abge-
Familien herrsche oft wenig Bewusstsein Franzosen seit Jahren immer schlechter ben – einmal und danach nie wieder. Bei
dafür, dass die Zeit am Handy beschränkt ab und gehören inzwischen zu den mi- der 14-jährigen Élise waren es drei Tage
werden müsse. serabelsten Schülern Europas. Ein Fünftel ohne Handy, »ich hatte nur einmal kurz
Ende Juli stimmten die Abgeordneten verlässt die Schule ohne grundlegende im Sportunterricht draufgeschaut!«.
der Partei von Präsident Emmanuel Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Sie zeigt auf ihre Schwester Lucie: »Sie
Macron, La République en Marche, und Rechnen. Ein Fünftel ist nach der Schul- musste ihr Handy für fünf Tage abgeben.«
die Zentristen in der Nationalversamm- zeit arbeitslos. Auch Alexis Vanpouckes Handy wurde
lung dafür; linke und konservative Volks- Myriam Guinin kennt den Alltag der im Collège schon mal für drei Tage kon-
vertreter enthielten sich. Seitdem disku- Abgehängten. Sie arbeitet seit fünf Jah- fisziert: »Danach hatte ich’s kapiert.« Die
tiert die Republik: Was bringt das? ren als Französischlehrerin an einem Großmutter sagt: »Es ist wichtig, dass sie
»Das neue Gesetz ist sinnvoll«, sagt Collège in Seine-Saint-Denis am Stadt- das Handy zurückbekommen, wenn sie
Charlotte Vignes, Lehrerin an einem Col- rand von Paris. Der Bezirk mit vielen Ein- das Schulgebäude verlassen. Wir müssen
lège in Toulouse. »Die Handys sind ein wanderern gilt als einer der ärmsten die Kinder ja erreichen können.«
großes Problem, weil sie dauernd gestoh- Frankreichs. Im Juli war an ihrer Schule Raniah Salloum
len werden, wenn die Schüler sie mitbrin- der Verwaltungsrat zusammengekom- Mail: raniah.salloum@spiegel.de

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Titel

J. Watson, Präsident von IBM, soll 1943 gesagt haben, er sei

Rappelkiste überzeugt, »dass USA-weit ein Bedarf an nicht mehr als fünf
Computern besteht«.
Das Problem ist: Wir müssen mit dem Neuen umgehen,
irgendwie. Mein Vater fiel mir ein, Mitte der Siebzigerjahre.
Erziehung Warum ich meinem Sohn jetzt Er rief, besorgt über unseren Fernsehkonsum, mich und
doch ein Smartphone schenken will meinen Bruder zusammen, zeichnete ernst einen Wo-
chenplan auf ein großes Blatt Papier und teilte uns bunte
Chips zu, jeweils 15 Minuten Fernsehzeit wert. An jenem
ergangene Woche erzählte mir mein jüngster Sohn Nachmittag waren wir damit beschäftigt, unsere Woche
V beiläufig, in seiner Klasse besitze etwa die Hälfte der
Kinder ein Smartphone. Ein Junge, mit dem er Fußball
spielt, habe sogar ein iPhone 6. Mein Sohn ist gerade zehn
mithilfe der »Hörzu« zu planen: fünfmal die »Sesam-
straße«? Zehn Chips. Die »Rappelkiste«? Zwei Chips. Blieb
noch einer für eine halbe Folge vom »Feuerroten Spiel-
geworden, er geht in die vierte Klasse einer Hamburger mobil«.
Grundschule. Schon damals gab es interessantes Fernsehen und bemer-
Ein iPhone 6 für einen Zehnjährigen, dachte ich, Neupreis kenswert schwachsinniges, es gab gute und langweilige Bü-
699 Euro – wie absurd, bitte schön, ist das? cher, spannende und öde Ausflüge. Wie aber soll ein Kind je
Als der SPIEGEL vor zwei Jahren über Smartphones be- lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden, wenn man
richtete, lautete die Überschrift des Artikels: »Der Feind in es von Büchern, Filmen und Ausflügen fernhält?
meiner Hand«. Insgesamt, das war mein Eindruck, eine Ja doch: Das Smartphone stört, es lenkt ab, es frisst Auf-
schöne Zusammenfassung meiner eigenen Vorurteile. merksamkeit – ein YouTube-Video zeigt Menschen, die, auf
Smartphones fressen Geld und vor allem Zeit, Kinder ver- ihr Smartphone starrend, gegen Laternenpfähle rennen oder
lernen das Spielen, das Reden, das Zuhören, sie bekommen eine Treppe hinunterstürzen.
Zugang zu Gewaltvideos, zu Bildern, auf denen Frauen nichts Es macht aber auch klug, es verbindet Menschen, es
anhaben, zu allem Möglichen. ist ein Fenster zur Welt.
Ein Smartphone vernünftig zu ge- Früher, als ich zehn war, gab es: Te-
brauchen, wie einen Föhn beispiels- lefonzellen, Musiktruhen, Diaabende,
weise, ist wünschenswert, aber unmög- den Sendeschluss.
lich – schon deshalb, weil jeder eine Heute, da mein Sohn zehn ist, gibt
andere Vorstellung davon hat, was ver- es: Google, Navi, Streamingdienste,
nünftig ist. Apps.
Ein Smartphone für einen Zehnjäh- Dinge verschwinden, Dinge kom-
rigen, so dachte ich damals, ist eine men hinzu. Ist das gut oder schlecht?
Form von Verwahrlosung. Das digitale Es ist, wie es ist. Erst fürchtet der
Verderben würde früh genug kommen, Mensch Neues, dann gewöhnt er sich
man musste das Kind nicht mutwillig daran.
hineinstoßen. Genau genommen geht es bei der
Andererseits hatte es in der internen Debatte über Smartphones nicht um
Konferenz nach Erscheinen des Hefts unsere Kinder, die, mit ihrer Neugier,
auch Kritik an dem Titel gegeben: Er ohnehin stets mit einem Fuß in der
male die Welt unter grauem Himmel, Zukunft stehen. Es geht um uns: um
zu viel Kulturpessimismus, zu wenig unsere Ängste, unsere Unsicherheit,
Zuversicht, zu wenig Neugier. unsere Sorge, den Anschluss zu verlie-
Beim Nachdenken darüber, welche ren. Was macht uns eigentlich so sicher,
Haltung ich zum Thema Smartphones dass unser Gegenwartsschlüssel für die
habe, fiel mir auf, dass ich eigentlich Zukunft passt?
keine Haltung habe. Ich weiß wenig Das Lieblingsspiel meines Sohnes
über die Folgen des Smartphone- heißt »Agar.io«, er darf es manchmal
Gebrauchs, deshalb stimme ich nahe- auf meinem Handy spielen. Man muss
zu jedem zu, der sich dazu äußert. andere fressen, um größer zu werden,
Manfred Spitzer, Hirnforscher aus Ulm, behauptet, Com- manchmal wird man gefressen, dagegen kann man sich schüt-
puter und Smartphones machten dumm, die Gesellschaft sei zen, indem man sich verbündet. Einmal passte er nicht auf
auf dem Weg in die digitale Demenz. Das kennt man doch, und fraß aus Versehen jemanden, mit dem er verbündet war.
das weiß man doch, endlich sagt’s mal einer. Einen Nachmittag lang war er untröstlich; offenbar ist selbst
Georg Milzner, Diplom-Psychologe und Psychotherapeut, die Sorge unbegründet, dass vor dem Smartphone das
begründet in »Digitale Hysterie«, warum Computer unsere Mitgefühl verkümmere.
Kinder weder dumm noch krank machen. Interessante In einem Jahr, wenn er auf die weiterführende Schule
Perspektive, geahnt hat man’s ja eh schon, endlich schreibt’s wechselt, wird mein Sohn sich ein Smartphone wünschen.
mal einer. Er wird, das ist hiermit beschlossen, ein Smartphone bekom-
Das Problem mit Neuerungen, mit Umbrüchen, mit Zu- men. Er wird Fehler machen und Enttäuschungen erleben,
kunft ist: Keiner weiß ja, wie das aussieht, was da kommt. es wird ihn inspirieren, ihn mit anderen verbinden, ihn
Und weil wir uns vor nichts so sehr fürchten wie vor dem beglücken. Er wird Siri nutzen und GoogleMaps, er wird
Unbekannten, schreibt jeder einfach fort, was er kennt. »Shatterbrain« spielen und kleine Filme drehen, er wird auf
Das Erdöl, ließ die Akademie der Wissenschaften in Sankt dem Smartphone spielen und spielerisch lernen, worauf es
Petersburg angeblich einst verlauten, sei »eine nutzlose Ab- ankommt im Leben.
sonderung der Erde – eine klebrige Flüssigkeit, die stinkt Manchmal denke ich, wir hätten ihm längst eines kaufen
und in keiner Weise verwendet werden kann«. Und Thomas sollen. Hauke Goos

54 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Der neue Opel

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aus Leasingsonderzahlung und Summe der monatlichen Leasingraten. Sollzins p. a., gebunden für die gesamte Laufzeit. Mehr- und Minderkilometer (Freigrenze 2.500 km) sowie eventuell vorhandene Schäden werden
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2017/1153 und VO (EU) Nr. 2017/1151)
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Gesellschaft
Wer kein Auto hatte, musste sich fragen, wie das Leben eigentlich weitergehen sollte. ‣ S. 58

QUELLE: DEUTSCHES ÄRZ TEBL AT T


Früher war alles schlechter
Nº 145: Amputationen

2005 wurden in Deutschland 22 619 Amputationen 2014 waren es 16 645.


oberhalb von Hand- oder Fußgelenk durchgeführt.

Ab ist ab. Da wächst auch nichts mehr zusammen, was da Die Arterien verengen sich, die Durchblutung wird gestört, es
einmal hingehörte. So ist es eine gute Nachricht, dass sich in kommt zu Gefäßverschlüssen, schließlich zum Absterben von
Deutschland die Zahl der »Major-Amputationen« in den Jahren Gliedern; Vorgängen, die man sich im Einzelnen nicht vorstellen
2005 bis 2014 um 26,4 Prozent verringert hat. Von 22 619 auf möchte. Der Rückgang der Amputationen ist noch auffälliger,
16 645. Die Zähleinheit hier sind Gliedmaßen, genauer: alles, wenn Tumoren, Verletzungen, Vergiftungen, Hautkrankheiten
was oberhalb der (Hand- oder Fuß-)Knöchelregion amputiert abgezogen werden. Da kommt man auf eine Verringerung
werden muss. Abgefrorene Zehen sind »Minor-Amputationen«. von fast einem Drittel. Warum? Die Autoren der im »Deutschen
Noch in den Sechzigerjahren gehörte es zum Straßenbild, Män- Ärzteblatt« veröffentlichten Studie vermuten, dass die Versor-
ner mit hochgesteckten Jackettärmeln oder Krücken zu sehen. gungsstrukturen bei diabetischen Fußsyndromen besser geworden
Das waren die Kriegsversehrten, fast zwei Millionen gab es nach seien. Nicht erfasst von der Statistik sind natürlich diejenigen
dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrzahl der Amputationen heut- Amputierten, die sich in jüngerer Zeit aus Kriegs- und Bürger-
zutage erfolgt nicht bei Silvesterfeuerwerkern oder Motorradfah- kriegsgebieten nach Deutschland geschleppt haben. Ohnehin
rern, sondern bei Patienten mit Diabetes oder Gefäßverkalkung. nur eine Minderheit. alexander.smoltczyk@spiegel.de

Hobbys der Brandenburgischen Pilzsachverstän- haben wir 12 tödliche Grüne Knollen-


Was macht ein Pilzberater digen sind wir bereits völlig überaltert, blätterpilze und 22 stark giftige Panther-
Durchschnittsalter 65 Jahre. pilze aussortiert.
ohne Pilze, Herr Bivour? SPIEGEL: Wie wird man Pilzberater? SPIEGEL: Was passiert, wenn man so
Muss man einen Pilzschein machen? einen Pantherpilz isst?
Wolfgang Bivour, 68, ist ehrenamtlicher Bivour: Pilzberater ist kein geschützter Bivour: Es können Wahrnehmungsstörun-
Pilzberater in Brandenburg. Begriff. Man kann aber in Pilzvereinen gen auftreten. Rauschzustände. Ich hatte
eine Prüfung ablegen. Wir prüfen die mal den Fall, dass ein Urlauber abends im
SPIEGEL: Dieses Jahr ist ein schlechtes Kenntnisse über Arten, Wir- Bungalow saß und wie ver-
Pilzjahr, oder? kung von Pilzgiften, Speise- rückt mit dem Kopf gegen
Bivour: Ich bin seit 40 Jahren Pilzberater, wert, Doppelgänger … die Wand schlug.
aber so eine Saison habe ich noch nie SPIEGEL: Doppelgänger? SPIEGEL: Es gibt auch Pilz-
erlebt: fast komplett pilzfrei. Der Sommer Bivour: Giftpilze, die von bücher oder Pilz-Apps, die
war viel zu trocken. Speisepilzen schwer zu unter- bei der Bestimmung helfen.
SPIEGEL: Was macht man als Pilzberater scheiden sind. Bivour: In den Büchern
THOMAS KAISER / OKAPIA

ohne Pilze? SPIEGEL: Wie viele Pilzarten liest man, dass ein Pilz nach
Bivour: Ach, es ist natürlich traurig. Aber sollte ein Pilzberater kennen? »Scheunenstaub« oder
auch mal ganz schön. Der Herbst ist für Bivour: 200 wären schon gut. »Blattwanze« rieche. Wer
mich immer mit viel Arbeit verbunden, es Im vergangenen Jahr hat weiß denn heute noch,
gibt zwar massenhaft Pilzsucher, aber unser Verein rund 1200 Bera- wie eine Blattwanze
kaum noch Pilzberater. Bei uns im Verein tungen durchgeführt. Dabei Knollenblätterpilze riecht? JMG

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Stunde einsetzen. Zeit genug also für einen Spaziergang


Eine Meldung und ihre Geschichte
durchs Watt.
Ein Urlauber, der seinen Namen hier nicht lesen will, weil

Zigarettenpause er weiß, dass ihm ein gravierender Fehler unterlaufen ist,


machte sich nicht weit entfernt vom Hafen auf den Weg ins
Watt, zusammen mit seinen beiden Söhnen, 9 und 15 Jahre
Warum ein Vater im niedersächsischen Watt um alt. Das Watt, weit und weich, sah ganz harmlos aus.
Die Familie entfernte sich vom Ufer, ging Richtung Fahrrin-
das Leben seiner Söhne kämpfen musste ne. Womit die drei sich in den kommenden zwei Stunden die
Zeit vertrieben, ist nicht ganz klar, der Vater spricht nur ungern
an kann leicht hinwegsehen über Fedderwardersiel, über Einzelheiten, wohl aus Scham. Auch im Gespräch mit
M einen winzigen Ort an der deutschen Nordseeküste,
kaum mehr als ein Hafen mit ein paar Fischkuttern,
umgeben von »Henken’s Hafenladen«, »Andy’s Hafenkom-
Dierks sagte er nur: »Wir haben komplett die Zeit vergessen.«
Als die drei sich zurück auf den Weg zum Ufer machten,
berührte die Sonne schon fast den Horizont, hatte die Flut
büse«, »Micha’s Räucherfisch«, dazu ein paar übersichtliche längst eingesetzt, und das Watt füllte sich mit Wasser.
Campingplätze und Ferienwohnungen. Zuerst sammelte es sich, wie jedes Mal, in den Rinnsalen
Wer hier Urlaub macht, hat oft Familie, scheut die Nordsee- und Prielen, den Kanälen, die sich durch das Watt winden,
inseln mit ihren teureren Unterkünften, vielleicht auch die von den Gezeiten selbst in den Schlick gespült. Einer dieser
Überfahrt mit der Fähre, und arrangiert sich stattdessen mit ei- Priele verläuft parallel zur Uferlinie, vorbei am Hafen von
nem Deich, der den Blick aufs Meer versperrt. Fedderwardersiel Fedderwardersiel, dann Richtung Butjadingen. Er liegt wie
verspricht vor allem Ruhe, aber Mitte Juli richtete sich hier für ein mächtiger Riegel vor dem Ufer, seine Strömung ist schon
ein paar Stunden auch der große Schrecken ein, Horror sogar. kurz nach Einsetzen der Flut so stark, dass selbst ein geübter
Ein Mann kämpfte im Watt ver- Schwimmer ihn kaum überwinden
zweifelt um sein Leben und um das kann. Bis hierher kam der Vater
seiner Kinder, in einer lauen, fast mit seinen Söhnen auf dem Weg
windstillen Sommernacht, nur ein zurück zum Ufer, aber keinen
paar Hundert Meter vom Ufer ent- Schritt weiter. Durch den Priel zu
fernt. Es war ein Drama, das rund gehen war bereits unmöglich. Ihn
drei Stunden währte und daran er- zu durchschwimmen oder zu um-
innert, dass die Natur in Deutsch- gehen ebenso. Das Wasser stieg,
land mehr sein kann als gefällige kam von vorn, von hinten, von den
Kulisse für Urlaubsselfies. Was sich Seiten, sie waren gefangen.
zutrug an jenem Abend und in je- Anfangs konnten die Kinder
ner Nacht, wird am besten erzählt noch selbst stehen, dann stützte sie
von dem Mann, der dafür sorgte, der Vater, hob schließlich erst den
dass das Drama ein gutes Ende ge- 9-Jährigen auf den einen Arm, dann
nommen hat. den 15-Jährigen auf den anderen.
Sein Name ist Hartmut Dierks, Panik stieg in ihm auf, irgendwann
SHUTTERSTOCK CREATIVE

von Beruf Kabelwerker, groß gewor- überwand er seinen Stolz und


den an der Nordseeküste. Dierks schrie von diesem Moment an aus
hat sein gesamtes Leben, alle 58 Jah- Leibeskräften um Hilfe.
re, hier in Fedderwardersiel ver- Es war dunkel mittlerweile, kein
bracht, und er bereut das nicht, Mond am Himmel, als zwei späte
denn sein Leben ist zwar übersicht- Wattenmeer vor Fedderwardersiel Spaziergänger am Deich das Fle-
lich, aber nicht eng, und der Grund hen hörten und die Polizei alar-
dafür ist eine Entscheidung, die mitt- mierten. Minuten später schwebte
lerweile 17 Jahre zurückliegt. Im ein Rettungshubschrauber des
Jahr 2001 entschloss sich Dierks, ADAC über den Verzweifelten,
Mitglied der Deutschen Gesell- konnte aber nicht helfen. Dem Va-
schaft zur Rettung Schiffbrüchiger Von der Website Focus.de ter war es unmöglich, eines seiner
zu werden. Seitdem rettet er Men- Kinder hochzuheben, er hätte da-
schen, befreit sie aus Notlagen, meist in seiner Freizeit, eh- für das zweite Kind der Strömung überlassen müssen. So
renamtlich, auch am Wochenende und bei schlechtem Wetter. stand er da, im Scheinwerferlicht, Hauptfigur einer immer
»Es war eine der guten Entscheidungen in meinem Leben«, noch möglichen Tragödie, das Wasser kurz unter dem Kinn.
sagt er. Hartmut Dierks erreichte der Alarm vor seinem Haus, er
In den vergangenen 17 Jahren ist Dierks der persönliche rauchte gerade eine Zigarette. Fünf Minuten später war er
Schutzengel vieler Urlauber gewesen. Meist erschien er in zusammen mit zwei Kollegen an Bord seines Bootes und fuhr
roter Latzhose, roter Wetterjacke, Sicherheitsschuhen, mit hinaus ins Watt. Kaum aus dem Hafen heraus, sah er den
Walrossbart unter der Nase und gelegentlich auch mit einer Suchscheinwerfer der Helikopters, wenig später öffneten sei-
selbst gedrehten Zigarette im Mundwinkel. Wie viele Einsätze ne Kollegen die metallene Rettungspforte, zogen erst die Kin-
er mit seinem Kollegen in seinem Boot gefahren hat, kann er der, dann den Vater an Bord. Sie waren wohlauf.
nicht mehr sagen, aber er weiß, dass er die Ereignisse vom Kann so etwas wieder passieren?
Freitag, dem 13. Juli dieses Jahres, nicht vergessen wird. »Gut möglich«, sagt Dierks, er steht im Hafen von Fedder-
Alles begann gegen acht Uhr am Abend, die Sonne wardersiel, in roter Latzhose und Sicherheitsschuhen. »Wenn
stand noch ein gutes Stück über dem Horizont, es ging ein auf etwas Verlass ist, dann auf die Selbstüberschätzung der
schwacher Wind aus Nordwest, die Flut würde erst in einer Männer.« Uwe Buse

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 57


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Gesellschaft

Häuserkampf
Provinz Die Jungen ziehen fort, die Alten bleiben, auch das Schicksal des schrumpfenden Dorfes
Nordhalben im Frankenwald schien besiegelt. Dann regten sich im Ort die guten Geister, nun
läuft ein tägliches Ringen um die Zukunft der Heimat. Von Ullrich Fichtner und Sven Döring (Fotos)

Ehrenamtlicher Helfer bei der Ortsverschönerung in Nordhalben: Neutraler Sportsgeist

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ls es wieder Winter wurde vor rhein, in der Oberpfalz, im Wendland, in Pöhnlein ist 50, seit vier Jahren im Amt,

A acht Jahren in Nordhalben, fühlte


sich alles so an, als ob es mit dem
Ort zu Ende ginge. Der letzte und
einzige Supermarkt an der Staatsstraße
der Wahner Heide. Es gibt, landauf, land-
ab, viel mehr Provinz, als man sich das in
Berlin, Hamburg oder München so vor-
stellt. Und Provinz heißt zuerst, dass die
ein breiter, bodenständiger Typ, der die
Ratssitzungen im T-Shirt leitet, was seiner
Autorität nicht schadet. Wann immer es
geht, legt er seine Wege auf einem wuchti-
2207, die das Dorf wie ein krummes S von Jungen gehen und die Alten bleiben. gen, mattschwarzen Fahrrad zurück. Man
Nord nach Süd durchzieht, würde schlie- In Nordhalben wurden 2016 neun Kin- könnte ihn für einen Grünen halten, aber
ßen, das wurde im Advent damals zur Ge- der geboren und 23 Menschen starben, er mischt bei den Freien Wählern mit, das
wissheit. Die Bittgänge zu höheren Stellen das ergibt eine »natürliche Wanderungs- ist in der bayerischen Lokalpolitik seit Lan-
bei Edeka, die Versuche, den großen Laden bilanz« von minus 14. Im Jahr 1960, und gem eine Partei für alle, die von der CSU
zu erhalten, einen neuen Betreiber zu fin- das sagt fast alles, lag diese Bilanz in Nord- die Nase voll haben, aber der SPD und
den, ihn bloß nicht zuzumachen, hatten halben bei plus 33, man zählte 65 Gebur- den anderen auch nichts zutrauen.
nichts gefruchtet. Bald hingen Zettel an den ten und 32 Sterbefälle. Seither hat sich die Zweimal in jüngster Zeit, sagt Pöhnlein,
Türen des Flachbaus, auf denen stand: »Ver- Einwohnerzahl fast halbiert. Zum Stichtag sei man nur ganz knapp daran gescheitert,
ehrte Kunden! Wir schließen zum 30. April 30. Juni 2017 lebten eintausendsechshun- im Ort eine größere Firma anzusiedeln.
2010 ... Wir bedanken uns für das Vertrauen dertsiebenundneunzig Menschen in der Und um ein Haar hätte sich sogar eine jun-
und Ihre Treue in den vergangenen Jahren.« Gemeinde, das ist die amtliche Zahl: 1697. ge Ärztin niedergelassen. Faktisch hat aber
Dann ging das Licht aus in Nordhalben. Und nun sieht alles danach aus, als dürften nur die Filiale der Raiffeisenbank zuge-
Wer fortan einen Liter Milch brauchte, es viel weniger auch nicht mehr werden. macht, und dann ist auch noch der Besitzer
ein Tütchen Backpulver oder ein Stück But- In Nordhalben läuft, unausgesprochen, der Lotto-Toto-Annahmestelle gestorben,
ter, musste 11 Kilometer nach Steinwiesen eine Art Experiment um die Frage, bis zu die ein Treffpunkt im Ort war, der nun
oder 13 Kilometer nach Bad Steben fahren, welcher Größe und mit wie vielen Einwoh- fehlt. Die Bäckerfiliale nebenan bekommt
zu den Gemischtwarenläden, die es dort nern ein Ort in Randlage noch lebensfähig es schon zu spüren, ihr fehlt die Laufkund-
noch gab. Wer kein Auto hatte, wie viele ist und lebenswert bleibt. Wird das Dorf, schaft, vielleicht muss auch sie schließen.
der alten Leute im Ort, musste sich fragen, das sich »Markt« Nordhalben nennen darf, Die Geschichten über den Niedergang
wie das Leben eigentlich weitergehen soll- überleben? Kann es gerettet werden durch klingen überall ähnlich in der Provinz.
te. Ob da überhaupt noch genug Leben das Engagement seiner Einwohner? Kann Dörfer und kleine Städtchen werden zu
war. Oder ob sich der Ort, nach mehr als der Staat etwas tun? Oder wird der Ort groß für die Anzahl der Leute, die noch
850 Jahren, aus der Geschichte verabschie- nur noch würdevoll abgewickelt? »Willst da sind. Die Strom- und Wassersysteme,
den würde im Prozess eines langwierigen du darauf ehrliche Antworten?«, fragt Bür- im Fall Nordhalbens für 3000 Einwohner
Verwelkens. germeister Michael Pöhnlein, man ist hier angelegt, müssen für viel Geld unterhalten
Nordhalben liegt hingestreckt auf einer draußen schnell beim Du, »das kann werden, egal wie viele Leute weg-
Kuppe des Frankenwalds, an die 600 Me- kein Mensch sagen. Es ist offen, im ziehen oder wegsterben. Straßen-
ter hoch, die Luft ist weich, die Winter Ernst, und wir kämpfen.« bau, Beleuchtung, Winterräumung,
können sehr hart sein. 300 Kilometer sind In Pöhnleins Büro im Nordhal- Müllentsorgung, die öffentlichen
es hinauf nach Berlin, 300 Kilometer hi- bener Rathaus sind die Schränke Aufgaben bleiben so gut wie
nunter nach München, 300 nach Frankfurt mit Zeitungsausschnitten beklebt, Nordhalben gleich, während die Einnahmen
im Westen und 300 nach Prag im Osten. Artikel über die ungünstige deut- sinken und sinken.
Es geht kaum zentraler in Europa, aber im sche Demografie, außerdem mit Natürlich ist auch Nordhalben ver-
Alltag bedeutet das nicht viel. Nordhalben Sinnsprüchen auf Zetteln wie: schuldet. Die Unterhaltskosten für
liegt trotzdem fernab der Zentren, an der »Bleibt auf dem Lande und wehret eine vor Zeiten gebaute Mehrzweck-
Peripherie, immer an Rändern, geografi- euch täglich«. Gegenüber dem Schreib- halle, die kein Mensch braucht, fressen
schen, bürokratischen, psychologischen, tisch hängt ein Ortsplan, der die Schieflage Löcher in den Haushalt. Das Minus der Ge-
es war immer so. Nordhalbens kompakt erfasst. Mit einem meinde ist trotzdem von über sechs auf drei
Die Sperr- und Schießanlagen der deutsch- schwarzen X sind darauf die baufälligen Millionen Euro gesunken, immerhin, und
deutschen Grenze zogen sich nur ein paar Häuser markiert, das sind so etwa 30, 40. dabei hat auch der bayerische Staat kräftig
Hundert Meter entfernt durch Wald und Dunkelblau ausgemalt sind etwa 100 leer mitgeholfen, die Bezirksregierung in Bay-
Flur, ständige Erinnerung daran, dass die stehende Bauten, die womöglich über reuth, die CSU-Regierung in München.
Welt geteilt und der Westen genau hier zu kurz oder lang auch verfallen, es geht da Nach Jahren des politischen Tiefschlafs
Ende war. Das Land Bayern geht am Orts- um jedes fünfte Haus im Ort. Hellblau ge- und einer falschen Ideologie des staatli-
rand in Thüringen über, nur einen Steinwurf kennzeichnet sind Häuser, in denen alle chen Strafens gibt es für besonders schwa-
weit vom Nordhalbener Schlossberg, auf Bewohner 75 Jahre oder älter sind, das gilt che Gemeinden jetzt besonders großzügi-
dem ein Schloss schon lange nicht mehr für 125 Immobilien. Es ist kein schönes ge Förderprogramme. Der demografische
steht. In der Gegend stoßen vier Landkreise, Bild. Die Aufgabe wirkt unlösbar. Wandel und der Schwund werden nicht
zwei bayerische, zwei thüringische, aneinan- »Wir sind in der entscheidenden Phase«, mehr negiert. Nicht lange her, da wurden
der, es enden die Berichtsgebiete der Regio- sagt Pöhnlein, in seinem Ton liegt ein neu- Bürgermeister wie Michael Pöhnlein von
nalzeitungen, die Buslinien, die polizei- traler Sportsgeist, kein Optimismus, kein den höheren Stellen in Bayern noch wie
lichen und notärztlichen Zuständigkeiten, Pessimismus. »Entweder es gelingt uns, lästige Bittsteller abgefertigt. Das ist besser
die Notarskreise auch, was bei Immobilien- die Lage zu stabilisieren, dann geht’s hier geworden. Man hört jetzt zu.
geschäften manchmal für Verwirrung sorgt. weiter, oder es gelingt uns nicht.« Die Zeit Überhaupt mischen sich in die Ge-
Nordhalben ist, mit einem Wort: Pro- des Gesundbetens sei jedenfalls vorbei, schichten über den Niedergang seit einiger
vinz, und das ist kein Vorwurf, sondern sagt Pöhnlein. »Wir müssen vernünftig Zeit überraschende Widersprüche. Eine
eine Feststellung, die die Wirklichkeit vie- schrumpfen, aber dieses Wort allein: Familie aus Starnberg ist nach Nordhalben
ler Orte in Deutschland beschreibt, im schrumpfen«, sagt er und lacht meckernd, zugezogen, eine aus Böblingen, zwei aus
Hunsrück, im Harz, im Havelland, in der »das ist in einem Land wie Bayern, wo es Prag. Weil es ihnen hier gefällt. Weil sie
Uckermark, in der Rhön, auf der Schwä- ja immer nur um Wachstum gegangen ist, nicht finden, dass der Ort zu weit weg von
bischen Alb, im Erzgebirge, am Nieder- allein schon eine Revolution«. allem liegt. Weil es ja auch ständig un-

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Gesellschaft

Besucher einer Gemeinderatssitzung, Spielwarenautomat: »Bleibt auf dem Lande und wehret euch täglich«

wichtiger wird, wo genau der Computer die hier unter Glas liegen, wäre er längst Dass ihr Werdegang Bewunderung aus-
steht, an dem jemand seine Arbeit ver- hier gewesen. löst, versteht Anita Michel nicht. Sie habe
richtet. Es gibt auch sonst eine Wirtschaft in sich fürs 3-D-Drucken interessiert, habe
Bürgermeister Pöhnlein hat Fördermit- Nordhalben, Metallbaufirmen, einen gelesen, sich umgetan und eben früh die
tel aufgetrieben für die Idee eines »Nord- Dachdeckerbetrieb, einen Installateur, es Möglichkeiten gesehen. Ins Management
halben Village«, das kreative, produktive gibt zwei, drei kleine, hoch spezialisierte ihrer schnell wachsenden Firma sei sie
Menschen zum Leben und Arbeiten in den Elektrotechnikfirmen, eine Apotheke, »nach und nach hineingewachsen«. Dass
Ort bringen soll. Dafür wird das alte Schul- eine Sparkasse mit Geldautomat. Und es sie heute regelmäßig Dienstreisen nach
gebäude umgebaut, es entstehen »Co-Wor- gibt, vor allem vielleicht, Anita Michel. Sie Wolfsburg, München und Stuttgart unter-
king-Spaces« und »Living«-Bereiche, so ist 35, eine kleine Frau mit einem klugen nimmt, ist längst normal, und es kommt
klingt das heute, wenn gearbeitet und ge- Gesicht, die sich selbst ein »Landei« nennt, ihr zugute, sagt sie, dass Nordhalben so
wohnt werden soll. Die Projektleiterin Hal- das in der Stadt verloren sei, weshalb sie zentral gelegen sei, gar nicht fernab, son-
gard Stolte, die eine von denen ist, die von auch nie daran gedacht habe, Nordhalben dern mittendrin, aber trotzdem im Grünen
Prag nach Nordhalben umgezogen sind, zu verlassen. Sie hat polnische Eltern, die und Stillen, »wie ich das mag«. Anita Mi-
hat selbst eine Karriere im globalen Mar- sich einst in der Gegend niederließen, sie chel braucht die Provinz, sagt sie. Und die
ketinggeschäft hinter sich, nun glaubt sie machte einen Hauptschulabschluss in Provinz braucht Menschen wie sie.
fest daran, dass sich das »Village« bald mit Steinwiesen und lernte dann Köchin. Ani- Es sind auch Flüchtlinge gekommen,
Leben füllt. Die zugehörige Geschichte ist ta Michel kochte in Kantinen und in einem an die 50 Menschen, sie wohnen unauffäl-
gut, sagt Stolte. Wenn sie bei Tagungen er- Krankenhaus, bis ihr vor sechs Jahren im lig über den Ort verteilt. Zwei Syrer haben
zählt, dass sie ein Projekt nicht in der Stadt Mutterschutz »langweilig wurde«, sagt sie. eine Beschäftigung gefunden, die Kinder
habe, nicht in einem Fabrikloft, sondern Sie legte die Kochjacke ab, löste ihren füllen die Klassen der Grundschule auf. Es
»mitten im Wald«, dann, sagt sie, horchen Bausparvertrag auf, nahm zusätzlich einen ist schwer, mit den Ausländern zu arbeiten.
ihre Zuhörer auf. Kredit auf und kaufte sich für 34 000 Euro Das deutsche Recht sorgt für ein unstetes
Noch ist Nordhalben nicht verloren. Es ihren ersten 3-D-Drucker. Heute hat sie Kommen und Gehen. Oft werden Fami-
gibt zwei Ärzte, es gibt eine Grundschule, sieben Stück davon, Maschinen, die zum lien genau in dem Moment abgeschoben
zum Glück, mit 46 Kindern ist sie zwar Teil ganze Räume füllen und mit dröhnen- oder umgesiedelt, in dem Arbeit, Woh-
die kleinste Schule des Landkreises, aber den Klimaanlagen gekühlt werden müssen. nung und ein Auskommen eigentlich gesi-
sie steht nicht zur Debatte. Es gibt ein hüb- Ihre Firma »MTA Prototyping« beschäftigt chert wären. Die Gemeinde Nordhalben
sches Freibad, einen Sportplatz und zum 14 Angestellte und beliefert Autohersteller, hat für eine bereits gut integrierte Familie
stillgelegten Bahnhof fahren manchmal Zulieferbetriebe, Designer mit dreidimen- aus der Ukraine eine Petition im Landtag
Dampflokomotiven zum Spaß. Es gibt den sional »gedruckten« Prototypen im Maß- eingebracht, aber sie wurde trotzdem ab-
Gasthof »Hotel zur Post«, in dem der Chef stab 1:1. Es gehe, sagt Michel, um Schnel- geschoben. Die einschlägigen Gesetze wir-
noch selbst kocht, und es gibt ein muffiges, ligkeit, Genauigkeit und um hundertpro- ken lebensfern.
und doch beachtliches Museum für die zentige Umsetzung der Vorgaben, und Erfreulich, dass neuerdings zu hören ist,
Kunst des Klöppelns, das in der Welt nicht sie entschuldigt sich dafür, dass sie nichts dass einige Söhne und Töchter Nordhal-
ausreichend bekannt ist. Wenn Karl Lager- davon herzeigen könne, weil alles der bens, die zum Studieren fortgezogen sind,
feld wüsste, wie schön die Spitzen sind, strengsten Geheimhaltung unterliege. daran denken, wieder in die Heimat zu-

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Wirt im Gasthof, Fensterfront: Wo Napoleon oder Napoleons Stab oder Napoleons Pferd einst Rast machten

rückzuziehen. Sie entfliehen, so sie es be- er und brauner Fassaden ein stolzes, knall- haben mögen. Otmar und Heidi Adler
ruflich können, der Großstadt und ihren gelbes Künstlerhaus mit Galerie im Erd- wollten nicht zurückschauen, sondern die
horrenden Mieten und genießen die Nähe geschoss. Hier, wo einst ein Krämerladen Gegenwart verändern, erst recht, seitdem
der eigenen Eltern, zumal wenn sie gerade war, wohnen und arbeiten heute Maler sie sahen, wie sich der Verfall im Ort in
selbst Eltern geworden sind. Auch sonst und Bildhauer von weit her, dank dieses den Neunzigerjahren beschleunigte.
gibt es Anfragen. Die Gemeinde hat es re- Künstlerhauses finden jetzt regelmäßig Nordhalben hatte bis 1989 auf paradoxe
gelmäßig mit Mietnomaden zu tun, die auf Vernissagen in Nordhalben statt, und das Weise von der deutsch-deutschen Teilung
der Suche nach dem billigsten Wohnort allein ist ein Satz, an dessen Ende ein Aus- profitiert. Frankenwald und Fichtelgebirge
durchs ganze Land ziehen, eine merkwür- rufezeichen gut stünde. waren zu DDR-Zeiten die »Hausberge«
dige Klientel, aber Bürgermeister Pöhnlein Der Verein »Nordhalben Aktiv« steckt der West-Berliner, die in Scharen ihren
sagt, »ich mache hier für jeden den Makler, dahinter, er hat das Konzept erdacht und Jahresurlaub in der schönen nordbayeri-
jederzeit«. In der ersten Augustwoche ha- das Haus dafür hergerichtet, und hinter schen Natur verbrachten. Dieser Touris-
ben drei leer stehende Häuser neue Mieter dem Verein wiederum stecken Otmar mus, wesentliche Einnahmequelle der Re-
gefunden. Und manchmal melden sich und Heidi Adler, zwei gute Geister ihres gion, brach von 1989 an weg, und überdies
auch Elektrosmog-Flüchtlinge, die ihrem Heimatortes. Otmar Adler ist ein stolzer fiel in der Wendezeit die fatal kurzsichtige
schädlichen Stadtleben hier draußen im Handwerker, er hat am Ort einen auf Fehlentscheidung, die Sonderförderung im
Wald zu entkommen hoffen. Fertighäuser spezialisierten Holzbetrieb einstigen Grenzgebiet zu streichen, nur
An manchen Tagen kann es sich so an- aufgebaut, heute führt ein Sohn die Firma um sie wenige Kilometer weiter östlich als
fühlen, als sei in Nordhalben die Talsohle Adlerhaus, und Otmar ist ein unruhiger Instrument des »Aufbaus Ost« wiederauf-
erreicht, als könnte sich der negative Trend Pensionär. Er wird demnächst 80 Jahre alt, erstehen zu lassen. Überall entlang der al-
doch wieder ins Plus verkehren. Wenn die ginge aber auch noch für 70 durch, und ten Grenze, auch in Nordhalben, brachen
Schrumpfung gelänge, wenn die Ideen für Heidi, eine passionierte Sportlerin, wirkt deshalb Unternehmer ihre Zelte ab und
Abriss und Neugestaltung aufgingen, noch ein ganzes Stück jünger als ihr Mann. verlegten die Produktion ein paar Kilome-
könnte ein neues, kleineres, lebensfähiges Beide sprechen den Dialekt der Gegend, ter weiter nach Osten. In Nordhalben war
Nordhalben entstehen. Verordnen lässt das ist ein Fränkisch mit spitzem Mund, es das Ende des Industriezeitalters. Und
sich da nichts, die Bürgerinnen und Bürger und beide verströmen Menschlichkeit und das sah man dem Ort bald an.
müssen mitmachen, und am Anfang steht eine seltene Güte. Am wuchtigen Ecktisch Für Otmar und Heidi Adler erfüllte sich
die Erkenntnis, dass das Warten auf den ihres Hauses gibt es zu Rouladen und eine Angst, die sie seit Langem begleitete,
alten Vater Staat, der alles schon irgendwie Semmelknödeln, auch in großen Portio- seit einem Italienurlaub, der sie einmal
richten wird, vergebens ist. nen, Geschichten darüber, warum in Nord- durch Scanno geführt hatte, ein Dorf in
Die Heimat zu erhalten ist ein Kampf halben die Hoffnung nicht stirbt. den Abruzzen. Der Ort, sagen sie, sei ih-
Haus um Haus, Blumenbeet um Blumen- Den Aktivisten wurde irgendwann klar, nen besonders ins Auge gefallen, weil es
beet, und es braucht Mut und Ideen, den dass sich die Pflege von Heimat und Tra- dort, genau wie in Nordhalben, eine alte
dörflichen Horizont zu sprengen und das dition nicht in Bierfesten erschöpfen kann Tradition des Spitzenklöppelns gab. Jeden-
Unwahrscheinliche zu wagen. In Nordhal- oder in Archivrecherchen darüber, wann falls erschraken sie darüber, wie leer dieses
ben ist das schon geschehen, dort steht, und wo Napoleon oder Napoleons Stab Bergdorf wirkte. Da waren keine jungen
zentral an der Hauptstraße, inmitten grau- oder Napoleons Pferd einst Rast gemacht Leute, keine Kinder, die meisten Männer

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Gesellschaft

waren fort, vorwiegend alte Frauen saßen lich »das Recht für sich beanspruchen« Abend kommt, der Nordwald-Markt, grö-
im Schatten der engen Gassen, und statt könne, »andere in die Pflicht zu nehmen«. ßer und moderner als der alte Edeka. 13
die südliche Atmosphäre zu genießen, Derlei hat Otmar Adler tief enttäuscht. Frauen haben dort Arbeit, es gibt 3 Auszu-
dachten Otmar und Heidi Adler an zu Er hat als guter Staatsbürger immer auf die bildende und in den Regalen 6000 Artikel,
Hause, an Nordhalben. Sie sahen die eige- Politik gewartet, auf den Staat, aber sie lie- wie in einer Stadt – und das Beste ist, dass
ne Zukunft. Ein sterbendes Dorf. Ein Ver- ferten nicht, jedenfalls nicht so, wie er sich dieser »größte Dorfladen Bayerns«, wie er
welken. Und sie begannen darüber nach- das erhofft hatte. Adler nippt missmutig genannt wurde, keinem Konzern gehört,
zusinnen, wie dem beizukommen sei. am Frankenwein und macht lange Pausen, keiner Kette, keinem Unternehmen, son-
Anfangs folgten sie, gemeinsam mit ih- dann nennt er sich mit einem Lächeln dern den Einwohnern Nordhalbens.
ren Mitstreitern, den Spuren klassischer einen »altersenttäuschten Menschen«. An- Denn als es Winter wurde vor acht Jah-
Heimatvereine, sie staffierten ein Museum lass dafür hat er nicht. Es ist wohl einfach ren und das Ende des Supermarkts be-
aus, aber sie merkten schnell, dass der Ort so, dass der 80-jährige Aktivist am Ende schlossen war, setzten sich Otmar Adler
damit nur noch musealer wurde. So nah- doch einmal in die Falle seines hohen Al- und Karl Roth hin und suchten nach einer
men sie sich echte Renovierungsarbeiten ters tappt und den Denkmustern seiner Lösung, und zwar schnell. Die Lücke muss-
vor. Lange bevor Bürgermeister Pöhnlein Generation nicht ganz entkommt. Er hört te geschlossen werden, egal wie, aber es
mit seinem Programm von Schrumpfung sich an in diesen Momenten, als wäre es fand sich kein Investor, kein neuer Betrei-
und Rückbau ins Amt kam, rissen sie ein ihm lieber, dass der Staat alle Aufgaben ber, niemand, der genug Fantasie hatte.
paar der schlimmsten Bruchbuden ab, in erledigt und dass nicht die Gesellschaft in Sie dachten daran, das Geschäft selbst zu
Eigenregie. Sie sanierten einen ver- übernehmen, aber die Courage hat-
witterten Nepomuk an der Kirche ten sie am Ende nicht. So entstand
und eine kleine Christus-Kapelle. mithilfe von Juristen die Idee einer
Sie legten eine Roseninsel an, und sehr speziellen Gesellschaft, man
in mühsamer Arbeit renovierten könnte sagen: eines volkseigenen
sie auch den verrotteten Fliegen- Betriebs auf fränkische Art. Voll-
pilz, der wie ein zu klein geratener versammlungen des Dorfes wur-
Hut als Aussichtspunkt auf dem den einberufen, um das Projekt zu
alten Schlossberg sitzt. diskutieren, und bald wurden wirk-
Dieser Tage entsteht am oberen lich alle 468 Haushalte Nordhal-
Ortsrand ein Spazierweg, gesäumt bens Anteilseigner und Komman-
von Skulpturen, und man kann das ditisten eines neu zu gründenden
alles aus der Ferne leicht für läp- Marktes, und den Tag, als die Leu-
pisch halten oder für provinziell, te Schlange standen, das ganze
aber jede dieser Initiativen nährt Dorf, um mit ihren Unterschriften
die Hoffnung, dass die Geschichte alles notariell zu beglaubigen, wird
des Ortes weitergeht. Dass es sich Otmar Adler nie vergessen.
zu kämpfen lohnt, in Nordhalben Die Neueröffnung des Super-
und anderswo. markts war ein historischer Mo-
Ein Spaß ist dieser Kampf nicht. ment, das klingt unfreiwillig ko-
Es gibt Abende, an denen Otmar misch und stimmt trotzdem. Wären
Adler mit müdem Gesicht an sei- die Lichter an der Staatsstraße aus-
nem Esstisch sitzt, weil am Ende geblieben, und hätte jeder kleine
womöglich doch alles umsonst ist. Einkauf eine Fahrt nach Steinwie-
Sein Engagement für die Heimat sen, 11 Kilometer, oder nach Bad
füllt mittlerweile 24 Aktenordner, Steben, 13 Kilometer, erfordert,
die chronologisch einigermaßen wer weiß, wie sich die Bevölke-
geordnet in Kellerregalen stehen, rungszahl in den vergangenen acht
darin, sagt er, »all die Sinnlosigkeit, Renovierter Aussichtspunkt: Aus der Ferne läppisch Jahren entwickelt hätte. Der Nord-
all die Vergeblichkeit, all die Nie- wald-Markt, kollektives Projekt
derlagen«. des ganzen Dorfes, schuf die Voraus-
Er hat unverschämte Briefe von Politi- der Pflicht wäre. Als wäre amtlich irgend- setzung dafür, dass die Möglichkeit einer
kern bekommen, belehrende Mitteilungen wie besser als ehrenamtlich, aber diese Art Hoffnung überhaupt fortbestand.
von Ministern, herablassende Bescheide zu denken kann sich ein schrumpfendes Nordhalben hat wieder Hoffnung. Jeden-
von Ämtern, alles. Im Januar 2010 haben Land gar nicht mehr leisten. Die zugehö- falls regiert nicht die Verzweiflung. Das
er und Heidi einmal 500 Briefe an die rigen Aufgaben sind zu groß, zu vielfältig, Dorf liegt hingestreckt auf einer Kuppe des
Abgeordneten aller Parteien in Bayern zu unterschiedlich, auch von Ort zu Ort, Frankenwalds, die Luft ist weich, und die
im Bund geschickt und eine zwölfseitige als dass auf sie die groben Schablonen des Winter können sehr hart sein. 1697 Men-
Broschüre mit Fotos über den Niedergang Staates noch passten. schen leben hier, nur noch halb so viele wie
Nordhalbens beigelegt, in der Hoffnung Bürgerinnen und Bürger vor Ort wissen vor 60 Jahren. Wer als Besucher besonde-
auf entschlossene Unterstützung durch besser, was in ihrem Leben wichtig ist. Auch res Glück hat, sitzt gerade dann im Gasthof
die Politik. Sie bekamen viele freundliche dafür sind Otmar und Heidi Adler die bes- Zur Post, wenn die Frauen vom Turnverein
Antworten, aber die entschlossene Unter- ten Beispiele. Deshalb ist ihnen, gemeinsam an ihrem Stammtisch sitzen und die alten
stützung blieb aus. Stattdessen erhielten mit ihrem Freund Karl Roth, einem Metall- Lieder anstimmen in perfekter Harmonie.
sie eine strenge schriftliche Unterweisung bauunternehmer am Ort, eine Sache gelun- Dann liegen die Gründe, warum die Ge-
durch Thomas Goppel von der CSU, gen, die an Wunder glauben lässt: An der schichte Nordhalbens unbedingt weiter-
Staatsminister a. D., der in einem demo- Staatsstraße 2207, dort, wo vor acht Jahren gehen muss, auf der Hand. Weil es Heimat
kratietheoretischen Sermon die Frage erör- der Edeka-Markt zum Entsetzen aller seine ist. Für 1697 Menschen, das ist viel.
terte, ob der Briefeschreiber Adler eigent- Türen schloss, leuchtet heute, wenn der

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einen Blick in die Vergangenheit. Vorn zeigen sie Bilder. Von


Held nach Vorschrift Jähn in der Zentrifuge. Jähn an der Startrampe. Jähn in der
Schwerelosigkeit. Auf der Bühne unterhält sich jetzt ein Jour-
Ortstermin Neuhardenberg feiert das nalist mit Jähn. »Was macht denn die Faszination des Raum-
flugs aus?« »So ganz schlimm ist es nicht«, sagt Jähn. »Was
40. Jubiläum von Sigmund Jähns Weltraumflug. war das Eindrucksvollste im All?«, fragt der Journalist.
Der erste Deutsche im All war Sachse. »Wahrscheinlich die Begrüßung.« »Wie hat sich Ihr Blick auf
die Erde verändert?« »Wir leben doch recht komisch«, sagt
igmund Jähn kommt mit leichten Schritten in schwar- Jähn. »Dann kommen wir zum Thema Schwerelosigkeit«,
S zen, etwas abgewetzten Schuhen. Er hat noch Tee ge-
trunken in Neuhardenberg, das früher mal Marxwalde
hieß. Nun spaziert er über den gepflasterten Hof des Schlos-
sagt der Journalist.
Jähn bleibt erstaunlich schwer am Boden. Er sitzt da, ver-
schränkt die Hände, wehrt jedes Lob ab, schaut meist nach
ses auf den Marstall zu, in dem sie damals Trabis gelagert ha- unten auf den Boden. »Hätte ja jeder andere auch sein kön-
ben. Heute gehört er der Sparkasse. Am Eingang verkaufen nen«, sagt er. Sie liebten ihn so, sagt einer aus dem Publikum,
sie Oderländer Lammbratwurst mit Senfsoße, aber als Jähn weil er immer so bescheiden geblieben sei. Er wollte nie Held
vorbeikommt, halten alle in ihren Bewegungen inne. Sie sein, im Rampenlicht zu stehen fand er immer anstrengender
schauen ihn an, den Fliegerkosmonauten, den Helden der als die Reise ins All. Jähn sagt, die Sterne seien da oben nicht
DDR, den ersten Deutschen im Weltraum. Auch Jähn bleibt viel näher, das sei ganz klar.
stehen, ein kleiner Mann, 81 Jahre, die weißen Haare nach Wer so weit weg von der DDR flog, musste ihr besonders
hinten gekämmt. Er räuspert sich, dann sagt er auf Sächsisch nah sein. Jähn war Pionierleiter, SED-Mitglied, Student in
eine alte Bauernweisheit auf: »Die Küken zählt man im Moskau, Jagdflieger, Kommandeur, Generalmajor der Na-
Herbst.« Alle nicken. tionalen Volksarmee. Nachdem er mit seiner rußgeschwärz-
Jähns Leben kreist wie ten Landekapsel auf dem
ein Trabant um acht Tage Steppenboden Kasach-
seines Lebens, die er vor stans aufgeschlagen war,
40 Jahren im All ver- meldete er Honecker:
bracht hat. Vom kasa- »Ich bin bereit, jeden be-
chischen Weltraumbahn- liebigen Auftrag meines
hof Baikonur hob er 1978 sozialistischen Staates zu
mit einer 300 Tonnen erfüllen.« Es gab dann
schweren »Sojus«-Rakete aber nichts mehr zu tun.
ab, durchbrach die Schall- Jähn blieb der erste und
mauer, dockte an einer letzte Kosmonaut der
russischen Raumstation DDR.
an und setzte folgendes Auf der Bühne spielt
Telegramm an Erich Ho- die Band »Kosmosliebe«
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
necker ab: »Unser Befin- von Udo Lindenberg.
den ist gut.« Dann umrun- »Willst du frei sein?«, fragt
dete er 125-mal die Erde. der Sänger in die Menge.
Mit dabei hatte er das Jähn nickt. Er wäre das
»Kommunistische Mani- wohl gern, aber er kann
fest« und eine Figur des nicht. Jähn sagt, eigentlich
Sandmännchens. Seitdem sei er ein Waldmensch. Er
ist er ein Held. Jähn mit Bewunderern pflanze gern Serbische
Jähn setzt sich jetzt Fichten im Garten oder
ganz vorn in den Saal, die sitze in seiner Datsche im
Leute klatschen, einige haben Tränen in den Augen. Offi- Vogtland, da habe er seine Ruhe. Stattdessen schleppen sie
zierskollegen sitzen im Saal, Nachbarn, Genossen, man fühlt ihn seit 40 Jahren durch die Gegend.
sich wie in einem Raumschiff namens DDR. Jähn ist in Neu- Jähn ist ein Held, weil ihm das so befohlen wurde. »Erteilte
hardenberg Ehrenbürger, ein paar Straßen weiter liegt sein Verhaltenslinien bei Reisen ins nichtsozialistische Ausland
alter Flugplatz. Er steht immer wieder auf, schlägt die Hacken wurden strikt befolgt«, heißt es in seiner Stasi-Akte. »Die
zusammen, verbeugt sich kurz, er hat das schon tausendmal durch ihn erarbeiteten Informationen zeichnen sich durch
gemacht, er wirkt wie eine sozialistische Marionette, die man Objektivität und Gründlichkeit aus.« Die Stasi führte ihn als
beliebig oft aufziehen kann. IM »Tanja«. »Das wird schon stimmen«, sagt Jähn heute, er
Jähn habe schon so viele Blumen bekommen, dass er keine habe sich aber nichts vorzuwerfen. »Wenn mal einer A sagt,
Blumen mehr sehen könne, sagt die Sprecherin, deshalb muss man auch B sagen«, findet er.
bekomme er jetzt einen Baum überreicht. Sein Gesicht ver- »Was ist ein Held?«, fragt Jähn nach dem Gespräch, »da
schwindet fast dahinter, als er den Kübel in die Hand gedrückt gibt es keine Vorschrift, wann man diesen Terminus anwendet«,
bekommt. »Held der Sterne« steht oben im Licht. Darunter überlegt er. Vielleicht macht ihn diese Überlegung zu einem
das Logo des Sparkassenverbands. Die Sprecherin erinnert sehr deutschen Helden. Die Musik ist aus. »Opa, wir fahren
daran, dass der erste Mensch im All ein Russe war, der die jetzt mal nach Hause«, sagt sein Enkel. Draußen ist es kühl,
Überlegenheit des Sozialismus beweisen sollte, und der erste die Sterne sind aufgegangen, der Mond ist nur halb zu sehen.
Deutsche eben ein Ostdeutscher. Man sei wohl immer noch In dem Bericht, Geheime Verschlusssache, den Jähn nach
ein wenig beleidigt in Westdeutschland, vermutet sie, nie- seinem Weltraumflug schrieb, lässt sich lesen: »Territorium
mand aus der Bundesregierung habe Jähn gratuliert. Es geht der DDR war während des Fluges nicht auszumachen.«
um den Blick in den Weltraum, aber eigentlich geht es um Jonathan Stock

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Wirtschaft
»Mir war es wichtig, dass ich bekannt war – auch bei den Frauen.« ‣ S. 76

LARS BERG / DER SPIEGEL


Polizisten bei Einsatz im Hambacher Forst

Gutachten

Zweifel am Braunkohlebedarf von RWE


Grüne und Umweltverbände fordern vor der Großdemo unverzüglichen Stopp der Rodungen.
G Wenige Tage bevor die umstrittene Rodung des Hambacher Missverhältnis aus, wenn der Kohleausstieg, wie von den
Forstes durch den Energieriesen RWE beginnen soll, hat die Grünen gefordert, auf das Jahr 2035 oder 2030 vorgezogen
Bundestagsfraktion der Grünen ein Gutachten vorgelegt, das werde. Dann wären nur 436 Millionen Tonnen notwendig.
den Sinn der geplanten Abholzung grundsätzlich infrage Die Landesregierung und RWE müssten die Rodung deshalb
stellt. Die Wissenschaftler haben berechnet, dass RWE für stoppen und die Tagebaue drastisch verkleinern, fordern die
den Betrieb seiner Braunkohlekraftwerke nur noch rund Grünen zwei Tage vor einer Großdemo von Umwelt- und
700 Millionen Tonnen Braunkohle benötigt – selbst wenn Klimaschützern im Braunkohlerevier. Das Gutachten des
die letzten RWE-Kraftwerke erst im Jahr 2040 stillgelegt wer- Saarbrücker Instituts für Zukunftsenergie- und Stoffstrom-
den. Das ist weniger als ein Drittel der Menge, die RWE nach systeme basiert auf Ausstiegsszenarien, wie sie auch in der
dem Rahmenbetriebsplan, den die NRW-Landesregierung Kohlekommission der Bundesregierung diskutiert werden.
genehmigt hat, tatsächlich abbauen darf und will – insgesamt Danach würden die drei modernsten RWE-Braunkohlekraft-
2,3 Milliarden Tonnen. »Die Behauptung, dass die Kohle werke noch bis zum Jahr 2040 am Netz bleiben. Ältere
unter dem Hambacher Wald dringend gebraucht wird, hält der Meiler sollen in mehreren Schritten (2020 und 2025) ab-
Realität damit schon jetzt nicht mehr stand«, sagt Grünen- geschaltet oder in eine Sicherheitsreserve überführt werden.
Energieexperte Oliver Krischer. Noch gravierender falle das Selbst diese Variante wird von RWE bislang abgelehnt. FDO

Einzelhandel Deutschland (HDE) bei 483 Unterneh- sierung für sich zu nutzen«, sagt HDE-
men. 40 Prozent der befragten Firmen Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Die
Unsinnige Vorgaben haben angeblich sogar ihre digitalen DSGVO schreibt etwa vor, dass Kunden
G Die deutschen Einzelhändler klagen Aktivitäten eingeschränkt. Ein solcher darüber zu informieren sind, zu welchem
über hohe Kosten durch die Datenschutz- Rückzug aus dem Digitalen könnte Zweck ihre Daten verarbeitet werden.
grundverordnung (DSGVO). Der mittel- wegen der Bedrohung des stationären Der HDE hält das in manchen Fällen für
ständische Handel habe rund 630 Millio- Handels durch Onlinehändler fatal sein. unsinnig. Gehe es etwa nur darum, einen
nen Euro investieren müssen, um die Vor- »Die Verunsicherung und die Komplexi- Vertrag abzuwickeln oder ein Kontakt-
gaben umzusetzen, ergab eine Umfrage tät der Verordnung erschweren es dem formular auf einer Website zu nutzen, sei
des Branchenvereins Handelsverband mittelständischen Handel, die Digitali- der Zweck ja klar, findet der HDE. MUM

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Konjunktur lasse, heißt es im BMWi. Wachstums-


treiber sei vor allem die Binnennachfrage,
Bundesregierung dämpft die sich stabil entwickle. Auch Steuer-
Erwartungen einnahmen und Beschäftigung legten
weiter zu. 2019 werde die Zahl der Er-
G Die Bundesregierung wird ihre Wachs- werbstätigen erstmals die Schwelle von
tumserwartungen für Deutschland in der 45 Millionen überschreiten. Im Frühjahr

MORRIS MACMATZEN / GETTY IMAGES


Herbstprognose, die kommende Woche war die Bundesregierung noch von
ansteht, kräftig nach unten korrigieren. einem Zuwachs von 2,3 Prozent für 2018
Für dieses Jahr erwarten die Konjunktur- und 2,1 Prozent für 2019 ausgegangen.
experten des federführenden Bundes- Kürzlich hatten bereits die führenden
wirtschaftsministeriums (BMWi) noch ein Wirtschaftsforschungsinstitute ihre
Plus von 1,8 Prozent, für nächstes eines Voraussage heruntergesetzt. Bis zur
von rund 2 Prozent. Der Aufschwung sei öffentlichen Vorstellung der Herbst-
noch intakt, verliere aber an Fahrt, weil prognose können sich die Zahlen noch
das Wachstum der Weltwirtschaft nach- minimal verändern. GT, REI Container im Hamburger Hafen

Fachkräftemangel bestimmten Voraussetzungen die Einreise Dollarkurs


Berufsabschlüsse zu erleichtern, wenn ein Abschluss nicht
vollständig anerkannt werden kann.
Was Trump will –
einfacher anerkennen Häufig ist eine Ausbildung im deutschen und was er erreicht
dualen System schwer mit ausländischen
G Die Bundesagentur für Arbeit (BA) Berufsqualifikationen vergleichbar. Eine G Die jüngsten Kursgewinne des US-
mischt sich in die Diskussion um das weitere Idee sind »Partnerschaftsabkom- Dollars gegenüber dem Euro sind im
geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz men«, mit denen die Zuwanderung aus Wesentlichen auf protektionistische
ein. In einem 24-seitigen Papier mit Vor- bestimmten Ländern »ohne vorherige Maßnahmen der amerikanischen Regie-
schlägen »zur Vereinfachung der geziel- Bescheinigung der Gleichwertigkeit der rung zurückzuführen. Zu diesem Ergeb-
ten Erwerbsmigration« fordert die BA individuellen Qualifikation« ermöglicht nis kommt die EU-Kommission in einer
unter anderem, die Anerkennung von werden könne. Grundsätzlich fordert die Analyse für die Jahrestagung von Welt-
Berufsabschlüssen zu vereinfachen. Sie BA »die bestmögliche und nachhaltige bank und Internationalem Währungs-
schlägt vor, eine »zentrale Erstanlauf- Integration«. Die BA hat insgesamt zehn fonds, die in der nächsten Woche auf
stelle« für Anträge auf Anerkennung der Handlungsfelder formuliert, darunter Bali stattfindet. »Der von der US-Re-
beruflichen Abschlüsse zu schaffen. auch die Hürden im Aufenthaltsrecht, die gierung verfolgte Kurs in der Außen-,
Zudem sollen die Entscheidungsstruk- langwierigen Visumverfahren und die besonders aber in der Handelspolitik
turen bei den Ausländerbehörden auf unzureichende Werbung um ausländische hat bewährte Doktrinen und Politik-
Landesebene zentralisiert werden. Ziel sei Fachkräfte. Dem Forderungskatalog soll ansätze in Zweifel gezogen, was im glo-
ein »integriertes Erwerbsmigrationsma- der BA-Verwaltungsrat am kommenden balen Maßstab die Unsicherheit in den
nagement«. Die BA fordert auch, unter Freitag zustimmen. MAD Märkten in Bezug auf Wachstum und
Handel vergrößert«, schreiben die EU-
Experten. In einer solchen Situation
suchten Investoren für gewöhnlich
Greser & Lenz Zuflucht in einer Währung, die sie als
sicher ansehen, heißt es in dem Papier
weiter. Trotz der umstrittenen Wirt-
schaftspolitik von US-Präsident Donald
Trump gilt der Dollar weltweit immer
noch als wichtigste Reservewährung.
Trump hat sich in den vergangenen
Monaten immer wieder über den
hohen Dollarkurs beklagt, weil dieser
seiner Ansicht nach die Exportaussich-
ten amerikanischer Unternehmen be-
einträchtige. Auch das deutlich höhere
Zinsniveau in den USA im Vergleich
zur Eurozone treibe den Dollarkurs in
die Höhe, meint die EU-Kommission.
Zudem schwäche der weiterhin unklare
Ausgang der Brexit-Verhandlungen den
Euro. Das Gleiche gelte für »Spannun-
gen in einigen Finanzmarktsegmenten
des Euroraums«, eine etwas verklausu-
lierte Anspielung auf die umstrittenen
Ausgabepläne der Regierung Italiens,
die das Land einer Staatspleite näher-
bringen könnten. REI

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РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Wirtschaft

Flammenwerfer
Karrieren Es gibt weltweit keinen zweiten Unternehmer, der so irre und so genial zugleich
erscheint wie Elon Musk. Er hat Tesla groß und Elektroautos begehrt gemacht, weil er
sich nicht darum schert, was andere sagen – nun riskiert er auf die gleiche Weise den Absturz.

E
r ist der Revolutionär der Elektro- Was soll das? Warum macht der so was? denkbare stand im Raum: Tesla ohne
mobilität, Raketenbauer mit Mars- Die Aktion wirkte, als würde sich Musk Musk.
Ambitionen, er will Los Angeles über seine Kunden lustig machen. Als wür- Ach, Elon. Man konnte das Kopfschüt-
untertunneln, er will amerikani- de er ausprobieren, wie weit er gehen teln und Haareraufen seiner Anwälte fast
sche Städte per High-Speed-Transportsys- kann. Ein Experiment, um herauszufin- spüren, wenn man die Nachrichten ver-
tem verbinden, er ist der vielleicht bekann- den, ob die Leute ihm schlicht alles ab- folgte. Zur Klage war es offenbar nur ge-
teste Unternehmer der Welt. Aber manch- kaufen, was er ihnen unterjubeln will. Was kommen, weil Musk eine zuvor angebote-
mal hat Elon Musk einfach nur Quatsch verkauft Musk als Nächstes? Handgra- ne, mildere außergerichtliche Einigung ab-
im Kopf. Eine kindische Lust, irgendeinen naten? Müsli mit LSD? Den Marianen- gelehnt hatte. Dann, nur zwei Tage später,
Unsinn zu machen. graben? am vergangenen Samstag, gab er sich doch
Damit ist nicht die Morgenstunde des Der amerikanische Podcast-Talker Joe geschlagen, vermutlich, weil der Sieben-
7. August gemeint, als er in Los Angeles, Rogan hat Musk, 47, Anfang September Milliarden-Dollar-Kurssturz ziemlich ein-
am Steuer eines Tesla sitzend, auf dem zu seinem Flammenwerfer befragt. Das drucksvoll war. Und weil ein womöglich
Weg zum Flughafen jenen verhängnisvol- zweieinhalbstündige Interview hat welt- jahrelanges juristisches Gezerre mit un-
len Tweet absetzte, der ihn nun 20 Mi- weit Schlagzeilen gemacht, weil Musk da- gewissem Ausgang Tesla-Investoren ver-
lionen Dollar und den Sitz als Tesla-Ver- rin live an einem Joint zieht und Whiskey schreckt und die mit hohen Schulden be-
waltungsratsvorsitzenden kostet, weil die trinkt. Bemerkenswerter aber war diese lastete Firma hätte existenziell gefährden
Börsenaufsicht darin eine versuchte Kurs- Frage des Interviewers: »Sagt eigentlich können. Der Kompromiss: Die Klage wird
manipulation sieht. Sie wissen schon, die- irgendjemand mal Nein zu dir? Sagt ir- fallen gelassen, Musk darf CEO bleiben,
ser Tweet: »Denke darüber nach, Tesla gendjemand, Elon, zu deinem Privatver- muss aber den Vorsitz des Verwaltungsrats
von der Börse zu nehmen, für $ 420 pro gnügen mag das okay sein, aber einen für mindestens drei Jahre abgeben. Und
Aktie. Finanzierung gesichert.« Flammenwerfer verkaufen? Die Haftungs- es müssen zwei weitere, neue Vertreter in
Gemeint ist, zum Beispiel, ein Tag nur risiken? Will man wirklich mit potenziel- das Gremium aufgenommen werden. Und
ein paar Monate davor, als er auf die Idee len Brandstiftern in Verbindung gebracht Musk selbst sowie Tesla müssen je 20 Mil-
kam, seinen Kunden einen Flammenwer- werden?« lionen Dollar Strafe bezahlen.
fer anzudrehen. Einen Flammenwerfer, Die Frage ist berechtigt: Sagt irgend- An dieser Stelle gibt es zwei Lesarten
der aussieht wie ein Spielzeugmaschinen- jemand mal Nein zu Elon Musk? für die Zukunft.
gewehr. Die eine heißt: uff. Alles noch mal gut ge-
Verziert mit dem Logo seiner Tunnel- Ja: die amerikanische Börsenaufsicht, gangen. Also weiter wie bisher. Musk muss
baufirma »The Boring Company« – zu die Securities and Exchange Commission, bloß ein paar Zehntausend weitere Flam-
Deutsch: »Das bohrende«, aber auch »Das kurz SEC. menwerfer verkaufen, dann sind die Unkos-
langweilige Unternehmen« – wurde das Ende September führten Musk und die ten gedeckt, und das große Elon-Theater
Ding für 500 Dollar angeboten, als limi- Behörde ein juristisches Blitzgefecht auf, kann weitergehen. Der Aktienkurs, diese
tierte Edition. 20 000 Stück waren nach das selbst für Musks Verhältnisse turbulent nervöse kleine Schlange, ist auch schon wie-
vier Tagen ausverkauft, zehn Millionen wirkte. Zunächst hatte die SEC Klage ge- der hochgekrochen auf das alte Niveau.
Dollar eingenommen. Der Chef bewarb gen den Tesla-Chef eingereicht, wegen Ir- Die andere heißt: Musks Alleinherr-
seinen elaborierten Marketingwitz in ei- reführung der Aktionäre. Die Behauptung scherstatus ist nun gebrochen. Niemand
nem Video persönlich, rannte Flammen in seinem »Ich nehm jetzt Tesla von der auf Erden steht über dem Gesetz, nicht
werfend und fröhlich grinsend auf die Ka- Börse«-Tweet, dass die private Finanzie- einmal der Möchtegern-Marsianer Musk.
mera zu. rung seines 50-Milliarden-Dollar-Unter- Tesla wird, mit einem hoffentlich unabhän-
Mehrere ironische Schlenker waren in nehmen bereits gesichert sei, war aus Sicht gigeren neuen Verwaltungsrat, ein konven-
das Produkt eingebaut. Zum einen trug der Börsenwächter alles andere als fun- tionelleres, ein etwas langweiligeres Un-
der Flammenwerfer, in Wahrheit nicht diert. Musk, so die Forderung der Klage, ternehmen werden. Weniger Musk = mehr
mehr als ein verkleideter Propangasbren- sei zur Strafe vom Amt des Tesla-CEO zu Erfolg. Das könnte die Zukunftsformel
ner, den Namen »Not a Flamethrower« entheben und dürfe auch keine andere sein. Die Zähmung des Widerspenstigen
(»Kein Flammenwerfer«), zum anderen börsennotierte Firma mehr führen. Die hat begonnen.
wurde gleich ein Feuerlöscher mitgeliefert, Aktien fielen um 14 Prozent. Das Un-
quasi als Negation der Negation. Angeprie- Dass es schon lange einen Kinofilm gibt
sen wurde der Flammenwerfer, der keiner über Mark Zuckerberg und Facebook
ist, so: »Kaufen Sie einen überteuerten (»The Social Network«, 2010), aber noch
Feuerlöscher! Sie können ganz sicher wo- Plot und Hauptfigur sind keinen über Elon Musk, ist unverzeihlich.
anders preiswertere finden, aber dieser einfach viel zu unglaub- Aber auch nachvollziehbar. Der Plot und
kommt mit einem coolen Aufkleber daher, die Hauptfigur sind einfach zu unglaub-
und der Knopf zum Bestellen befindet sich
würdig, zu fantastisch, zu würdig, zu fantastisch, viel zu viel von al-
bequemerweise genauuuuu hier.« viel von allem. lem. Es würde notgedrungen ein B-Movie

66 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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ULISES RUIZ BASURTO / PICTURE ALLIANCE / DPA

SpaceX-Gründer Musk bei Raumfahrtkongress in Mexiko 2016: Ein Popstar der Wirtschaft, vielleicht der einzige

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MARTIN SCHOELLER / AUGUST


Milliardär Musk mit Söhnen vor Tesla-Modell 2009: Würden Sie von diesem Mann ein Elektroauto kaufen?

draus, ein überdrehter Science-Fiction mit fahrtfirma SpaceX, mehr als zehn Millio- kommt. Doch die Loyalität der Tesla- und
einem verhaltensauffälligen Superhelden nen in das Solarzellenunternehmen Solar- Musk-Anhänger schien bisher grenzenlos,
in der Hauptrolle. City seiner Cousins und 70 Millionen in und die schier symbiotische Verbindung
Wenn man kleine Jungs fragt, was sie Tesla. Heiratete später zweimal dieselbe von Unternehmer, Produkten und Kunden
später mal machen und werden wollen, britische Schauspielerin und wurde zwei- hat Musk über viele Jahre unangreifbar,
sagen sie Sachen wie diese: Ich werde As- mal von ihr geschieden. Hat mit einer »Fal- unverzichtbar gemacht. Musk ist nicht ein-
tronaut oder Feuerwehrmann auf dem con Heavy«-Rakete ein kirschrotes Tesla- fach ein CEO, er ist ein Popstar der Wirt-
Mars, ich habe ein fliegendes Auto und Cabrio ins All geschossen, wo es seither schaft, vielleicht der einzige. Und seine
baue eine Rakete, und ich habe zehn Kin- schwebt. Will die Menschheit vor der Ver- Kunden haben mehr Ähnlichkeit mit Lady-
der, und ich mache Frieden auf der Welt. sklavung durch künstliche Intelligenz ret- Gaga- oder Kanye-West-Fans als mit ei-
Betrachtet man Elon Musks Leben, wirkt ten, hat deshalb eine Firma gegründet, die nem Audi-Käufer. Sie kaufen nicht einfach
es manchmal, als hätte er solche Pläne eine Schnittstelle zwischen Gehirn und ein Auto oder ein Solarzellendach, sie
ernst gemeint. Computer entwickeln soll. Arbeitet angeb- kaufen eine Botschaft, eine abenteuerliche
Geboren 1971 in Südafrika, war Musk lich 120 Stunden pro Woche und macht Erzählung, ein Versprechen, dass alles
als Kind so introvertiert, so fokussiert auf nie Urlaub. Hat 22,8 Millionen Twitter- ganz anders sein kann. Sie wollen Musk-
seine inneren Welten, so unansprechbar, Anhänger. Möchte den Mars als Ersatzpla- Mitglieder sein, Bewohner jener besseren
dass seine Mutter glaubte, er sei taub. Der neten kolonialisieren. Welt, die er verspricht.
Junge liebte »Per Anhalter durch die Ga- Würden Sie von diesem Mann ein Elek- Das war ausgerechnet in den Tagen
laxis« und programmierte mit 12 Jahren troauto kaufen? rund um die Börsenaufsichtsklage ein-
sein eigenes Computerspiel. Mit 17 wan- Sehr viele Menschen finden: unbedingt, drucksvoll zu beobachten. Weil sich mit
derte er allein nach Kanada aus, gründete ja, bitte, her damit! dem 30. September, einen Tag nach der
in den Neunzigern während des Dotcom- Als Musk 2017 den Tesla Model 3 zu Einigung mit der SEC, gleichzeitig das
Booms in den USA eine Firma namens produzieren begann, sein erstes Gefährt Ende des dritten Geschäftsquartals näher-
Zip2, verkaufte diese, gründete PayPal mit, mit einem Preis für den Breitenmarkt, ha- te und Tesla überzeugende Zahlen präsen-
wurde superschnell superreich. Heiratete ben mehr als 400 000 künftige Käufer je tieren will, versuchte das Unternehmen so
eine Fantasy-Schriftstellerin aus Kanada, 1000 Dollar für eine Reservierung vor- viele Autos wie irgend möglich an die Kun-
hat mit ihr fünf Söhne, Zwillinge und Dril- geschossen, ohne den Wagen je in der den auszuliefern. Dazu legten nicht nur
linge, ein zuvor geborener Junge starb im Realität gesehen zu haben. Viele von ih- die Tesla-Angestellten in den firmeneige-
Säuglingsalter. Investierte hundert Millio- nen warten bis heute auf ihren Neuwagen, nen Verkaufsstellen Sonderschichten ein,
nen Dollar in die Gründung der Raum- weil Tesla mit der Produktion nicht nach- nein, sie erhielten tatkräftige Unterstüt-

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Wirtschaft

zung von einer unbezahlten Freiwilligen- der Konzern bestimmt als Häme, vielleicht Musk und Tesla produzierten Fahrzeuge,
armee. Mitglieder von Tesla-Fanklubs wa- auch als Kriegserklärung verstand. die Kunden auch kaufen wollten – chic,
ren in die Tesla-Shops ausgeschwärmt, in Die VW-Techniker in Wolfsburg wollten sportlich, mit einer Beschleunigung von
Kalifornien, in Maryland, um sich nützlich ein Elektroauto eines Konkurrenten testen, null auf hundert in gut zweieinhalb Sekun-
zu machen, um die Abläufe zu beschleu- einen Tesla aus Kalifornien, um zu sehen, den. Es ist ein Auto mit Gewissen, aber
nigen. Einer davon, ein Mann namens An- was drinsteckt in dem Ding, um zu lernen, ohne Langeweile. Musk, lange belächelt,
drew Doane, Präsident des »Tesla Owners was sie besser machen könnten. Doch verschaffte sich Respekt, selbst bei den
Club Mid-Atlantic«, sagte gegenüber der kaum hatten sie das Testgelände erreicht, attackierten Großkonzernen. Er habe es
Nachrichtenagentur Bloomberg: »Dieses fuhr das Fahrzeug wie von Geisterhand geschafft, sagt Daimler-Chef Dieter Zet-
Wochenende markiert den Wendepunkt.« seine Funktionen herunter. Musks Leuten sche, dass E-Autos nicht mehr als »Müsli-
Nicht nur für das Unternehmen, so glaubt war es offenbar gelungen, das Fahrzeug und Verzichtsmobile« wahrgenommen
Doane, sondern auch für die große Bewe- zu orten und es aus der Ferne automatisch werden.
gung weg vom Verbrennungsmotor. lahmzulegen. Auf dem Tesla-Display stand Musk handelt schneller, kompromisslo-
Kann man sich so etwas mit irgendwel- nur noch ein Wort: »Dieselgate«. ser, ideenreicher als die Altvorderen der
chen anderen Konsumenten irgendeiner Ob die VW-Ingenieure, unter denen die- Branche. Vieles, was die deutschen Her-
anderen Branche vorstellen? Treue Rewe- se Geschichte kursiert, in jenem Moment steller erst mühsam lernen müssen, hat
Kunden, die freiwillig im Weihnachtsge- innerlich Elon Musks bekanntes sarkasti- Tesla längst etabliert. Die Autosoftware
schäft aushelfen, damit der Laden Rekord- sches Gelächter schallen hörten, das man- beispielsweise lässt sich einfach übers In-
zahlen schreibt? Erfahrene Ikea-Käufer, che Fans auf YouTube zu Endlos-Clips zu- ternet updaten, der Kunde muss dafür
die unentgeltlich beim Montieren helfen, sammenschneiden, ist nicht bekannt. nicht in die Werkstatt fahren. Gegen Auf-
wenn das neue Schranksystem kommt? Hinter dem Wort, »Dieselgate«, verbarg preis lassen sich Servicepakete herunter-
sich eine Botschaft, die Musk später immer laden, um etwa die Geschwindigkeit zu
Elon Musk ist schon mit den allergröß- wieder geäußert hat. Der deutsche Abgas- steigern. Die Autos werden nicht von ir-
ten Namen im selben Atemzug genannt betrug symbolisiert für ihn das Ende einer gendwelchen Hinterhofautohändlern in In-
worden, oft schmeichelhaft, aber nicht Ära, geprägt von Autokonzernen wie eben dustriezonen verkauft, wo man zur Not
immer. Mit Henry Ford, dem großen In- VW. Nicht dem Diesel gehöre die Zukunft, auch noch andere Marken erstehen kann,
novator und Erfinder des Autos als Mas- sondern der Elektromobilität, damit ihm nein, Tesla-Verkaufsstellen sind exklusive
senprodukt. Mit Steve Jobs, dem letzten selbst und Tesla. Als würde er einen Box- Shops in bester Lage, durchdesignt wie ein
Silicon-Valley-Visionär mit ähnlicher Strahl- ring betreten, kündigte Musk an, dem Ver- Apple-Laden.
kraft, der mit iPod und iTunes und dann brennungsmotor eine »Hardcore-Nieder- Musks Konkurrenten sind heute oft zu-
mit dem iPhone die übermächtige Musik- lage« zufügen zu wollen. Gleichzeitig und gleich heimliche Bewunderer. Ausgerech-
und dann die Handyindustrie ebenso an- typisch für Musk, der oft alles und sein Ge- net der neue VW-Konzernchef Herbert
griff wie Musk die alten Auto- und Raum- genteil behauptet, erklärte er sich selbst Diess gilt als Musk-Freund. Man schätzt
fahrttitanen. Aber auch mit Donald Trump, für verrückt: Es sei natürlich idiotisch, in sich gegenseitig, trotz aller Provokationen
mit dem Musk die Unberechenbarkeit und diesen Zeiten eine Autofirma zu starten, des Tesla-Chefs, offenbar stand zeitweise
die Neigung zum hemmungsschwachen eine Elektroautofirma sei gar »Idiotie im sogar eine Zusammenarbeit im Raum. VW
Twitter-Geprotze teilt. Wie Trump, der Quadrat«. Wie geht man mit einem sol- hat schon früher Tesla-Manager engagiert,
einmal sagte, er könne mitten in New York chen Gegner um? die das Unternehmen bei Zukunftsthemen
jemanden erschießen, ohne auch nur einen Wie alles, was er tut, war auch Musks wie dem autonomen Fahren beraten.
Wähler zu verlieren, schien auch Musk lan- Elektrooffensive von Beginn an eine Grat- Unter ihnen: ein Mann namens Martin
ge davon auszugehen, dass es keine Gren- wanderung. Seit ihren Anfängen im Jahr Eberhard.
zen gibt für ihn. Dass er so viele Flammen 2003 ist Tesla permanent vom Untergang Elon Musk mag vieles sein, »Tesla-
werfen kann, wie er eben mag. bedroht. Musk investierte Milliarden in Gründer« jedoch, wie er immer wieder ge-
In jüngerer Zeit wurden seine Ausfälle neue Fabriken, in eine eigene Batteriefer- nannt wird, ist er nur bedingt.
drastischer. Er beleidigte Analysten wäh- tigung, in ein globales Netz von Ladesäu-
rend einer Telefonkonferenz, deren »däm- len; bemerkenswerte Leistungen in einem Klar ist, dass es Tesla schon gab, bevor
liche und langweilige Fragen« nach Quar- feindlichen Marktumfeld. Nur der Gewinn Musk auf die Firma aufmerksam wurde.
talszahlendetails er für »uncool« hielt. Er blieb aus, bis heute. Zeitweise verlor Tesla Einer der wahren Gründer heißt Martin
beschimpfte unfassbarerweise einen briti- bis zu 16 Millionen Dollar – pro Tag. An- Eberhard, ein Ingenieur und Pionier der
schen Taucher, der im Juni in Thailand leger und Investoren, die auf Tesla wetten, modernen Elektromobilität, und der fährt
Kinder aus einer Höhle retten half, als müssen über die Gegenwart hinwegsehen gerade mit seinem Tesla Roadster auf den
»pedo guy«, als Pädophilen, entschuldigte und auf die Zukunft vertrauen. Deswegen Parkplatz vor dem Restaurant Buck’s in
sich dafür, wiederholte und verstärkte die sind seine Ausrutscher so gefährlich. Jeder Woodside, Silicon Valley, Kalifornien.
Vorwürfe später, wurde dafür verklagt. Er Skandal kann der letzte sein. Eberhard, 58, ist in vielem das genaue Ge-
verschickte frühmorgens einen Tweet, in Trotz allem hat Musk es geschafft, die genteil von Musk, und nachdem die bei-
dem er – Sie wissen schon. komplette Autoindustrie jahrelang vor den Geschäftspartner gewesen waren, wur-
Eine bisher unbekannte Anekdote, die sich herzutreiben. Volkswagen, BMW und den sie auf Jahre zu Feinden.
im Vergleich zu solchen kommunikativen Daimler experimentieren zwar schon seit »Wollen Sie wissen, woher ich den
Katastrophen schon wieder charmant Jahrzehnten mit Elektroautos. Doch erst habe?«, fragt Eberhard und deutet auf
wirkt, zeigt, wie Elon Musk mit der deut- seinen silbernen Sportwagen, das erste
schen Autoindustrie umgeht. Tesla-Modell, eine Rarität, nur rund 2500
Es passierte nach dem September 2015, Stück wurden hergestellt, von 2008 an.
als der Skandal um manipulierte Diesel- Bei Tesla war der Kunde Vor drei Jahren habe er ihn bei einem
autos aufgeflogen war und die deutschen bislang nicht König, Gebrauchtwagenhändler in Los Angeles
Autobauer in der vielleicht größten Krise entdeckt, »und der erzählte mir, dass der
ihrer Geschichte steckten: Der Tesla-Chef
sondern hörig – das könnte Wagen vorher Justine Musk gehört habe«.
schickte eine Botschaft an Volkswagen, die sich ändern. Justine Musk, geborene Wilson, der ers-

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 69


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Wirtschaft

ten Frau von Elon, mit der er acht Jahre gestellt. Er erinnert sich an sein letztes Kaum hatten die Börsenwächter ihr
lang verheiratet war, der Mutter seiner Gespräch mit Martin Winterkorn, dem Machtwort gesprochen, ging Musk schon
sechs Söhne? »Genau die.« Eine ihrer For- tief gefallenen ehemaligen VW-Boss, der wieder seinen alten Twitter-Launen nach.
derungen bei der von Musk vorangetrie- über den Abgasskandal stolperte und ge- Am 1. Oktober, vergangenen Montag, pos-
benen Scheidung war: ein Roadster. Da gen den das amerikanische Justizministe- tete er kommentarlos ein altes Musikvideo
steht er. Sie habe den Wagen offenkundig rium in diesem Jahr einen Haftbefehl er- der Rap-Truppe »Naughty by Nature«
kaum benutzt, sagt Eberhard. »Er hatte lassen hat. (»Naturgemäß frech«), einen Neunziger-
nur 200 Meilen auf dem Tacho, toller Lange vor Dieselgate also saßen die bei- jahre-Klassiker namens »O. P. P.« Musk
Zustand.« den zusammen, und Eberhard versuchte, hat Spaß daran, kryptische Botschaften zu
Eberhard, ein hagerer, weißbärtiger Winterkorn davon zu überzeugen, stärker versenden, über die sich seine Twitter-Ge-
Schnellredner, der genauso unter Strom auf Elektroautos zu setzen. Winterkorn meinde dann rätselnd beugen kann. In
steht wie das Fahrzeug, das er miterschuf, habe ihm erklärt, dass Volkswagen im Ge- dem Song geht es um Untreue oder um
hat Tesla gemeinsam mit Marc Tarpen- genteil auf Diesel vertraue, »Clean Diesel«, Beziehungen zu »fremdem Eigentum«
ning im Jahr 2003 aus der Taufe gehoben, um den Emissionsvorschriften zu genügen. (Other People’s Property, O. P. P.), aber die
auch der Name war seine Idee. Und Elon Eberhard: »Ich habe zu Dr. Winterkorn Deutung, die Musk am ersten Tag nach
Musk, der damals sein PayPal-Vermögen gesagt, dass ›Sauberer Diesel‹ für mich ein Ende des dritten Geschäftsquartals wo-
verteilte, stieg im Jahr darauf als Haupt- Oxymoron sei, ein Widerspruch in sich möglich insinuierte, war schnell gefunden.
investor ein und wurde Präsident des Ver- selbst. Da ist er richtig wütend geworden. Das Kürzel »O. P. P.«, so wurde gemut-
waltungsrats – das ist der Job, den er nun Wir haben uns seither nicht mehr gese- maßt, könnte für »Operational Profit Posi-
im Streit mit der Börsenaufsicht abgeben
muss. Damals war Eberhard Tesla-CEO,
ein Job wiederum, von dem dieser im Jahr
2007 zurücktrat – wegen Uneinigkeiten
mit seinem Verwaltungsratsvorsitzenden,
Musk. Die damaligen Vorwürfe, er habe
die Kosten aus dem Ruder laufen lassen,
lässt Eberhard bis heute nicht gelten. Lan-
ge hat er sich danach mit Musk gestritten,
juristisch, öffentlich, und er wirkt noch
immer verbittert.
Aber auch er ist ein Fan, er kann nicht
anders. Immer wieder kommt er zwischen
zwei Happen von seinen Frühstücks-Tacos
auf die Revolution zu sprechen, die er mit
angezettelt hat. »Vor 20 Jahren wäre es
niemandem eingefallen zu behaupten,
Elektroautos wären die Zukunft, heute

SPACE X / ZUMA PRESS / IMAGO


sagt das jeder«, sagt Eberhard. Ohne Tesla,
sein Tesla, sagt er, wäre das nicht passiert.
Den Namen Musks vermeidet er bei sei-
nen Hymnen. »Jeder hat gesagt, es sei un-
möglich. Aber jetzt geschieht der Wandel.
Und ich bin sicher, ohne Tesla hätte keiner
der großen Autobauer angefangen, E-Au-
tos herzustellen, auch nicht die Deutschen, Tesla Roadster*: »Neuerdings spricht er vor allem über sich selbst«
BMW, Volkswagen, keiner.«
Hört man Eberhard zu, klingt es, als
würde er noch immer für Tesla arbeiten. hen.« Im Rückblick, sagt Eberhard, könne tive« stehen – so etwas wie der Übergang
Dass er das Ex-Auto der Ex-Frau seines er die Reaktion besser verstehen. eines Unternehmens in die Gewinnzone.
Ex-Geschäftspartners fährt, wirkt wie eine Was glaubt Eberhard: Könnte Tesla Schon einige Tage zuvor hatte Musk be-
fiese Metapher. Er kommt nicht von ihm auch ohne Musk? Oder werden die SEC- hauptet, Tesla stehe endlich »sehr nah« an
los, und er möchte doch mehr sein als le- Strafmaßnahmen ihn zumindest ein wenig der Profitabilität.
diglich eine Fußnote in dieser Geschichte. zur Vernunft bringen? Es sei unwahr- Der Tweet zeigte zweierlei: Erstens, die
Eberhard kann nicht wütend sein auf scheinlich, dass Teslas Verwaltungsrat, erhoffte Domestizierung des Enfant terri-
Musk, und sosehr er dessen Eskapaden auch wenn er nun ergänzt werden wird, ble scheint vertagt. Aber gleichzeitig
verachtet, so sehr wünscht er sich, dass »irgendetwas gegen Musk unternimmt«, könnte, zweitens, die Aussicht auf die na-
ihm, Musk, das große Werk gelingt, das sagt er. Er kenne viele der Mitglieder per- hende Gewinnschwelle den Wunsch nach
sie gemeinsam begonnen haben. sönlich, es sind alte Bekannte Musks, sogar mehr Verlässlichkeit an der Tesla-Spitze
Vor zwei Jahren gründete Eberhard ein sein Bruder Kimbal gehört dazu, »sie ha- verstärken.
Start-up namens Inevit, das an der Ent- ben ihre Karrieren darauf gebaut, auf Tesla hat die Elitennische verlassen und
wicklung besserer Batteriemodule für Elons Erfolgswelle mitzuschwimmen«. mit dem Model 3 den Massenmarkt be-
Elektroautos arbeitet, denn an der Batte- Dann verabschiedet sich Eberhard, steigt treten, es wäre ein guter Zeitpunkt für den
rietechnologie wird sich entscheiden, ob in seinen Roadster und verschwindet so Chief Executive Officer, erwachsen zu
die Zukunft des Autos wirklich elektrisch lautlos, wie er gekommen ist. werden, in den Hintergrund zu treten. Der
ist oder nicht. Analyst Ben Kallo, von der Investment-
Nach seinem Abgang bei Tesla war * Vor Verladung in eine »SpaceX«-Rakete im Dezem- bank Robert W. Baird & Co., glaubt, dass
Eberhard eine Weile bei Volkswagen an- ber 2017. Musk den CEO-Posten »in frühestens

70 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Wirtschaft
KO N F E R E N Z E N

zwei bis drei Jahren« räumen wird. »Er reit gewesen sein, Aktien zu kaufen, wenn
hat ja selbst gesagt, dass er bleiben wird, bei Tesla eine Schieflage drohe. Auch Ap-
bis E-Autos gleich viel kosten wie Autos ple wird als möglicher Käufer genannt.
mit Verbrennungsmotor.« Am Ende aber, ausgerechnet, könnte auch
Auch wenn das Publikum und die ein deutscher Konzern einsteigen, den
Medien Elon Musk leidenschaftlich gern Musk einst lustvoll attackiert hat: Volks-
bei seinen Seiltänzen zuschauen, in der wagen. Mancher Manager in Wolfsburg
Firma selbst wünschen sich viele endlich: glaubt, Tesla habe eine große Zukunft. Die
Ruhe. Marke sei stark genug, um ihren derzeiti- 24. OKTOBER 2018
Er habe der Marke, so sagen Kritiker, gen Chef zu überleben.
zuletzt mehr geschadet als genützt. Ein »If you can’t beat them, join them«,
früherer Tesla-Manager, der direkt an heißt ein alter Merkvers der Business-
Humboldt Carré
Musk berichtet hat, sagt: »Früher hat Elon Kampfkunst: Wenn du deinen Gegner
nur über die Autos und seine Vision ge- nicht schlagen kannst, verbünde dich mit Berlin
redet. Neuerdings spricht er vor allem über ihm.
sich selbst.« Die große Frage, die sich Ak- Das wäre dann die Höchststufe der Iro-
tionäre und Mitarbeiter bis vor Kurzem nie dieser Geschichte: Musk, der mit sei-
kaum zu denken trauten, ist durch die Dro-
hung der Börsenaufsicht konkret und aus-
sprechbar geworden: Ist Elon Musk der
ner Elektrorevolution die alten Herren auf
ihren Benzinern geweckt hat; Musk, der
die Deutschen schadenfreudig bei jeder
ZUKUNFT
richtige Chef für das nächste Kapitel von
Tesla?
Der richtige Chef muss dafür sorgen,
dass bei Tesla keine neue »Produktions-
Gelegenheit an ihr »Dieselgate« erinnert
– dieser Elon Musk würde vom alten Sys-
tem, das er bekämpft, geschluckt. Zu Tode
umarmt.
AFRIKA
hölle« entsteht, wie Musk das selbst nann- Wie kann wirtschaftliche
te: Weil die Roboter nicht funktionierten Man würde ihn vermissen. Denn tritt
wie geplant, musste Tesla zusätzliche Ar- man einen Schritt zurück, ein Stück weg Zusammenarbeit künftig
beiter einstellen – und die Autos teils von von der Tesla-Fabrik in Fremont, von der funktionieren?
Hand zusammenschrauben. Der richtige Raketenstation in Hawthorne, von der
Chef muss die »Auslieferungshölle« ver- Gigabatteriefabrik in Nevada und nimmt
lassen, in der Tesla mit dem Model 3 steckt: so die ganze Tech-Utopia der US-Westküs-
Der Konzern schafft es nicht, die fertigen te in den Blick, dann zeigt sich die Son- Im Gespräch mit der
Autos rechtzeitig an die Kunden zu liefern, derstellung des Elon Musk. Neben den SPIEGEL-Redaktion treffen Sie u.a.:
Engpässe in der Logistik. Der richtige Chef »Vier Großen« – Google, Facebook, Ama-
wird abwägen müssen, ob die neuen Kun- zon, Apple – ist er ein Zwerg, seine Markt-
denschichten, die der preiswertere Tesla 3 macht klein, obwohl er die anderen an
anspricht, ebenfalls so viel Geduld haben Lautstärke übertrifft. Er gehört zu dieser
werden wie der exklusive kleine Zirkel, Welt, er entstammt dieser Welt, aber er
der so bereitwillig auf das Luxusmodell S stand und steht doch immer irgendwie
wartete. daneben.
E-Autos werden zu einer neuen Norma- Und immer mehr auch darüber: Wäh-
lität, und die neuen Tesla-Kunden sind rend die große Datendämmerung der ver-
vielleicht auch normaler als die alten: gangenen Jahre zur Sinnkrise des Silicon
Michael Gottschalk/photothek.net
leicht reizbar, meckerfreudig, schwer zu- Valley geführt hat, während digitale Pla-
friedenzustellen. Bei Tesla war der Kunde gen wie Fake News, Datenmissbrauch, Fil-
bislang nicht König, sondern hörig. Das terblasen oder Onlinesucht das Vertrauen Dr. Gerd Müller Gerald Knaus
könnte sich ändern. der Öffentlichkeit in die Tech-Giganten Bundesminister Vorsitzender
Und die Konkurrenz steht bereit. Vor nachhaltig beschädigt haben, wirkt Elon für wirtschaftliche der Europäischen
allem die E-Auto-Offensive von Porsche Musk, der Flammenwerfer, plötzlich wie Zusammenarbeit Stabilitätsinitiative
macht Tesla-Managern Sorgen, wie man der letzte glaubwürdige Weltverbesserer. und Entwicklung
hört. Der erste vollelektrische Porsche Tay- Musk trägt keine Maske. Er ist ein grund-
can soll 2019 startklar sein. Er spricht die ehrlicher Verführer.
gleiche Klientel an, die sich momentan Er verdient sein Geld nicht, indem er
noch Teslas Premiummodell S kauft. Auch Massen auf Websites lockt, um dann dort
im Massengeschäft holt die alte Auto- Werbung zu verkaufen. Er verdient sein
industrie auf. Allein Volkswagen will mehr Geld nicht, indem er Daten seiner Kunden
als 30 Milliarden Euro in die Mobilität der abschöpft und diese an Dritte verhökert.
Zukunft stecken. Musk baut Dinge – Autos, Raketen, Bat-
Musk, das ist die Gefahr, könnte vom terien, Solarzellen, Tunnel. Die anderen
Angreifer zum Gejagten werden. Und das schreiben Algorithmen, die uns gerade um
kann schnell gehen. Wird das neue Mo- die Ohren fliegen.
del 3 kein Erfolg, droht die Pleite. Bricht »Software frisst die Welt auf«, hat der
der Aktienkurs ein, wird Tesla zum Über- Digitalpionier Marc Andreessen gesagt,
nahmekandidaten. und Elon Musk verteidigt die Hardware.
Einspringen könnte ein IT-Konzern, auf Seine Show muss weitergehen.
der Suche nach neuen Geschäftsfeldern. Simon Hage, Helene Laube, Guido Mingels
Google soll schon vor einigen Jahren be-

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Wirtschaft

Auftrag: Verteidigung
Währungsunion Der milliardenschwere europäische Rettungsschirm ESM soll eine noch
bedeutendere Rolle bei Eurokrisen spielen. Unklar aber ist, wer am Ende über das Geld entscheidet.

I
m Luxemburger Stadtteil Kirchberg, Dass der ESM derart ins Zentrum der Falle einer neuen Krise – zusätzliche Kon-
einer Mischung aus Geschäftsviertel europäischen Finanzpolitik rückt, hat auch troll- und Durchgriffsrechte.
und Gewerbegebiet, residiert in ei- mit seinem Erfolg zu tun. Er und seine Der ESM hat für diese Aufgabe die bes-
nem unscheinbaren Flachbau eines Vorgängerorganisation EFSF haben fünf te Expertise aller europäischen Institutio-
der vielversprechendsten Start-ups Euro- Mitgliedstaaten der Eurozone geholfen, nen. Er ist Tag für Tag in direktem Kontakt
pas. Es weist die typischen Merkmale hoff- die Folgen der Finanzkrise zu bewältigen. mit den Finanzmärkten und bekommt
nungsvoller Neugründungen auf: dynami- Dutzende Milliarden Euro verlieh er in schneller als etwa die EU-Kommission mit,
sches Wachstum, Internationalität, glänzen- den vergangenen Jahren an Griechenland, wann ein Mitgliedsland um seine Kredit-
de Perspektiven – und jede Menge Geld. Irland, Portugal, Zypern und Spanien. Ent- würdigkeit bangen muss.
Gerade einmal fünf Leute werkelten vor weder weil die Anleger diesen Staaten Diese Kommunikation mit den Märkten
acht Jahren, als der Vorläufer gegründet keine Anschlusskredite mehr gewähren geschieht in zwei separaten Handelsräu-
worden war, ein paar Straßenecken weiter. wollten oder weil diesen Staaten das Geld men. Im ersten legen Experten des ESM
Heute stehen 180 Beschäftigte auf der Ge- fehlte, um ihre Banken zu retten. das Eigenkapital des Rettungsschirms an,
haltsliste, sie jonglieren mit Hunderten Die Milliarden aus Luxemburg gab es immerhin 80 Milliarden Euro. Dort tritt
Milliarden Euro. Die Mitarbeiter stammen jedoch stets nur gegen Auflagen. Die be- er also selbst als Investor auf.
aus 43 Ländern und sprechen zwei Dut- troffenen Länder mussten sparen, ihre So- Im zweiten, viel größeren, legen Reg-
zend Sprachen. zialsysteme reformieren oder ihre Arbeits- lings Leute Anleihen auf. Damit treiben
Auch sonst gehorchen die Standards märkte liberalisieren. Mittlerweile haben sie das Geld ein, das notleidenden Re-
höchsten internationalen Gepflogenheiten: alle Staaten die Hilfsprogramme beendet, gierungen bei Bedarf aus der Finanzklem-
Es gibt einen Fitnessraum für die Beleg- als letztes im August Griechenland. Sie me helfen soll. In dem Großraumbüro
schaft und eine lichtdurchflutete Kantine müssen ihre Verbindlichkeiten beim ESM herrscht ein Treiben wie im Handelssaal
mit Terrasse, auf der Rauchverbot herrscht. noch zurückzahlen, allerdings jeweils un- einer Bank. Die Euroretter sitzen vor Bild-
Geht es nach den Eigentümern, werden terschiedlich schnell. schirmen, auf denen Zahlenkolonnen und
bald noch viel mehr Leute anheuern. In seinem Eckbüro im zweiten Stock Kurven flackern. Einige Händler haben ih-
Denn das Start-up soll sich neue Tätigkeits- zieht Klaus Regling, der deutsche Chef des ren Arbeitsplatz mit der Europafahne ge-
felder erschließen. ESM, nach acht Jahren Kriseneinsatz Bi- schmückt – innere Haltung braucht manch-
Im Gegensatz zu den Geschäftsmodel- lanz. Er ist zufrieden. »Niemand kann sich mal auch äußere Zeichen.
len anderer Neugründungen setzt der Lu- vorstellen, dass wir künftig keine Rolle Zur neuen Aufgabenbeschreibung des
xemburger Laden nicht auf den Angriff in mehr spielen werden.« Das war durchaus ESM gehört es, frühzeitig auf heraufzie-
neue Märkte. Im Gegenteil: Sein Auftrag einmal anders. Anfangs glaubte Regling, hende Krisen aufmerksam zu machen. Sei-
heißt Verteidigung. Er soll die Eurozone der auch Gründungschef der Vorläuferorga- ne Leute verfügen über tiefe Einblicke in
und den Euro vor Turbulenzen schützen. nisation EFSF war, dass er nur einen Not- die Lage der ehemaligen Krisenländer,
Das Start-up firmiert unter dem Kürzel falleinsatz leiten würde. Nach drei Jahren weil sie bei den regelmäßig stattfindenden
ESM, was für Europäischer Stabilitätsme- wollte und sollte er den Schalter schließen. Visitationen der Geldgeber in den Haupt-
chanismus steht. Besser bekannt ist es als Ein paar Jahre später, als der ESM als Dau- städten dabei sind. Und auch über die Si-
Euro-Rettungsschirm. ereinrichtung etabliert war, plante er noch, tuation in den großen Mitgliedsländern
Die Finanzminister der 19 Mitgliedstaa- seine Organisation nach überstandener Eu- Deutschland und Frankreich wisse seine
ten stellen im Gouverneursrat so etwas dar rokrise in eine Art Winterschlaf zu verset- Organisation gut Bescheid, sagt Regling.
wie die Eigentümerversammlung. Seit zen, Personalabbau inklusive. »Wenn aber – rein hypothetisch – zum Bei-
Monaten diskutieren sie darüber, wie die Jetzt kommt es anders, Regling und sei- spiel in Österreich oder Malta etwas pas-
Organisation weiterentwickelt werden soll. ne Auftraggeber, die Finanzminister der sieren würde, wären wir zurzeit noch
Sie haben Großes vor. Der ESM soll nach Eurozone, haben umgedacht. »Die Feuer- blank.« Um die Rolle als Frühwarnsystem
dem Vorbild des Internationalen Währungs- wehr versetzt ja auch niemand in den Win- zu erfüllen, muss der ESM deswegen Fach-
fonds (IWF) zu dessen europäischem Pen- terschlaf«, sagt er. Tatsächlich soll sie nun leute für alle Mitgliedsländer anwerben.
dant werden. Dafür wird er neue Befugnisse eher aufgerüstet werden. Neues Personal ist auch für das zweite
erhalten, um die Finanzpolitik der Euro- Erstes Arbeitsfeld ist die Wandlung des Aufgabenfeld notwendig. Mit seinen Mil-
staaten besser zu überwachen. Auch bei der ESM zu einer Art europäischem Ersatz für liarden soll der ESM den europäischen Me-
Bankenrettung soll der ESM eine größere den IWF. Dessen Engagement hatte in chanismus, mit dem marode Kreditinstitu-
Rolle spielen – nicht unwichtig im Fall einer Griechenland eine große Rolle gespielt. Al- te künftig abgewickelt werden, finanziell
neuen Finanzkrise. Und nicht zuletzt soll lerdings gab es immer wieder Streit um absichern. Für diesen Job braucht Regling
der ESM Staaten in Geldnot künftig besser die konkrete Hilfsstrategie. Künftig will Bankenexperten.
helfen können. So wird der Rettungsschirm sich der IWF bei Staatspleiten in Europa Drittens soll der ESM eine Reihe neuer
fit gemacht selbst für den Fall, dass die eben- nicht mehr an Rettungspaketen beteiligen. Finanzierungsinstrumente bekommen, um
so rücksichts- wie ahnungslose Finanzpoli- Um als quasi europäischer Währungs- angeschlagenen Ländern rasch helfen zu
tik der aktuellen italienischen Regierung fonds agieren zu können, soll der ESM die können. Im Gespräch ist eine vorsorgliche
erstmals ein großes Mitgliedsland an den Aufsicht über die jeweilige Finanzlage der Kreditlinie für Staaten, die sich noch nicht
Rand einer Pleite führt. Euromitgliedstaaten bekommen und – im in akuten Zahlungsnöten befinden, die je-

72 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6.10. 2018


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EZB betreibt Geldpolitik für die ganze Eu-


rozone, nicht für einzelne Länder.
Der Europäische
Stabilitäts-
mechanismus
(ESM)
700 Mrd. €
Kapital haben die Mitglied-
Um die neuen Aufträge zu bewältigen,
muss Regling seinen Personalbestand noch
einmal gehörig erhöhen. »Sollte der ESM
all die zusätzlichen Aufgaben bekommen,
die derzeit diskutiert werden, müssten wir
Finanzierung und staaten bereitgestellt, unser Personal von derzeit 180 in den kom-
Funktionsweise menden Jahren auf maximal 250 aufsto-
500 Mrd. € kann der ESM cken«, sagt der ESM-Chef.
maximal vergeben. Die Flut neuer Pflichten birgt Risiken
und Nebenwirkungen. Genügend Geld
steht zur Verfügung. Derzeit hat der ESM
erst hundert Milliarden Euro der mögli-
Wann wird der chen halben Billion an Krediten vergeben.
Deutschland ESM gebraucht? Doch tatsächlich sorgen sich Reglings Leu-
168,3 Beispielsweise, wenn ein kriselndes
Euroland auf den Kapitalmärkten % te auch, der ESM könne von der Politik
überfrachtet werden.
Frankreich Geld nur noch zu extrem hohen Besonders schwierig ist es, den Banken-
Q Zinsen bekäme. abwicklungsfonds finanziell abzusichern.
abrufbares 126,4
Wie kann er helfen? Für diesen Zweck müsste Regling zwi-
Kapital und
Garantien Der ESM gewährt dem schen 60 und 70 Milliarden Euro seiner
Not leidenden Mit- möglichen Kreditvergabe reservieren.
Q Italien glied günstige »Diese Summe stünde nicht mehr für die
eingezahltes 111,1 Kredite mit langen anderen Instrumente zur Verfügung«,
Kapital Laufzeiten. heißt es warnend in einem internen ESM-
in Mrd. € Papier, das Regling an die Finanzminister
Woher kommt das Geld?
der Mitgliedsländer verschicken ließ. Da-
Der ESM legt Anleihen
für Investoren aus aller rüber hinaus könne die »eigene Kredit-
Welt auf. Weil die würdigkeit des ESM Schaden nehmen«.
21,7
16,3 Spanien 73,8
starken Euroländer
für die Rückzahlung
% Zudem ist immer noch nicht klar, wer
eigentlich darüber entscheidet, welche Mit-
garantieren, ver- tel freigegeben werden. Einige Mitglieds-
14,3 langen die Geldgeber länder wollen, dass ESM-Chef Regling
nur geringe Zinsen. eine Art Blankoscheck bekommt und al-
Gegenleistung lein bestimmen darf, wann er das Geld für
9,5 eine Bankenrettung rausrückt. Die Vertre-
Der Krisenstaat erhält nur
Niederlande 35,4 Hilfen, wenn er Reformen ein- ter der Bundesregierung bis hin zu Finanz-
4,6 minister Olaf Scholz (SPD) beharren je-
leitet. Die EU-Kommission
2,8 Belgien 21,6 und die EZB kontrollieren, ob doch darauf, dass Deutschland aus verfas-
2,3 er sich an die Sparvorgaben hält. sungsrechtlichen Gründen ein Vetorecht
2,2
Griechenland behält. Der Streit darüber dauert an.
17,5 Weitere Maßnahmen
1,3 1,4 2,0 Der Kompetenzzuwachs des ESM stößt
Die ESM-Gremien können neben der nicht überall auf Gegenliebe. Vor allem
Finn- Österreich Vergabe von Krediten auch Finanzhilfen
Irland land 17,3 die Vertreter der EU-Kommission achten
9,9 11,1 Portugal für Banken gewähren oder – im Aus-
nahmefall – Staatsanleihen aufkaufen. ziemlich ehrpusselig darauf, dass ihre
15,6
Kompetenzen, etwa bei der Länderanaly-
se, nicht beschnitten werden.
Slowakei: 5,1/ 0,7 Slowenien: 2,7 / 0,3 Litauen: 2,5/ 0,3 Lettland: 1,7/0,2 Das jüngste Störmanöver der EU-Leute:
Luxemburg: 1,6 /0,2 Zypern: 1,2 /0,2 Estland: 1,2/ 0,1 Malta: 0,5 / 0,1 Jedes Abgeben von Macht an den ESM sei
problematisch, solange der Rettungsschirm
doch Hilfen brauchen, um misstrauische ohne Konditionen in Anspruch nehmen keine EU-Behörde sei. Das stimmt einer-
Anleger zu beruhigen. dürfen. Um die Hilfen zu bekommen, müs- seits, da der ESM nur eine Einrichtung der
In einem Papier für die Eurogruppe, die sen mehrere Voraussetzungen vorliegen Mitgliedstaaten der Währungsunion ist. An-
Versammlung der Finanzminister aus der und Auflagen erfüllt werden. dererseits ist das Argument der Kommissi-
Eurozone, schlägt der ESM zudem ein wei- Der ESM soll künftig auch helfen, eine on perfide. Sie weiß nur zu genau, dass es
teres Instrument vor. Es soll kurzfristige schlingernde Konjunktur in einzelnen Mit- auf absehbare Zeit keine Mehrheit dafür
Liquiditätshilfen für Länder geben, denen gliedstaaten zu stabilisieren. Dazu soll er gibt, den ESM in EU-Recht zu überführen.
nur vorübergehend das Geld ausgeht, weil solchen Ländern einen Kredit gewähren, Regling kann solche Ranküne gelassen
sie etwa ungerechtfertigt ins Visier von die einen einseitigen wirtschaftlichen beobachten. Er weiß, dass die zukünftige
Spekulanten geraten sind. »Diese Mittel Schock erleben, schlägt das Papier vor. Mit Eurorettung nicht ohne ihn auskommt.
können umstandslos ausgezahlt werden, dem frischen Geld könnten die Regierun- Schließlich verfügt er über das Geld, das
ohne dass sich das Land einem kompletten gen die Nachfrage stärken. Ein derartiges alle brauchen. »Mir geht es nicht darum,
Anpassungsprogramm unterwirft«, heißt Instrument sei notwendig, weil die Euro- den ESM zu stärken«, sagt er. »Unsere Auf-
es in dem Papier. päische Zentralbank (EZB) in einer sol- gabe ist es, den Euro zu stärken.«
Die betroffenen Regierungen sollen das chen Situation nicht mit niedrigeren Zin- Christian Reiermann
bereitgestellte Geld jedoch nicht gänzlich sen eingreifen könne, sagt Regling. Die

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Die exklusive
Kino-Preview!
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Die Preview-Aktion wird am Montag,


dem 15.10.2018 stattfinden. Für zwei
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Ab Mittwoch, dem 10.10.2018 werden
Sie per E-Mail informiert, ob Sie bei
der Preview dabei sind.
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DER VORNAME Düsseldorf
Es hätte ein wunderbares Abendessen UCI Kinowelt
werden können, zu dem Stephan (Chris- Hammer Straße 29 – 31
toph Maria Herbst) und seine Frau Elisa- Beginn: 20.00 Uhr
beth (Caroline Peters) in ihr Haus eingela-
den haben. Doch als Thomas (Florian
Frankfurt am Main
Cinema
David Fitz) verkündet, dass er und seine Roßmarkt 7
schwangere Freundin Anna (Janina Uhse) Beginn: 20.00 Uhr
ihren Sohn Adolf nennen wollen, bleibt
den Gastgebern und dem Familienfreund Hamburg
René (Justus von Dohnányi) bereits die Passage Kino
Vorspeise im Hals stecken. Man faucht Mönckebergstraße 17
einander Wahrheiten ins Gesicht, die zu- Beginn: 20.00 Uhr
gunsten eines harmonischen Zusammen-
seins besser ungesagt geblieben wären. Hannover
Starke Egos geraten aneinander, Eitel- Astor Grand Cinema
keiten werden ausgespielt, und der Abend Nikolaistraße 8
eskaliert: Die Diskussion über falsche und Beginn: 20.00 Uhr
richtige Vornamen geht in ein Psychospiel Köln
über, bei dem die schlimmsten Jugend- Cinenova
sünden und die größten Geheimnisse aller Herbrandstraße 11
Gäste lustvoll serviert werden. Beginn: 20.00 Uhr
Mit DER VORNAME inszeniert Er-
folgsregisseur Sönke Wortmann ein Leipzig
Abendessen im Freundes- und Famili- Passage Kinos
ber
Preview am 15. Okto er
Hainstraße 19a
enkreis, das zum handfesten Streit
Beginn: 20.00 Uhr
ktob über Kindererziehung, Jugendfreund-
Kinostart am 18. O schaften und Liebesbeziehungen
ausartet. Eine amüsant-entlarvende
München
Filmtheater Sendlinger Tor
Gesellschaftskomödie mit deutscher Sendlinger-Tor-Platz 11
Star-Besetzung: Christoph Maria Herbst, Beginn: 20.30 Uhr
Florian David Fitz, Caroline Peters, Justus
von Dohnányi und Janina Uhse spielen Nürnberg
die Hauptrollen. In einer Nebenrolle ist Cinecittà
Iris Berben zu sehen. Gewerbemuseumsplatz 3
Beginn: 20.00 Uhr

Stuttgart
Metropol
www.DerVorname.de Bolzstraße 10
/vorname.film Beginn: 20.00 Uhr
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Wirtschaft

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

»Bei den Politikern heute


vermisse ich die Leidenschaft«
SPIEGEL-Gespräch Drogeriepionier Dirk Roßmann, 72, über die politische Verantwortung
von Managern, seine Fehler als Unternehmer und seinen Hang zur Geltungssucht
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Roßmann, Jahrgang 1946, verdiente sich ab. Manchmal bin ich ein Taktierer. Ob- deshalb etwas zu verändern, indem wir in
sein erstes Taschengeld, indem er die wohl ich eigentlich nicht der Typ dazu bin. unserer Organisation eine freiheitliche und
Waren aus der elterlichen Drogerie mit SPIEGEL: Wir reden hier nicht davon, dass liberale Atmosphäre pflegen. Das leben
dem Fahrrad ausfuhr. 1972 gründete der die Presse verschiedene Meinungen abbil- wir vor und zeigen so den Menschen in
gebürtige Hannoveraner das erste Selbst- det, auch der SPIEGEL, sondern von Volks- Ungarn, wie wichtig diese Werte uns sind.
bedienungsgeschäft für Drogerieartikel. verhetzung – das ist eine Straftat. SPIEGEL: Zu Wendezeiten scheinen Sie
Inzwischen beschäftigt Roßmann gut Roßmann: Ich bin keiner, der auf den mutiger gewesen zu sein. Damals haben
50 000 Mitarbeiter und zählt zu den reichs- Mund gefallen ist. Aber ich habe in mei- Sie sich so sehr darüber geärgert, dass die
ten Deutschen. Auch seine Frau und seine nem Leben dazugelernt. Vor zwei Jahren rechtsextreme NPD im Osten versucht hat,
beiden Söhne arbeiten in der Unterneh- hatten wir Stephan Weil, den niedersäch- Werbung für sich zu machen, dass Sie bei
mensleitung. Am 8. Oktober erscheint sei- sischen Ministerpräsidenten, bei uns in der der Leipziger Montagsdemo SPIEGEL-
ne Autobiografie*. Firma zu Besuch. Damals habe ich mit Hefte verteilt haben. Wie kam es dazu?
Bezug auf Erdoğan und die Entwicklung Roßmann: Das war ein spontaner Gedan-
SPIEGEL: Herr Roßmann, Sie gelten als je- in der Türkei deutliche Worte gefunden. ke, der mir rund um Weihnachten 1989
mand, der couragierte Menschen schätzt. Meine Mitarbeiter in Istanbul fanden das kam. Als ich von dieser rechten Propagan-
Wann waren Sie zuletzt mutig? nicht witzig. Die haben Angst um ihre da hörte, hat mich eine Riesenwut gepackt.
Roßmann: Im Augenblick. Weil ich mit Familien. Wir beschäftigen in der Türkei Also besorgte ich mir rund 20 000 Remit-
dem SPIEGEL spreche. mehr als tausend Menschen, und für die tenden, also Hefte, die nicht verkauft wor-
SPIEGEL: Wir dachten beim Stichwort trage ich auch Verantwortung. den waren, bei Ihrem Verlag in Hamburg.
Zivilcourage eher an die Ereignisse in
Chemnitz, an die Diskussion um die
Flüchtlinge und wie die AfD diese Stim-
mung politisch nutzt …
Roßmann: Ich glaube, die Grundstim-
mung in Deutschland muss eine andere
werden. Der ehemalige Bundespräsident
Christian Wulff, den ich gut kenne, hat
jüngst gesagt: Wir sollten uns mal wieder
ins Gelingen verlieben. Das hat mir gefal-
len. Denn immerzu heißt es nur: Alles ist
furchtbar, alles wird noch schlimmer. Und
Herr Seehofer setzt dann noch einen oben-
drauf. Das ist kaum auszuhalten.
SPIEGEL: Müssen sich angesichts von De-
monstranten, die den Hitlergruß zeigen,
deutsche Unternehmer, jetzt mal abgese-
hen von Siemens-Chef Joe Kaeser, nicht
stärker zu Wort melden? Auch Sie?
Roßmann: Ich persönlich mag weder die
ganz Rechten noch die ganz Linken, ich
bin auch nie Mitglied einer Partei gewesen.
Ich bin liberal, aber ich habe auch ein fes-
tes, durchaus konservatives Wertesystem,
das auf unserer deutschen Geschichte auf- Erste Rossmann-Filiale in Hannover 1972: »Ich bin nicht der typische Kapitalist«
baut. Wenn sich Politiker mit Menschen
zeigen, die eindeutig eine Naziideologie
vertreten oder den Arm zum Hitlergruß SPIEGEL: Sie betreiben 1700 Rossmann- Im Januar 1990 stand dann die erste Ver-
recken, dann geht das nicht! Da gibt es Filialen im Ausland. Neben der Türkei sind teilung an.
überhaupt nichts zu überlegen. Sie in Polen, Ungarn, Tschechien sowie in SPIEGEL: Wie lief das ab? Eigentlich war
SPIEGEL: Ihre Worte klingen überzeugend. Albanien und seit vergangener Woche es damals noch immer schwierig, West-
Und doch hören wir eine gewisse Zurück- auch im Kosovo vertreten. Einige dieser medien ins Land zu bringen.
haltung heraus. Warum? Länder gelten nicht gerade als lupenreine Roßmann: Wir wussten, dass Lastwagen
Roßmann: Ganz ehrlich: Weil ich auch an Demokratien. Sind Menschen- und Presse- an der Grenze noch kontrolliert werden,
mein Geschäft denke. Mir ist es wichtig, rechte überhaupt ein Thema für Sie, wenn aber keine Privat-Pkw mehr. Also haben
dass ich mich nicht so positioniere, dass Sie expandieren? wir die Hefte auf 16 Autos von Freunden
alle Linken-Wähler oder alle AfD-Wähler Roßmann: Lassen Sie uns gern über Un- und Mitarbeitern verteilt. Und einer von
nicht mehr bei mir kaufen, weil sie glau- garn sprechen. Ich war erst vor zwei Wo- uns fuhr mit einem leeren Firmentranspor-
ben, dass dieser Roßmann aus ihrer Sicht chen dort, zu unserem 25-jährigen Firmen- ter rüber. Es passen übrigens genau 1250
ein schlimmer Typ ist. Aber ich frage mal jubiläum. Wir haben unseren ersten Dro- Hefte in den Kofferraum eines VW Passat.
zurück: Handeln Sie beim SPIEGEL nicht geriemarkt in Budapest eröffnet, lange In Leipzig trafen wir uns dann alle vor
genauso? Wenn ich die Kolumne von Ja- bevor Viktor Orbán gewählt wurde. Heute dem Hotel Merkur. Dann machten wir uns
kob Augstein lese, dann klingt das anders, bieten wir dort 1700 Mitarbeitern ein si- auf zum Karl-Marx-Platz.
als wenn Jan Fleischhauer schreibt. Auch cheres Einkommen. Es ist im Leben wich- SPIEGEL: Was geschah dort?
Sie bilden ein breites politisches Spektrum tig, Dinge anzupacken, die man bewegen Roßmann: Wir platzierten uns neben den
kann. Aber meine Möglichkeiten, in Un- Übertragungswagen der Fernsehsender.
* Dirk Roßmann: »... dann bin ich auf den Baum ge- garn politisch etwas zu verändern, schätze Innerhalb kürzester Zeit strömten dann
klettert«. Ariston; 240 Seiten; 20 Euro. ich mal als eher gering ein. Wir versuchen mehr als 100 000 Menschen auf den

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 77


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Wirtschaft

Platz – wir wurden fast über- und Nietzsche beschäftigt, was


rannt. Meine Frau und ich Sie ja gern und oft erwähnen.
flüchteten auf das Dach unse- Tragen Sie eigentlich immer
res Ford Transit. In Rekordzeit noch einen Bildungskomplex
hatten wir alle SPIEGEL-Exem- mit sich herum?
plare verteilt, die Menschen Roßmann: Ein Therapeut wür-
versteckten die Hefte unter de jetzt sagen: Narben bleiben
ihrem Pullover, wie eine kost- immer. Das, was der Mensch

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


bare Beute. erlebt hat, verschwindet ja
SPIEGEL: Heute, fast 30 Jahre nicht. Auch wenn ich sehr gut
nach dem Fall der Mauer, im Verdrängen bin. Carl Rogers,
scheint noch immer ein tiefer der US-Psychologe, hat einmal
Riss durch Deutschland zu ge- gesagt: »Erfahrung ist für mich
hen. Wie erklären Sie sich das? die höchste Autorität« – und
Roßmann: Eine Beobachtung das ist mir mit 72 Jahren voll-
von mir ist, dass sich die Politi- kommen bewusst. Ich bin nicht
ker in den letzten Jahrzehnten Roßmann, SPIEGEL-Redakteurinnen*: »Ich bin ja ein kleiner Mann« der typische Kapitalist. Ich bin
verändert haben. nicht nur derjenige, der hier
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? In großen Organisationen passieren immer mit stolzgeschwellter Brust sitzt und dem
Roßmann: Wenn in den Sechziger- oder mal Fehler, aber Probleme müssen offen SPIEGEL ein Interview gibt. Sondern hier
Siebzigerjahren ein Herr Wehner oder ein angesprochen und diskutiert werden. Da sitzt auch der kleine Junge, der aus einfa-
Herr Strauß sich im Deutschen Bundestag ist es wichtig, dass die Vorgesetzten ein chen Verhältnissen stammt und der, nach-
gestritten haben, dann hatte man als Wäh- gutes Beispiel geben, dass sie vorbildlich dem sein Papa gestorben war, Angst davor
ler den Eindruck, die kämpfen da um ihr kommunizieren. Wir haben dafür ein eige- hatte, in die Baracken auf der anderen Stra-
Leben. Diese Debatten hatten etwas Exis- nes Weiterbildungszentrum aufgebaut. ßenseite ziehen zu müssen.
tenzielles, wahrscheinlich auch vor dem SPIEGEL: Warum setzen Sie bei Ihren Mit- SPIEGEL: Sie spielen auf das Jahr 1958
Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Bei arbeiterschulungen vor allem Therapeuten an, als Ihr Vater starb, und Ihre Mutter
den Politikern heute vermisse ich die Lei- und Psychologen ein? die hoch verschuldete kleine Drogerie in
denschaft. Diesen Willen, für seine politi- Roßmann: Das hat viel mit meiner eigenen Hannover übernahm. Einige Jahre später
schen Ziele zu kämpfen. Oder einen Typ Biografie zu tun. Als mich 1978 meine erste erfuhren Sie, dass der Mann, den Sie für
wie Gerhard Schröder, der klare Kante Frau verlassen hat, ging es mir wirklich Ihren Vater gehalten hatten, gar nicht Ihr
zeigt und sagt: Nein, einem Einsatz im Irak schlecht. Gute Freunde rieten mir dazu, leiblicher Vater war, sondern der Nachbar
stimmen wir nicht zu. Heute habe ich bei eine Therapie zu machen. Ich war einfach »Onkel Theo«.
vielen Volksvertretern das Gefühl, sie sa- neugierig auf diesen intellektuellen Aus- Roßmann: Ja, ich hatte in meinem Leben
gen manche Dinge nur, um ihre Klientel schon so einiges mitgemacht, über das
bei Laune zu halten. Und für die wirklich man in einer Therapie reden konnte. Spä-
wichtigen Dinge finden sie nicht die rich- »Ich war ein schrecklicher ter habe ich sogar eine Ausbildung in Ge-
tigen Worte. Chef: unruhig, stalttherapie und Themenzentrierter Inter-
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel? aktion begonnen, weil mich diese Metho-
Roßmann: Etwa bei der Integration von nervös und manchmal den einfach fasziniert haben. Ich bin quasi
einer Million Flüchtlingen. Bei uns in der auch aggressiv.« selbst ein halber Psychologe. Auch wenn
Firma arbeiten Menschen aus 96 Ländern, ich es nicht immer schaffe, das theoretische
da gibt es keine Berührungsängste. Wir Wissen auch in die Praxis umzusetzen.
haben vielen Geflüchteten mehrwöchige tausch, den ich in meiner Kindheit nicht SPIEGEL: Wie ist Ihr Umgang mit Krisen?
Praktika in unseren Logistikzentren und hatte, und ich habe dabei viel über mich Mitte der Neunzigerjahre standen Sie mit
Filialen angeboten, manche haben später gelernt. Dass ich zum Beispiel so über mei- Ihrem Unternehmen kurz vor der Insolvenz.
einen Job bei uns gefunden. Aber viele ne Fehler reden kann, wie ich es heute tue, Roßmann: Und dann hatte ich auch noch
der Menschen, die vor Krieg und Armut auch über meine Geltungssucht, das habe einen Herzinfarkt. Das war wirklich ein
fliehen, kommen schwer traumatisiert zu ich meiner Therapeutin zu verdanken. Blick in den Abgrund.
uns. Da hilft es auch nichts, wenn Frau SPIEGEL: Worin bestand denn Ihre Gel- SPIEGEL: Was haben Sie in dieser Zeit ge-
Merkel sagt: Wir schaffen das. Mitunter tungssucht? lernt?
fühle ich mich heute in dieser Frage man- Roßmann: Mir war es wichtig, dass ich in Roßmann: Dass Vertrauen das Wichtigste
chem kritischen Leserbriefschreiber weit- den Medien war, dass ich bekannt war – überhaupt ist. Ich schrieb damals allen
aus näher als der Kanzlerin. auch bei den Frauen. Ich bin ja ein kleiner Banken, denen ich Geld schuldete, je einen
SPIEGEL: Welchen Beitrag müssen Unter- Mann, ich habe nur die Volksschule be- 20-seitigen Brief: Auf den ersten zehn Sei-
nehmer, müssen Sie leisten, wenn es um sucht, habe früh meine Haare verloren, da ten habe ich eingestanden, was ich alles
den Zusammenhalt in der Gesellschaft hatte ich nicht allzu große Chancen. Ich falsch gemacht habe. Und auf den nächs-
geht? weiß, wie sich Armut anfühlt. Wie bei Dos- ten zehn Seiten habe ich erklärt, was ich in
Roßmann: In unserer Firma gilt eine wich- tojewskis Werk »Erniedrigte und Beleidig- Zukunft besser machen will, wenn sie uns
tige Regel: Wir leben Achtsamkeit und Res- te«, so habe auch ich mich als Jugendlicher noch eine Chance geben. Ich war wirklich
pekt gegenüber jedermann. Und das mei- lange am Rand der Gesellschaft gefühlt. ein schlechter Unternehmer, das gebe ich zu.
ne ich nicht so floskelhaft, wie das sonst SPIEGEL: Nun haben Sie es vom Volks- Ich stand damals finanziell so unter Druck,
so gern dahergesagt wird. Wir haben bei schüler zum Milliardär gebracht. Und sich dass ich ein schrecklicher Chef war: unru-
Rossmann überhaupt kein Problem damit, im Selbststudium nicht nur mit Dosto- hig, nervös und manchmal auch aggressiv.
wenn Frauen mit Kopftüchern an der Kas- jewski, sondern auch mit Schopenhauer SPIEGEL: Und Sie hatten sich auch gehörig
se sitzen. Wir haben überhaupt kein Pro- an der Börse verzockt. Sind Sie eigentlich
blem mit Anderssein – in jeder Hinsicht. * Simone Salden und Susanne Beyer in Hamburg. ein Uli-Hoeneß-Typ?

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Roßmann: Nein, überhaupt nicht. Ich


bin überzeugt, dass Menschen, die in
Deutschland Erfolg haben, auch hier ihre
Steuern zahlen müssen. Über mich kann
man viel Kritisches erzählen, aber Sie
werden bei mir keine Briefkastenfirmen
in Panama oder Schweizer Nummernkon-
Jetzt im
ten finden. Ich habe durchaus eine kriti-
sche Meinung zum Thema »Erbschaft- Handel
steuer«, aber ich akzeptiere die Regeln
dieses Staates.
SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie,
dass Sie auch mal am Roulettetisch die
Bodenhaftung verlieren können.
Roßmann: Aber ich erkenne meine Gren-
ze: Sobald ich auf der Verliererseite an-
gekommen bin, ist Schluss. Da bin ich lei-
denschaftslos. Mir macht nur das Gewin-
nen Spaß. Beim Fußball ist das auch so.
Wenn es bei Hannover 96 neun Minuten
vor Schluss 1:0 für uns steht, dann könnte
ich vor Aufregung fast weinen, weil ich
weiß, wir brauchen die drei Punkte. Aber
zehn Minuten nachdem das Spiel abgepfif-
fen wurde, ist mir das völlig egal. So bin
ich. Ich lebe für den Moment. Das war bei
mir schon immer so.
SPIEGEL: Sie reden viel darüber, wie wich-
tig Ihnen Ihre Mitarbeiter sind. Dabei ha-
ben Sie als Pionier der Selbstbedienungs-
drogerien die Menschen ja erst einmal von
der Theke weggebracht.
Roßmann: Das stimmt, aber die Digitali-
sierung wird den Handel weit stärker ver-
ändern, als die Einführung der Selbstbe-
dienung in den Sechzigerjahren.
SPIEGEL: Sieht die Zukunft aus wie
Amazon Go – ein Supermarkt, der ohne
Kassenpersonal auskommt, aber dafür
mit Hunderten Kameras ausgestattet
ist?
Roßmann: Stellen Sie mir doch bitte gegen
Ende unseres Gesprächs keine Fragen, für
deren Antwort man locker noch eine Stun-
de bräuchte. Ich persönlich halte einen La-
den ohne Personal für eine schreckliche
Vorstellung. Aber es liegt am Ende an den
deutschen Kunden, ob sie so etwas anneh-
men oder nicht. www.spiegel-geschichte.de
SPIEGEL: Wenn etwas bequem ist, setzt
es sich meistens durch. Und wer mag
schon gern an der Kasse in der Schlange
warten?
Roßmann: Aber wer hält nicht auch gern
mit der Kassiererin mal einen netten
Plausch? Ich liebe es, jeden Tag mit Men-
schen zu reden. Aber ich habe auch kein
Smartphone und keinen Laptop. Das ist
ein Luxus, den ich mir gönne. Ein Journa-
list hat sich einmal darüber beschwert,
dass ich so schlecht erreichbar sei. Dem
habe ich gesagt: Wissen Sie, manchmal Lesen Sie in diesem Heft:
habe ich Schwierigkeiten, für mich selbst
erreichbar zu sein. Die Staufer Kämpfe zwischen Kaiser und Papst
SPIEGEL: Herr Roßmann, wir danken Ih-
nen für dieses Gespräch.
Friedrich der Große Der aufgeklärte Militarist
79 Nationalstaat Gab es den deutschen Sonderweg?
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Wirtschaft

Ferenc Zsák, »bin ich Marathon gelaufen.«

Orbáns Kumpel Heute kommt der 61-Jährige nur noch


humpelnd voran.
Der Europäische Menschenrechtsge-
Konzerne Audi und Daimler gehören zu den größten Investoren in richtshof stufte Zsáks Haft als unrecht-
mäßig ein, Ungarn zahlte 6500 Euro Ent-
Ungarn – und arrangieren sich auffallend gut mit dem Staat. schädigung. Geholfen hat ihm das nicht
viel. In seiner Heimat sei er eine uner-
wünschte Person, sagt der Biologe, »mein

W enn es in Ungarn um kapitale Ver-


brechen geht, dann werden die
Ermittler der Polizeieinheit NNI
losgeschickt. Die NNI gilt als ungarisches
wichtig waren.« Und die Abschreckung
scheint Wirkung zu zeigen – nicht nur bei
Umweltschützern. Selbst die eher dürftig
bezahlten 12 900 Audi-Arbeiter wagen
Name ist quasi verbrannt«.
Péter Löre leitet bei Audi in Ungarn die
Abteilung Kommunikation und Regie-
rungsbeziehungen und redet am liebsten
FBI und wird bei Terror oder Organisierter sich kaum aus der Deckung. In 25 Jahren über Erfolge. Mit einem kleinen Motoren-
Kriminalität tätig. ungarischer Audi-Geschichte wurde bis- werk haben die Ingolstädter 1993 in Győr
Oder dann, wenn ein strategischer Part- lang einmal gestreikt. Für zwei Stunden. begonnen. Heute werden dort neben
ner der Regierung von Ministerpräsident Einschüchterung als Standortvorteil? kompletten Automodellen zwei Millionen
Viktor Orbán in Schwierigkeiten steckt. Dass so etwas im Ungarn des Viktor Or- Antriebe pro Jahr gefertigt. Rund neun
Wie Audi. 2011 war das. Da stellte sich der bán geschieht, überrascht vielleicht kaum. Milliarden Euro hat Audi bisher in Ungarn
Umweltschützer Ferenc Zsák Audi in den Das EU-Parlament hat gerade ein Straf- investiert. Und präsentiert sich als per-
Weg. Der deutsche Autobauer wollte sein verfahren wegen Verstößen gegen EU- fekter Arbeitgeber. Das Ballett, die Uni,
Werk im westungarischen Győr erweitern Grundwerte beschlossen. Doch der Ver- den Handballklub – wenn er die Audi-Be-
und dafür in einem Naturschutzgebiet ro- dacht liegt nahe, dass deutsche Konzerne günstigten in Győr aufzählen soll, dauert

Umweltschützer Zsák, Audi-Manager Löre: In die Falle gelockt

den. Zsáks kleine Organisation drohte mit mit Weltruf bei diesen zweifelhaften Ak- es lange. Man habe ja schließlich eine Ver-
einer Klage. tionen mitmischen. antwortung.
Den Fall übernahmen die Ermittler von Der Fall Ferenc Zsák lässt jedenfalls Kommt das Gespräch auf Ferenc Zsák,
der NNI. Sie arbeiteten sich mithilfe von daran zweifeln, dass es deutsche Unter- wird Löre wortkarg. Dessen Aktion sei il-
Audi-Mitarbeitern an Zsák heran. Unter- nehmen mit ihren Firmenrichtlinien son- legal gewesen, mehr wolle er nicht sagen.
nehmensvertreter verhandelten über eine derlich ernst nehmen. Mit Werten wie Schaut man sich die Gerichtsakten ge-
Zusammenarbeit mit Zsáks Organisation, Fairness und Integrität. Offiziell sind sie nau an, drängt sich ein anderer Eindruck
der Umweltschützer wurde auch abgehört. auch bei Audi ganz oben eingehängt. auf: Audi sieht nicht besonders elegant aus.
Zsák machte den Fehler, auf die Offer- Doch sobald das Unternehmen außer Löre schon gar nicht. So wie sich der Fall
ten einzugehen. Im Jahr 2015 wurde er Sichtweite demokratischer Grundordnun- in den Akten liest, nahm Audi über einen
wegen Bestechlichkeit verurteilt, auch mit- gen agiert, scheinen sie weniger wichtig Anwalt Kontakt zu den Umweltschützern
tels der von der NNI gesammelten Bewei- zu werden. auf und verhandelte darüber, diese in Aus-
se. Ein kaum beachtetes Scharmützel. Vier Monate Untersuchungshaft haben gleichsprojekte einzubinden. Zur Unter-
Doch es wirkt bis heute nach. Ferenc Zsák zugesetzt. Die Zelle in De- zeichnung eines entsprechenden Vertrags,
»Ferenc Zsák ist bewusst in eine Falle brecen teilte er sich zeitweise mit 20 In- der auch Löres Unterschrift trägt, lud man
gelockt worden«, sagt eine Staatssekretä- sassen, einer von ihnen hatte die Freundin Zsák am 24. Mai 2011 nach Győr.
rin, die damals in Orbáns Kabinett saß. in Stücke zerteilt. Zwei Monate lang war Nur sechs Tage später saß der lästige Um-
»Keine NGO sollte es mehr wagen, sich nicht einmal der Hofgang erlaubt. Seit- weltschützer wegen des Verdachts der Be-
mit Konzernen anzulegen, die für Orbán dem sind die Knie kaputt. »Früher«, sagt stechlichkeit in Haft. Der Naturschutz, so

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IDEEN GESUCHT –
IDEEN GEFUNDEN!
die Staatssekretärin, sei mit diesem Prozess machen üppig von diesem sogenannten
in Ungarn erledigt gewesen. Orbán habe TAO-System Gebrauch. In den vergange-
ihn sowieso für einen Trick des Westens ge- nen sieben Jahren seien der Staatskasse so
halten, um die ökonomische Entwicklung 1,6 Milliarden Euro Steuergeld entzogen
von Schwellenländern zu verzögern. Das und in den Sportbereich umgeleitet wor-
Umweltministerium schaffte er 2010 ab. den, kritisiert Transparency International.
Auch der Daimler-Konzern profitiert Über die Tücken des TAO-Systems war
mit seiner Fabrik in Kecskemét von den die EU-Kommission früh im Bilde. Immer
günstigen Standortbedingungen. Orbán
behandelt man wie einen alten Kumpel:
wieder informierten kritische ungarische
EU-Parlamentarier wie der Grüne Bene-
JETZT
Im Mai vergangenen Jahres hofierte Mer- dek Jávor die Wettbewerbskommissarin ABSTIMMEN BEIM
cedes ihn bei einem Aktionärsforum. Der Margrethe Vestager. Sie beklagten, dass
Ministerpräsident bedankte sich bei »mei- Oligarchen mit dem TAO-Geld völlig über- IDEENWETTBEWERB
nem Freund Eckart von Klaeden« für das flüssige Stadien bauen durften – und das
Vertrauen. Klaeden, ehedem als Staatsmi- ohne Ausschreibung. Oder dass Orbáns 2018!
nister im Kanzleramt im engsten Führungs- kleiner Heimatklub von den Unternehmen
kreis von Kanzlerin Angela Merkel, ist besonders bedacht wurde. Die Antworten
heute für die Beziehungen des Konzerns Vestagers wirken desinteressiert. Statt Un-
zu den Regierungen verantwortlich. garn klare Grenzen zu setzen, verliert man
Der Soziologe László Neumann beob- sich – wie beim fragwürdigen neuen Wahl-
achtet seit Jahren, wie die Orbán-Regie- gesetz oder bei der Entmachtung der Jus-
rung ihre eigene Ideologie unterläuft. »Sie tiz – in Floskeln: Es gebe keine Anzeichen,
verurteilen den Neoliberalismus, doch nie- dass die Regeln des anerkannten Verfah-
rens verletzt würden, ließ Vestager wissen,
zudem lege Ungarn Jahresberichte vor.
»Das klingt beruhigend, hat aber mit der
beunruhigenden Realität in unserem Land
nichts zu tun«, sagt der Grüne Jávor.
Während Audi und Daimler über TAO
nach eigenen Angaben nur den sportlichen
Nachwuchs und lokale Aktivitäten unter-
stützen, päppelt die Telekom-Tochter Ma-
gyar Telekom den 29-maligen ungarischen
Fußballchampion Ferencváros Budapest.
Das wäre so, als würde Bayern München
mit Millionen aus der Staatskasse quersub- Gute Ideen für eine
ventioniert. lebendige Nachbarschaft!
Zweifel an der Reichweite ihrer eigenen Wenn Nachbarn sich füreinander enga-
Grundwerte wie Integrität, Glaubwürdig- gieren, sich helfen, gemeinsame Aktionen
keit und Verlässlichkeit ließ die Deutsche entwickeln – dann wird aus einem Neben-
Telekom in Ungarn schon 2014 aufkom- einander ein Miteinander. Wir haben Sie
für unseren Social Design Award um Vor-
men. Damals gehörte zu ihrem ungari-
schläge gebeten, die aus einem Viertel
schen Portfolio auch das kritische Online-
eine lebendige Nachbarschaft machen.
news-Portal Origo. »Wir dachten: Hinter
Aus zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen
uns ist die Deutsche Telekom, da sind wir hat eine Jury die besten ausgewählt.
sicher«, sagt eine ehemalige Redakteurin.
Sie sollte sich irren. Und nun sind Sie an der Reihe:
Nach Berichten über den Orbán-Ver- Wählen Sie Ihren Lieblingsvorschlag,
mand war den Konzernen mehr zu Diens- trauten und heutigen Staatskanzleichef Já- und stimmen Sie bis zum 28.10. auf
ten.« Kaum etwas spiegele die enge Ko- nos Lázár und mutmaßliche Urlaubsreisen www.spiegel.de/socialdesignaward ab.
operation zwischen Regierung und Indus- auf Staatskosten musste der Origo-Chef-
trie besser als das neue Arbeitsgesetz von redakteur gehen. Magyar Telekom sagt Ab dem 13. November
2012, »flexibler und familienfeindlicher dazu, man habe sich nicht in Redaktions- erfahren Sie auf
geht es kaum«. Bei Bedarf kann die Wo- angelegenheiten eingemischt und die Un- SPIEGEL ONLINE und
chenarbeitszeit extrem gedehnt werden, abhängigkeit des Portals gewährleistet. in SPIEGEL WISSEN,
Jetzt
solange man im Jahresschnitt 48 Stunden Dass die Entscheidung der Entlassung al- welche Idee abstimm
pro Woche einhält. Der Grundlohn bei lein vom Origo-Management gekommen gewonnen hat.
en!
Audi beträgt rund 800 Euro. »Sozialdum- sei, wie es die Telekom behauptet, hält die
ping« nennt es Neumann. Ex-Redakteurin für wenig glaubwürdig.
Seit einigen Jahren gibt es in Ungarn Besonders pikant: Zu der Zeit saß mit
eine weitere Besonderheit: Unternehmen Kerstin Günther nicht nur eine hohe Deut-
können Teile ihrer Körperschaftsteuer an sche-Telekom-Managerin mit am Tisch, sie
Sportvereine oder Kultureinrichtungen um- leitete sogar das Kontrollgremium der Kon-
leiten – die Spendenfreudigkeit gilt als zerntochter. Die Frage nach Treffen von
Loyalitätsbarometer. Auch Konzerne wie Günther mit Lázár lässt das Unternehmen
Audi, Daimler oder die Deutsche Telekom unbeantwortet. Nils Klawitter
mit ihrem Ungarnableger Magyar Telekom In Kooperation mit

FOTOS: MARTIN FEJER / ESTOST.NET / DER SPIEGEL 81


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Ausland
»Wenn es nach mir ginge, würden wir den Chinesen verbieten, hier rücksichtslos Auto zu fahren.« ‣ S. 94

ULET IFANSASTI / GETTY IMAGES


Indonesien SPIEGEL: Seitdem suchen Sie nach Ihrem Sohn?
Nishana: Ja, ich klappere die Polizeistationen ab und die Not-
»Plötzlich schrien alle« unterkünfte. Ich habe einen Bekannten, der in einem Kran-
Noch immer werden Opfer des Tsunamis ge- kenhaus arbeitet. Er sagt, er habe sich die Namenslisten ange-
borgen, der am Freitag vor einer Woche schaut und jeden Jungen, egal ob tot oder lebendig. Aber bisher
Küstenorte auf der indonesischen Insel Sulawe- ist mein Sohn nicht unter ihnen.
KARL VANDENHOLE

si schwer getroffen hat. Über 1400 Menschen SPIEGEL: Auch eine Woche nach dem Beben haben Sie noch
kamen ums Leben, Zehntausende sind ob- Hoffnung, dass Ihr Junge überlebt hat?
dachlos. Die Bergungsarbeiten sind schwierig, Nishana: Natürlich habe ich Hoffnung. Auch weil das Mädchen,
Läden werden geplündert, viele Menschen mit dem er am Strand gespielt hatte, gerettet wurde. Ein Polizist
haben weder Strom noch Wasser, Lebensmittel hat sie zurückgebracht. Sie erzählte, mein Sohn und sie seien
oder Benzin. In der Stadt Palu vermisst Verkäuferin Nishana, 33, nach dem ersten Beben in die Stadt gerannt, und Menschen hät-
ihren achtjährigen Sohn Raden Rahman, dem SPIEGEL schildert ten sich um sie gekümmert.
sie ihre Suche. SPIEGEL: Wie kommen Sie selbst während der Suche über die
Runden?
SPIEGEL: Wie haben Sie überlebt? Nishana: Ich kann nicht arbeiten, ich kann auch kein Geld ab-
Nishana: Es war Freitagnachmittag, ich baute gerade meinen heben, weil es keinen Strom gibt, und ich kann keine Lebensmit-
Marktstand in der Nähe des Strandes auf. Meinen Sohn hatte tel kaufen, weil es nichts mehr zu kaufen gibt. Ich muss bei
ich mit dem Nachbarsmädchen zum Spielen an die Promenade Verwandten betteln, aber die meisten haben auch nichts mehr zu
geschickt. Als zum ersten Mal die Erde bebte, verlor ich ihn essen. Ich suche den ganzen Tag nach meinen Sohn. Und nachts
aus den Augen und wurde panisch. Kurz darauf kam das zweite schlafe ich unter freiem Himmel.
Beben, mein Stand fiel in sich zusammen. Plötzlich schrien SPIEGEL: Warum?
alle um mich herum: »Das Wasser kommt!« Ich rannte davon Nishana: Weil ich Angst vor Nachbeben habe.
und konnte mich retten. Später fuhr ich mit dem Moped alle SPIEGEL: Kann Ihr Leben in Palu jemals wieder normal werden?
Verwandten ab, die mir in den Sinn kamen, aber niemand hatte Nishana: Erst wenn mein Sohn zurückkehrt. Erst dann kann ich
Raden Rahman gesehen. wieder glücklich sein. Interview: Karl Vandenhole

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Polen Chefredakteur der rechten »Polnischen Analyse


Krieg im Kino Zeitung« – eine Anspielung auf die Zeit,

G Schon am ersten Wochenende hat der


Film »Klerus« »Star Wars« abgehängt:
als deutsche Besatzer die Kinos nutzten,
um Propaganda zu verbreiten. »Klerus«
sei eine Diffamierung der Kirche. Und so
Die Putztruppe
Fast eine Million Polen haben das zuge- etwas grenzt in der Lesart der Rechten Wie der Westen versucht,
spitzte Sittenbild über die katholische an Landesverrat. Denn in den mehr als Moskaus Spione bloßzustellen
Kirche schon im Kino gesehen. 120 Jahren der polnischen Teilung, so
»Klerus« handelt von drei Geistlichen: argumentieren viele, sei es die Kirche
Pater Trybus ist Seelsorger auf dem Land gewesen, die das Polentum gepflegt habe. Russlands Militärgeheimdienst GRU
und bricht das Zölibat mit seiner Haus- 92 Prozent der Polen sind katholisch hat, wenn man es vornehm ausdrücken
hälterin. Pater Lisowski will es bis in den getauft, aber nur gut ein Drittel geht regel- will, ein weitgespanntes Aufgabenfeld.
Vatikan schaffen, und er missbraucht mäßig zum Gottesdienst. Die Geistlich- Man hat das schon früher geahnt, aber
Ministranten. Pater Kukuła wurde selbst keit hat den Ruf, geldgierig zu sein. Weil seit dieser Woche ist es Gewissheit: In
als Kind von einem Priester belästigt. es in Polen keine Kirchensteuer gibt, wird schneller Folge haben erst die Briten,
Alle drei sind Trinker und bestechlich. die Kirche zu etwa 20 Prozent vom Staat dann die Niederländer und schließlich
Und über ihnen residiert ein bigotter finanziert, der weitaus größere Teil kommt die Amerikaner neue Erkenntnisse
Bischof, der sich gern im Schweinchen- durch Spenden rein. Zudem gibt es immer über die GRU veröffentlicht. Es handelt
kostüm auspeitschen lässt. »Dieser Film wieder Missbrauchsskandale. Jetzt ent- sich offenbar um eine abgestimmte
ist Teil des polnisch-polnischen Krieges, schied ein Gericht in Poznań, die Kirche Aktion, die Moskau mit vereinten Kräf-
den wir derzeit erleben«, sagt der Domi- habe umgerechnet 230 000 Euro an eine ten an den Pranger stellen soll. Das ist
nikanerpater Paweł Gużyński aus Łódź. Frau zu zahlen, die als 13-Jährige von gelungen.
Polens Gesellschaft sei kulturell und poli- einem Kleriker missbraucht wurde. JPU Aber es erstaunt nicht so sehr die
tisch tief gespalten in eine liberale, Dreistigkeit, mit der die GRU offenbar
urbane Schicht und eine konserva- vorgeht. Es erstaunt auch, dass ein Mili-
tiv-nationalistische Gruppe. Für die tärdienst sich offenbar für alle Fragen
Liberalen bestätigt der Film von zuständig fühlt. Ob es um den Abschuss
Regisseur Wojciech Smarzowski einer malaysischen Boeing über der
alle Vorurteile über die katholi- Ostukraine 2014 geht, um den Anschlag
sche Kirche. Sie werfen der kon- auf einen russischen Ex-Geheimdienst-

BARTEK MROZOWSKI / KLER


servativen PiS-Regierung vor, mit ler und seine Tochter in Salisbury im
dem Klerus einen Pakt eingegan- März dieses Jahres, um die Untersu-
gen zu sein: Als Gegenleistung für chung von Giftgasangriffen im syrischen
staatliche Zuschüsse predige die Bürgerkrieg oder um Doping bei den
Kirche eine rückwärtsgewandte Olympischen Spielen – wo immer Mos-
Ideologie. »Nur Schweine sitzen kau internationale Untersuchungen
im Kino«, twitterte hingegen der Filmszene aus »Klerus« fürchtet, da haben die GRU-Hacker sich
bemüht, dem Kreml Gegenargumente
oder jedenfalls Material für Ablenkungs-
manöver zu besorgen. Ihre Spuren
Chappatte führen zur Organisation für das Verbot
von Chemiewaffen in Den Haag, in
deren Computernetzwerk Hacker per
Funk im April eindringen wollten;
»close access hacking operations« nennt
man diese Angriffe, die nicht über das
Internet erfolgen. Dummerweise haben
sich die Agenten in einem mit mehreren
Telefonen, Signalverstärker und weite-
rer Elektronik vollgestopften Auto erwi-
schen lassen.
Die Spuren der GRU führen auch
nach Malaysia und ebenso nach Lau-
sanne in die Schweiz, in jenes Kongress-
hotel, in dem die Anti-Doping-Agentur
Wada 2016 tagte. Man sollte meinen,
Sportlerdoping gehöre nicht zum Kern-
geschäft eines Militärgeheimdienstes.
Aber offenbar ist die GRU längst
etwas anderes. Sie ist eine Putztruppe,
die Moskau überall hinschickt, wo
es sich in ein Schlamassel manövriert
hat und die politischen Konsequenzen
fürchtet. Aber weil die GRU-Leute
besser im Hacken sind als im Verschlei-
ern ihrer Arbeit, wird das Schlamassel
jedes Mal schlimmer. Christian Esch

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Ausland

Am Notausgang
Großbritannien Regierungschefin Theresa May hat sich im Machtkampf gegen ihren Parteifreund
Boris Johnson behauptet. Jetzt steht ihr das entscheidende Ringen um den Brexit bevor.
Alles ist möglich – eine Einigung, ein katastrophales Scheitern und sogar der Verbleib in der EU.

D
a steht sie noch immer. Nach wo- sen sein müssen, ist nach wie vor fast jedes das Vereinigte Königreich als Ganzes in
chenlangem Heckenfeuer aus den Ende denkbar: eines mit Schrecken, ein einer Zollunion mit der EU zu belassen –
eigenen Reihen. Nach drei Tagen, halbwegs versöhnliches – und sogar ein so lange, bis sich beide auf eine bessere
in denen sie wegen ihres Brexit- Exit vom Brexit. Lösung einigen.
Kurses von Weggefährten persönlich atta- May hat sich festgelegt. Sie will einen Das kann dauern und wäre für britische
ckiert wurde wie nie zuvor – als »Verräte- Deal mit der EU – und als Grundlage soll Brextremisten nichts weniger als Verrat.
rin«, als »Schande«, als »gestört«. Nach ei- weiterhin ihr viel geschmähter Plan die- Andererseits haben sie kaum Chancen,
ner Rede ihres ärgsten Rivalen, der ihr vor nen, der nach ihrem Landsitz benannt ist. May zu stoppen. Zwar dürften ihre inner-
1500 johlenden Zuhörern die Fähigkeit ab- Dem Chequers-Plan zufolge würde der parteilichen Gegner im Parlament stark
sprach, das britische Volk angemessen zu Handel mit Industrie- und Agrarproduk- genug sein, um ein Misstrauensvotum ge-
vertreten. Theresa May steht da, als wäre ten auch künftig nach EU-Regeln erfolgen. gen sie zu initiieren. Aber es ist nahezu
nichts gewesen. Sie kann nicht anders. Der freie Austausch von Kapital, Dienst- ausgeschlossen, dass sie auch die 159 nöti-
In den nächsten Monaten wird es um leistungen und Personen wäre jedoch ge- gen Stimmen zusammenbekommen wür-
alles oder nichts gehen. Für sie, für das stoppt. Grenzkontrollen an der historisch den, um May zu stürzen.
Land. Auf diesem Parteitag der Konserva- belasteten irisch-nordirischen Grenze sol- Um ihr zunehmend grummelndes Volk
tiven leitet die britische Premierministerin len vermieden werden. milde zu stimmen, wird sich May – wie
die letzte Phase ein – im Ringen mit ihrer Es ist ein Plan, mit dem May im Juli das schon als Innenministerin – als unerschro-
Partei und mit der EU. Kunststück gelang, fast alle gegen sich auf- ckene Kämpferin gegen die vermeintliche
Es ist kurz nach zwölf am Mittwoch die- zubringen. Die EU, die sich ihr fast schon Masseneinwanderung inszenieren. Es ist
ser Woche, als May im Kongresszentrum heiliges Prinzip der vier Grundfreiheiten das Thema, das 2016 wie kein anderes den
von Birmingham vor ihre Partei tritt. Es nicht auseinanderpflücken lassen wird; die Brexit-Furor befeuerte.
ist zunächst ein ziemlich komischer Auf- britischen EU-Freunde, denen Chequers In Birmingham kündigten May und ihr
tritt, weil sie zu den Klängen von Abbas nicht weit genug geht; und die Hardliner, Innenminister Sajid Javid an, dass EU- und
»Dancing Queen« roboterhaft über die für die das Vorhaben »fortgesetzte Knecht- Nicht-EU-Ausländer künftig gleich behan-
Bühne tanzt. Aber in ihrer Rede zeigt sie schaft« gegenüber Brüssel bedeutet. delt würden. Wer eingebürgert werden
dann demonstratives Selbstbewusstsein. will, wird sich einem Test über »britische
Sie könnte nun, nachdem ihre bisherige Werte« unterziehen müssen. Und: Zum
Brexit-Strategie von fast allen Seiten in Wenn es zu einem zweiten Arbeiten soll künftig nur noch auf die Insel
der Luft zerrissen wurde, die Chance zu Referendum käme, kommen dürfen, wer einen »hoch qualifi-
einem Neustart nutzen. Sich auf die Seite zierten« Beruf ausübt. Dass Javid, dessen
derer in ihrer Partei schlagen, die die EU dürfte es keinesfalls so Vater einst ohne Schulabschluss aus Pakis-
wahlweise für einen krachend gescheiter- genannt werden. tan eingewandert war, unter diesen Um-
ten Wirtschaftsklub oder eine Neuauflage ständen selbst nie Minister geworden wäre,
der Sowjetunion halten. Sie könnte es Bo- ist eine Ironie, die ihm und seiner Chefin
ris Johnson gleichtun, dem Politkomödian- »Chuck Chequers« (Tritt Chequers in nicht entgangen ist. Aber es geht nun da-
ten, dessen Brexit-Lösung darin besteht, die Tonne) ist deshalb ein Schlachtruf, der rum, Härte zu zeigen.
alle Taue zur EU zu kappen und einfach vielfach durch Birmingham schallte. Und Gleichzeitig wird May klug genug sein,
loszusegeln. Wohin auch immer. May tat ihren Parteifreunden den Gefallen, weitere Reizworte aus der Debatte zu ent-
May aber widersteht der Versuchung. sie eliminierte das Unwort »Chequers« aus fernen. Eine De-facto-Zollunion dürfte
Sie macht deutlich, dass sie ihr Land so ihrer Rede. Nicht aber den Plan, der da- zum »maßgeschneiderten Zollabkommen«
schonend wie möglich von der EU loslösen hinter steht. Es ist der einzige, den sie hat. mutieren, Kompromisse bei der Personen-
will. Dass sie die europäischen Nachbarn In den nächsten Tagen, wenn die Euro- freizügigkeit würden hinter einem »Rah-
trotz allem als »enge Freunde und Verbün- päische Union einen Gegenvorschlag auf menabkommen für Mobilität« versteckt.
dete« betrachtet. Dass nur ein weicher Bre- den Tisch legen wird, gehen die Verhand- Auf den Spuren George Orwells steuerte
xit dem Land harte Konsequenzen erspa- lungen in die entscheidende Runde. Schon May so auf einen Neusprech-Brexit zu, der
ren wird. Und dann sagt die Frau, die sich jetzt ist absehbar, dass May bis zum er- elegant verschleiern würde, wie viel tat-
so schwer damit tut, öffentlich Gefühle zu warteten Brexit-Sondergipfel im Novem- sächlich beim Alten bliebe.
zeigen: »Ich glaube leidenschaftlich daran, ber weitere Kompromisse eingehen wird. Von der EU wäre in diesem Fall wenig
dass unsere besten Tage vor uns liegen.« Der weitreichendste könnte britischen Widerstand zu erwarten. Deren Unter-
Die unmittelbar bevorstehenden Wo- Medien zufolge Nordirland betreffen. händler Michel Barnier hat zuletzt
chen allerdings werden May und ihr Ver- Dort wurden Waren- und Ausweiskontrol- Flexibilität in der entscheidenden Nord-
einigtes Königreich an die Belastungsgren- len an der Grenze zu Irland abgeschafft, irland-Frage signalisiert. Auch in Brüssel
ze bringen. Und wenn es dumm läuft, weit und beide Seiten wollen keinesfalls neue dürfte die Bereitschaft, verbleibende
darüber hinaus. Gut zwei Monate bevor Kontrollen, um den Frieden nicht zu ge- Streitpunkte sprachlich zu kaschieren,
die Verhandlungen mit der EU abgeschlos- fährden. Deshalb erwägt London offenbar, vorhanden sein. Über die erforderliche

84 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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May-Rivale Johnson beim Joggen: Auf dem Weg nach irgendwo

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Premierministerin May: »Unsere besten Tage liegen vor uns«

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Ausland

Kunstfertigkeit verfügt der Staatenver- ein Plan auf dem Tisch liegen, den sie der Demokratie seien. Beide schreckt die
bund zur Genüge. selbst nicht anders verhandelt hätten – zu- Vorstellung, sich zu verhalten wie die Re-
Dann, an einem Tag kurz vor Weihnach- mal dann, wenn die Alternative ein sofor- gierenden etwa in Irland oder Dänemark,
ten, wird Theresa Mays High-Noon-Mo- tiger, unabgefederter Bruch wäre. die missliebige EU-Referenden einfach wie-
ment kommen – wenn sie ihren Brexit- Die bedeutsamste politische Abstimmung derholen ließen, bis das Ergebnis stimmte –
Deal mit Brüssel im britischen Parlament seit Jahrzehnten: Am Ende könnte sie davon und so schließlich Populisten zu stärken.
zur Abstimmung stellt. Als sicher kann gel- abhängen, ob sich nationalistische Hitzköpfe Dennoch könnte es gute Gründe geben,
ten: Ihre eigenen Leute werden ihr nicht in Mays Partei und pragmatische Überläufer am Ende das Volk zu konsultieren. Denn
zu einer Mehrheit verhelfen. Seit der gran- der Opposition in etwa die Waage halten. es wurde 2016 lediglich dazu befragt, ob
dios vergeigten Parlamentswahl 2017 re- Und was, wenn der Deal platzt? Lässt es rauswolle aus der EU, nicht zur Frage,
giert May überhaupt nur noch dank der sich Großbritannien dann auf das kaum wie. Wenn Regierung und Parlament in
nordirischen Nationalistentruppe DUP, plan- und nicht kontrollierbare Abenteuer der Sackgasse stecken sollten, könnte ein
die zehn Abgeordnete nach London ent- eines No-Deal-Brexits ein? Möglich wäre Referendum der am ehesten vertretbare
sandt hat. Dieses fragile Gebilde verfügt es. Aber wahrscheinlich ist es nicht. Notausgang sein. Sogar der frühere Bre-
über ein Polster von lediglich 13 Stimmen. Sowohl die Regierung als auch das Par- xit-Minister und Hardliner David Davis
Aber es sind vor allem Parteifreunde, lament hätten auch dann noch Spielraum, konstatierte vor Jahren: »Wenn eine De-
die May zu fürchten hat. Eine Riege um den Extremfall zu verhindern. Eine Mög- mokratie ihre Haltung nicht ändern kann,
Boris Johnson hat geschworen, einem lichkeit hieße: weiter verhandeln. Aber hört sie auf, eine Demokratie zu sein.«
Deal nur dann zuzustimmen, wenn er ei- warum sollte die EU nach einer zweijähri- Einfach würde aber auch der Weg zum
nen harten Bruch mit EU-Regeln garan- gen Quälerei dabei mitmachen? Eine an- Souverän nicht werden. Allein die Debatte,
welche Frage dem Volk in welcher Form
vorgelegt werden soll, würde die Gräben
vertiefen. Gäbe es drei Alternativen: Mays
Deal, kein Deal oder der Verbleib in der
EU? Wäre das fair? Und so nicht automa-
tisch Mays Deal Favorit? Eine andere Me-
thode wäre ein zweistufiges Verfahren.
Die Briten würden zunächst gefragt, ob
sie Mays Deal wollen oder nicht. In letzte-
rem Fall schlösse sich eine zweite Frage
an: ohne Deal gehen – oder bleiben?
Selbst wenn der Brexit irgendwann
Wirklichkeit werden sollte – es ist unwahr-
scheinlich, dass die Frage des britischen
Verhältnisses zu Europa dann wirklich ge-
löst wäre. »Der Grabenkrieg wird weiter-
CHRISTOPHER FURLONG / GETTY IMAGES

gehen«, sagt der Politikwissenschaftler


und Tory-Experte Tim Bale von der Lon-
doner Queen-Mary-Universität. Am Ende
werde keine Seite den Brexit bekommen,
den sie ursprünglich haben wollte.
Ein klarer Bruch mit der EU, so Bale,
hätte zumindest den Charme, dass Brüssel
künftig nicht mehr für sämtliche Fehlent-
Parteitagsbesucherin in Birmingham: Darf das Volk noch mal abstimmen? wicklungen im Vereinigten Königreich ver-
antwortlich gemacht werden könnte. »So
aber wird die EU noch auf Jahre hinaus
tiert. Alles andere wäre, in Johnsons Wor- dere: Neuwahlen. Nur würden Theresa der Prügelknabe sein.«
ten, eine »moralische und intellektuelle Mays Tories in diesem Fall fast sicher ihre Einen Vorgeschmack darauf lieferten bri-
Demütigung«. Die Hardliner behaupten, Macht einbüßen. tische Boulevardmedien im September.
mindestens 40 Abgeordnete seien zu Bliebe als dritte Option ein zweites Bre- Nachdem Theresa May mit leeren Händen
allem entschlossen. Wahrscheinlich sind xit-Referendum, das allerdings aus innen- von einem EU-Treffen in Salzburg zurück-
es höchstens 20 – aber auch die würden politischen Gründen keinesfalls so genannt gekommen war, hielten sich die »Sun« und
reichen, um Mays Pläne zu sabotieren. werden dürfte. Seine Befürworter nennen andere Zeitungen nicht damit auf, Mays
Johnsons Vasallen haben May bereits vor es deshalb »People’s Vote« (Volksabstim- eklatante Fehleinschätzung für den diplo-
einem »spektakulären politischen Auffahr- mung). Die Zustimmung dazu wächst, und matischen GAU verantwortlich zu machen.
unfall« gewarnt. Der ließe sich kaum ver- das vor allem deshalb, weil inzwischen Stattdessen hetzten sie in Großbuchstaben
meiden – es sei denn, ihr eilten Teile der eine Mehrheit der Briten den Brexit für gegen »EU-Ratten« und »EU-Gangster«.
Opposition zu Hilfe. Nach Lage der Dinge schlimmer hält als ursprünglich gedacht. Nach dem vorläufigen Ende des Brexit-
ist das durchaus möglich. Die Regierung schließt einen solchen Dramas werde Großbritannien ganz Ähn-
Zwar hat die Labourpartei auf ihrem Schritt bislang strikt aus. Veranstaltungen liches erleben, prophezeit der Politikwis-
Parteitag Ende September praktisch aus- von Referendumsbefürwortern wurden senschaftler Bale: »Salzburg war der Trai-
geschlossen, jemals für einen von May aus- beim Parteitag aus dem offiziellen Kalen- ler zu einem sehr viel längeren Streifen.«
gehandelten Brexit-Deal zu stimmen. der gestrichen, waren aber trotzdem über- Es wird sicher kein Liebesfilm sein.
Aber die meisten Labourabgeordneten laufen. May ist sich mit Johnson ausnahms- Jörg Schindler
sind überaus EU-freundlich. Ein Teil von weise einig, dass entsprechende Gedanken- Mail: joerg.schindler@spiegel.de
ihnen könnte ins Grübeln kommen, sollte spiele ein »schwerwiegender Verrat« an

86 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Ausland

Haus nun zwar die »New York Times«

»Als Krimineller ist angreift und behauptet, die Bericht-


erstattung sei falsch, aber noch keinen
einzigen angeblich falschen Fakt konkret

er Weltklasse« benannt hat.


SPIEGEL: Wie könnte die Zeitung an Fred
Trumps Steuererklärungen gekommen
sein?
USA Der Rechercheur und Pulitzerpreisträger David Cay Johnston: Man kann so eine Geschichte
Johnston analysiert die Enthüllungen der nicht machen, wenn man keine Quelle hat,
»New York Times« über Donald Trumps Vermögen. die einem die Dokumente zusteckt. Ich
kann mir vorstellen, woher die Kollegen
die Akten bekommen haben könnten,
Johnston, 69, recher- über eine Milliarde Dollar an ihre Kinder aber ich werde es nicht sagen.
chiert seit Jahrzehnten übertragen haben, für die sie eigentlich SPIEGEL: Was sagt es über den Präsiden-
zu den Finanzen von 55 Prozent Erbschaft- und Schenkungsteu- ten aus, dass er einen großen Teil seines
Donald Trump. Am er hätten zahlen müssen. Stattdessen ha- Vermögens geerbt hat?
Dienstag enthüllte die ben sie nur rund 52 Millionen gezahlt. Das Johnston: Seine lebenslangen Gaunereien
»New York Times« in ist ein Beleg dafür, dass Trump als Krimi- konnte Donald Trump nur abziehen, weil
BONK JOHNSTON

einer achtseitigen Ge- neller Weltklasse ist. er erfolgreich den Mythos pflegte, er sei
schichte eine Fülle an SPIEGEL: Donald Trumps Vater war eben- ein moderner Midas, der alles, was er an-
bisher geheimen De- falls im Immobiliengeschäft. Wussten Sie, fasst, in Gold verwandelt. Diese Recherche
tails zu Trumps Ver- dass er auch schon so vermögend war? zeigt nun, dass vieles von dem, was er be-
mögen. Johnston hatte dafür in früheren Johnston: Ja, nehmen Sie nur die Zahl der rührt, zu Müll wird. Donald Trump ist kei-
Jahren wichtige Vorarbeit geleistet – zuletzt Apartments, die er besaß, und multiplizie- ner, der Reichtum schafft. Er ist ein Geld-
mit seinem Buch »Trump im Amt«, das zu ren Sie das mit der Höhe der Durch- absauger. Sobald er ein Unternehmen in
Beginn des Jahres erschienen ist. schnittsmieten. Danach wäre er nach heu- seine Hände bekommt, saugt er wie ein
tigem Wert ein Milliardär. Er wollte, dass Vampir das Blut heraus und lässt einen
SPIEGEL: Herr Johnston, laut »New York seine Familie die Apartmenthäuser für im- Leichnam zurück.
Times« war Donald Trump jahrzehntelang mer behält. Sie 2004 zu verkaufen, wie es SPIEGEL: Ahnten denn die meisten Wäh-
in dubiose Geldgeschäfte, Steuertricks und die Trumps taten, war finanziell gesehen ler nicht längst, dass es Trump mit seiner
Betrug verwickelt. Einen großen Teil sei- ein großer Fehler. Steuerpflicht nicht sehr genau nahm?
nes Vermögens soll er von seinem Vater SPIEGEL: Was bedeutet es für Donald Johnston: Es ist eine Sache, wenn man
Fred Trump geerbt haben, nach heutigem Trump persönlich, wenn nun alle wissen, beim Finanzamt ein bisschen flunkert,
Wert mindestens 413 Millionen Dollar – dass er nicht der Selfmademan ist, den er wenn man sich in Grauzonen bewegt.
obwohl er immer behauptet hat, seinen jahrzehntelang gespielt hat? Aber diese Recherche enthüllt jahrzehn-
Reichtum allein erwirtschaftet zu haben. Johnston: Er wird wütend sein. Ich glau- telange Steuervermeidung und sogar kal-
Überrascht Sie das? be, es sagt sehr viel aus, dass das Weiße kulierten Betrug. Fred Trump hatte in
Johnston: Es wundert mich nicht.
Ich bin sehr froh, dass drei Repor-
ter von der »Times« 18 Monate
Arbeit investiert haben, als sie
Zugang zu Steuererklärungen
von Fred Trump erhielten. Die
Recherchen wurden ja offenbar
auch von meinem Artikel vom
März vergangenen Jahres ange-
regt, als ich eine Steuererklärung
Donald Trumps aus dem Jahr
2005 erhalten hatte. Aber die Kol-
legen sind viel weiter gekommen,
als ich es jemals geschafft habe.
SPIEGEL: Was haben Sie erfahren,
das Sie vorher nicht wussten?
Johnston: Steuer-, Bilanz- und
Abrechnungsregelungen sind un-
glaublich komplizierte Dinge. Die
Kollegen von der »Times« haben
JUDIE BURSTEIN / INTERTOPICS / DDP

alles richtig gemacht – sowohl


journalistisch als auch technisch.
Sie haben herausgefunden, dass
es 295 verschiedene Einkommens-
ströme zwischen Fred Trump und
seinen Kindern gab – Geldtrans-
fers zur Steuervermeidung. Sie ha-
ben außerdem aufgedeckt, dass
Trumps Eltern Fred und Mary Jungunternehmer Trump mit Eltern Mary und Fred 1992: »Schick mir Geld«

88
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IN DER SPIEGEL-APP

seiner Steuererklärung von 1995 ange- über Fake News beschwert, wo sich sein
führt, dass 25 Apartmentkomplexe und gesamtes Image aus den Fake News zu-
andere Besitztümer, die er über Umwege sammensetzt, die er über sich selbst ge-
an Donald und dessen Geschwister über- streut hat.
schrieb, angeblich nur 41,4 Millionen Dol- SPIEGEL: Wann haben Sie zuletzt mit ihm
lar wert seien – ein Bruchteil ihres tat- gesprochen?
sächlichen Werts. Im Jahr 2004 schätzten Johnston: Im April 2016. Ich arbeitete an
Banken den Wert desselben Anwesens auf einer Geschichte über seine Finanzen und
fast 900 Millionen. Das ist eindeutiger hatte ihm ein paar Fragen zugeschickt. Er
Steuerbetrug. sagte zu mir: »Wenn mir nicht gefällt, was
SPIEGEL: Die Steuerbehörden des Bundes- du schreibst, dann verklage ich dich.« Und
staats New York haben Ermittlungen an- ich sagte: »Dann verklag mich, Donald.«
gekündigt. Kann der Präsident dafür heute Hat er natürlich nie getan.
noch Probleme bekommen? SPIEGEL: Keine Ihrer Recherchen hat ihm
Johnston: Sowohl für den Staat New York je politisch geschadet.
als auch für die Zentralregierung in Wa- Johnston: Da haben Sie völlig recht. Wie
shington verjährt Steuerbetrug nicht. Der Donald es sagen würde: Ich habe versagt.
Staat New York könnte Donald Trump SPIEGEL: Werden die Enthüllungen der
und seine Geschwister auf all die pflicht- »Times« ihm schaden?
gemäßen Abgaben verklagen, die nie ge- Johnston: Der Kongress hätte die Macht,
zahlt wurden, mit Zinsen und Strafen. seine Steuererklärungen einzufordern.
Wenn die Behörden das tatsächlich tun Sollten die Demokraten bei den Wahlen

FOTOS: ANN-KATHRIN NEZIK / DER SPIEGEL


sollten, wäre die Familie Trump am Ende im November die Kontrolle im Repräsen-
bettelarm. Die Zinsen allein würden ihr tantenhaus, im Senat oder in beiden Kam-
Vermögen übersteigen. Was wir deshalb mern des Kongresses bekommen, dann
brauchen, sind Trumps Steuererklärungen werden sie alles dafür tun, Einblick in seine
aus dem 21. Jahrhundert sowie die Buch- Finanzen zu bekommen. Und sie werden
haltung und die Akten dahinter. damit anfangen, diese Dinge öffentlich zu
SPIEGEL: Was erwarten Sie von diesen machen.
Dokumenten? SPIEGEL: Glauben Sie, diese Recherche zu
Johnston: Menschen verändern sich Trumps Finanzen hat das Potenzial, die
nicht. Meine Vermutung ist, dass auch in Zwischenwahlen im November zugunsten
den neueren Steuererklärungen weitere der Demokraten zu beeinflussen?
Tricks und dubiose Geldflüsse zu finden Johnston: Auf die wahren Trump-Fans,
sein werden. die meiner Meinung nach durch Rassismus
SPIEGEL: Sie kennen Trump seit den motiviert sind, wird das keinen Einfluss
späten Achtzigerjahren, als er Kasinos er- haben. Aber die Menschen, die Trump ge-
öffnete. Wie haben Sie ihn damals wahr- wählt haben, weil sie Hillary Clinton nicht
genommen? mochten oder wegen seiner Wirtschafts-
Johnston: Ich zog damals von Los Angeles versprechen – einige von denen könnten Stadt aus Plastik
nach Atlantic City, um für den »Philadel- davon beeinflusst werden. Wenn wir eine
Anderthalb Zugstunden von Shanghai
phia Inquirer« über das wachsende Ge- Untersuchung von Trumps Finanzen be-
schäft der Kasinos zu berichten. Donald kommen, wird das verheerend für ihn sein. entfernt liegt einer der wichtigsten
Trump lernte ich bereits am Tag meiner Viele Menschen werden anfangen, die Umschlagplätze des globalen Handels mit
Ankunft kennen. Er war die größte Story Wahrheit zu verstehen. Billigwaren: die chinesische Stadt Yiwu.
in der Stadt. Als ich mich das erste Mal SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, das könn- In sechs Hallen so groß wie 900 Fußball-
mit ihm zu einem Interview traf, war mir te seinem Ruf schaden? Bis jetzt hat die felder bieten Verkäufer Weihnachts-
sofort klar, dass er ein Betrüger war. Sein Sache mit seinen Steuererklärungen nur schmuck, Spielzeug und anderen Krims-
Geschäft bestand darin zu sagen: »Schick wenige Amerikaner interessiert. krams an. Ihre Kunden sind internationale
mir Geld. Schick mir Geld. Schick mir Johnston: An dem Tag, an dem Richard Geschäftsleute, die containerweise Waren
Geld.« Nixon zurücktrat, unterstützten 29 Pro- bestellen. Doch immer mehr Fabriken
SPIEGEL: Wie haben Sie sich mit ihm zent der Amerikaner den Präsidenten, ob-
verlassen die Region. Das Modell »made
verstanden? wohl jeder im Kongress ihn aus dem Amt
Johnston: Nach meinen ersten Artikeln jagen wollte. Trump wird immer ein ge-
in China« ist in Gefahr.
versuchte er, mir Fallen zu stellen, um wisses Maß an Unterstützung haben, ich
mich zu diskreditieren. Er bot mir Hotel- glaube, auf dem tiefsten Punkt werden es Sehen Sie die Visual Story im digitalen
suiten zur Übernachtung an, er versuchte um die 30 Prozent sein. Eine Menge seiner SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
mich zu ködern. Er fütterte die Journalis- Unterstützer sind Rassisten und Frauen-
ten immer mit Geschichten. Zum Beispiel feinde. Ich denke aber, dass diese Ge-
setzte er Gerüchte über Affären mit Ma- schichte dabei helfen wird, die Zustim-
donna, den Schauspielerinnen Kim Basin- mungswerte niedrig zu halten. Ich bin mir
ger und Carla Bruni in die Welt. Komplet- sicher: Wenn wir eines Tages seine jüngs-
ter Unsinn. Sobald er diese Geschichten ten Steuerunterlagen zu Gesicht bekom-
in der Klatschpresse gesät hatte, wurden men, werden wir sehen, dass er sich kein
sie von seriöseren Medien aufgegriffen. So bisschen geändert hat.
schuf er seinen Mythos. Es ist schon iro- Interview: Christoph Scheuermann
nisch, dass Donald Trump sich dauernd JETZT DIGITAL LESEN

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 89


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Ausland

Klatschen und Grölen


Analyse Wie die Kontroverse um den rechten Richter Brett Kavanaugh vor den Kongresswahlen
den Republikanern nützt – die eigentlich schon als sichere Verlierer galten

islang lief der Wahlkampf für Mike Braun recht zäh. spottet er sie als Betrügerin, die verdächtige Erinnerungs-

B Braun will Senator in Indiana werden, einem länd-


lichen, ziemlich Trump-freundlichen Bundesstaat im
Nordosten der USA, der für einen konservativen Fan
des Präsidenten leicht zu holen sein sollte. Und doch lag
lücken aufweise. Am Dienstag äffte er sie bei einer Wahl-
kampfveranstaltung in Mississippi nach. »Ich habe ein Bier
getrunken, richtig?«, sagte Trump, das mutmaßliche Opfer
imitierend. »Wie sind Sie heimgekommen? Weiß ich nicht
Braun hinter seinem Kontrahenten von den Demokraten zu- mehr. Wo war das? Weiß ich nicht mehr. Wie viele Jahre ist
rück. Das ändert sich gerade, auch dank Brett Kavanaugh. das her? Weiß ich nicht. Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht.«
Die Umfragen sehen ein immer knapperes Rennen in Indiana, Das belegt nicht nur, dass Trump für ein paar Lacher bereit
ähnlich wie in anderen Bundesstaaten mit vergleichbar konser- ist, eine Frau zu desavouieren, die nur zögerlich an die Öf-
vativer Wählerschaft. Eigentlich hatten die Demokraten einen fentlichkeit trat. Genauso hässlich war das Klatschen und
großen Vorsprung, selbst in vielen eher republikanischen Wahl- Grölen des Publikums. Es zeigt, wie zynisch ein Teil dieses
kreisen lagen ihre Kandidaten vorn. Sie hoffen bei den Zwi- zutiefst polarisierten Landes geworden ist, wie wenig Respekt
schenwahlen im November auf eine »blaue Welle«. Bei diesen die Anhänger des Präsidenten vor der Würde einer Frau ha-
Midterms werden ein Drittel des Senats und das gesamte Re- ben, ganz gleich, wie man ihre Anschuldigungen bewertet.
präsentantenhaus erneuert – wenn die Demokraten Trump Im Wahlkampf 2016 hat Trump gelernt, dass er die Wut
noch etwas entgegensetzen wollen, müssen sie gewinnen. der Massen in Wählerstimmen umwandeln kann. Der Gegner
Doch der Abstand zwischen darf mit allen Mitteln angegrif-
Republikanern und Demokra- fen, mit Häme und Hass über-
ten schmilzt. Konservative Stra- gossen werden. Der Unter-
tegen sprechen von einem neu- schied zu 2016 ist, dass seine
en Enthusiasmus. Es sieht so Partei heute mit wenigen Aus-
aus, als würde die Debatte um nahmen das Spiel mitmacht.
die Besetzung eines Richterpos- Schwer vorstellbar, wie die Re-
tens am Obersten Gerichtshof, publikaner den Ruf einer Partei
die zunächst zu einer Katastro- zurückerlangen können, die für
phe für die Republikaner zu Werte wie Familie, Respekt und
TOM WILLIAMS / UPI / LAIF

werden drohte, stattdessen ihre Herrschaft des Rechts eintritt.


Anhänger mobilisieren. Das Kalkül konservativer
Sie wollen den Konservativen Strategen wie Mitch McConnell,
Kavanaugh am Obersten Ge- dem Mehrheitsführer im Senat,
richtshof sehen. Trotz der Vor- scheint aber aufzugehen. Die
würfe gegen ihn, trotz der Aus- Kavanaugh-Episode zeigt, wie
sagen von Christine Blasey Ford, Kandidat Kavanaugh vor dem Justizausschuss schnell sich in der Ära Trump
trotz der Brüll- und Tränenrede die Verhältnisse drehen können.
Kavanaughs vergangene Woche. Plötzlich hat die Partei, der
Demokratische Kandidaten in konservativen Wahlkreisen müs- viele Demoskopen den Niedergang prophezeiten, Aufwind.
sen sich jetzt rechtfertigen, warum sie Kavanaugh ablehnen. Je länger die Debatte andauerte, desto besser war das aus
Das kostet Stimmen. Insbesondere für Senatoren der Demo- Sicht der Republikaner – desto motivierter nämlich sind
kraten in Bundesstaaten wie Montana, Missouri oder Florida Wähler, die Kavanaugh für das Opfer einer linksliberalen
wird es schwieriger, ihre Posten zu verteidigen. In North Da- Verschwörung halten. Ende September sollte im Senat eine
kota tritt die Demokratin Heidi Heitkamp zur Wiederwahl an, erste Abstimmung stattfinden, schon dieses Wochenende
neue Umfragen zeigen, dass sie rund zehn Prozentpunkte hin- dürfte Kavanaugh bestätigt werden. Aus Trumps Sicht ist
ter ihrem Kontrahenten zurückliegt. In Missouri liegt die de- das Gute daran, dass Kavanaugh selbst dann zur Mobili-
mokratische Senatorin Claire McCaskill nun ebenfalls zurück. sierung der eigenen Leute taugt, wenn er am Ende doch schei-
Die Demokraten müssen mindestens 23 weitere Abgeord- tern sollte.
netenmandate erringen, um eine Mehrheit im Repräsentan- Der Kampf um das Oberste Gericht ist Teil einer größeren
tenhaus zu bekommen, das ist immer noch realistisch. Sie Schlacht, eines Kulturkriegs, der in Amerika tobt. Für die
müssen aber auch mindestens zwei Posten im Senat gewin- einen ist Brett Kavanaugh ein unbescholtener Jurist und Fa-
nen, um dort faktisch eine Mehrheit zu bilden. Das ist jetzt milienvater, der alles richtig gemacht hat und nun vor den
noch komplizierter geworden, wenn nicht gar unmöglich. Trümmern seiner Karriere steht. Für die anderen ist er die
Das Erstaunliche an der Debatte um die Besetzung des Personifizierung weißer, männlicher Privilegien. Er ist wie
Supreme Courts ist, wie rasch sie vom Versuch, die Wahrheit ein Vexierbild. Es geht längst nicht mehr um die Frage, ob
über den Vorwurf eines sexuellen Übergriffs herauszufinden, der Kandidat als Schüler versucht hat, ein Mädchen zu ver-
in einen dreckigen Kleinkrieg abglitt. Der Präsident hat gewaltigen. Es geht auch nicht darum, ob er nach seinen hitz-
begriffen, wie nützlich die Pose eines Antihelden in der köpfigen Attacken gegen die Demokraten die notwendige
#MeToo-Ära sein kann. Vorige Woche noch nannte er Chris- Unabhängigkeit für diesen Job aufweist. Es geht nur noch
tine Blasey Ford eine glaubwürdige Zeugin, inzwischen ver- um eins: den Feind zu bezwingen. Christoph Scheuermann

90 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Ausland

ANMAR KHALIL / AP
Grabstelle der Influencerin Fares in Nadschaf: Ungeniert ihr eigenes Leben geführt

Tod im Porsche
Irak Sie war jung, schön, selbstbewusst: Wie mehrere bekannte Frauen wurde der Instagram-Star
Tara Fares von Unbekannten erschossen. Stecken schiitische Islamisten hinter der Mordserie?

T
ara Fares, 22, trug ihre langen Ihr Mörder lief zu einem Motorrad, dessen san gekannt zu haben, zumindest hat sie
Haare gern offen, mal waren Fahrer auf ihn wartete. Die beiden flüch- nach deren Tod auf Instagram kondoliert.
sie rot, mal schwarz, grau oder teten. So zeigen es die Aufnahmen einer Unklar ist, ob die vier Fälle miteinander
blond. Die Lippen hatte sie auf- Überwachungskamera. zu tun haben. Premierminister Haider
spritzen lassen, und nie ging sie ohne Au- Fares’ Ermordung hat viele Iraker scho- al-Abadi ordnete eine Untersuchung an,
gen-Make-up aus dem Haus, die Brauen ckiert. Ihre Exekution am helllichten Tag er mutmaßte aber auch, es bestehe kein
sorgfältig zu dicken, expressiven Balken scheint Teil einer neuen, unheimlichen Se- Zusammenhang zwischen den Todesfällen.
ausgemalt. Knapp drei Millionen Men- rie zu sein: Wenige Tage zuvor war im Viele Iraker sehen das anders. Sie vermu-
schen folgten dem bekannten irakischen rund 450 Kilometer entfernten Basra die ten einen Feldzug radikaler Islamisten
Model auf Instagram, sie war eine der er- Menschenrechtlerin Suad al-Ali erschos- gegen Frauen, die ungeniert ihr eigenes
folgreichsten Influencerinnen des Landes. sen worden. Die 46-Jährige unterstützte Leben führen. Aktivisten leben im Irak ge-
Bis ihr Leben vor neun Tagen endete wie die Proteste gegen die Regierung, die seit fährlich, das ist nicht neu. Doch Tara Fares
das eines Mafiabosses. Wochen den Südirak erschüttern. hatte sich kaum je politisch geäußert und
Es war kurz nach 17 Uhr am Donnerstag Ebenfalls in Bagdad wurden im August war vor allem durch ihren extravaganten
der vergangenen Woche, Fares fuhr mit innerhalb einer Woche Rafeef al-Yaseri, eine Lebensstil aufgefallen, den sie über Insta-
ihrem Porsche langsam durch eine belebte bekannte Schönheitschirurgin mit über 1,4 gram und Snapchat mit Millionen teilte.
Wohnstraße in Bagdad, als sich ein schlan- Millionen Instagram-Followern, und Rasha »Tara wurde nicht aus einem privaten
ker Mann in weißem Hemd zum Fahrer- al-Hassan, prominente Besitzerin eines Kos- Motiv umgebracht. Ihre Ermordung rich-
fenster beugte. Er feuerte drei Schüsse auf metikstudios, tot aufgefunden. Es gibt Ge- tet sich grundsätzlich gegen Frauen, die
sie, zwei in den Kopf, einen in die Brust. rüchte, die beiden seien vergiftet worden. wie sie sind«, sagt Haider Alwash, ein
Fares sackte auf dem roten Sitz zusammen. Fares, das Model, scheint die Chirurgin Has- Freund und Arbeitskollege. »Es geht um

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ihre Fotos, ihre Kleidung. Manche haben nahm das Mikrofon und sagte: »So stelle Dunkeln wie viele andere. Alles, was ich
sie als Abtrünnige beschimpft. Ihr Verhal- ich mich dem Terrorismus entgegen! So tue, tue ich im Tageslicht«, postete sie.
ten sei gegen den Islam.« zeigen wir, die Iraker, dass wir kämpfen Eigentlich lebte Tara Fares nicht in Bag-
Fares war für provokante, sexy Fotos um das Überleben und dass wir weiterma- dad, sondern im sicheren nordirakischen
bekannt. Kürzlich sorgte sie mit einem chen. Das haben wir heute bewiesen.« Es Arbil. Zwei-, dreimal pro Monat fuhr sie
Bild für Aufsehen, auf dem sie breitbeinig war das erste Mal, dass der irakische nach Bagdad, so erzählt es ihr Freund Hai-
in Jeanshotpants posierte und einen Blazer Schönheitswettbewerb wieder stattfand – der Alwash. Dort drehte sie Werbefilme
trug, unter dem sie nichts anzuhaben nach 43 Jahren. für Snapchat oder arbeitete an ihrem
schien, tätowiert, eine Zigarette im Mund. Heute arbeitet Qasim als Fernsehjour- nächsten Projekt. »Sie wollte eine eigene
Alles Dinge, die eine anständige Frau im nalistin, auf Instagram folgen ihr 2,7 Mil- Marke für Mascara, Kajal und andere Kos-
Irak nicht tut. Nach ihrem Tod twitterte lionen. Nach der Ermordung von Fares ver- metikprodukte auf den Markt bringen.
ein Journalist des irakischen Staatsfernse- öffentlichte sie ein Video, auf dem sie selbst Und sie wollte einen Schönheitssalon in
hens, eine »Schlampe« sei erschossen wor- tränenüberströmt zu sehen ist – und voller Arbil eröffnen«, sagt Alwash.
den. Immerhin, er wurde gefeuert. Angst: »Wir sind Medienstars geworden, Ein Video, das die Influencerin für ihre
»Sie hat viele Hasskommentare bekom- und deswegen kann man uns jetzt wie die geplante Reality-TV-Serie gedreht hatte,
men, aber das war ihr egal. Ihr war egal, Hühner abschlachten?« Erst kurz zuvor zeigt sie mit drei Freunden der irakischen
was andere dachten«, sagt Alwash, der hatte sie eine Morddrohung erhalten: Sie Jeunesse dorée beim Billardspielen in
Freund. Tara Fares hatte in ihrem kurzen sei die Nächste, hieß es da, nach Rafeef, einem Café in Arbil. Vor dem Café parken
Leben schon viel mehr überstanden als Rasha und Tara. Auch Dumooa Tahseen, neue BMWs und Land Rover. »Hello! Wie
Anfeindungen. eine junge Irakerin, die vor wenigen Mo- geht es dir? Willst du ein Foto?«, fragt
In Bagdad aufgewachsen, verließ sie die naten die aktuelle Staffel des arabischen Fares einen kleinen Jungen mit Irokesen-
Schule in der Mittelstufe, mit 16 wurde sie TV-Wettbewerbs »The Voice« gewonnen schnitt, der sie durch das Caféfenster ent-
verheiratet. Ihre Eltern – die Mutter eine hat, berichtet nun von Morddrohungen. deckt hat und nun zu ihr an den Billardtisch
libanesische Schiitin, der Vater ein iraki- kommt. »Ja«, antwortet er schüchtern.
scher Christ, der zum Islam konvertiert Sie nimmt sein Handy und macht ein Selfie
war – hatten den Mann für sie ausgesucht. mit ihm.
Ihr Ehemann verprügelte sie, immer wie- »Wir haben ihr immer gesagt, geh nicht
der. Als ihr Vater davon erfuhr, holte er so oft nach Bagdad, da ist es nicht sicher«,
sie wieder nach Hause. Dort stellte sie fest, sagt Freund Alwash. »Aber sie antwortete
dass sie schwanger war. Während der nur: ›Pff, da ist nichts in Bagdad.‹« Es habe
Schwangerschaft hörte sie nichts von ih- keine konkreten Morddrohungen gegen
rem Ehemann, doch als ihr Sohn auf der sie gegeben, nur viele Hasskommentare
Welt war, schickte der Mann ihr Bewaff- der Islamisten.
nete ins Haus und holte sich das Kind mit Die sunnitischen Anhänger des »Islami-
Gewalt. schen Staats« (IS) haben in Bagdad wenig
Fares hätte wohl kaum eine Chance Rückhalt, wohl aber schiitische Extremis-
gehabt, das Sorgerecht für ihren Sohn zu ten. Sie drängen in die Politik, sie haben
bekommen. Über Nacht entschied sie: durch die wichtige Rolle ihrer Milizen
»Jetzt reicht es. Ich lasse alle hinter mir. beim Kampf gegen den IS noch an Macht
QUELLE: TWITTER

Ich gehe in die Türkei.« So sagte sie es in gewonnen. Und sie versuchen, die Bevöl-
einem Interview. Die Influencerin plante kerung einzuschüchtern mit verbalen An-
eine Reality-TV-Serie für den arabischen griffen auf jeden und jede, die sie als an-
Markt. Alwash erzählt, ihr Vorbild dabei Model Fares ders, »pervers« oder »abtrünnig« einstu-
sei die US-Serie »Keeping Up with the Kar- »Pff, da ist nichts in Bagdad« fen. Immer wieder kommt es zu Morden,
dashians« gewesen, die der Kardashian- die niemals aufgeklärt werden.
Familie Millionen einbrachte. Im Juli 2017 wurde Karar Nushi in der
In der Türkei begann Fares, Videos auf Die Rolle der Frauen hat sich in den ver- irakischen Hauptstadt entführt, gefoltert
Facebook hochzuladen. Die vielen Reak- gangenen Jahren wieder verändert im Irak. und erstochen. Er galt als eine Art iraki-
tionen, die sie daraufhin bekam, Zustim- Viele von ihnen übernehmen erneut – wie scher Brad Pitt, ein Schauspieler und Mo-
mung wie Hass, ermutigten sie. »Ich ma- damals unter der sozialistischen Herr- del mit langen blonden Haaren, der gern
che das, was ich für richtig halte, ich ziehe schaft – mehr Verantwortung, verdienen in engen Jeans posierte. Er war Schiit wie
die Klamotten an, die ich für richtig halte, ihren eigenen Lebensunterhalt, unabhän- Fares, die in Nadschaf, einer für Schiiten
nicht die, die andere gut finden. Das ist gig von einem Mann, und schämen sich heiligen Stadt beerdigt wurde. Wie sie hat-
meine Sache, denn dies ist mein Leben«, nicht dafür. Tara Fares tat zudem etwas, te er Drohungen erhalten. Wer ihn ermor-
sagt sie in den Aufnahmen für ihre Serie. was es im Irak bisher nicht gab: Sie machte, dete, ist über ein Jahr später noch unklar.
»Niemand kann mir sagen, was ich tun, es- was sie wollte, für alle sichtbar auf Insta- Im Fall Fares hingegen wurde inzwischen
sen, trinken und wohin ich gehen soll.« gram und Snapchat – soziale Medien, die ein Tatverdächtiger festgenommen.
2015 wurde Fares »Miss Bagdad« und im Nahen Osten noch viel stärker genutzt Erst vor zwei Monaten hatte Tara Fares
Zweite beim »Miss Irak«-Wettbewerb. werden als in Deutschland. auf Instagram ein ungewöhnliches Bild ge-
Ihre Familie unterstützte sie dabei. »Nach Und sie legte sich mit Autoritäten an. postet: keine Mode- oder Make-up-Tipps,
allem, was sie mir angetan hatten, konnten So verspottete Fares in einem Video einen sondern ein aufgeschlagenes Buch. Darun-
sie auch nicht anders«, sagte Fares in ei- schiitischen Kleriker als verlogen. Der ter schrieb sie: »Ich habe keine Angst vor
nem der Interviews. Mann soll sie gefragt haben, ob sie eine denjenigen, die die Existenz Gottes leug-
Die Frau, die den »Miss Irak«-Wettbe- »Ehe auf Zeit« eingehen wolle – eine schii- nen, sondern vor denen, die morden und
werb damals, im Jahr 2015, vor Fares ge- tische Praxis, die es ermöglicht, religiös Köpfe abhacken, um die Existenz Gottes
wann, heißt Shimaa Qasim. Sie rückte sich konformen Sex ohne dauerhaftes Ehe- zu beweisen.« Raniah Salloum
damals nach ihrem Sieg die Krone zurecht, bündnis zu haben. »Ich mache nichts im

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500 km

Me
ko
ng
CHINA

INDIEN

MYANMAR
VIETNAM
Hanoi
Naypyidaw Muang
Xay

Vientiane

THAILAND LAOS

Bangkok
Andamanen- KAMBODSCHA
see Ho-Chi-
Phnom Penh Minh-Stadt
Isthmus Sihanoukville
von Kra
THOMAS CRISTOFOLETTI / RUOM

St
ra
ße
Südchinesisches

vo
nM
Meer

al
ak
a MALAYSIA

k
Stromschnellen am Mekong
INDONESIEN SINGAPUR

Operation Mekong
Südostasien Zwischen Laos und Thailand ist heute schon eine Welt zu besichtigen,
in der China seine Regeln durchsetzt – politisch und wirtschaftlich. Wenn der
Westen darauf keine Antworten findet, wird er seinen Einfluss hier bald verloren haben.

M
ehr als 4300 Kilometer win- In Asien entscheidet sich am Mekong dore und neue Märkte zu öffnen. Den gro-
det sich Südostasiens längs- die Zukunft eines ganzen Wirtschafts- ben Rahmen dafür bildet Chinas Seiden-
ter Fluss dem Pazifik zu, von raums. Fünf ungleiche Staaten verbindet straßen-Initiative, ein breit angelegtes Ent-
seinem Ursprung im tibeti- er an seinem Unterlauf: das ökonomisch wicklungsprogramm, das ursprünglich nur
schen Hochland bis Kambodscha und starke Vietnam, dessen argwöhnischen Eurasien umfassen sollte, inzwischen aber
Vietnam, wo er in einem Delta mündet. Nachbarn Kambodscha, das selbstbe- auch auf andere Erdteile übergreift.
Lancang heißt er in China, Mekong, wusste Thailand, das politisch isolierte In manchen Ländern, in Sri Lanka etwa,
»Mutter des Wassers«, in den Ländern Myanmar und das noch rückständige in Pakistan oder Äthiopien, ist Chinas
stromabwärts. Er ist die Lebensader die- Laos. Präsenz bereits erdrückend, in den Län-
ser Region, er bewässert Reisfelder und Zugleich ist der Fluss das Band, das die- dern Lateinamerikas kommt Pekings Ex-
Mangohaine und versorgt Millionen von se fünf Länder mit China verknüpft, ihrem pansion nur schleppend voran.
Menschen mit Trinkwasser, Nahrung und großen Nachbarn im Norden. Über den In keiner Region aber ist Chinas Einfluss
Energie. Mekong erschließt sich Peking eine Region, so weit gediehen wie in den Staaten am
Im Westen ruft der Mekong exotische in der es Staudämme und Kraftwerke baut, Mekong. Das liegt zunächst an ihrer geo-
Bilder und historische Erinnerungen wach, Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Fabri- grafischen und kulturellen Nähe zu China,
an ein Jahrhundert europäischer Kolonial- ken. Hier in Südostasien nimmt eine Welt an historischen Bindungen, die Jahrhun-
und amerikanischer Militärgeschichte, Gestalt an, in der China den Takt vorgibt, derte zurückreichen. Vor allem aber liegt
an die Tempel von Angkor Wat und die viel dominanter noch als in Zentralasien, es daran, dass China in Südostasien einen
Alleen von Saigon, an den Dschungelkrieg in Afrika oder Europa. strategischen, in sich geschlossenen Plan
der Sechzigerjahre, an Helikopter und Rund um den Globus ist Peking dabei, verfolgt, der weit über jedes einzelne Pro-
Patrouillenboote. sich Rohstoffe zu sichern, Handelskorri- jekt hinausführt.

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Ausland

Am Mekong ist eine neue Weltmacht Trotzdem liegt der Nutzen des Eisen- Thailand: Zurückhaltung als
zu beobachten, die sich exakt auf die Be- bahnprojekts auf der Hand: Laos, der Methode
dingungen jedes Landes einstellt, seine Ge- ärmste der Mekong-Staaten, hat eine ka- Es mag noch Jahrzehnte dauern, aber
schichte und seinen Entwicklungsstand, tastrophale Infrastruktur. Hier sterben wenn es nach China geht, wird die Eisen-
seine wirtschaftlichen Bedürfnisse, sein Menschen an banalen Krankheiten, weil bahn nach Laos nicht in Vientiane enden.
politisches System, seine diplomatischen es oft Stunden dauert, sie auf den schlech- Für Peking ist sie Teil eines noch weiter
und militärischen Präferenzen. ten Straßen ins nächste Krankenhaus zu führenden Projekts, eines panasiatischen
Wie geht Peking konkret dabei vor? Wie bringen. Die Eisenbahn könnte zum Rück- Verkehrsnetzes, das eines Tages bis Sin-
spielt es Chinas besondere Mittel und grat eines Verkehrsnetzwerks werden, das gapur reichen und nicht nur Straßen und
Fähigkeiten aus, um seinen Einfluss zu es dem Land erlaubt, zu seinen Nachbarn Eisenbahnen umfassen könnte, sondern
festigen? Wenn keine politische oder wirt- aufzuschließen. auch einen großen Kanal.
schaftliche Krise die Pläne der chinesi- Aber um welchen Preis? Als 2016 der In Thailands Hauptstadt Bangkok gibt
schen Führung durchkreuzt, werden frü- erste Spatenstich erfolgte, veranschlagten es einflussreiche Männer, die Peking in die-
her oder später auch andere Länder und die Planer die Kosten mit knapp sechs Mil- sem Plan unterstützen, manche von ihnen
Regionen vor dieser Frage stehen. liarden Dollar. Das entsprach damals fast sind Mitglieder des Thailändisch-Chinesi-
der Hälfte von Laos’ Wirtschaftsleistung schen Kultur- und Wirtschaftsverbands.
Laos: Das Prinzip Abhängigkeit – ein extremes Missverhältnis, selbst an Wie die Vereinigung mit diesem langen
Dreieinhalb Stunden dauert die Fahrt den umstrittenen Krediten gemessen, die Namen vor 40 Jahren zustande kam, sagt
von Chinas Grenze nach Muang Xay, die China in anderen Ländern vergeben hat. ihr Generalsekretär Paisal Puechmongkol,
erste größere Stadt im Norden von Laos.
Die Strecke ist kaum 100 Kilometer lang,
sie führt durch Dörfer und Wälder von
leuchtend grünen Gummibäumen. Hüh-
ner und Schweine laufen über die Straße,
die Schlaglöcher sind tief wie Bade-
wannen.
Auf jeder zweiten Anhöhe tut sich un-
ten im Tal eine Baustelle auf, wo Arbeiter
zu sehen sind, die Brückenpfeiler betonie-
ren – und kurz dahinter stets ein Bohrloch,
das in den nächsten Berg hineinführt.
Hier baut ein chinesischer Konzern eine
Zugstrecke, die über 414 Kilometer bis in
die Hauptstadt Vientiane führt. Ein tech-
nisch anspruchsvolles Projekt: Knapp die
Hälfte der Strecke wird durch Tunnel füh-

THOMAS CRISTOFOLETTI / RUOM


ren, gut 60 Kilometer über Brücken. Doch
niemand bezweifelt, dass sie wie geplant
2021 in Betrieb geht. Die Fahrtzeit von
der Grenze nach Muang Xay wird dann
25 Minuten betragen, die nach Vientiane
etwa drei Stunden.
Das Provinzstädtchen Muang Xay ist
durch den Zuzug der Eisenbahner zu einer Bauboom in Phnom Penh: Nirgends mischt sich China so massiv ein wie in Kambodscha
Boomtown angewachsen. Alle Hotels sind
ausgebucht, chinesische Geländewagen
kurven durch die Stadt. Experten der Weltbank bezweifeln den lasse sich in einem Satz zusammenfassen:
Am Stadtrand, wo der Bahnhof entste- ökonomischen Sinn des Projekts. »Nach der Niederlage der USA im Viet-
hen soll, steht die Containersiedlung der Um die Kosten für den Staatshaushalt namkrieg suchte Thailand einen Bündnis-
Eisenbahnfirma, neben der laotischen flat- zu senken, hat die Regierung in Vientiane partner gegen das erstarkte Vietnam.« Chi-
tert die rote Fahne Chinas im Wind. Die dem chinesischen Bahnunternehmen Land na sei dafür sehr geeignet.
ganze Strecke, sagt Chefingenieur Lin, 30, abgetreten: fünf Meter links und rechts Eines der Projekte, dem sich Pekings
sei in sechs Bauabschnitte aufgeteilt, allein entlang der Strecke, je drei Quadratkilo- Freunde in Thailand verschrieben haben,
sein Büro beschäftige 4000 chinesische meter an jedem der zehn geplanten Bahn- beschäftigt Geostrategen mit wachsender
Arbeiter. »Auch ein paar Hundert Laoten höfe. Das ist ein Muster, das sich in vielen Dringlichkeit: der sogenannte Kra-Kanal,
arbeiten mit«, berichtet Qiu Jixin, 44, der Ländern wiederholt, in denen China Stra- eine künstliche Verbindung zwischen dem
Parteichef seiner Einheit, »allerdings nicht ßen, Eisenbahnen und Häfen baut: Peking Indischen Ozean und dem Pazifik.
auf den Baustellen, sondern beim Trans- sichert sich Landrechte für den Fall, dass Bislang passiert der Schiffsverkehr zwi-
port und in der Küche.« der Kreditnehmer Schulden nicht zahlen schen den beiden Weltmeeren, darunter
Als Parteichef sei er für »ideologische kann. gut 80 Prozent von Chinas Ölimporten,
Erziehung und Korruptionsbekämpfung« In Laos tritt Peking als Bauherr auf, der die Straße von Malakka. Doch dieser See-
zuständig, sagt Qiu. Chinas Eisenbahnsek- ein Problem löst, das kein anderes Land weg stößt an die Grenzen seiner Belast-
tor ist berüchtigt für seine schwarzen Kas- so schnell und effizient lösen könnte. Zu- barkeit: Fast 100 000 Schiffe fahren jähr-
sen. Das Laos-Projekt wurde 2009 von Pe- gleich schafft China damit eine Abhängig- lich durch die Malakka-Straße, in wenigen
kings damaligem Eisenbahnminister Liu keit, aus der sich der Partner auf absehbare Jahren könnte die maximale Kapazität
Zhijun mit eingefädelt – er sitzt seit Jahren Zeit nicht wird befreien können. Laos sitzt von gut 120 000 Schiffen erreicht sein. Die
im Gefängnis. in Chinas Schuldenfalle. Vorstellung, ein Unfall oder ein militäri-

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Ausland

scher Konflikt mit den USA könnte diesen Sihanoukville, in den Fünfzigerjahren bedroht, Thailand und Vietnam. »In dieser
Flaschenhals schließen, ist eine Urangst erbaut und nach Kambodschas ehemali- Lage ist China ein natürlicher Verbünde-
chinesischer Politiker. gem König benannt, ist aus einem stillen ter«, sagt er. »Hinzu kommt, dass der Wes-
»Der Kra-Kanal würde dieses und viele Strandparadies zu einer »chinesischen Ko- ten nicht weiß, was er in dieser Region ei-
andere Probleme lösen«, sagt der Ökonom lonie« geworden, wie Chanly sagt. Im Jah- gentlich will.« China wachse so schnell,
Pakdee Tanapura vom Verband der China- restakt verdoppelt sich die Zahl der chine- dass Europa und die USA kaum hinterher-
Freunde. Ein Durchbruch am Isthmus von sischen Touristen in der Stadt, die meisten kämen, Strategien im Umgang mit der neu-
Kra, wo Thailand nur 40 Kilometer breit von ihnen kommen nur, um zu spielen. en Weltmacht zu entwickeln. Kleinen Staa-
ist, werde nicht nur einen neuen Seeweg »Sihanoukville, das ist nicht mehr Kam- ten in Südostasien bleibe deshalb nichts
schaffen, sondern den Reedereien der Welt bodscha«, sagt Vannarith Chheang, 40, übrig, als sich der Realität zu fügen.
auch Millionen an Treibstoffkosten sparen. vom Institut für Strategische Studien in In keinem der Mekong-Länder mischt
Auf acht Jahre schätzt Pakdee die Bau- der Hauptstadt Phnom Penh. »Chinas Bot- sich Peking politisch so massiv und un-
zeit, auf 20 Milliarden Dollar die Kosten schaft ist rund um die Uhr damit beschäf- verhohlen ein wie in Kambodscha. Chi-
des Projekts. Die Entwürfe, die er zeigt, tigt, das schlechte Image ihres Landes auf- nas Vorgehen zeigt, dass es sich dabei auf
wurden von chinesischen Baufirmen er- zubessern. Acht von neun Kambodscha- die besonderen Bedingungen jedes ein-
stellt. Thailand und China sollen bereits nern haben ein negatives Bild von China.« zelnen Staates einlässt – auch wenn es
eine Absichtserklärung zu dem Projekt Im Gegensatz zu ihrem Regierungschef: ein dem Anschein nach demokratischer
unterzeichnet haben, doch Peking, sagt Chinas Führer unterstützten ihn, schrieb Wahlkampf ist, wie es ihn in China selbst
Pakdee, werbe klugerweise nur hinter den der seit 33 Jahren amtierende Premiermi- nie geben würde.
Kulissen für den Kanal.
Mindestens zwei Gründe sprechen bis-
lang noch gegen das Projekt: Der Kanal
würde, wo immer er genau errichtet wird,
den buddhistischen Norden Thailands
vom unruhigen, muslimisch geprägten Sü-
den des Landes trennen – ein zentrales
Problem für Thailands innere Sicherheit.
»Außerdem hat Indien Angst vor dem
Kanal«, gibt Generalsekretär Paisal Puech-
mongkol zu bedenken. Neu-Delhi sieht
Chinas Einfluss in der Region mit Sorge,
Bangkok muss darauf Rücksicht nehmen.
Der Plan sei also, vorsichtig vorzugehen,
auch Indien, selbst Tokio und Seoul ein-
zubinden. Auch Japan und Südkorea be-
ziehen das Gros ihrer Ölimporte über die
verstopfte Straße von Malakka. Die De-
batte um den Kra-Kanal zeigt das macht-
bewusste Peking von einer ungewohnten
Seite. Ohne Zweifel unterstützt es das Pro-
jekt, China würde massiv davon profitie-

DDP IMAGES
ren. Doch die Führung in Peking weiß,
dass sie in Thailand einen selbstbewussten,
wirtschaftlich potenten Partner hat, den Flussschiffer in Thailand: Panasiatisches Verkehrsnetz
es nicht so einfach unter Druck setzen
kann wie Laos – oder Kambodscha.
nister Hun Sen vor der Wahl im Juli auf Vietnam: Wirtschaftliche
Kambodscha: seiner Facebook-Seite. Präsenz um jeden Preis
Die politische Einflussnahme Hun Sen gewann die Abstimmung, und Kurz vor der Mündung im Mekong-Delta
Drei Dinge sind verboten, wenn man ein China hatte einen Teil dazu beigetragen: sind zwei große Brücken über die beiden
Kasino in Sihanoukville betritt, dem See- Pekings Botschafter hatte an einer Wahl- Hauptarme des Flusses gespannt. Die eine
bad im Süden von Kambodscha: Waffen, kampfveranstaltung der Regierungspartei hat Vietnam mit den Japanern gebaut, die
Drogen und Alkohol. Damit die Kund- teilgenommen, das Nationale Wahlkomi- andere mit Australien.
schaft sie auch versteht, sind die Verbote tee empfing eine 20-Millionen-Dollar- Mit keinem Staat am Mekong tut sich
auf Chinesisch formuliert. Kambodscha- Spende der Chinesen. Im April 2017 hatte China so schwer wie mit seinem Nachbarn
nern ist der Zutritt zu Kasinos untersagt. Hun Sen ein Buch von Chinas Staatschef und ehemaligen Kriegsgegner Vietnam.
»Wenn es nach mir ginge, dann würden Xi Jinping vorgestellt und »den Beamten, 1979 hatten die beiden sozialistischen
wir den Chinesen auch verbieten, hier Professoren und Studenten« seines Landes Bruderstaaten einen kurzen, blutigen
rücksichtslos Auto zu fahren und Hoch- empfohlen, es zu lesen. Kurz vor der Wahl Grenzkonflikt ausgetragen. Es ging um
häuser zu bauen«, sagt ein Fahrer, der sich war Chinas Verteidigungsminister in Kam- die Frage, wer nach dem Vietnamkrieg
Chanly nennt. »Immer wieder kommt es bodscha, nannte das Land einen »treuen die Führungsrolle in der Region überneh-
zu tödlichen Unfällen, ich habe Angst, so- Freund« und versprach Militärhilfe in men werde. Seither sind die Beziehungen
bald sich meine Frau aufs Mofa setzt. Und Höhe von 100 Millionen Dollar. turbulent.
dann noch das hier«, sagt er und deutet Der Forscher Chheang erklärt Kambo- China setzt alle Mittel ein, um wirt-
auf einen der halb fertigen 30-Etagen-Tür- dschas nahes Verhältnis zu Peking mit ei- schaftlich in Vietnam präsent zu sein. In
me, die das Stadtzentrum in eine riesige nem politischen Argument: Das Land fühle Hanoi bauen chinesische Unternehmen
Baustelle verwandelt haben. sich historisch von zwei starken Nachbarn eine U-Bahn, an der Südostküste nehmen

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sie gerade ein riesiges Kohlekraftwerk in ten auf Hanoi sind begrenzt. Vietnam ar- rainerstaaten bereits seit Jahrzehnten in
Betrieb, im Industriegürtel um Ho-Chi- beitet wirtschaftlich mit China zusammen. einem losen Bündnis zusammengearbeitet
Minh-Stadt haben sich Dutzende chinesi- Aber mit 95 Millionen Einwohnern und hatten, der Mekong River Commission,
sche Textilfabriken angesiedelt. Peking ist einer boomenden Industrie ist das Land regte Peking 2015 die Gründung einer neu-
der größte Handelspartner. der chinesischen Übermacht nicht aus- en Organisation an, der nun auch Myan-
Trotzdem kommt es immer wieder zu geliefert. mar und China angehören: die Lancang-
antichinesischen Protesten. Im Juni de- Da China noch nicht stark genug ist, sei- Mekong Cooperation.
monstrierten Hunderte Vietnamesen ge- ne Gebietsansprüche im Südchinesischen Chinas Kontrolle über Südostasien be-
gen ein Gesetz, das ausländischen Inves- Meer militärisch durchzusetzen, übt es in- schränkt sich längst nicht mehr darauf,
toren, darunter auch Chinesen, langjährige direkt Druck auf Hanoi aus. Hier zahlen Eisenbahnen, Kanäle, Kasinos und Kraft-
Pachtrechte versprach. Vor vier Jahren wa- sich Pekings massive Investitionen in Laos werke zu bauen. Am Mekong nimmt Pe-
ren Tausende gegen die Verlegung einer und Kambodscha aus: Laos gibt sich im kings Machtentfaltung eine Dimension an,
chinesischen Ölplattform im Südchinesi- Inselstreit noch ausgewogen, Kambodscha die ausdrücklich auch politische und stra-
schen Meer auf die Straße gegangen. 2016 dagegen steht eindeutig auf Chinas Seite. tegische Ziele umfasst. Dafür ist Chinas
schrieb ein Grenzbeamter einer chinesi- Indirekte Mittel stehen allerdings auch Führung sogar bereit, mit einer jahrzehn-
schen Touristin die Worte »Fuck you« in Vietnam zur Verfügung. Im März erlaubte tealten Doktrin zu brechen – dem Prinzip,
ihren Reisepass – auf der Seite, die eine Hanoi zum ersten Mal seit dem Ende des sich grundsätzlich nicht in politische Kri-
Karte mit Pekings Anspruch auf ein See- Vietnamkriegs einem US-Flugzeugträger, sen anderer Staaten einzumischen.
gebiet zeigt, das auch Vietnam will. in Vietnam anzulegen. Peking ist nicht entgangen, dass der
Westen Myanmars De-facto-Regierungs-
chefin Aung San Suu Kyi nach Ausbruch
der Krise um die muslimische Minderheit
der Rohingya ihr Wohlwollen entzogen
hat. Kaum waren die ersten enttäusch-
ten Reden westlicher Politiker über die
Friedensnobelpreisträgerin von 1991 ver-
klungen, wurde Aung San Suu Kyi von
Chinas Staatschef Xi Jinping in Peking
empfangen. Außenminister Wang Yi schlug
einen Drei-Stufen-Plan zur Lösung der
Krise vor und bot sein Land als Vermittler
an – ein Novum in der jüngeren Geschich-
te Chinas.
Wer das Engagement des Landes in Afri-
ka, im Nahen Osten, am Indischen Ozean
LIU AILUN / XINHUA / SIPA USA / DDP

beobachtet hat, erkennt ein Muster: Wo


sich andere zurückziehen, tritt Peking ag-
gressiv auf den Plan. So war es, als sich In-
dien und EU-Staaten vom Bürgerkriegs-
land Sri Lanka abwandten; so war es, als
sich Saudi-Arabien und Israel von den
USA unter Barack Obama entfremdeten;
so ist es, umso stärker, je weiter Washing-
Chinesisches Bahnprojekt in Laos: Europa und die USA kommen kaum hinterher tons Verhältnis zu Pakistan abkühlt.
In Südostasien wird sich dieses Muster
wiederholen – wenn es Europa und die
»Widerstand gegen China kommt in Das Signal war deutlich: Vietnam sucht USA, mit ihren eigenen Krisen befasst, an
Vietnam nie von den Politikern«, sagt der nach Bündnispartnern, um Chinas strate- strategischer Voraussicht fehlen lassen.
in Hanoi lebende Regimekritiker Nguyen gisches Übergewicht in Südostasien aus- Keines der Länder am Mekong ist ein
Chi Tuyen, 42. »Hier ist es immer das Volk, zugleichen. Rechtsstaat oder eine Demokratie nach
das die Regierung vor sich hertreibt.« westlichem Begriff: weder die Einpartei-
Was er an China fürchte, sei nicht nur Myanmar: Wo sich andere en-Diktaturen in Laos und Vietnam noch
die wirtschaftliche Übermacht und der zurückziehen, tritt Peking auf die militärisch dominierten Regime in
imperiale Anspruch. »Viel größer ist un- den Plan Thailand und Myanmar, noch das zuneh-
sere Angst vor Chinas autoritärem Mo- Einer der erfolgreichsten chinesischen Fil- mend autoritäre Kambodscha unter der
dell, dem technisch hochgerüsteten Über- me aller Zeiten ist ein Thriller namens Führung des Autokraten Hun Sen.
wachungsstaat«, sagt Tuyen. Dieses Mo- »Operation Mekong«. Er beruht auf einer Aber in allen diesen Ländern gibt es
dell sei attraktiv für die Führung von wahren Gegebenheit: 2011 hatten Fluss- Menschen, die sich vor einer Weltordnung
Vietnams Staatspartei. »Noch ist unsere piraten am Mekong zwei chinesische fürchten, in der China dominiert.
Regierung weit davon entfernt, ihre Bür- Frachtschiffe überfallen und alle 13 Besat- Bernhard Zand
ger so lückenlos überwachen zu können zungsmitglieder getötet. Als Drahtzieher
wie die in Peking. Aber auch ich muss wurde ein aus Myanmar stammender Dro-
mir inzwischen gut überlegen, mit wem genboss ermittelt, nach China ausgeliefert Video
Fluss der Macht
ich mich treffe.« und dort hingerichtet. Seither patrouilliert
Wie weit die ideologische Nähe der neben Thailändern, Laoten und Myanma- spiegel.de/sp412018mekong
beiden Staatsparteien trägt, ist schwer ren auch die chinesische Polizei am Unter- oder in der App DER SPIEGEL
abzuschätzen. Chinas Einflussmöglichkei- lauf des Mekong. Und obwohl vier der An-

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Sport
Es ist das tragische Ende eines spektakulären Lebens voller Widersprüche. ‣ S. 103

Amtierende Weltmeisterinnen
in gemischten Wettbewerben Isabell Werth Rosalind Canter Simone Blum
Deutschland Großbritannien Deutschland
Dressurreiten Vielseitigkeitsreiten Springreiten
Ana Carrasco
Spanien
Motorradrennen

MIRCO L A ZZARI / GET T Y IMAGES; ERIK S. LESSER / SHUT TERSTO CK (2); STEFAN L AFRENTZ / IMAGO

Weltmeisterin in einer Männerdomäne wurde am vergangenen Isabell Werth (Dressur) sowie die Britin Rosalind Canter (Viel-
Sonntag die Spanierin Ana Carrasco. Sie gewann als erste Frau seitigkeit) sind amtierende Weltmeisterinnen in offenen Wettbe-
eine Motorrad-WM, in der Klasse Supersport 300. Motorsport ist werben. Im Schießen gab es früher gemeinsame internationale
eine der wenigen Sportarten, in denen Frauen gegen Männer Wettbewerbe – bis die Chinesin Zhang Shan bei Olympia 1992
antreten. Auch die Deutschen Simone Blum (Springreiten) und Gold im Skeet gewann. Danach wurden die Geschlechter getrennt.

Magische Momente Wechselzone hat mir ein Helfer das


Rad bei der Übergabe so schnell aus
»Ich werde den Enkeln davon erzählen« den Händen gezogen, dass ich auf
dem nassen Asphalt weggerutscht und
Ironman-Weltmeister Jan Frodeno, 37, über das Rennen seines Lebens mit der linken Hüfte auf den Boden
geknallt bin.
SPIEGEL: Sie sind im Sep- den – ein neuer Weltrekord bei einem SPIEGEL: Schon vergangenes Jahr quälten
tember in Südafrika zum Ironman über die Halbdistanz. Sie sich auf Hawaii mit üblen Rücken-
zweiten Mal Triathlon- Frodeno: Die Zeit ist mir wurscht. Wichti- schmerzen ins Ziel. Macht das Ihre aktuel-
Weltmeister über die Iron- ger war meine Tagesform und auf den fina- le Verletzung umso bitterer?
man-Halbdistanz gewor- len Kilometern die Nerven zu bewahren. Frodeno: Anfangs war ich am Boden zer-
den. Sie sprachen vom Ren- SPIEGEL: Beim Ironman auf Hawaii Mitte stört. Aber ich habe gelernt, in Enttäu-
nen Ihres Lebens. Warum? Oktober können Sie nicht starten. Eine schungen das Gute zu sehen.
Frodeno: Ich habe gegen meine ärgsten Stressfraktur im Hüftgelenk zwingt Sie SPIEGEL: Was ist das Gute daran, verletzt
FELIX RÜDIGER

Konkurrenten Alistair Brownlee zum Zuschauen. Wie kam das? zu sein?


und Javier Gomez im richtigen Moment Frodeno: Auslöser war wohl ein Sturz Frodeno: So kann ich mich nächstes Jahr
meine Bestleistung abrufen können. bei der WM in Südafrika. In der zweiten noch einmal mit den weltbesten Triathle-
Das gelingt mir fast nie, irgendetwas ten messen. Hätte ich nach
habe ich immer zu nörgeln. Von die- dieser grandiosen Saison
sem Rennen werde ich noch meinen noch Hawaii gewonnen,
Enkeln erzählen. hätte ich vielleicht mit dem
SPIEGEL: Zu welchem Zeitpunkt wussten Sport aufgehört.
Sie, jetzt kann mir keiner mehr den Sieg SPIEGEL: Weil Sie der
nehmen? Erfolg endgültig satt ge-
Frodeno: Erst wenige Hundert Meter macht hätte?
vor dem Zieleinlauf rief mir irgendwer Frodeno: Eher weil es der
vom Streckenrand zu, ich hätte eine perfekte Zeitpunkt gewesen
Minute Vorsprung auf Brownlee. Da ist wäre, um am Höhepunkt
FELIX RÜDIGER

eine schwere Last von meinen Schultern meiner Laufbahn abzutre-


gefallen. ten. Diesen Moment zu
SPIEGEL: Für die 21,1 Kilometer lange erwischen ist ja das Schwie-
Laufstrecke benötigten Sie 1:06,33 Stun- Frodeno bei WM in Südafrika rigste. MAF

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 99


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Sport

Die Putzkolonne
Fußball Einem Heer von Anwälten gelang es, die Amerikanerin Kathryn Mayorga zum Schweigen
zu bringen. Sie hatte behauptet, Ronaldo habe sie vergewaltigt. Nach einem SPIEGEL-Bericht
hat die Polizei die Ermittlungen wieder aufgenommen. Offenbar sind Beweismittel verschwunden.

NURPHOTO / ZUMA PRESS / ACTION PRESS

Profi Ronaldo im September: »Auf di e brutal e Tour«

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S
ie nennen ihn: »the kid«. Und Nun hat Mayorga sich dazu entschlos- Ronaldos Vertreter vereinbaren zuvor,
Cristiano Ronaldo, das Kind, hat sen, ihr Schweigen zu brechen. Ihr Anwalt nicht von einer möglichen Vergewaltigung,
ein Problem, nach einem Urlaub Leslie Mark Stovall hat vorvergangenen sondern von einer angeblichen sexuellen
in Las Vegas, in einer Suite des Donnerstag in Nevada Klage eingereicht. Belästigung zu sprechen.
Luxushotels Palms Place. Er greift das Settlement an. Er ist der Mei- Die außergerichtliche Einigung soll so
Es ist der Sommer 2009. Ronaldos An- nung, dass es nur dem Zweck gedient habe, gestaltet sein, dass Mayorga eine hohe
walt Carlos Osório de Castro tauscht sich seine Mandantin seinerzeit mundtot zu finanzielle Rückzahlung droht, sollte sie
per Mail mit einem Kollegen aus: Er habe machen. die Schweigeklausel brechen, durch eine
eine »Unterredung« mit dem »kid« gehabt. Stovall greift auch die Anwälte an, die Indiskretion, durch ein Interview mit Jour-
Wegen der Partynacht in Las Vegas. die Vereinbarung in Ronaldos Auftrag aus- nalisten.
Der Fall ist ernst. Eine Amerikanerin, gehandelt und ausgearbeitet haben. Die Anwalt Jay Lavely von Lavely & Singer
Kathryn Mayorga, behauptet, Ronaldo Juristen, glaubt Stovall, hätten von Anfang beruhigt seine Auftraggeber. Er ist ein er-
habe sie am 13. Juni in seiner Suite verge- an die Strategie verfolgt, Ermittlungen fahrener Jurist, cool, präzise. In all den
waltigt. Osório de Castro hat nach dem durch die Polizei und eine eventuelle An- Jahren, schreibt er in einer Mail, sei nie-
Gespräch mit seinem Klienten, dem Welt- klage zu verhindern. Stovall spricht von mals etwas über den Inhalt der Settle-
fußballer, dem seinerzeit teuersten Kicker einer gezielten »Verschwörung« und argu- ments, die er ausgehandelt habe, an die
des Planeten, wohl eine Ahnung, was in mentiert: »Ein Verbrechen zu verbergen Öffentlichkeit gedrungen.
dem Hotelzimmer passiert sein könnte. ist auch ein Verbrechen.« Das Team Ronaldo will alles über
Er macht sich an die Arbeit. Die Details des Falls Mayorga vs. Ro- Mayorga wissen. Man lässt die junge Frau,
Denn das, was da im Raum steht, muss naldo klingen wie ein Plot zu einer Gri- damals 25 Jahre alt, beschatten. Ein priva-
verschwinden. Schnell. Geräuschlos. Für sham-Verfilmung. Der Klient. Die Firma. ter Ermittler notiert, wann sie das Haus
immer. Das Komplott. Es gibt von allem etwas: verlässt, wen sie trifft, wo sie essen geht,
Der Jurist aus Porto, der Ronaldo schon knallharte Anwälte, schmierige Ermittler, wie viele Gläser Rotwein sie zum Dinner
oft zur Seite stand, stellt eine Truppe zu- gnadenloses Kalkül. Und ein mutmaß- trinkt. Er findet die Nummer ihrer Heirats-
sammen, die dafür sorgen soll, dass nichts liches Opfer, das nicht viel mehr ist als ein urkunde heraus, dass sie die Demokraten
über die Vorgänge in Las Vegas bekannt Spielball für die Juristen. wählt und einige Male wegen Falschpar-
wird. Eine Putzkolonne, die gründlich sau- Während sich Mayorga im Juli 2009 kens Strafen zahlen musste.
ber macht. von einer Anwältin vertreten lässt, die Der Privatdetektiv, ein ehemaliger Las-
Zur Mannschaft gehören: ein Privat- eher eine Expertin für Schadensersatz Vegas-Cop, versucht auch, bei der Polizei
detektiv mit guten Kontakten zum Las nach Autounfällen ist, operiert Ronaldos zu recherchieren. Er will sich mit einem
Vegas Metropolitan Police Department, Team wie ein internationaler Krisenstab. Detektiv des Las Vegas Metropolitan Police
zwei weitere Anwälte aus Portugal, die Department (LVMPD) treffen, um Nähe-
Londoner Großkanzlei Schillings. Sie ist res über den Fall zu erfahren. In einem
bekannt für Krisenmanagement (Werbe- Ein Schnüffler vermisst Gespräch mit einem der Anwälte Ronal-
motto: »Wenn eine Attacke kommt, bist das Hotelzimmer, dos lässt er durchblicken, dass das LVMPD
du bereit zurückzuschlagen«). nichts dagegen hätte, wenn sich die Causa
Zum Team gehört: die Kanzlei Lavely den Jacuzzi und prüft durch ein Settlement aus der Welt schaffen
& Singer aus Los Angeles. Sie ist speziali- die Akustik. ließe. Angeblich würde es dann keine wei-
siert auf Klienten aus dem Celebrity-Be- teren Ermittlungen geben.
reich, Stars wie Cameron Diaz oder Jen- Die Anwälte befassen sich zudem mit
nifer Aniston. Also Leute, die in der Lage Mit Dokumenten, die Onlineaktivisten dem US-Strafrecht und der Frage, ob in
sind, Probleme mit Geld zu lösen. von Football Leaks dem SPIEGEL zur Ver- solchen Fällen Beschuldigte aus Europa in
Zum Team gehört außerdem: der An- fügung gestellt haben, lässt sich das Vor- die USA ausgeliefert werden können.
walt Richard Wright aus Las Vegas, Ho- gehen rekonstruieren. Im September hat Ronaldos Stab einen
norar pro Stunde: 475 Dollar. Zu einem Demnach schicken Ronaldos US-An- umfangreichen Fragebogen ausgearbeitet.
späteren Zeitpunkt kommen noch dazu: wälte einen Ermittler ins Palms Place. Er Sie wollen Ronaldos Sicht auf die Gescheh-
ein medizinischer Gutachter, eine Foren- inspiziert jene Suite, in der Ronaldo wäh- nisse in der Nacht in Las Vegas erfahren.
sikerin. rend seines Urlaubs in Las Vegas gewohnt Jedes Detail ist wichtig.
Alle gegen Kathryn Mayorga aus Las hat. Der Schnüffler vermisst die Räume, Es entsteht ein Schriftstück, das mög-
Vegas, die ihren Lebensunterhalt mit Mo- den Jacuzzi und prüft die Akustik. licherweise zu einem Schlüsseldokument
deln und Promotionjobs verdiente, die im Die Anwälte beraten über einen Deck- in dem ganzen Fall werden könnte.
Juni 2009 zum falschen Zeitpunkt am fal- namen für Ronaldo. Sie einigen sich auf: Eine Frage, die Ronaldo beantworten
schen Ort war. Topher. soll, lautet: »Beschreibe im Detail, was pas-
Der SPIEGEL hat vorige Woche über den Die Juristen tauschen sich darüber sierte, beginnend mit dem ersten körper-
Fall Mayorga berichtet. Es ist die Geschich- aus, warum die Polizei den Fall noch nicht lichen Kontakt, den du mit Ms. C im an-
te einer Frau, die lange geschwiegen hat, als »criminal case« zur Staatsanwaltschaft deren Raum hattest, und beschreibe den
weil sie schweigen musste. Weil sie vor weitergeleitet hat. Ein Anwalt weist da- Ablauf der Ereignisse.«
neun Jahren eine Vereinbarung unterschrie- rauf hin, dass Kathryn Mayorga sich nur Einer aus Ronaldos Team notiert als
ben hatte, die von Ronaldos Vertretern und wenige Stunden nach dem Vorfall im Antwort:
ihrer Anwältin ausgearbeitet worden war. Palms Place bei der Polizei gemeldet habe; »Ich habe sie von der Seite gefickt. Sie
In der außergerichtlichen Einigung, ei- das spreche seiner Meinung nach für sie, hat sich bereitgestellt. Sie lag auf der Seite,
nem sogenannten Settlement, verpflichte- erhöhe ihre Glaubwürdigkeit und die im Bett, und ich kam von hinten in sie rein.
te sich Mayorga, nie öffentlich über das zu Wahrscheinlichkeit, dass die Beamten die Auf die brutale Tour. Wir haben die Posi-
sprechen, was sich am 13. Juni 2009 im Sache vielleicht noch nicht zu den Akten tion nicht verändert. 5/7 Minuten. Sie hat
Palms Place zugetragen hat. Im Gegenzug gelegt haben. gesagt, dass sie nicht will, aber sich bereit-
für ihre Unterschrift unter das Dokument Im August 2009 wird mit Mayorgas gestellt. Es war die ganze Zeit auf die bru-
bekam sie 375 000 Dollar. Anwältin über das Settlement verhandelt. tale Tour, ich habe sie auf die Seite gelegt,

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Sport

und es ging mit schnellem Tempo. Viel- Anwalt von Kathryn Mayorga, Leslie der Fußballer ein Bild von sich. Die
leicht hat sie blaue Flecken bekommen, als Mark Stovall, ist der Meinung, die An- Aufnahme zeigt ihn in Siegerpose, schräg
ich sie gepackt habe … Sie hat mir einen wälte Ronaldos seien seinerzeit zu weit von hinten, bekleidet nur mit einer Un-
heruntergeholt … Aber sie hat immer wei- gegangen. terhose.
ter ›Nein‹ gesagt. ›Mach das nicht.‹ ›Ich Nach Ansicht von Stovall sind Settle- Nach der Berichterstattung des SPIE-
bin nicht so wie die anderen.‹ Hinterher ments, Hinterzimmerverträge mit Schwei- GEL vorige Woche machte der Fall Mayor-
habe ich mich entschuldigt.« geklauseln, nur in wenigen Fällen vertret- ga vs. Ronaldo wieder weltweit Schlag-
Frage: »Hat Ms. C irgendwann ihre bar. »Ich finde sie angemessen, wenn es zeilen. Ronaldo, mittlerweile Stürmer bei
Stimme erhoben, geschrien oder gerufen?« um Patentrecht geht, nehmen wir die For- Juventus Turin, sprach via Instagram von
Antwort: »Sie hat mehrfach Nein und mel für Coca-Cola oder irgendeine Soft- »Fake News« und meinte, da wolle nur je-
Stopp gesagt.« ware für eine bestimmte App«, sagt Sto- mand auf seine Kosten berühmt werden.
Aus Football-Leaks-Unterlagen geht vall. »Aber ich stelle fest, dass diese Klau- Auf Twitter wies er am Mittwoch erneut
hervor, dass es bei dieser Version nicht seln in den vergangenen Jahren immer alle Anschuldigungen entschieden zurück:
blieb. Im Dezember entsteht ein weiteres häufiger genutzt werden, um schlechtes »Vergewaltigung ist ein abscheuliches Ver-
Dokument mit anderen Antworten. Auf Verhalten von Prominenten vor der Öf- brechen, das gegen alles verstößt, was ich
die Frage nach den Ereignissen in dem fentlichkeit zu verbergen.« bin und an das ich glaube.«
Schlafzimmer heißt es diesmal: »Sie lag Auch nach Unterzeichnung des Settle- Was geschah am 13. Juni 2009 in der
auf dem Bett, und ich kam von hinten in ments versuchte Osório de Castro, einen Suite im Palms Place? Die Wahrheit ken-
sie rein. Wir haben die Positionen nicht Kostennachlass herauszuhandeln. Die Ju- nen nur Cristiano Ronaldo und Kathryn
verändert. Es dauerte 5/7 Minuten. Sie hat risten von Lavely & Singer reagierten wie Mayorga.
nicht geschrien. Sie hat nicht um Hilfe ge- immer sachlich. Man habe Topher ein Nun ist die Geschichte Mayorgas dort
rufen oder Ähnliches.« großartiges Settlement ausgehandelt, gelandet, wo sie von Anfang an hingehört
Anwälte, die A-Promis vertre- hätte: vor einem ordentlichen Ge-
ten, sind gründlich, und sie sind teu- richt. Dabei geht es um die außer-
er. Das dämmert im Oktober 2009 gerichtliche Einigung. Darüber hi-
auch Osório de Castro angesichts naus müsste ein Staatsanwalt ent-
der hohen Rechnungen. scheiden, ob er ein Strafverfahren
Im Januar 2010 meldet sich gegen Ronaldo einleitet. Mayorga
eine Anwältin von Lavely & Singer wurde in den vergangenen Wochen
bei Ronaldos Abwehrchef Osório mehrfach von der Polizei einver-
de Castro. Die Juristin will eine nommen. Ihre letzte Aussage wur-
Forensikerin engagieren. Das Stun- de aufgezeichnet.
denhonorar der Expertin würde Bei einem der Termine habe sie
350 Euro betragen. Die Medizi- laut Anwalt Stovall erfahren, dass
MARIA FECK / DER SPIEGEL
nerin soll die »medical records« die Aufzeichnung ihrer Aussage bei
Mayorgas beurteilen, den Unter- der Polizei, die sie 2009 gemacht
suchungsbericht, in dem die Verlet- habe, nicht mehr existiert. Auch
zungen des mutmaßlichen Opfers das Kleid und die Unterwäsche, die
festgehalten wurden. Es wird auch Mayorga in der Nacht im Palms
ein medizinischer Gutachter enga- Place trug und die sie, wie sie an-
giert. Für 2500 Dollar. Klägerin Mayorga: Das Kleid soll verschwunden sein gibt, der Polizei seinerzeit als Be-
Im März meckert Osório de Cas- weismittel überlassen hatte, sollen
tro abermals in einer Mail, Ronal- nicht mehr da sein. Auf eine Anfra-
do, der »Klient«, sei der Meinung, die schrieben sie in einer Mail. Der Klient ge des SPIEGEL dazu wollte die Polizei
»Honorare« seien »exzessiv«. habe sich in einer schwierigen Lage befun- keine Stellungnahme abgeben.
Mittlerweile haben die US-Anwälte ihre den. Ihm habe die Auslieferung in die USA Ihr Anwalt Stovall kritisiert zudem, dass
Eingabe beim Mediator eingereicht, der gedroht, eine Gefängnisstrafe, in jedem die Polizei keine erkennbaren Ermittlungs-
zwischen den Parteien, zwischen Mayorga Falle eine enorme Rufschädigung, wenn schritte mehr unternommen hat, nachdem
und Ronaldo, alias Topher, vermitteln soll. der Fall Mayorga öffentlich geworden Mayorga ihr schon 2009 den Namen des
In dem Text taucht die Aussage eines wäre. Die ausstehenden Rechnungen seien potenziellen Täters genannt habe – Letz-
»medical expert« auf, der angibt, die Ver- schnellstmöglich zu begleichen. teres bestreitet das LVMPD.
letzungen Mayorgas im Genitalbereich Mit freundlichen Grüßen. Stovall hat dem LVMPD einen Brief ge-
könnten durch »unterschiedliche Gegen- Als der SPIEGEL vor anderthalb Jahren schrieben. Er fragt, ob es in der Behörde
stände« verursacht worden sein. Sie müss- erstmals über den Fall Mayorga berichtete, eigentlich Bedenken gebe hinsichtlich der
ten nicht zwingend durch eine »Penetra- damals ohne den Namen des mutmaß- Seriosität bei den bisherigen Ermittlungen.
tion« mit »einem Penis« entstanden sein. lichen Opfers zu nennen, bekam die Re- Und wenn ja, was man dagegen unterneh-
Gleich danach findet sich in dem Papier daktion Post von zwei Kanzleien, die auf men werde.
die Aussage eines weiteren Experten, eines Medienrecht spezialisiert sind. Die Veröf- Am vergangenen Montag, drei Tage
Detektivs a. D., der angeblich auf Sexual- fentlichungen sollten verhindert werden. nach der SPIEGEL-Veröffentlichung, gab
delikte spezialisiert war. Der Ruheständler Das Management schickte auch einen die Polizei bekannt, dass sie ihre Ermitt-
gibt an, dass er der Ansicht sei, dass sich Unterhändler nach Hamburg, der Näheres lungen im Fall Ronaldo wieder aufgenom-
Mayorga ihre Verletzungen selbst zugefügt über die Berichterstattung erfahren wollte, men habe.
haben könnte. Das würde erklären, warum was ihm nicht gelang. Der Mann arbeitet Rafael Buschmann, Andreas Meyhoff,
sie nach der angeblichen Tat etliche Stunden inzwischen nicht mehr für das Ronaldo- Nicola Naber, Gerhard Pfeil,
brauchte, um sich bei der Polizei zu melden. Management. Antje Windmann, Christoph Winterbach,
Jeder Beschuldigte hat das Recht auf die Ronaldo selbst äußerte sich damals Michael Wulzinger
bestmögliche Verteidigung. Der heutige nicht zu den Berichten. Stattdessen postete

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nfang Juli saß Graciano Rocchigiani am Tresen der Rocchigiani kämpfte immer gegen den Anschein, er sei

A »Ritze«, jener legendären Kneipe auf der Hamburger


Reeperbahn, in deren Keller ein Boxring steht, in
dem die Profilaufbahn der Klitschko-Brüder begann.
Und wo sich ein ehemaliger Boxer und Zuhälter an der Decke
am Rande der Gesellschaft zu Hause, und er formulierte ei-
genwillige Ansprüche ans irdische Leben: »Wat braucht der
Mensch außer Glotze gucken? ’n bisschen bumsen, ’n biss-
chen Anerkennung.«
erhängte. Dort also, wo Stars gemacht wurden und Kiezgrö- Aber er litt auch, weil er seine Laufbahn von Beschiss und
ßen untergingen. Betrug gepflastert sah. War der West-Berliner nicht etwa im
Rocchigiani sah auf die Fotos an den Wänden, viele der Zuge der deutschen Vereinigung unter die Räder gekommen?
Boxer auf den Bildern waren irgendwann abgestürzt, dem Mit Henry Maske aus Frankfurt (Oder) wechselte das deutsche
Alkohol verfallen. Rocchigiani zählte sich nicht zu den Ver- Berufsboxen vom Bier zum Schampus; was früher von Ach-
lierern, er hatte sich selbst aus dem Schlamassel gezogen, so selschweiß umflort war, verzauberte der Salonlöwe von RTL
sah er das. Er trug ein Muskelshirt. Seinen Oberarmen sah in den Duft des Haarpflegemittels, für das er Reklame lief.
man die 54 Jahre nicht an. »Ich Im Mai 1995 forderte Rocky
habe ein bisschen Sparring ge- den schönen Henry zum ersten
macht. Zum ersten Mal seit langer Nachruf Mal, und bei dieser Gelegenheit
Zeit. Ist schon was anderes, als hat er den Weltmeister dermaßen
immer nur rumzusitzen«, sagte gefoltert, dass dem um ein Haar
er. »Aber nur so zum Spaß. Für
ein Musikvideo.«
Graciano die Beine weggeknickt wären.
Sieger nach Punkten: Maske.
»Rocky«, wie ihn viele nannten, Rockys Vater saß direkt am Ring.
wollte essen. Pizza, was sonst?
Rocchigiani blieb der »Sohn eines
Rocchigiani Zanubio Rocchigiani, der Eisen-
bieger, sagte: »Wenn der Kampf
sardischen Eisenbiegers«, wie über 15 Runden geht, ist Maske
es in vielen Artikeln heißt, die 1963 bis 2018 im Koma.« Mindestens. »Oder
über ihn geschrieben wurden. vielleicht tot.«
Einmal hatte er im Fernsehstu- Oder Dariusz Michalczewski.
dio bei Markus Lanz gesessen. Der »Tiger« hing 1996 am Ham-
Schräg gegenüber Alice Schwar- burger Millerntor ausgepumpt
zer. »Was ist das denn, ein Eisen- am Gegner, Rocky hatte sich in
bieger?«, fragte die Frauenrecht- ihn verkeilt, der Ringrichter ging
lerin. Rocchigiani schaute sie an: dazwischen. Rocchigiani haute
»’n Eisenbieger is eener, der Ei- noch einmal zu, Michalczewski
sen biegt.« torkelte wie auf Kommando
»Rocky, willst du ein Bier?«, durch den Ring und fiel hin.
fragte die Bedienung in der Ritze. Sieger durch Disqualifikation:
Die Antwort: »Nee, nur Wasser. Michalczewski. Graciano Rocchi-
Ich trinke nicht mehr«, sagte er giani soll das Trennkommando
mit einem Grinsen, weil sich das ignoriert und unrechtmäßig nach-
wohl auch für ihn ein bisschen ko- geschlagen haben.
misch anhörte. »Also, kaum noch. 1998 schien sich das Glück vo-
Vielleicht mal ein Glas Wein mit rübergehend auf Rocchigianis
meiner Frau.« Seite zu schlagen: Gegen Michael
Er erzählte, dass er inzwischen Nunn sicherte er sich den vakan-
pendle zwischen Berlin und Sizi- ten Weltmeistertitel im Halb-
lien, wo er eine neue Familie ge- schwergewicht. Doch kurz darauf
gründet hatte: eine Freundin, hieß es, Titelträger Roy Jones Jr.
IMAGO / CONTRAST

zwei kleine Kinder. Kaum jemand habe den Gürtel gar nicht nieder-
wusste davon. Er wollte sie schüt- gelegt. Der WBC nahm ihm den
zen, sie aus der Öffentlichkeit Titel wieder weg. Erneut fühlte
heraushalten. sich Rocchigiani betrogen, dies-
Rocchigiani starb am vergange- mal zu Recht. Ein Gericht sprach
nen Montagabend. Es ist das tra- ihm 31 Millionen Dollar Scha-
gische Ende eines spektakulären Lebens voller Widersprüche, densersatz zu. Der WBC versuchte, die Zahlung zu umgehen,
voller großer Siege und bitterer Niederlagen. Rocchigiani dem Verband drohe dadurch die Insolvenz. Am Ende einigten
war Weltmeister und Straftäter, Millionär und Hartz-IV-Emp- sich beide Seiten immerhin auf eine Vergleichszahlung von
fänger, Großmaul und guter Freund in einer Branche, in der 4,5 Millionen Dollar.
es kaum Freundschaften gibt. Doch die Millionen zerrannen, Graciano Rocchigiani
Seinen ersten Weltmeisterschaftsgürtel legte er nach drei brauchte neue Pläne: ein Lokal am Ballermann, ein Boxgym
Titelverteidigungen freiwillig nieder, angeblich lag es am in Duisburg – beides ging schief. Er ließ sich in eine Entzugs-
Übergewicht. Der Erfolg hatte ihn überfordert. Alkohol, klinik einweisen und lebte zwischenzeitlich von Hartz IV,
Partys und Sex verdrängten erst Trainingseinheiten, dann irgendwo in Brandenburg. Bis das Fernsehen ihn wieder für
Titelkämpfe. 1990 landete er zum ersten Mal im Knast. Ver- sich entdeckte.
suchter Menschenhandel, Zuhälterei – eine Prostituierte Wenige Wochen nach dem Besuch in der Ritze wurde
hatte ihn angezeigt. Es folgten weitere Gefängnisaufenthalte, Rocchigiani auf einer vierspurigen Straße auf Sizilien von
wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Fahren einem Smart erfasst. Er war sofort tot. Er soll betrunken
ohne Führerschein. gewesen sein. Lenne Kafka, Malte Müller-Michaelis

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Wissenschaft+Technik Wurde Ilse Jacobi ermordet? ‣ S. 112

ENRIQUE CASTRO / AFP


Von manchen Ureinwohnern Mexikos wird der »Achoque« als Gottheit verehrt. Das liegt wohl auch daran,
dass es nur noch so wenige dieser Amphibien gibt. Heimisch ist Dumerils Querzahnmolch in dem
See nahe der Basílica de Nuestra Señora de la Salud in der mexikanischen Stadt Pátzcuaro; die Umwelt-
verschmutzung setzt ihm zu. Die Dominikanerschwestern züchten die Molche und bewahren sie so
vor dem Aussterben. Trostlos ist Lurchis Ende dennoch: Die Salamander werden zu Hustensaft verarbeitet.

Literaturgeschichte ment der Literatur« attestiert Sangmeister Fußnote


»Verzopfte Germanisten« eine Durchbrechung der Standesgrenzen:

G Mit der Aufklärung werden in der Regel


Autoren des philosophisch-literarischen
Hochadels wie Denis Diderot oder Vol-
taire in Verbindung gebracht. Der Germa-
»Angejahrte Gutsbesitzer und blutjunge
Bauernmädchen, spröde Gouvernanten
und zupackende Jäger, virile Büchsen-
spanner und ätherische Gräfinnen« hätten
sich in jenen Werken ohne Dünkel vereint.
1518
Cyberattacken verzeichnete das
nist Dirk Sangmeister hat nun gemeinsam Überdies glaubt Sangmeister, dass ein Gut- südkoreanische Ministerium
mit seinem Kollegen Martin Mulsow (bei- teil der pornografischen Literatur damals für Wiedervereinigung in den
de Universität Erfurt) ein Buch heraus- von oft anonymen deutschen Autoren ver- vergangenen gut vier Jahren. Der
gegeben, das mit einer ganz anderen Sicht- fasst worden sei – und nicht von Franzo- augenscheinlichen Annäherung an
weise überrascht: Demnach seien die wah- sen, wie »verzopfte Germanisten« (Sang- Nordkorea in den letzten Monaten
ren Werte der Aufklärung durch erotische meister) zuvor behauptet hätten. THA zum Trotz erreichten die gezielten
Werke wie etwa dem um 1790 erschiene- Angriffe auf das Rechnernetz des
nen Roman »Lina’s aufrichtige Bekenntnis- Dirk Sangmeister, Martin Mulsow (Hg.): »Deutsche
Ministeriums in den ersten acht
se oder die Freuden der Wollust« unters Pornographie in der Aufklärung«. Wallstein; 753 Sei- Monaten dieses Jahres mit 435
Volk gebracht worden. Nur »diesem Seg- ten; 39,90 Euro. einen Höchstwert.

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Medizin Tumor kontrolliert werden. Das ist weit Checkpoint-Inhibitoren in Zukunft mit
mehr, als frühere Therapien in diesen anderen Medikamenten kombiniert wer-
»Mehr Patienten bei Fällen vermochten. den, könnten auch die Nebenwirkungen
SPIEGEL: Und was ist mit häufigen Krebs- noch einmal häufiger und gefährlicher
mehr Krebsarten noch arten wie Brustkrebs, Darmkrebs oder werden.
besser helfen« Prostatakrebs? SPIEGEL: Was genau macht das Immun-
Halama: Da versucht man, Kombinatio- system mit dem Tumor?
Niels Halama, 41, nen aus Checkpoint-Inhibitoren und Halama: Diese komplexe Interaktion
Oberarzt am Natio- anderen Medikamenten zu finden. Kürz- haben wir noch nicht komplett durch-
nalen Centrum für lich veröffentlichte Daten zeigen zum schaut; auch daran arbeiten viele
Tumorerkrankungen Beispiel, dass auch eine Chemotherapie Wissenschaftler und entwickeln immer
TIM WEGNER

in Heidelberg, über bestimmten Patienten mit Magenkrebs neue Ideen, wie Immuntherapien noch
Immuntherapien besser helfen könnte, wenn diese gleich- mehr Patienten bei noch mehr Krebsarten
gegen Krebs zeitig einen Checkpoint-Inhibitor ein- noch besser helfen könnten. VH
nehmen. Derzeit laufen
SPIEGEL: Der Nobelpreis für Medizin ging mehr als 2000 Patienten-
jetzt an zwei Wissenschaftler, deren studien zu Immun- Tumorzelle mit Immunzellen
Arbeit zur Entwicklung neuartiger Medi- therapien.
kamente geführt hat. Hat die Immunthera- SPIEGEL: Wie gefährlich
pie die Krebsmedizin revolutioniert? sind diese Mittel?
Halama: Ich würde nicht so weit gehen, Halama: Anders als bei
diese Therapien als Allheilmittel zu einer Chemotherapie, bei
bezeichnen. Aber bei bestimmten Krebs- der viele Patienten an uner-
arten – metastasiertem schwarzem Haut- wünschten, aber meist gut
krebs, einer bestimmten Form von Lungen- beherrschbaren Nebenwir-
krebs und mitunter Blasentumoren – kungen leiden, vertragen
haben die sogenannten Checkpoint-Inhibi- die meisten Patienten
toren die Behandlung in den vergangenen Checkpoint-Inhibitoren
Jahren doch grundlegend verändert. gut – einige wenige trifft es
SPIEGEL: Wie wirken diese Mittel? dann aber umso schlimmer.
Halama: Der Tumor zieht im Immunsys- Sie zeigen eine Auto-
tem Bremsen an, die Checkpoint-Inhibito- immunreaktion, bei der
ren wieder lösen. So kann das Immun- beispielsweise die Darm-
system die Krebszellen besser angreifen. schleimhaut oder Lungen-
Beim schwarzen Hautkrebs etwa können gewebe zerstört wird.
diese Medikamente in Kombination bei Wenn andere Maßnahmen
bis zu 60 Prozent der Patienten die Krank- nicht helfen, muss die The-

GETTY IMAGES
heit zurückdrängen, beim Lungenkrebs rapie sofort abgebrochen
kann bei etwa 20 bis 30 Prozent der für werden, damit der Patient
die Behandlung geeigneten Patienten der nicht stirbt. Und wenn

Kommentar

Auf den zweiten Blick


Vom schwierigen Umgang des Strafrechts mit psychischer Gewalt

Auf den ersten Blick ist die Sache völlig klar: Eine Frau durch- chologischen Grauzone: In den vielen Jahren der fatalen Ehe ist
stöbert das Handy ihres Mannes, findet darauf verdächtige der Mann kaum körperlich gewalttätig geworden; Zwang übte er
Botschaften einer anderen Frau und erschlägt den der Untreue vor allem über ein System der Kontrolle aus, mit dem er seine
bezichtigten Gatten daraufhin mit mehr als 20 Hammerschlägen. Frau Tag für Tag zermürbte. Solches Verhalten rechtlich zu
Für ihre brachiale Tat wurde die Britin Sally Challen 2011 zu berücksichtigen, dürfte in einem Land schwerfallen, das bis vor
lebenslänglicher Haft verurteilt. Doch jetzt wird ihr Fall vor gut 20 Jahren noch nicht einmal die Vergewaltigung in der Ehe
Gericht womöglich wieder aufgerollt. Frauenrechtlerinnen unter Strafe stellte – wie in Deutschland geschehen. Herausgefor-
sprechen bereits von einer Revolution des Strafrechts zugunsten dert wird dadurch auch eine Gesellschaft, die dazu neigt, sich auf
drangsalierter Ehefrauen. Denn im Fall Sally Challen ist kaum Täterinnen zu fixieren, wie im Fall des Horrorpaars von Höxter,
etwas so, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. das in seinem Haus mehrere Frauen bestialisch quälte: Der Täter
Über Jahrzehnte wurde sie von ihrem Mann gedemütigt und verblasste neben seiner zur Hexe stilisierten Partnerin.
erniedrigt, bis sie schließlich zum Hammer griff. Der Ermordete Eine Gesellschaft, die strafrechtlich vor allem Schläge in der Ehe
war offenbar ein derartiger Widerling, dass selbst die Söhne Ver- ahndet und die vielfältigen Formen von Psychoterror häufig
ständnis für ihre Mutter haben. Sollte demnächst ein neues Urteil ignoriert, braucht dringend den zweiten Blick. Sie muss sich für die
in dieser Strafsache ergehen, dann wird das auch hierzulande auf Tatsache öffnen, dass der Missbrauch mit Worten genauso schwer
Interesse stoßen. Denn der Fall bewegt sich in einer diffizilen psy- wiegen kann wie der Missbrauch mit Fäusten. Frank Thadeusz

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 105


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Wissenschaft

Tödliche Gier
Artenschutz China hat den Handel mit Elfenbein verboten –
gut für die Elefanten. Aber schon suchen Schmuggler
und Schieber neue Wege, das weiße Gold zu verkaufen. Gelingt
ihnen das, wird die Wilderei ungebremst weitergehen.

S
eit 55 Jahren schnitzt Herr Li Ein Hauptgrund ist die weiterhin starke
pausbäckige Mönche aus Elfen- Nachfrage nach Elfenbein in Asien, vor
bein, er schält Drachen mit schup- allem in China.
pigem Körper aus dem Material, Das Land ist berüchtigt für seinen ge-
schneeweiße Perlen und Briefbeschwerer dankenlosen Umgang mit Wildtieren, al-
mit feinsten Ornamenten. lein schon in der traditionellen chine-
Der Chinese ist ein Meister der Elfen- sischen Medizin. Obwohl illegal und
beinschnitzerei. Doch seit Anfang des Jah- wirkungslos, gelten in dieser Lehre die
res ist in seiner Welt nichts mehr, wie es absonderlichsten Tinkturen als Arznei:
einmal war. Nashornpulver gegen Rheuma und Fieber
»Wir müssen uns jetzt mit Ersatzmate- oder stärkender Tigerwein, ein Schnaps,
rial begnügen«, sagt Li Zhang erbost. Er in dem Fragmente von Tigerknochen
öffnet einen Schrank in seiner kleinen flottieren.
Werkstatt in Pekings Bezirk Haidian. Meh- Bis heute legal sind in China Medika-
rere Stoßzahnstücke liegen dort. Vom Ele- mente aus den Schuppen von Schuppen-
fanten stammen sie nicht. tieren, die routinemäßig verschrieben wer-
»Mammutelfenbein«, sagt Li abschätzig den und angeblich den Milchfluss bei Stil-
und nimmt eines der Stücke in die Hand. lenden anregen. Dabei sind sämtliche der
Damit müsse er nun vorliebnehmen, ob- acht Schuppentierarten bedroht. Schätzun-
schon das Material oft Risse habe und es gen zufolge haben Wilderer im vergange-
schwierig sei, größere Objekte daraus zu nen Jahrzehnt mehr als eine Million dieser
fertigen. »Wenn das Elfenbeinverbot fort- Geschöpfe in Asien und Afrika getötet.
besteht, wird nicht der Elefant aussterben, Eine ähnliche Krise durchlebt der Ele-
wohl aber die Tradition der Elfenbein- fant. Elfenbein galt früher in China als
schnitzerei«, so sieht es der 70-Jährige. Symbol des Adels und ist bis heute beliebt
Li ist Verlierer einer Entscheidung der als Statussymbol und Glücksbringer. Die
chinesischen Regierung, den Handel mit schnell wachsende Kaufkraft der chine-
Elefantenelfenbein zu verbieten. Auch sischen Mittelschicht und deren Lust auf
Hongkong und Taiwan haben beschlossen, Luxus haben den Markt in den vergange-
ihre Elfenbeinmärkte bald zu schließen. nen Jahren zusätzlich belebt.
Artenschützer sind erstmals vorsichtig op- Ebenso überrascht wie beglückt waren
timistisch, dass sich das Elefantensterben Artenschützer deshalb, als die chinesische
in Afrika stoppen lässt. Regierung 2016 das Verbot des Elfenbein-
»China ist seit Jahrzehnten das Zentrum handels ankündigte. Chinas Präsident Xi
des Elfenbeinhandels«, sagt Tom Milliken Jinping hatte sich mit dem damaligen US-
von der Artenschutzorganisation Traffic, Präsidenten Barack Obama geeinigt, die
die den Wildtierhandel weltweit bekämpft. jeweiligen Elfenbeinmärkte zu schließen.
»Die Schließung des Marktes war überfäl- Seither sind mindestens 172 große Werk-
lig. Sie macht Elfenbein weniger verfügbar stätten und Verkaufsstellen für Elfenbein-
und drängt die Händler in die Illegalität.« schnitzereien dichtgemacht worden. Der
Das Schwinden der Afrikanischen Ele- Elfenbeinpreis brach zwischen 2014 und
fanten bedrückt Artenschützer seit Jahren; 2017 um fast zwei Drittel ein. Wer in China
bei einer großen Wildereikonferenz diese heute mit Elfenbein im Wert von über
Woche in London wird es auch darum 200 000 Yuan (etwa 25 000 Euro) er-
gehen. Rund eine halbe Million der Dick- wischt wird, muss mit einer Gefängnis-
häuter sollen noch in 37 Ländern südlich strafe von mehr als zehn Jahren rechnen.
der Sahara leben. Das klingt nach viel, »Die chinesische Regierung nimmt das
doch ihr Niedergang schreitet rasant voran. Verbot sehr ernst«, sagt Erika Qu vom In-
Allein zwischen 2006 und 2015 soll die ternational Fund for Animal Welfare
Population um 111 000 Tiere geschrumpft (IFAW). Die Organisation hilft bei der Aus-
sein. Jeden Tag werden laut Traffic etwa bildung von Polizisten, die den Elfenbein-
50 Elefanten in Afrika getötet, um ihnen handel bekämpfen sollen. Außerdem
die Stoßzähne aus den Kiefern zu brechen. konnten die Artenschützer chinesische

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AMI VITALE

Afrikanischer Elefant: Jeden Tag werden 50 Dickhäuter getötet, um ihnen die Stoßzähne aus den Kiefern zu brechen

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des Marktes eine Frau an. In einer Motor-


rikscha geht es dann einige Kilometer
weiter zu einem Einkaufszentrum. In
einem prachtvoll eingerichteten Schmuck-
geschäft gibt es zunächst dieselbe Aus-
kunft: Der Handel mit Elefantenelfenbein

FOTOS: PHILIP BETHGE / DER SPIEGEL


sei illegal. Man lande dafür im Gefängnis.
Doch viel Überredungskunst braucht es
nicht. Es reicht aus, eine Vorliebe für »ech-
tes Elfenbein« zu bekräftigen. Schon greift
die Verkäuferin unter die Ladentheke.
Zum Vorschein kommen Teile eines Stoß-
zahns und ein großer Elfenbeinanhänger.
An Details der Maserung im Material sind
Elfenbeinschnitzer Li, Preziosen auf dem Panjiayuan-Markt: » Kaufen = töten« die Preziosen eindeutig als Elefantenzahn
zu erkennen. Etwa 375 Euro soll der An-
hänger kosten.
Promis für die Sache der Elefanten ge- »großen Katze« an, wie er sagt, zum Preis Für Wu ist das Angebot keine Überra-
winnen. von etwa 300 Euro. »Das ist Tiger«, flüs- schung. Schon auf dem Panjiayuan-Markt
In Videos und auf Plakaten verdammen tert der Wildtierexperte Wu Han*, der hatte er einige der Schmuckperlen als Ele-
die Musiker und Schauspieler das Elfen- über den Markt führt. Der strenge Raub- fantenelfenbein erkannt.
beingeschäft. »Kaufen = töten« heißt die tiergeruch der Gebeine verschlägt den Der Anreiz für die Händler sei derzeit
simple Formel, die in Pekings U-Bahn Atem. hoch, Elfenbein vom Elefanten als jenes
großflächig plakatiert ist. Dazu überall: Elfenbein. Zahllose vom Mammut auszugeben, berichtet Wu.
Allerdings verbrauche China immer Schmuckläden säumen den Markt, die Für Elefantenelfenbein zahle man derzeit
noch mehr Elfenbein als jedes andere Land Auslagen überbordend voll mit prachtvol- weniger. Deshalb seien auch bemalte
der Welt, klagt Milliken. Einer aktuellen len Schnitzereien, weiß schimmernden Schnitzereien häufig aus Elefantenzahn.
Umfrage im Auftrag von Traffic und dem Armbändern, Ohrringen, Ketten. »Die Händler färben das Elfenbein, um die
World Wildlife Fund zufolge sind 14 Pro- Ganze Stoßzähne werden angeboten, Herkunft zu vertuschen«, sagt der Experte.
zent der Chinesen »unverbesserliche kunstvoll verziert und mehrere Zehntau- Wu erklärt den Weg der Schmuggel-
Käufer«, die nicht vom Elfenbein lassen send Euro teuer. Korkenzieherartig win- ware: Über Hongkong und die Provinzen
mögen. den sie sich empor, überzogen mit einer Guangdong und Fujian im Süden Chinas
Gelingt es selbst der autoritären Staats- dunklen Rinde. gelange das Elfenbein ins Land. Die Kon-
macht nicht, den Chinesen die Gier nach Beides zeigt: Vom Elefanten stammen trollen seien schwach, die Regierung habe
dem weißen Gold auszutreiben? Ein Be- die Stoßzähne nicht. Wie schon die Kunst- nicht genug Vollzugsbeamte. Zudem hät-
such auf Pekings Panjiayuan-Markt soll gegenstände des Schnitzers Li bestehen ten die Schmuggler beste Kontakte in die
Antworten liefern. die Preziosen auf dem Panjiayuan-Markt Herkunftsländer. »Auch in Afrika ist das
Der Markt im Herzen der 22-Millionen- aus Mammutelfenbein. So erzählen es zu- Elfenbeingeschäft inzwischen fest in chi-
Stadt bietet alles, was den Chinesen lieb mindest die Händler. Eine ganze Branche nesischer Hand«, sagt Wu.
und teuer ist. An den Ständen türmen sich ist scheinbar auf das Material aus dem Per- Tom Milliken bestätigt den fatalen
Schmucksteine und Armbänder aus Bern- mafrost Sibiriens umgestiegen. Wer nach Trend. Chinesische Kartelle kauften das
stein, Jade und Opal. Schnitzereien aus Elfenbein vom Elefanten fragt, wird ab- Elfenbein vor Ort auf. Auch ein Teil der
den Schädeln von Hirschen sind zu finden, schlägig beschieden. chinesischen Schnitzindustrie sei nach
Amulette aus Bärenknochen und die Hör- Funktioniert das chinesische Elfenbein- Afrika übergesiedelt.
ner streng geschützter Saiga- und Tibet- verbot also doch? Wildtierexperte Wu ver- »Die profitabelsten Elfenbeinprodukte
Antilopen. sucht es noch einmal; er spricht am Rand wie Essstäbchen, Armreife oder Siegelstem-
Ganz offen bietet ein Händler sogar die pel werden inzwischen direkt in Afrika her-
aneinandergereihten Schwanzwirbel einer * Name geändert. gestellt«, sagt Milliken, der in Simbabwes

Elfenbein-Verkaufsangebote * Beschlagnahmtes Elfenbein Elefantenpopulation


in China in Tonnen, weltweit in Afrika

5000 60
etwa
650 000 etwa
40 540 000
3000

20
1000

Mitte 2013 Mitte 2017 1990 2014 2007 2016


*auf Verkaufsplattformen; Quellen: ETIS, IFAW, IUCN

108
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Wissenschaft

Hauptstadt Harare lebt. Der Vorteil für die


Händler: Schnitzereien sind viel leichter zu
schmuggeln als ganze Stoßzähne.
Milliken warnt die Afrikaner vor dem
Ausverkauf ihrer natürlichen Ressourcen,
einhergehend mit der Zerstörung des Na-
Mit allen
In eigens dafür angefertigter Kleidung
könnten leicht 20 bis 30 Kilogramm Elfen-
bein transportiert werden, sagt Milliken.
turerbes. »Afrika beherbergt einen Schatz,
der auf der Welt einzigartig ist und den es
nicht leichtfertig verspielen sollte: die Exis-
Kunst-
und Kultur-
»Auf bestimmten Flugrouten ist das ein tenz großer Herden von Wildtieren wie
Kinderspiel.« Elefanten in freier Natur«, sagt er.
Sobald das Elfenbein in Asien ist, haben Mit Sorge beobachtet der Artenschüt-
die Schmuggler leichtes Spiel. Die Arten- zer, wie die Wilderer in eines der letzten
schützer beobachten mit Sorge, wie sich
der Elfenbeinmarkt an die Grenzen Chi-
nas verlagert. Milliken berichtet von »Son-
großen Wildnisgebiete des Kontinents vor-
rücken. Die Kavango-Zambezi Transfron-
tier Conservation Area, ein grenzübergrei-
Highlights
der
derwirtschaftszonen« und »Kasinos« in fendes Schutzgebiet von Angola, Sambia,
manchen Grenzstädten von Vietnam, Simbabwe, Botswana und Namibia, beher-
Laos oder Myanmar, auch sie weitgehend bergt auf gut 520 000 Quadratkilometern
in chinesischer Hand. die größte Elefantenpopulation der Erde.
»Der Mobilfunk, der Strom, das Geld,
alles ist dort chinesisch«, berichtet der
Artenschützer. Den Elfenbeinhandel be-
trachte man dort als »Teil des Geschäfts
»Kriminelle Syndikate aus China finden
in Afrika fruchtbaren Boden für ihre Ope-
rationen«, sagt Milliken, »das muss ein
Ende haben.« Selbst die sinkenden Preise
Hauptstadt
mit Luxusartikeln«. Die Kunden kämen für Elfenbein ließen den Verbrechern noch
vor allem aus China, die Behörden seien eine ausreichende Gewinnmarge: »Der
machtlos. Preis, den die Wilderer erzielen, hat sich
Auch über das Internet wird Elfenbein ohnehin seit 20 Jahren kaum verändert.«
immer noch angeboten. Zwar sei es den Vor allem aber, fordern Artenschützer,
chinesischen Behörden gelungen, den müsse die Nachfrage nach Elfenbein wei-
Verkauf der Schmuggelware über E-Com- ter gebrochen werden. »Selbst wenn nur
merce-Portale wie jenes des Internetgigan- ein Prozent der Chinesen Elfenbein kauft,
ten Alibaba einzuschränken, berichtet der bedeutet das einen Markt von 14 Millio-
IFAW. An Bedeutung gewinnen jedoch nen Menschen«, warnt Erika Qu vom
Chatdienste wie das in China weitverbrei- IFAW. Für Qu liegt der Schlüssel zur Ele-
tete WeChat, das vergleichbar ist mit fantenrettung deshalb vor allem in der Auf-
WhatsApp. klärung der Verbraucher.
Die Schmuggler verabreden sich dort Denn nicht Böswilligkeit oder gedan-
mit einzelnen Kunden, übergeben die kenloses Handeln verleitet die Chinesen
Ware anschließend an kurzfristig verein- zum Elfenbeinkauf. Häufig ist es einfach
barten Treffpunkten. WeChat-Betreiber eine fatale Melange aus steigendem Ein-
Tencent teilt seine Daten zwar mit den Be- kommen, Traditionsbewusstsein und Un-
hörden. Mehr als hundert WeChat-Konten wissenheit.
würden jeden Monat wegen Verstößen ge- Auf einem der IFAW-Plakate trotten ein
gen chinesische Wildtierschutzgesetze ge- Elefantenjunges und seine Mutter friedlich
löscht, berichtet Patrick Phang vom IFAW. in den Sonnenuntergang. »Mama, ich be-
»Aber fast genauso schnell entstehen komme Zähne!«, sagt das aufgekratzte
neue WeChat-Accounts«, sagt der Arten- Tierkind im Text. Die Mutter schweigt. Jetzt im Handel erhältlich.
schützer. Auch sie würden häufig aus den »Mama, freust du dich gar nicht, dass Versandkostenfrei bestellen: shop.tagesspiegel.de
Grenzregionen Chinas heraus betrieben. ich jetzt Zähne habe?« 12,80 € | 9,80 € für Tagesspiegel-Abonnenten
Ist das Handelsverbot für das weiße »…«
Gold also nur Propaganda der chinesi- Zähnekriegen bei Elefanten, so die Bot-
Preis inkl. MwSt. Anbieter: Verlag Der Tagesspiegel GmbH, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin

schen Regierung? schaft, bringt den Tod. Das erscheint tri-


Zum Teil schon, glaubt Milliken. »Prä- vial. Doch in China ist es ein wichtiger
sident Xi war es sicher leid, als Totengrä- Hinweis.
ber der Elefanten zu gelten.« Gleichzeitig »Viele Leute hier denken immer noch,
hält der Artenschützer den Bann jedoch dass die Entnahme der Stoßzähne bei
für einen ernsthaften Versuch Chinas, das Elefanten kaum schlimmer ist als Zähne-
Sterben der Elefanten endlich zu stoppen. ziehen«, sagt Qu. »Dass die Tiere dafür
Milliken fordert, dass chinesische Straf- sterben, ist den meisten überhaupt nicht
verfolger das Problem direkt in Afrika an- klar.« Philip Bethge
packen. Denn der Einfluss Chinas auf dem Mail: philip.bethge@spiegel.de,
Kontinent wächst stetig. Gerade hat Prä- Twitter: @philipbethge
sident Xi neue Investitionen von 60 Mil-
liarden Dollar angekündigt. »Afrika will
die Entwicklung, die Straßen, die Infra- Video
Stoßzähne unter
struktur von den Chinesen«, erläutert Mil- dem Ladentisch
liken, »aber es sollte auch verlangen, dass spiegel.de/sp412018elfenbein
China seine eigenen Landsleute unter Kon- oder in der App DER SPIEGEL
trolle bringt.«

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 109


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Die beiden Kritiker verweisen auf eine gen der Form 42 + 55 = 97, allgemein ge-

Schwurbel entscheidende Schwachstelle im Gedan-


kengebäude. Die Schlussfolgerung (»Co-
rollary«) Nummer 3.12, so schreiben sie,
sprochen: a + b = c. Damit können schon
Grundschüler hantieren. Zahlentheore-
tiker sehen nur genauer hin. Sie zerlegen

aus dem All enthalte einen schweren Fehler. Und damit


sei die ganze Arbeit hinfällig: »Es gibt kei-
nen Beweis.«
zum Beispiel a und b in sogenannte Prim-
faktoren, die sich nicht weiter teilen las-
sen – für 42 wäre das 2·3·7. Und dann er-
Mathematik Seit Jahren grübeln Das sagt nicht irgendwer. Scholze, 30, kennen sie: Es gibt einen merkwürdigen
Experten über einen genialischen gilt als einer der bedeutendsten Mathema- Zusammenhang zwischen der Summe c
tiker unserer Zeit. Im August bekam er und den Primfaktoren von a und b.
Beweis der Zahlentheorie. die Fields-Medaille, eine Art Nobelpreis Mit etwas Mühe können sich auch Laien
Nun sagt der Bonner Gelehrte seines Fachs. in die Sache hineindenken, aber elektri-
Peter Scholze: alles falsch. Auf das Problem von Corollary 3.12 war siert wären sie davon eher nicht. Anders
Scholze schon kurz nach Erscheinen des die Fachwelt: Sollte die abc-Vermutung zu
Beweises gestoßen. Damals hielt er sich beweisen sein, wäre das ein folgenreicher

D er japanische Mathematiker Shini-


chi Mochizuki, 49, verkehrt auf ein-
samer Geisteshöhe; nur ein paar
Getreue können ihm dorthin folgen. Sie
noch zurück, er war gerade erst 24 Jahre
alt. Scholze dachte, die berufenen Größen
des Fachs würden die Sache schon beizei-
ten auseinandernehmen.
Durchbruch; er würde die Zahlentheorie
in viele Richtungen voranbringen.
Und nicht wenige Kollegen glaubten
offenbar, einem Mochizuki könnte das
sind überzeugt, der Meister aus Kyoto In der Tat schöpften mehrere Mathe- gelingen. Dem Mann wird eine beinahe
habe eines der größten Rätsel der Mathe- matiker an der gleichen Stelle Verdacht. übermenschliche Konzentrationsgabe nach-
matik geknackt: die berühmte abc-Ver- Aber öffentlich rührte niemand an Mochi- gesagt. Mehr als zehn Jahre lang, heißt es,
mutung. zukis Werk. Stattdessen vertieften sich im- habe er einsam über seinem Beweis gebrü-
Allerdings umfasst Mochizukis Beweis mer wieder gestandene Fachleute in den tet. Kann es sein, dass da einfach nur
mehr als 500 Seiten, geschrieben in kaum Text; womöglich waren ja wertvolle Ideen Schwurbel herausgekommen ist?
durchdringlicher Manier. Nur wenige Ex- darin verborgen. Internationale Konferen- Mochizuki will sogar einen neuartigen
perten kämpften sich bislang durch den zen wurden abgehalten, einzig zu dem Zweig der Mathematik begründet haben.
Zehn Jahre des Lernens veranschlagt er
für fortgeschrittene Studenten, bis sie über-
haupt die Höhe seiner Theorie erklimmen
könnten.
Der Bonner Mathematiker Michael Ra-
poport hält das für Unsinn: »Wer behauptet,
etwas bewiesen zu haben, hat eine Bring-
VOLKER LANNERT / UNIVERSITÄT BONN

schuld; dann muss er sich den Fachleuten


auch verständlich machen.«
Für einen Beweis, der als Vorschuss den
KYODO NEWS / IMAGO

Glauben an seinen Schöpfer erfordert, hat


Rapoport nicht viel übrig. »Mochizuki hat
es offenbar geschafft, ein paar Jünger um
sich zu scharen«, sagt er. »Die führenden
Experten in seinem Fach sind aber nicht
Wissenschaftler Scholze, Mochizuki: »Schiere Verblüffung, ja sogar Unglaube« überzeugt.« Das Interesse an dem zweifel-
haften Werk werde bald von selbst ermü-
den; aus seiner Sicht gab es schon zu viel
Verhau der Gleichungen und Symbole. Zweck, des Meisters wolkige Worte aus- Wirbel darum.
Noch weniger glaubten, den Beweis am zudeuten. Rapoports junger Kollege Peter Scholze
Ende verstanden zu haben. Ein amerika- Mochizuki lebt seit Jahren zurückge- mochte dem Treiben aber so lange nicht
nischer Zahlentheoretiker spöttelte etwas zogen in Kyoto, er reist nicht mehr ins mehr zusehen. Im vergangenen März flog
beklommen, das Werk lese sich, als käme Ausland. Umso eifriger bemühten sich sei- er zu Mochizuki nach Kyoto, in Begleitung
es aus der Zukunft. Oder aus den Tiefen ne Anhänger, interessierten Kollegen we- des Frankfurter Mathematikers Stix. Eine
des Alls. nigstens die Grundideen zu erläutern – Woche lang redeten die Kontrahenten über
2012 erschien das wunderliche Konvo- bislang ohne Erfolg. Die Fachwelt außer- den Beweis und die Fragen, die er offenlässt.
lut auf Mochizukis Website. Seither ist die halb von Mochizukis Kreisen blieb ratlos. Zu einer Einigung kam es nicht.
Fachwelt in Verlegenheit, was sie damit Für die rundum exakte Mathematik ist das Mochizuki beharrt weiterhin auf der
anfangen soll. Die Mehrheit bezweifelt, ein bedenklicher Grenzfall. Was ist ein Gültigkeit seines Werks. Unlängst stellte
dass der Japaner wirklich die abc-Vermu- Beweis wert, den niemand nachvollziehen er auch noch eine hochfahrende Wider-
tung bestätigt hat – doch konnte ihm bis- kann? rede auf seine Website. Scholze und Stix
lang niemand einen Fehler nachweisen. Ein Mathematiker fühlte sich an Monty hätten seine neuartigen Ideen einfach nicht
Jetzt aber ist das lange Schweigen zu Pythons Sketch über den besten Witz der verstanden, schreibt da der Meister. Er
Ende. Mochizukis Beweis sei in der jetzi- Welt erinnert. Der ist irgendwo niederge- habe die Einwände seiner begriffsstutzigen
gen Form nichts wert, erklärt der Bonner schrieben, aber niemand kann den Witz Besucher einigen Kollegen vorgelegt – und
Mathematiker Peter Scholze. In einem weitererzählen. Denn wer ihn liest, lacht deren Reaktion sei einhellig ausgefallen:
Aufsatz von zehn Seiten hat er, zusammen sich auf der Stelle tot. »schiere Verblüffung, ja sogar Unglaube
mit seinem Frankfurter Kollegen Jakob Dabei macht die abc-Vermutung, um (gelegentlich begleitet von Lachanfällen!)«.
Stix, das angebliche Wunderwerk sorgfäl- die es geht, einen denkbar harmlosen Ein- Manfred Dworschak
tig demontiert. druck. Sie sagt etwas aus über Gleichun-

110 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

Wissenschaft

wieder, wie eine erhöhte CO -Konzentra-


²
»Galgenfrist verlängert« tion in der Atmosphäre zu dem entspre-
chenden Temperaturanstieg führt. Das
Problem ist nur: Weitere Emissionen füh-
Klima Der Physiker Jochem Marotzke über die ren zu einer geringeren CO -Konzentra-
²
tion in der Luft als vermutet. Offenbar ver-
überraschende Entdeckung, dass die Menschheit mehr Zeit hat, bleibt ein kleinerer Teil der Treibhausgase
die globale Erwärmung zu stoppen in der Atmosphäre, weil Wälder und Ozea-
ne mehr davon schlucken als gedacht. An-
ders ausgedrückt: In den früheren Simu-
Marotzke, 58, ist Direk- noch freisetzen können, weitaus größer als lationen erzeugten die angenommenen
tor am Max-Planck-In- bisher angenommen – eine fundamentale Emissionen eine stärkere Erwärmung als
stitut für Meteorologie Erkenntnis. in der Wirklichkeit.
DAVID AUSSERHOFER

in Hamburg und einer SPIEGEL: Wir hätten also Zeit gewonnen, SPIEGEL: Wie groß ist am Ende der
der Leitautoren des letz- die CO -Emissionen zu verringern? Unterschied zwischen 1,5 oder 2 Grad?
²
ten Sachstandsberichts Marotzke: Ganz genau, darauf deuten je- Marotzke: Alle Zielmarken sind willkür-
des Weltklimarats IPCC. denfalls die verbesserten Modelle hin. Un- lich. Weder sind wir bei 1,5 Grad auf der
ser verbleibendes CO -Budget für das 1,5- sicheren Seite, noch kommt es bei 2 Grad
²
SPIEGEL: Mit dem Pariser Klimaabkom- Grad-Ziel ist wohl mindestens doppelt so plötzlich zu gefährlichen Wetterereignis-
men einigten sich die Staaten darauf, die groß wie gedacht, fast tausend Gigatonnen. sen, die nicht auch heute schon auftreten
globale Erwärmung möglichst auf 1,5 Grad Dadurch verlängert sich unsere Galgenfrist können. Was sich verändert, ist die Häu-
Celsius zu begrenzen. Kommende Woche um rund zehn Jahre. Es macht natürlich figkeit von Extremereignissen wie Dürren
legt der IPCC dazu einen Sonderbericht einen Riesenunterschied, ob wir den Aus- oder Starkregen.
vor. Ist dieses Ziel nicht unrealistisch? stoß von Treibhausgasen schon in 15 oder SPIEGEL: Warum wurde die Grenze von
Marotzke: Es wird zumindest sehr schwer, erst in 25 Jahren auf null bringen müssen. 2 Grad auf 1,5 Grad abgesenkt?
es zu erreichen. Dafür geht der Ausstoß Ich gehe davon aus, dass dies in dem Son- Marotzke: Das kam auch für uns Klima-
an Treibhausgasen viel zu langsam zurück. derbericht die zentrale Botschaft sein wird. forscher überraschend. Vor allem die west-
Und wir haben ja jetzt schon eine Erwär- SPIEGEL: Politisch ist das äußerst brisant. pazifischen Inselstaaten bestanden bei den
mung von einem Grad gegenüber dem Marotzke: In der Tat. Einige von meinen Pariser Verhandlungen auf 1,5 Grad, weil
vorindustriellen Zeitalter. Aber es wäre Kollegen machen sich deshalb schon Sor- sie schon bei 2 Grad vom Anstieg des Mee-
sicher vorstellbar, dass wir die 1,5-Grad- gen, dass dies falsch ankommt. Wenn sich resspiegels bedroht wären. In den meisten
Grenze vorübergehend überschreiten und das herumspricht, so ihre Befürchtung, Weltregionen jedoch, insbesondere in
dann beispielsweise durch das Aufforsten legen alle wieder die Hände in den Schoß. Europa, erwarten wir keine großen Unter-
von Wäldern, die der Atmosphäre CO Ich sehe aber auch das Umgekehrte: Der schiede zwischen einer 1,5-Grad-Welt und
²
entziehen, in späteren Jahren wieder für unerwartete Zeitgewinn hilft uns gegen einer 2-Grad-Welt. Es ist sicher nicht so,
eine Abkühlung sorgen. den weitverbreiteten Fatalismus, man kön- dass bei 1,5 Grad alles in Ordnung wäre
SPIEGEL: Wie viel CO dürfen wir noch ne nichts tun, weil sich der Klimawandel und bei 2 Grad alles katastrophal.
²
in die Luft pusten? ohnehin nicht mehr aufhalten lasse. SPIEGEL: Gibt es Schwellenwerte, ober-
Marotzke: Das ist eine wirklich spannende SPIEGEL: Wie ist die überraschende Bot- halb derer irreversible Prozesse beginnen?
Frage, die in der Fachwelt seit etwa einem schaft zu erklären? Marotzke: Wir können das nicht ausschlie-
Jahr für helle Aufregung und heftige Dis- Marotzke: Unsere früheren Modelle sind ßen, aber die Belege für solche Kipppunk-
kussionen sorgt. Denn nach den neuesten an einer entscheidenden Stelle zu empfind- te sind bisher eher schwach. Am ehesten
Klimaszenarien ist die CO -Menge, die wir lich. Die Simulationen geben zwar korrekt könnte eine Erwärmung von 2 Grad dazu
²
führen, dass der grönländische Eispanzer
abschmilzt, wodurch der Meeresspiegel
langfristig um sieben Meter anstiege – das
Wälder, Moore und vor allem die wäre eine höchst dramatische Verände-
Ozeane wirken der Anreicherung rung. Aber selbst wenn es dazu käme, wür-
entgegen, indem sie CO2 aus der de sich das Abtauen über 3000 Jahre hin-
Luft aufnehmen und einlagern. ziehen. Alle anderen angeblichen Kipp-
Diese natürlichen Kohlenstoff- punkte wie das Versiegen des Golfstroms
senken bunkern offenbar mehr, oder das Abschmelzen der Westantarktis
als von den Klimaforschern vor-
hergesagt: Das verschafft der sind auf absehbare Zeit unwahrscheinlich.
Staatengemeinschaft mehr Zeit, SPIEGEL: Also alles halb so schlimm?
die Emissionsziele des Pariser Marotzke: Keineswegs. Wir sollten uns
Klimaabkommens zu erreichen. aber eher gegen die extremen Wetter-
ereignisse wappnen, die wohl auf uns
zukommen werden. Unter Umständen
können schon geringe Temperaturverän-
Der CO2-Ausstoß derungen große Wirkungen verursachen.
in die Erdatmosphäre gilt als Hauptursache Hitzewellen oder Überschwemmungen,
des vom Menschen verursachten Klima-
wandels. Um den Temperaturanstieg zu die bisher nur alle hundert Jahre auftraten,
begrenzen, müssten etwa das Verfeuern kommen dann vielleicht alle fünf oder
fossiler Energieträger und Brandrodung zehn Jahre vor. Leider sind aber alle Vor-
drastisch abnehmen. hersagen dazu noch recht ungenau.
Interview: Olaf Stampf

111
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CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL


Oberarzt Buschmann: »Ich musste ein-, zweimal schlucken«

Herz aus dem Takt geriet, sendete dieses

Blackbox in der Brust münzgroße Gerät elektrische Impulse aus,


die das Organ wieder im richtigen Rhyth-
mus schlagen ließen.
Forensik Rechtsmediziner und Kardiologen werten die Herzschrittmacher Diese Schrittmacher zeichnen inzwi-
schen eine Vielzahl von Informationen auf,
Verstorbener aus. Lassen sich mit den Daten Kriminalfälle lösen? die für Kardiologen wichtig sind. Etwa wie
aktiv ein Patient noch ist oder bei welcher
Gelegenheit sein Herz ins Stolpern gerät.

D
er 23. August 2018 ist ein heißer Oberarzt Claas Buschmann im Institut für Stirbt der Herzkranke, so wird der elek-
Tag in Berlin. Ilse Jacobi*, 85 Jah- Rechtsmedizin der Charité Berlin. trische Antreiber nutzlos – das dachten
re alt und auf einen Gehstock an- Wurde die Rentnerin ermordet? Mediziner jedenfalls bisher.
gewiesen, spaziert trotzdem zum »Alte Menschen gehören zu den vulne- Doch dann saß Claas Buschmann eines
Friedhof. Es ist der Geburtstag ihres ver- rabelsten Gruppen«, sagt Buschmann. Abends mit den befreundeten Kardiologen
storbenen Sohnes. Mit einer kleinen Har- »Hatte sie vielleicht Vermögen? Oder hat Florian Blaschke und Philipp Lacour vom
ke bringt die Frau das Grab in Ordnung. sie jemanden gestört?« Campus Virchow-Klinikum der Charité
Dann muss sie zur Toilette. Es soll keine ganz gewöhnliche Obduk- Berlin beim Bier zusammen. Im Gespräch
Wenig später trifft ihre Tochter am tion werden, wenn der Rechtsmediziner entwickelten die Mediziner eine zwingen-
Friedhof ein. Sie sieht, dass das Grab des diesmal Kopf, Brust und Bauchhöhle des de Idee: Wäre es nicht denkbar, die auto-
Bruders frisch geharkt wurde, wundert Leichnams öffnet, um nach möglichen Hin- matischen Defibrillatoren in der Brust der
sich jedoch, dass die Mutter nicht mehr da weisen für ein Verbrechen zu fahnden. Toten auszuwerten wie eine Blackbox, die
ist. Kurz darauf verlässt sie den Friedhof Im Brustbereich der Toten befindet sich über das Schicksal eines abgestürzten Dü-
wieder. Sie ahnt nicht, dass die alte Dame ein Herzschrittmacher. Immer wenn das senflugzeugs Auskunft gibt?
nur wenige Schritte von ihr entfernt mit Anhand der Minigeneratoren kann der
einer blutenden Kopfverletzung vor der Todeszeitpunkt in vielen Fällen nahezu
Tür der Friedhofstoilette liegt. exakt eingegrenzt werden – für Krimina-
Ein Notarzt diagnostiziert wenig später listen häufig das entscheidende Puzzleteil
ein Schädel-Hirn-Trauma bei der Verstor- in einer Ermittlung. Anders als in Fernseh-
CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL

benen. Aufgrund dieses sogenannten su- krimis oft dargestellt bereitet den Experten
spekten Befunds und der Umstände, die genau dieser Teil der Fahndung für ge-
eine nicht natürliche Todesursache mög- wöhnlich die größten Probleme. »Nur
lich erscheinen lassen, ordnet die Staats- durch Handauflegen wie bei Boerne im
anwaltschaft Berlin eine Obduktion des ›Tatort‹ kann man den Todeszeitpunkt
Leichnams an. Deshalb landet der Körper nicht bestimmen«, spottet Buschmann.
von Ilse Jacobi auf dem Sektionstisch von Erschwert wird die Arbeit der Rechts-
Herzschrittmacher mediziner durch eine Entwicklung, die
* Name geändert. Was geschah im Augenblick des Todes? sich insbesondere in Großstädten beob-

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Wissenschaft

achten lässt: Immer häufiger geschieht es, hört alles auf. Das ist ein Fehler.« Hinzu SAMSTAG, 6. 10., 20.15–22.45 UHR | ZDF
dass Verstorbene Monate, mitunter gar kommen praktische Probleme, die das
Gottschalks große 68er-Show
Jahre in ihrer Wohnung liegen, ehe ihr Kör- Auslesen der Geräte erschweren.
per entdeckt wird. Im Zustand fortgeschrit- Im Wesentlichen teilen sich fünf Firmen
tener Verwesung bieten die Leichen den den Markt für Herzschrittmacher und
Forensikern kaum noch Anhaltspunkte da- Defibrillatoren. Die zum Auswerten der
für, was im Augenblick des Todes geschah. Implantate erforderlichen Programmier-
Oft versuchen die Experten in solchen geräte sehen aus wie klobige Laptops aus
Fällen anhand indirekter Hinweise, etwa den frühen Achtzigerjahren, wiegen et-
des Datums auf einer Fernsehzeitschrift liche Kilo und sind untereinander noch we-
oder der Stempel auf der Post im Briefkas- niger kompatibel als Geräte von Apple
ten, sich dem Zeitpunkt des Todes zumin- und Samsung.
dest grob zu nähern. Schon jetzt bekommen die modernsten
Herzschrittmacher und Defibrillatoren es

UWE ERNST / ZDF


Derweil kann selbst Fäulnis dem Titan-
gehäuse eines Schrittmachers nichts an- hin, wichtige Daten direkt auf den Com-
haben. Auch nach Verwesung oder gar puter des behandelnden Herzspezialisten
Mumifizierung des Leichnams bleiben In- zu senden: wenn bedrohliche Rhythmus-
formationen wie etwa eine verdächtige störungen auftreten oder die Batterie des Entertainer Gottschalk (r.) mit Gästen
Herztätigkeit vor dem Ableben auf dem Schrittmachers zur Neige geht. Doch wo Claudia Roth, Rowan Atkinson
Mikrocomputer gespeichert. Daten ins Netz eingespeist werden, droht
»Das ist die Zukunft der Rechtsmedi- auch der Zugriff von Hackern. Ein einziges Jahr kann die Welt ver-
zin«, glaubt Buschmann, der seine Er- Die ehemalige norwegische Justiz- ändern: Thomas Gottschalk feiert
kenntnisse mit Blaschke und Lacour in der ministerin und heutige Krimiautorin Anne das 50. Jubiläum der »wilden 68er«
renommierten kardiologischen Fachzeit- Holt breitete in einem ihrer Romane ein in einer Samstagabend-Sause. Mit
schrift »Circulation« veröffentlicht hat. In- Gruselszenario aus: Dunkle Hintermänner Musik von Donovan, Melanie,
novation käme dem Fach derzeit gut zu- verschaffen sich per Fernsteuerung Zugang Wolfgang Niedecken und anderen.
pass; zwar ist es beliebt bei Medizinstu- zu den Hightechgeräten und morden Pa-
denten und in der Öffentlichkeit, doch an- tienten einer Klinik mit einem künstlich
gesichts eines nur dürftigen Zugewinns an ausgelösten Herzstillstand. SPIEGEL TV
wissenschaftlichen Erkenntnissen hat die Ein solches Schicksal ist Ilse Jacobi er- MONTAG, 8. 10., 23.25–0.00 UHR | RTL
Zunft der Leichenbeschauer an Bedeutung spart geblieben. Auch wurde sie höchst-
verloren. wahrscheinlich nicht Opfer eines Über- Die Unbeugsamen –
So sei inzwischen ȟber die verschiede- falls. Deutschlands starke Frauen
nen Formen des Erwürgens und Erstickens Claas Buschmann entdeckt bei der Ob- In den Chefetagen sitzen auch 2018
alles gesagt«, meint Rechtsmediziner duktion Spuren eines frischen Infarkts an noch vorwiegend Männer. Wie
Buschmann. Bestimmte Formen der foren- dem betagten Herz. Ein Befund, der sich kann weiblichen Führungskräften
sischen Aufklärung von Verbrechen wie- bei der Auswertung des Schrittmachers der Aufstieg gelingen? Prominente
derum sind jüngst wegen ihrer Ungenauig- bestätigt. In der Brust der alten Frau war Frauen geben Antworten. Die
keit in Verruf geraten. Methoden wie die zwar kein hochmodernes Fabrikat implan- Sendung ist Teil der SPIEGEL-Aktion
Analyse von Bissspuren oder Blutspuren- tiert; die aufgezeichneten Herzaktivitäten #frauenland (siehe Seite 3).
mustern am Tatort gelten unter Experten bestätigen allerdings die Diagnose des
als sehr fehleranfällig. Infarkts.
Die Aussagekraft eines aufgezeichneten Es war ein Zufall: Der tödliche Herz- ARTE RE:
Elektrokardiogramms ist hingegen kaum infarkt ereilte Jacobi, als sie die Treppe DIENSTAG, 9. 10., 19.40–20.15 UHR | ARTE
anfechtbar. Die neueste Generation der zur Friedhofstoilette hinabstieg; etliche
Mikrogeräte kann Kardiologen wie Stufen muss sie gestürzt sein. Streit um den Camembert
Blaschke und Lacour bereits mit einer Rechtsmediziner sind hartgesotten. Sie Für Käseexperten ist der Rohmilch-
Fülle von Informationen versorgen: Die halten die tägliche Konfrontation mit Tod Camembert ein nationales Kulturgut.
Schrittmacher weisen auf eine drohende und Tragik aus. Doch aus pasteurisierter Milch her-
Herzinsuffizienz hin und zeigen nächtli- Doch gelegentlich gelangt unversehens gestellter Camembert verdrängt ihn.
che Atemaussetzer an. ein Anflug von Emotion durch die antrai- Nun soll die Billigkonkurrenz sogar
Einen Nachteil haben die elektroni- nierte Deckung. das Gütesiegel »Appellation d’Origine
schen Implantate aus Sicht der forensi- Nachdem Jacobis Körper in das Institut Protegé« erhalten, das bislang nur
schen Praktiker dennoch: Sie werden zu für Rechtsmedizin der Charité eingeliefert das Original tragen durfte.
therapeutischen Zwecken für die Leben- worden ist, fällt Buschmanns Blick auf
den gebaut – nicht zur Aufklärung mög- den Gehstock und die Harke der Verstor-
licher Verbrechen an den Toten. benen – und das raubt ihm für einen Au- SPIEGEL GESCHICHTE
Die Schrittmacherindustrie muss der- genblick die Fassung: »Ich musste ein-, FREITAG, 12. 10., 22.00–22.45 UHR | SKY
weil erst noch das Interesse daran ent- zweimal schlucken«, sagt er. Dann ging
decken, die Geräte so aufzurüsten, dass es wieder. Frank Thadeusz Kriminelle Karrieren im Krieg
sich daraus weitere Rückschlüsse auf die Der Kleinkriminelle William Charles
letzten Minuten im Leben eines Verstor- Hill stieg im Zweiten Weltkrieg
benen ziehen lassen. Video zum erfolgreichen Schwarzmarkt-
Was der Schrittmacher
Derzeit würden die Interessen der Ge- verrät betreiber, Schmuggler und Schutz-
richtsmedizin häufig hintanstehen, klagt spiegel.de/sp412018herz
gelderpresser auf. Nach 1945 war
Buschmann. »Bei jedem verstauchten Zeh oder in der App DER SPIEGEL Hill einer der mächtigsten Männer
wird ein MRT gemacht. Aber mit dem Tod der britischen Unterwelt.

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 113


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Kultur
»Das Früher ist unwiderruflich vorbei.« ‣ S. 128

Raubkunst

Notfalls vor Gericht


G Fritz Grünbaum gehörte in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren,
in Wien wie in Berlin, zu den beliebtesten Kabarettisten. 1938 holten die
Nazis ihn aus einer Wiener Synagoge, er starb im KZ. Ausgerechnet die
Deutschen machen es seinen Erben schwer, nach der Kunst zu fahnden, die
er gesammelt hatte. 2016 löschte das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste
Suchmeldungen für 63 Schiele-Grafiken aus der Datenbank »Lost Art«; alle
hatten Grünbaum gehört, alle waren in der Nachkriegszeit auf den Markt
gelangt. Obwohl ein US-Gericht vor Kurzem sogar Restitutionsansprüche
der Erben bekräftigt hat, erwägt das Zentrum derzeit keine Neupublikation:
Ein sogenannter verfolgungsbedingter Verlust sei für diese 63 Objekte nie
glaubhaft gemacht worden. »Augenscheinlich« seien sie bis nach Kriegsende
»in der Verfügungsgewalt der Familie geblieben«.
Der Berliner Anwalt Jörg Rosbach, der drei
Erbeserben von Grünbaum vertritt, wehrt sich
gegen diese Argumentation und nennt die
Löschung »unverständlich bis selbstherrlich«. Sie
komme nur dem Kunsthandel entgegen, der um
den Ruf solcher Ware fürchte. Das Zentrum
widerspricht da vehement – tatsächlich aber be-
QUELLE: BÜRO FÜR GENEALOGIE

steht noch Klärungsbedarf, und der ist deutlich


zu machen. Nach Meinung von Rosbach sollten
die Suchmeldungen daher endlich wieder publi-
ziert werden. Die Erben, sagt er, seien kompro-
missbereit. Jeglicher Widerspruch (etwa durch
Händler) könne ja ebenso vermerkt werden. Blei-

BPK
be es bei der Löschung, müsse man das Problem
Schiele-Bild »Frau mit schwarzer Schürze«, 1911 notfalls gerichtlich klären. UK Grünbaum 1932

Glosse

Hundert alternative Nobelpreise!


Die größte Auszeichnung der Literaturwelt wird in diesem Jahr nicht vergeben. Eine große Chance.

Haruki Murakami kann sich in diesem Oktober endlich mal Roth, Herta Müller statt Margaret Atwood, Kazuo Ishiguro statt
richtig entspannen. Denn der japanische Autor, seit Jahren der Amos Oz. Der Literaturnobelpreis hat jedes Jahr einen Gewinner,
wohl größte Favorit auf den Literaturnobelpreis, kann von der oft umstritten ist, aber zahllose Verlierer.
der Stockholmer Akademie nicht noch einmal übergegangen wer- Daher ist das Jahr 2018 für die Literaturwelt eine große Chance.
den. Sie vergibt die Trophäe in diesem Jahr nicht. Nun können die von der Akademie verschmähten Autoren end-
Der Grund: Vorwürfe im Umfeld der Schwedischen Akademie. lich gefeiert werden, in imaginären alternativen Nobelpreisen.
Der Ehemann eines weiblichen Mitglieds wurde gerade in erster Tausende Feuilletonisten da draußen können frei entscheiden, wel-
Instanz wegen Vergewaltigung zu zwei Jahren Haft verurteilt. che Schriftstellerin oder welcher Schriftsteller ausgezeichnet
Zudem gibt es Korruptionsanschuldigungen. Die Akademie ist werden soll. Und es wird keine Eilmeldung geben, die das wider-
so zerstritten, dass die Vergabe abgesagt wurde. legt. Aber womöglich überraschendere Weihnachtsgeschenke.
Jahr für Jahr im Oktober war es das gleiche Ritual. Wettbüros Vor dem Oktober des kommenden Jahres ist der Branche
gaben Listen der Favoriten bekannt, Verlage warnten ihre Drucke- allerdings jetzt schon bang. Dann nämlich sollen die Preise für
reien vor, Literaturkritiker sinnierten, spekulierten und starrten 2018 und 2019 zusammen verliehen werden. Sollte Murakami
auf den Bildschirm – bis die Eilmeldung endlich aufpoppte. Und keinen der beiden gewinnen, müsste man sich vielleicht doch
dann kam oft alles ganz anders als gedacht. Dario Fo statt Philip Sorgen um ihn machen. Claudio Rizzello

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Literatur gelangte sie nach Argentinien und lebte Nils Minkmar Zur Zeit
Der Mutter auf der Spur dort einige Jahre, bis sie schließlich nach

G Seine Mutter habe die Anekdoten, die


Berlin zurückkehren konnte. Berkel ver-
dichtet ihre Biografie zu einem packen-
Gelassenheit
sie ihm erzählte, schon immer ausge- den Frauenschicksal, das von dem Rin- Die Fernsehserie gilt als we-
schmückt und ein Stück weit in Fiktion ver- gen um Identität, der Sehnsucht sentliche Kunstform unserer
wandelt, sagt der Schauspieler Christian nach Heimat und einer großen Lie- Zeit, aber ihr Ruhm ist doch
Berkel, 60. Als sie anfing, ihre Fantasien be erzählt. Bei der jahrelangen arg flüchtig. Auch jene, die
mit der Wirklichkeit zu verwechseln, Arbeit an dem Roman sei ihm auch mehr Preise bekamen, als ein
begab er sich auf die Suche nach der klar geworden, dass die Generation Sowjetgeneral Orden an der
Wahrheit und recherchierte die seiner Eltern einen Teil ihrer Brust hatte, sind schnell verges-
Geschichte seiner Familie. Ber- Vergangenheit verdrängen sen. Oder Opfer ihres Erfolgs: Wenn
kels Debütroman »Der Apfel- musste, ob sie nun Opfer der man sich heute »Breaking Bad« ansieht,
baum«, den er auf der Frankfur- Nazis war wie seine Mutter muss man sich gegen den Eindruck weh-
ter Buchmesse vorstellen wird, oder Täter. Denn sonst wäre ren, eine Kopie von »Breaking Bad« zu
basiert auf der Lebensgeschichte sie vermutlich nicht in der schauen. Der von Kevin Spacey gespielte
seiner Eltern, vor allem seiner Lage gewesen, Deutschland Präsident Frank Underwood in »House
2011 verstorbenen Mutter, die als wiederaufzubauen. LOB of Cards« ist im Vergleich zum realen
Jüdin in den Dreißigerjahren vor Amtsinhaber ein Idealist, der auf jedem
den Nazis hatte fliehen müssen. Christian Berkel: »Der Apfelbaum«. Kirchentag sprechen könnte. Im Lichte
Über Spanien und Frankreich Ullstein; 416 Seiten; 22 Euro. der Enthüllungen von Edward Snowden
erscheinen die Umtriebe der Geheim-
dienste in »Homeland« so rührend wie
eine Gefahrenbeschreibung aus der Ver-
Schauspieler Bühne, im zweiten sechs Frauen und kehrserziehungsreihe »Der siebte Sinn«.
»Machtinstrument Sex« im dritten alle zusammen. Es wird ein Anders ist es bei »Familie Heinz
Abend über Missbrauch, Machtmiss- Becker«, die nun in einer neu digitali-
Caroline Peters, 47, über ihre Premiere brauch und Gender und Sex als Macht- sierten Fassung und vollständig auf DVD
mit dem Theaterstück »Eine griechische instrument. Mehr wird nicht verraten. erschienen ist. Die WDR-Serie von und
Trilogie« im Berliner Ensemble und ihre SPIEGEL: Um Machtspiele in Beziehun- mit Gerd Dudenhöffer, lange Zeit mit
Rolle in dem Kinofilm »Der Vorname« gen dreht sich auch Sönke Wortmanns Alice Hoffmann als Ehefrau Hilde und
Film »Der Vorname«, in dem Sie ab Mit- Gregor Weber als Sohn Stefan, erzählt
SPIEGEL: Frau Peters, unlängst wurden te Oktober im Kino zu sehen sein wer- vom Alltag einer saarländischen Fami-
Sie von Theaterkritikern zur »Schau- den. Im Film will ein Paar sein Kind lie. Diese Serie kommt ohne Kriminal-
spielerin des Jahres« gewählt, kommen- angeblich Adolf nennen und stößt damit fälle, Liebeswirren, Intrigen oder Rele-
den Donnerstag haben Sie in Simon Freunde und Verwandte, darunter die vanz aus. Der Protagonist trägt eine
Stones Inszenierung »Eine griechische von Ihnen gespielte Figur, vor den Kopf. praktische Mütze, eine helle Jacke und
Trilogie« Premiere. Bedeutet Ihnen Was hat Sie an dem Stoff gereizt? bequeme Schuhe, sein Beruf ist unklar
der Titel etwas? Peters: Für mich geht es in »Der Vor- und nicht weiter wichtig, denn er ist Ex-
Peters: Total! Es gibt im Theater und im name« um das Selbstverständnis der ehe- perte für das große Ganze. Wenn sich
Film supertolle Menschen und vollkom- maligen BRD. Ich bin dort in den Acht- in seiner Straße ein Auffahrunfall ereig-
mene Trottel. Ich habe gerade eine gute zigerjahren erwachsen geworden. Nichts net, stellt er sich neben die geschädig-
Phase und offenbar das Glück, mit den von dem, was ich gelernt habe, kann ten Fahrzeuge und erörtert den ganzen
richtigen Leuten zu arbeiten. ich heute noch zum Überleben in unserer Nachmittag lang die Lage, auch wenn
SPIEGEL: Worum geht es in Ihrer dritten Gesellschaft gebrauchen. Meine 68er- er gar nichts gesehen hat. Heinz Becker
Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sozialkundelehrer haben mir beige- zeigt, warum die politische Obsession
Stone, der sich oft neue Texte nach be- bracht, dass in der Welt wie im Sport gel- mit sozialem Aufstieg und permanenter
rühmten Stückvorlagen dichtet? te: Dabei sein ist alles. Sie haben gelehrt, Bildung als Zumutung empfunden wer-
Peters: Das Stück basiert auf den grie- dass Solidarität wichtig sei. Dagegen den kann: Wer sein Auskommen hat
chischen Dramen »Lysistrata«, »Die habe ich in der Schule nichts erfahren und ein reges soziales Leben führt, ist
Troerinnen« und »Die Bakchen«. Im ers- über Gehälter, Immobilienpreise oder schon im Mittelpunkt seiner Welt.
ten Teil sieht man sechs Männer auf der den Arbeitsaufwand, der nötig ist, damit In »Familie Heinz Becker« geht es
man sich in Städten wie Berlin, um neuen Teppichboden, den Besuch
Hamburg, München oder Paris eines Hallenbads und, wenn es ganz
durchschlagen kann. Habe wild kommt, um einen Ausflug nach
ich also aus heutiger Sicht nur Köln. Optimierung meint hier kein per-
Quatsch gelernt? Solche Fra- sönlichkeitsveränderndes Coaching
gen, die mich sehr beschäfti- zur Produktivitätssteigerung, sondern
gen, kommen in dem Film zur bezieht sich auf eine neue Küchentape-
Sprache. Der Streit über den te. »Familie Heinz Becker«, diese tem-
CONSTANTIN FILMVERLEIH

Vornamen Adolf macht klar: polose und alberne Serie, war noch nie
Selbst der Gründungsmythos so wertvoll wie heute. Hier ermisst
der BRD, dass der Holocaust man, was die Digitalisierung kostet –
sich nicht wiederholen dürfe, unsere Gelassenheit nämlich.
scheint in Deutschland
nicht mehr Allgemeingültig- An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Peters in »Der Vorname« keit zu besitzen. HÖB Elke Schmitter im Wechsel.

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Kultur

Der Westen erodiert


Europa Die EU ist nur noch eine Wertegemeinschaft auf Widerruf. Ihre Grundlagen
lösen sich auf. Deutschland und seine Nachbarn haben Anlass
zur Selbstkritik. Nur ein liberales Kerneuropa, das sich seiner Kraft besinnt, kann
den schleichenden Zerfall aufhalten. Von Heinrich August Winkler

I. Popularisierung des Projekts Europa trug demokratischem Ruf wie der Fidesz des
Es muss nicht immer Deutschland sein. die Reform von 2014 aber nicht bei. ungarischen Ministerpräsidenten Viktor
Um nachts um den Schlaf gebracht zu wer- Die europäischen Parteifamilien sind Orbán. Die europäische Partei der Sozial-
den, kann man auch an Europa denken merkwürdige Gebilde. Sie existieren fast demokraten umfasst so korruptionsanfäl-
oder, ganz konkret, an den Ausgang der nur in Form der Fraktionen im Straßbur- lige Parteien wie die bulgarische, die ru-
nächsten Wahlen zum Europäischen Par- ger Parlament. Zur EVP gehört unter an- mänische und die maltesische sowie eine
lament im Mai 2019. Wenn die Wahlbetei- derem eine Partei von so zweifelhaftem so linkspopulistische wie die slowakische
ligung weiter sinkt (im Mai 2014 lag sie
bei 42,5 Prozent) und der Zulauf zu den
Anti-EU- und Protestparteien weiter steigt
(derzeit kommen sie auf mehr als ein Fünf-
tel der Abgeordneten), dann werden pro-
europäische Mehrheitsbildungen im Straß-
burger Parlament noch schwieriger als
bisher. Ob einer der Spitzenkandidaten
der europäischen Parteifamilien eine
Mehrheit hinter sich bringen wird, um
dann glaubhaft das Amt des Kommissions-
präsidenten für sich beanspruchen zu kön-
nen, ist fraglich.
Von den Spitzenkandidaturen, die 2014
erstmals erprobt wurden, haben sich ihre
Befürworter wahre Wunder versprochen.
Der Wettkampf der Spitzenkandidaten
sollte der EU-Kommission ein demokra-
tisches Mandat verschaffen, aus ihr eine
europäische Regierung machen und dem
Europäischen Parlament zum Rang eines
vollwertigen, in Regierungslager und Op-
position gegliederten Parlaments verhel-
fen. Es kam anders. Die Staats- und Regie-
rungschefs im Europäischen Rat akzeptier-
ten zwar mehr oder minder widerwillig
den Spitzenkandidaten der stärksten, der
christdemokratisch-konservativen Euro-
päischen Volkspartei (EVP), und wirkten
damit an der De-facto-Parlamentarisie-
rung der Kommissionsspitze mit. Aber das
voraussehbare Ergebnis war, dass die Kom-
mission unter dem früheren luxemburgi-
schen Ministerpräsidenten Jean-Claude
Juncker sich nicht mehr vorrangig als Hü-
terin der europäischen Verträge, sondern
als »politische Kommission« verstand, die
Vertragsbestimmungen mitunter höchst ei-
genwillig interpretierte. Die Mehrheit des
Europäischen Parlaments wiederum sah
ihre vornehmste Pflicht darin, »ihrer«
Kommission die gewünschte Rücken-
deckung gegenüber »Euroskeptikern« und
EU-Gegnern zu geben, und vernachlässig-
te darüber mehr als einmal ihre Aufgabe,
die Kommission zu kontrollieren. Zur Werk des Street-Art-Künstlers Banksy im britischen Dover: Das Europaparlament ist die

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Smer. An der Spitze der europäischen So- und sich selbst um die politische Glaub- hängern der CDU, für Gefolgsleute von
zialisten steht der bulgarische Minister- würdigkeit zu bringen. Viktor Orbán zu stimmen. Transnationale
präsident der Jahre 2005 bis 2009, Sergej Bei Wahlen zum Europäischen Parla- Kandidatenlisten sind nach Lage der Din-
Stanischew, unter dessen Regierung sein ment stehen meist nicht europäische Fra- ge also kein Mittel, um das Europäische
Land von der EU-Kommission mit Sank- gen, sondern innenpolitische Streitthemen Parlament den Bürgerinnen und Bürgern
tionen wegen fehlender Energie im Kampf im Vordergrund. Die Kandidatenaufstel- näherzubringen. Sie dürften eher das Ge-
gegen Korruption und organisiertes Ver- lung erfolgt im nationalen Rahmen, das genteil bewirken.
brechen belegt wurde. In Rumänien de- Verhältnis der europäischen Abgeordne- Dasselbe gilt für die Erwartung, mit
montiert die regierende Koalition aus (no- ten zu ihren Wählern ist sehr viel weniger einer Aufwertung des Europäischen Par-
minellen) Sozialdemokraten und Libera- eng als das der Abgeordneten der natio- laments ließe sich das viel beklagte Demo-
len seit geraumer Zeit den Rechtsstaat, nalen Parlamente. Es würde sich vermut- kratiedefizit der EU beheben. Um es zu-
um eigene Parteifreunde vor strafrecht- lich noch weiter lockern, käme es nach gespitzt zu sagen: Das Straßburger Parla-
licher Verfolgung wegen Korruption zu dem Vorschlag des französischen Staats- ment ist nicht die Lösung des europäischen
schützen. Ein Ausschluss der rumänischen präsidenten Emmanuel Macron zu trans- Demokratieproblems, es verkörpert dieses
Sozialdemokraten aus der europäischen nationalen Kandidatenlisten. Die Neigung Problem. Als der Europäische Rat im Juli
Dachpartei ist nicht minder überfällig wie potenzieller Wähler der deutschen Sozial- 1976 auf Drängen von Bundeskanzler Hel-
der von Fidesz aus der EVP. Doch nichts demokraten, Parteifreunde des ehema- mut Schmidt beschloss, das Europäische
spricht dafür, dass es dazu kommt. Die ligen, einst wegen Korruption angeklagten Parlament nicht mehr durch die nationalen
großen Parteifamilien der EU üben unter- Bukarester Regierungschefs Victor Ponta Parlamente zu beschicken, sondern direkt
einander eine Art von Solidarität, die ge- nach Straßburg zu schicken, dürfte ähnlich zu wählen, war allen Beteiligten klar, dass
eignet ist, diesen Begriff zu diskreditieren schwach entwickelt sein wie die von An- diese Versammlung nicht dem demokrati-
schen Prinzip »one person, one vote« ent-
sprechen konnte. Einem Parlament, das
in der Lage war, auch den Bürgern kleiner
Staaten das Gefühl zu vermitteln, dort an-
gemessen vertreten zu sein, hätten meh-
rere Tausend Abgeordnete angehören
müssen; es wäre also nicht arbeitsfähig ge-
wesen. Folglich wurden die kleineren Staa-
ten auf Kosten der größeren privilegiert.
Um einen Abgeordneten noch Straßburg
zu schicken, waren in der Bundesrepublik
Deutschland 700 000, in Luxemburg nur
60 000 Einwohner erforderlich. Daran hat
sich aus guten, ja zwingenden Gründen
bis heute nichts Wesentliches geändert.
Der Mangel an demokratischer Reprä-
sentativität hindert das Europäische Parla-
ment nicht daran, wichtige Funktionen aus-
zuüben. Er hat aber zur Folge, dass das
Straßburger Parlament nicht ein dem briti-
schen Unterhaus oder dem deutschen Bun-
destag vergleichbares Prestige genießt. Eine
europäische Volksvertretung kann es aber
schon deswegen nicht sein, weil es kein eu-
ropäisches Volk gibt. Die EU stünde folglich,
um den ehemaligen Bundesverfassungs-
richter Dieter Grimm zu zitieren, »nach ei-
ner Vollparlamentarisierung demokratisch
schwächer da als vorher«. Die demokrati-
sche Legitimation der Europäischen Union
muss also in erster Linie über die nationalen
Parlamente erfolgen. Ihre Arbeit in Sachen
Europa lässt sich besser koordinieren und
synchronisieren, aber wegdenken lässt sie
sich nicht. Solange sich Europa in National-
staaten gliedert, werden deren Volksvertre-
GARETH FULLER / PICTURE ALLIANCE / DPA

tungen die wichtigsten Garanten der De-


mokratie in Europa bleiben.
Sollte der nächste Präsident der EU-
Kommission nicht einer der Spitzenkan-
didaten der europäischen Parteifamilien
sein, sondern von den demokratisch legi-
timierten Staats- und Regierungschefs au-
tonom, aber unter Berücksichtigung des
Ergebnisses der Wahlen zum Europäi-
Verkörperung des Demokratieproblems, nicht die Lösung schen Parlament mit qualifizierter Mehr-

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Kultur

heit vorgeschlagen werden, wäre das mit- weitesten Sinn liberalen Demokratien der russische und der chinesische Einfluss
hin kein Rückschritt auf dem Gebiet der aber ist sie zurzeit nicht mehr. auf Südosteuropa zunimmt? So einleuch-
europäischen Demokratie. Einem zersplit- Auch in anderer Hinsicht gibt es Anzei- tend diese Argumentation klingt, wüsste
terten, womöglich von Populisten aller chen von Erosion des europäischen Zu- man doch gern, ob die Befürworter einer
Couleurs dominierten Europäischen Par- sammenhalts. Die Volksrepublik China ist raschen Südosterweiterung darüber nach-
lament gegenüber hätte der Europäische dabei, eine große Anzahl ostmittel- und gedacht haben, dass die Aufnahme des tra-
Rat die Chance, als Anwalt der gemein- südosteuropäischer Staaten finanziell und ditionell russophilen Serbien in die EU für
samen Interessen des Staatenverbundes wirtschaftlich von sich abhängig zu ma- Moskau eine höchst reizvolle Perspektive
auftreten zu können. Das europäische chen; das Russland Putins nutzt jede Ge- sein könnte: Ein besserer Verbündeter Russ-
Recht in Gestalt des Lissabon-Vertrags hat legenheit, um einen Keil zwischen die Staa- lands innerhalb der Europäischen Union
der Europäische Rat dabei allemal auf sei- ten der Europäischen Union zu treiben. ist schwer vorstellbar. Könnte es sein, dass
ner Seite. Geht es im Europäischen Rat um Sanktio- die Erweiterungsfreunde wieder einmal Un-
nen gegen Russland oder die Geltung der vereinbares anstreben – dass sie, indem sie
Menschenrechte in China, sind einstimmi- die Gemeinschaft vergrößern, zugleich de-
II. ge Beschlüsse immer schwerer zu errei- ren außenpolitische Handlungsfähigkeit
Sicher kann man freilich nicht sein, dass chen oder nur noch in abgeschwächter verringern? Was seit je gegen eine EU-Mit-
der Europäische Rat sich stets auf so etwas Form durchsetzbar. gliedschaft der hochgradig nationalistischen
wie ein europäisches Gesamtinteresse ei- Wenn es nach der EU-Kommission geht, Türkei sprach, spricht unter den derzeitigen
nigt. Der EU der 28 oder demnächst wohl soll die Gemeinschaft im nächsten Jahr- Bedingungen auch gegen die Aufnahme des
nur noch 27 Mitgliedstaaten fällt es zuneh- zehnt weiter wachsen, und zwar auf dem gleichfalls radikal nationalistischen Serbien:
mend schwer, in wichtigen Fragen mit ei- westlichen Balkan. Für eine solche Erwei- Nicht jeder Zuwachs ist ein Gewinn.
ner Stimme zu sprechen. Da ist vor allem terung werden vor allem strategische Grün- Je mehr die Europäische Union aus-
der Prozess der normativen Erosion, den de geltend gemacht: Wer will schon, dass einanderdriftet, desto dringlicher wird ein
Staaten wie Ungarn, Polen und Rumänien
vorantreiben, indem sie die Gewaltentei-
lung und namentlich die Unabhängigkeit
der rechtsprechenden Gewalt infrage stel-
len und damit sowohl gegen die Kopenha-
gener Beitrittsbedingungen von 1993 als
auch gegen fundamentale Bestimmungen
des Vertrags über die Europäische Union,
des Lissabon-Vertrags von 2009, versto-
ßen. Die schärfste Sanktion, die dieser Ver-
trag vorsieht, der Entzug des Stimmrechts,
ist ein stumpfes Schwert: Einem solchen
Beschluss müssen alle Staaten außer dem
betroffenen zustimmen. Ungarn und Polen
aber können sich in einem solchen Fall auf-
einander verlassen.
Von den Gründungsmitgliedern der EU
hat sich Frankreich bisher am schärfsten
über die nach eigener Einschätzung »il-
liberalen« Demokratien Ostmitteleuropas
geäußert. Erstaunlich verhalten fallen die
Berliner Bewertungen aus. Vieles spricht
dafür, dass das weniger auf eine besondere
historische Sensibilität als auf massive wirt-
schaftliche Interessen Deutschlands zu-
rückzuführen ist. Die EU-Kommission hat
bislang eher hinhaltend reagiert; von Prä-
sident Juncker heißt es, er schrecke vor ei-
nem ernsten Konflikt mit Warschau oder
Budapest zurück. Doch die Wirkungen der
Politik von Viktor Orbán und Jarosław
Kaczyński können gar nicht überschätzt
werden. Eine Europäische Union, die es
hinnimmt, dass ihre normativen Grundla-
gen von einzelnen Mitgliedern missachtet
werden, verwirkt den Anspruch, eine
Wertegemeinschaft zu sein. Sie mag als
Zweckgemeinschaft für die Weiterentwick-
lung des Binnenmarktes, für die Sicherung
ihrer Außengrenzen, die Verbesserung ih-
rer militärischen Zusammenarbeit sowie
die Bekämpfung des islamistischen Terro-
rismus und des organisierten Verbrechens
fortbestehen. Eine Gemeinschaft von im Graffito des Street-Art-Künstlers Blu in der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika:

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engeres Zusammenwirken derer, die sie halb der Europäischen Union gilt, trifft lassen, Europa und Deutschland täten gut
als Wertegemeinschaft erhalten wollen. auch auf das Europa jenseits der EU und daran, sich von den USA abzukoppeln und
Eine neue Ost-West-Spaltung Europas auf den Westen insgesamt zu. Ob es zum nach neuen Verbündeten, etwa in Moskau
muss das nicht bedeuten. Die drei balti- Brexit kommt oder nicht: Mit Großbritan- oder Peking, Ausschau zu halten.
schen Republiken etwa sind in allem, wo- nien verbindet die kontinentaleuropäi-
rauf es ankommt, Mitstreiter der rechts- schen Demokratien eine gemeinsame, in
staatlichen Demokratien, die dem Staaten- hohem Maß angelsächsisch geprägte poli- III.
verbund schon sehr viel länger angehören. tische Kultur; dasselbe gilt von den einsti- Deutschland ist am krisenhaften Zustand
Eine wechselseitige Abstimmung der im gen britischen Dominions Kanada, Austra- der Europäischen Union nicht unschuldig.
weitesten Sinn liberalen Mitgliedstaaten lien und Neuseeland. Je schwieriger sich Der deutsche (oder, was die Sache nicht
der Europäischen Union in grundsätz- das Verhältnis zwischen den europäischen besser macht, deutsch-österreichische) Al-
lichen und nicht zuletzt in außenpoliti- Demokratien und den USA gestaltet, des- leingang in der Flüchtlings- oder besser
schen Fragen würde vermutlich ihre Wir- to wichtiger wird die Kooperation mit den Migrationskrise im September 2015 konn-
kung auf die derzeit illiberal regierten Staa- anderen westlichen Demokratien. Erset- te nicht ohne Auswirkungen auf die euro-
ten nicht verfehlen. zen kann die Vereinigten Staaten freilich päischen Nachbarn bleiben. Polnische Li-
Diese Staaten auf den Boden der euro- keine von ihnen, und Amerika bleibt trotz berale weisen seit Langem darauf hin, dass
päischen Verträge zurückzuholen kann der erratischen Präsidentschaft Donald die Berliner Entscheidung, Migranten über
nur mithilfe ihrer Völker gelingen. Um ihre Trumps der wichtigste Partner der EU au- längere Zeit hinweg unkontrolliert in gro-
Mitwirkung muss werben, wem es um die ßerhalb Europas. Es bleibt auch die größte ßer Zahl nach Deutschland kommen zu
Verteidigung des normativen Kerns der und mächtigste der westlichen Demokra- lassen, Wasser auf die Mühlen von
Union geht. tien. Man muss in hohem Maß geschichts- Kaczyńskis Partei »Recht und Gerechtig-
Engere Zusammenarbeit der rechtsstaat- vergessen sein, um sich von der Empörung keit« (PiS) geleitet und zu ihrem Sieg bei
lich verfassten Demokratien: Was inner- über Trump zu dem Schluss verleiten zu den Parlamentswahlen vom Oktober 2015
beigetragen habe. In der Endphase der
Brexit-Kampagne im Frühsommer 2016
spielte der Appell an Ängste vor einer Mas-
senmigration aus dem Nahen und dem
Mittleren Osten sowie aus Afrika eine
wichtige, womöglich für den Erfolg der
»Leavers« ausschlaggebende Rolle. Auf-
trieb gab die deutsche Migrationspolitik
auch den Nationalpopulisten in Frankreich
und, mit besonders fatalen Folgen, in Ita-
lien. Die Selbststilisierung Deutschlands
zur moralischen Leitnation Europas, die
auf dem Höhepunkt der Migrationskrise
2015/16 vor allem links der Mitte sonder-
bare Blüten trieb, wirkte abstoßend und
provozierte die berechtigte Frage, ob die
deutsche Politik sich nicht allzu stark von
kompensatorischen Bedürfnissen, sprich
der Hoffnung auf Erlösung von vergange-
ner, nicht wiedergutzumachender Schuld,
leiten lasse.
Bei nüchterner Betrachtung hätte allen
deutschen Akteuren von Anfang an klar
sein müssen, dass es nicht nur bei den
neuen ostmittel- und südosteuropäischen
EU-Mitgliedern, sondern auch bei den ehe-
maligen Kolonialmächten Westeuropas
keinerlei Bereitschaft gab, sich in Sachen
Asylrecht und Immigration von Deutsch-
land die Richtung vorschreiben zu lassen.
Um die fachliche Beratung der Bundes-
kanzlerin kann es in den entscheidenden
Wochen des Sommers 2015 nicht gut be-
stellt gewesen sein, von einer langfristig
angelegten, strategischen Begründung der
deutschen Politik ganz zu schweigen. In-
zwischen ist die deutsche Migrationspoli-
tik von sehr viel mehr Realismus geprägt.
Von einer selbstkritischen Aufarbeitung
der Fehleinschätzungen und Fehlentschei-
dungen von 2015 aber sind die Beteiligten
in Regierungslager, parlamentarischer Op-
position und Publizistik immer noch weit
Sehr viel mehr Realismus entfernt. Den Nutzen hat eine Partei, die

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Kultur
Fragen Sie Ihren
ihren Wiederaufstieg den Ereignissen von
Buchhändler nach 2015 verdankt: die AfD.
Die Migrationspolitik ist nicht das ein-
der neuen Ausgabe! zige Feld, auf dem Deutschland Anlass zu
selbstkritischen Betrachtungen hat. Allzu
lang haben deutsche Politiker und Intel-
lektuelle versucht, Europa auf ein »post-
nationales« Selbstverständnis festzulegen.
Die Deutschen haben ihren ersten Natio-
nalstaat zugrunde gerichtet; daran gibt es
nichts zu deuteln. Die Folgerung, der Na-
tionalstaat schlechthin gehöre der Vergan-

MARLENE GAWRISCH / WELT / ULLSTEIN BILD


genheit an und müsse von einer europäi-
schen Föderation, ja möglichst von einem
Bundesstaat nach deutschem Vorbild ab-
gelöst werden, stieß aber jenseits der Gren-
zen der Bundesrepublik Deutschland, von
Luxemburg und Belgien einmal abgese-
hen, auf verbreitetes Unverständnis.
Die alte Bundesrepublik war kein Na-
tionalstaat; die Formel des Zeithistorikers
Karl Dietrich Bracher von der »postnatio-
nalen Demokratie unter Nationalstaaten« Historiker Winkler in Berlin
erfreute sich großer Beliebtheit. Das wie- Ein Nationalstaat neuer Art
dervereinigte Deutschland ist ein Natio-
nalstaat, wenn auch keiner der alten Art. re Zielbeschreibung. Seit der Wahl
Es gehört wie die anderen Mitgliedstaaten Macrons zum französischen Staatspräsi-
der Europäischen Union zu den postklas- denten im Mai 2017 sind die Voraus-
sischen Nationalstaaten, die einige ihrer setzungen für eine engere Kooperation
Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und an- zwischen Deutschland und Frankreich
dere auf supranationale Einrichtungen ungleich günstigere als unter seinen Vor-
übertragen haben. Nicht anders als Fran- gängern Nicolas Sarkozy und François
Jet z t zosen, Dänen oder Polen sehen die Deut- Hollande. Nicht alles, was Macron zur
graimtis schen der Gegenwart ihren Staat als einen
Hort des Rechts und der sozialen Sicher-
Reform der EU im Allgemeinen und der
Währungsunion im Besonderen vor-
de l! heit an. Ihn in einem europäischen Super- schlägt, ist realistisch. Es würde auch nicht
Buchhan staat (oder, wie das manche wünschen, in reichen, dass die Pariser Initiativen von
einer »europäischen Republik«) aufgehen Berlin aufgegriffen werden. Um die Nie-
zu lassen kommt nur wenigen in den Sinn. derlande hat sich eine Gruppe von sieben
Eine andere Formel aus früherer Zeit, weiteren EU-Staaten gebildet, die deutsch-
die von der Europäischen Gemeinschaft französischen Alleingängen nicht viel ab-
Bis ans Limit – als einem »immer engeren Zusammen- gewinnen können: Ihr gehören die Euro-
Auf der Spur des Bösen schluss der europäischen Völker«, geht auf länder Irland, Finnland, Estland, Lettland
die Präambel der Römischen Verträge, der und Litauen sowie als Länder mit eigener
Gründungsurkunde der Europäischen Währung Dänemark und Schweden an.
Unter diesem Mottto präsentieren Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957, Sie alle ziehen aber mit Frankreich und
wir Ihnen in der Herbstausgabe des zurück. Die Staaten, die, wie Großbritan- Deutschland an einem Strang, wenn es
Taschenbuch-M
a agazins packende Krimis nien, der EWG erst später beitraten, haben um die Verteidigung von Rechtsstaat und
sich mit dieser Selbstbeschreibung immer Demokratie geht; in haushalts- und wäh-
und Thriller. Außerrdem gibt es eine schwergetan. Auch eines der sechs Grün- rungspolitischen Fragen sind sie enge Bun-
Auswahl aktueller Gegenwartsromane, dungsmitglieder der Europäischen Ge- desgenossen Deutschlands.
bewegende Liebesgeschichten und meinschaft hat diesem Ziel mittlerweile ab- Einem normativen Kerneuropa, das an
geschworen: die Niederlande. Im Juni 2013 dem Wertefundament der Kopenhagener
spannende historisc
i he Romane sowie gab ihr Außenminister, der Sozialdemokrat Beitrittsbedingungen und des Lissabon-
Buchtipps für Kinder und Jugendliche. Frans Timmermans, heute Vizepräsident Vertrags festhält, dürften sich noch andere
der EU-Kommission, in einem Brief an die Staaten anschließen. Eines solchen enge-
Abgeordneten des Parlaments in Den ren Zusammenschlusses aber bedarf es,
Das buch aktuell Taschenb
a buch-Magazin erscheint in der Haag die Parole aus: »Die Zeit einer immer wenn der politischen Erosion der EU Ein-
Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien engeren Union in jedem möglichen Poli- halt geboten werden soll. Die Alternative
GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund. tikfeld liegt hinter uns.« Für die Zukunft wäre der endgültige Abschied vom Selbst-
solle die Devise gelten: »Europäisch, wo verständnis der Europäischen Union als
notwendig, national, wo möglich.« Wertegemeinschaft.
Tatsächlich würde Europa spalten, wer
die »ever closer union« zur Richtschnur Winkler, 79, ist der einflussreichste deutsche
der Politik der Europäischen Union ma- Historiker. Zuletzt erschien sein Buch »Zer-
chen wollte. Eine immer engere Zusam- bricht der Westen?«.
menarbeit wäre eine sehr viel realistische-
kundenmagazine
120 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018
www.buchaktu
t ell.de
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Jahre Helmut Schmidt


Wie er wirklich war.
Und was von ihm bleibt.
Die große Serie –
ab 11. Oktober in der ZEIT.

5-teilige Serie

Ab 11.10.
in der ZEIT
Foto: Werner Bartsch

www.zeit.de
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Kultur

dungen im Detail verbieten sich. Ich hätte

Feudale Macht mich sicherlich früher und sensibler an die-


jenigen Autoren wenden sollen, die sich
Barbara Laugwitz persönlich verbunden
fühlen, und ihnen die Sorge vorm vermu-
Verlage Warum musste Barbara Laugwitz gehen? Wie viele offene teten Verlust der programmatischen Ge-
Briefe werden noch geschrieben? Neues vom Rowohlt Verlag, staltungsfreiheit oder weiteren personellen
Veränderungen nehmen müssen.«
der mit zwei Topbestsellern und ohne Leitung auf die Buchmesse geht. Denn das war eine weitere, untergrün-
dige Sorge einiger Autoren und Beobach-
ter: dass der Holtzbrinck-Konzern, zu dem

W arum, warum, warum? Die Ge-


schichte des Führungswechsels an
der Spitze des Rowohlt Verlags
kreist seit mehr als einem Monat um ein
sollte und seitdem nicht mehr in Kraft ist.
Gegen die einstweilige Verfügung haben
wir daher Widerspruch eingelegt, diese
vorläufige Entscheidung ist nicht rechts-
auch die Verlage Droemer Knaur, S. Fi-
scher und Kiepenheuer & Witsch gehören,
die einzelnen Verlage stärker von der Zen-
trale in Stuttgart aus steuern wolle. Eigent-
Geheimnis: Warum musste die erfolgrei- kräftig.« lich schien es bislang eine große Stärke des
che verlegerische Geschäftsführerin Bar- Ah. Jeder darf wieder mit jedem reden. Konzerns und seiner Verlage zu sein, dass
bara Laugwitz gehen? Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen. man sich in Stuttgart für jedes Haus starke
Das Dumme: Wir erfahren es nicht. Wie Vielleicht bricht ja eine Zeit der geschlos- Verlegerpersönlichkeiten aussuchte, die
in solchen Fällen üblich, wurde zwischen senen Briefe und direkten Gespräche an. kraft ihres Charakters den einzelnen Ver-
den Vertragsparteien Vertraulich- lagen über die Jahre ein besonders
keit vereinbart. Daran hält sich starkes, wiedererkennbares Profil
Laugwitz, daran hält sich auch gaben. Schwer vorstellbar, dass
der Holtzbrinck-Konzern, zu dem man in Stuttgart nun von dieser Li-
Rowohlt gehört. nie abrückt. Wenn man das wollte,
Einige Autoren des Verlags wa- dann hätte man sich mit dem erfah-
ren und sind nicht bereit, dieses renen Journalisten, Buchautor und
Schweigen zu akzeptieren. Sie weh- Geschäftsmann Florian Illies auch
ren sich gegen den, in ihren Augen, sicher den falschen Nachfolger für
stillosen Umgang mit ihrer Barbara Laugwitz gesucht.
Verlegerin. Am vergangenen Sonn- Illies ist unterdessen nicht zu
tag veröffentlichte die »Frankfurter sprechen.
Allgemeine Sonntagszeitung« einen Der wichtigste Rowohlt-Autor
offenen Brief, gerichtet an den dürfte im Augenblick Daniel Kehl-
Holtzbrinck-Geschäftsführer Joerg mann sein. Ein Mann, um den he-
Pfuhl. Es ist schon der zweite. Die rum man einen ganzen Verlag neu
Autorinnen und Autoren, darunter gründen könnte. Mit Freundschaf-
Martin Walser, Daniel Kehlmann, ten und Kontakten zu einigen der
Margarete Stokowski und Jeffrey wichtigsten Autoren der Welt. Und
Eugenides, warfen Pfuhl vor, den mit Büchern, nach denen wohl je-
Autoren gegenüber zu schweigen. der Verlag sich sehnt: geschichts-
Und zugleich »uns, den Autoren, klug, gebildet, gegenwärtig, an-
ins Gesicht zu lügen«. Zwei Tage spruchsvoll und – kommerziell ex-
später fragte sich der Feuilletonchef trem erfolgreich.
Edo Reents in der »FAZ«: »Kann Auch Kehlmann hat sich mehr-
man schweigen und gleichzeitig lü- fach sehr kritisch über den Um-
THORSTEN WULFF

gen?« Und antwortete sich selbst: gang mit Laugwitz geäußert. Wenn
»Eigentlich nicht.« man ihn jetzt fragt, was er sich
Währenddessen hatte ein Berli- von den Verantwortlichen bei
ner Anwalt eine einstweilige Verfü- Holtzbrinck erhoffe, sagt er: »Es
gung erwirkt, nach der Pfuhl nicht Rowohlt-Geschäftsführerin Laugwitz 2014 wäre schön, wenn man öffentlich
mehr behaupten darf, es handle Stilloser Umgang mit der Verlegerin einräumen könnte, dass Fehler
sich um »ein Missverständnis«, gemacht wurden, dass hier nicht
dass Laugwitz keinen Kontakt zu den Au- Frage an Joerg Pfuhl, über den die No- alles ideal gelaufen ist.« Auf die Frage,
toren aufnehmen dürfe. Es geht drunter belpreisträgerin Elfriede Jelinek schrieb, ob er in den vergangenen Wochen daran
und drüber. Was ist verboten? Wer schrei- er trage die Verantwortung dafür, dass gedacht habe, den Verlag zu verlassen,
tet ein? Einer früheren Verlegerin den Kon- »wieder eine Frau rausgekippt worden« sei sagt er: »Ich habe mich mit der ›Vermes-
takt zu den Autoren verbieten? Sprech- »wie Abfall«, ob er mit diesen Reaktionen sung der Welt‹ bewusst für diesen wunder-
verbot für Ex-Verleger? Sind alle verrückt gerechnet habe und ob er Fehler gemacht baren Verlag entschieden. Ich habe das
geworden? habe: »Damit habe ich nicht gerechnet, nie bedauert, und ich habe Vertrauen
Laugwitz will sich nicht äußern. Pfuhl und so habe ich es auch noch nie erlebt. in Florian Illies als Verleger. Ich halte Flo-
sagt: »Tatsache ist: Wir haben seitens der Natürlich frage ich mich, was ich hätte bes- rian für eine gute Wahl. Ich habe nicht
Unternehmensleitung bereits vor Wochen ser machen können. Den Wunsch der Au- gegen ihn protestiert, sondern nur da-
gegenüber Frau Laugwitz deutlich ge- toren nach Erklärungen kann ich verstehen. gegen, wie man seine Vorgängerin behan-
macht, dass diese Regelung den Kontakt Aber ich kann eine solche Personalent- delt hat.«
zu den Autoren nach der Verkündung scheidung im Vorfeld Dritten gegenüber Andere Briefunterzeichner sind da we-
der Personalie nicht mehr einschränken nicht ankündigen, und öffentliche Begrün- niger versöhnlich. Die SPIEGEL-ONLINE-

122 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Kolumnistin Margarete Stokowski, deren


neues Buch »Die letzten Tage des Patriar-
chats« gerade auf Platz zehn der SPIEGEL- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
Bestsellerliste eingestiegen ist, schreibt: nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
»Ich habe keine Ahnung, wie es mit Ro-
wohlt weitergeht, und kann im Moment Belletristik Sachbuch
nichts dazu sagen, ob ich dort bleibe oder
nicht. Das Ziel beider offenen Briefe war, 1 (4) Carmen Korn 1 (3) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
sowohl Holtzbrinck als auch der Öffent- Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro
lichkeit zu zeigen, dass man nicht beliebige
Entscheidungen über Verlage treffen kann, 2 (–) Charlotte Link 2 (4) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für
ohne die Autorinnen und Autoren mitzu- Die Suche Blanvalet; 24 Euro das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro
bedenken.« 3 (2) Jonas Jonasson Der Hundertjährige, 3 (1) Kollegah
Auch der Schriftsteller Eugen Ruge, der der zurückkam, um die Welt zu retten Das ist Alpha! Riva; 22 Euro
den zweiten offenen Brief geschrieben hat, C. Bertelsmann; 20 Euro
ist nach wie vor unversöhnlich. Er schreibt: 4 (2) Thilo Sarrazin
4 (3) Juli Zeh Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro
»Das Ganze ist unwürdig und unschön und
führt uns auf unangenehme Weise den Neujahr Luchterhand; 20 Euro
5 (5) Dirk Müller
Klimawandel im Buchmarkt vor Augen. 5 (1) Rita Falk Machtbeben Heyne; 22 Euro
Für mich ist der Vorgang vor allem Aus- Eberhofer, Zefix! dtv; 8 Euro 6 (6) Bas Kast Der Ernährungskompass
druck feudaler Macht in internationalen C. Bertelsmann; 20 Euro
Konzernstrukturen.« 6 (–) Martin Suter
Eine Hoffnung eint die protestierenden Allmen und die Erotik Diogenes; 20 Euro 7 (7) Harald Lesch / Klaus Kamphausen
Autoren: dass es gelinge, Barbara Laug- Wenn nicht jetzt, wann dann?
7 (5) Maxim Leo / Jochen Gutsch Penguin; 29 Euro
witz im Verlag zu halten. »Ich glaube, alle Es ist nur eine Phase, Hase
Autoren, die jetzt dagegen protestiert ha- Ullstein; 12 Euro 8 (–) Harald Meller / Kai Michel
ben, würden sich das wünschen«, sagt Die Himmelsscheibe von Nebra
Kehlmann. Ob diese Lösung Wirklichkeit 8 (6) Robert Seethaler Propyläen; 25 Euro
werden kann, ist aber zweifelhaft. Gerade Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro
sind eine einstweilige Verfügung und ein 9 (9) Christopher Schacht
9 (7) Frank Schätzing Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro
Widerspruch dagegen hin und her gegan-
gen. Pfuhl antwortet, auf die Weiter-
Die Tyrannei des Schmetterlings
10 (–) Margarete Stokowski
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
beschäftigung von Laugwitz im Verlag an- Die letzten Tage
gesprochen, ausweichend: »Ich weiß es 10 (8) Jussi Adler-Olsen des Patriarchats
nicht, aber wir hatten gehofft, die Miese kleine Morde dtv; 10 Euro Rowohlt; 20 Euro

Zusammenarbeit in anderer Form fortfüh-


ren zu können. Einen gemeinsamen Weg 11 (12) Mariana Leky Was man von hier Die SPIEGEL-ONLINE-Kolum-
aus sehen kann DuMont; 20 Euro
nistin versammelt einige ihrer
zu finden ist nicht einfacher geworden. besten Texte: geistreiche,
Das finde ich sehr bedauerlich.« angriffslustige und amüsante
12 (20) Annette Hess Diagnosen unserer Zeit
So geht Rowohlt, den dazugehörenden Deutsches Haus Ullstein; 20 Euro
Kindler-Verlag eingeschlossen, mit zwei 11 (8) Bob Woodward
Platz-eins-Büchern auf der SPIEGEL- 13 (11) Stephen King Fear Simon & Schuster
Der Outsider Heyne; 26 Euro
Bestsellerliste auf die Buchmesse. Und
12 (–) Steven Pinker
ohne Verlegerin und Verleger. Auch ohne 14 (–) Paulo Coelho Aufklärung jetzt S. Fischer; 26 Euro
Rowohlt-Messe-Party. Sonst stets einer der Hippie
Höhepunkte der trink- und schwatzfreu- Diogenes; 22 Euro 13 (10) Peter Hahne
digen Fachmessebesucher. Nein, die Ab- Schluss mit euren ewigen
sage des Fests stehe in keinem Zusammen-
Ein Brasilianer verliebt Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro
sich 1970 in eine Hollände-
hang mit der aktuellen Personalentschei- rin und tourt mit ihr 14 (11) Richard David Precht
dung, sagt Pfuhl. Der künftige Verleger durch die Welt. Eine Feier
der Gegenkultur, knall- Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro
Florian Illies kommt nicht als Verleger, son- bunt und ungebrochen
dern als Autor eines neuen Buchs, der Fort- 15 (13) Margot Käßmann Schöne Aussichten
setzung seines Bestsellers »1913«, nach 15 (9) Isabel Allende Ein unvergänglicher auf die besten Jahre bene; 18,99 Euro

Frankfurt. Sommer Suhrkamp; 24 Euro


16 (12) Dietrich Grönemeyer
Es wird eine Rowohlt-Messe, gruppiert 16 (10) Timur Vermes Die Hungrigen
Weltmedizin S. Fischer; 20 Euro
um ein Geheimnis. Das einzige größere und die Satten Eichborn; 22 Euro 17 (14) Wolfgang Engler / Jana Hensel
Event, das der Verlag in der Woche am Wer wir sind Aufbau; 20 Euro
Main veranstalten will, wirkt wie von 17 (–) Andreas Eschbach NSA – Nationales
einer Eventagentur für schwarzen Humor Sicherheits-Amt Lübbe; 22,90 Euro 18 (–) Julia Shaw
erdacht: Rowohlt lädt mit »einigen Über- Böse Hanser; 22 Euro
raschungsgästen« in das Hotel Frankfurter 18 (14) Jo Nesbø
Macbeth Penguin; 24 Euro 19 (17) Dalai Lama / Sofia Stril-Rever
Hof, um dort »das Erscheinen eines Ro- Der neue Appell des Dalai Lama
mans ohne Namen zu feiern«. 19 (13) Nicholas Sparks an die Welt benevento; 7 Euro
Der geheime Roman, präsentiert vom Wo wir uns finden Heyne; 20 Euro
Verlag der Stunde. O ja. Alle werden 20 (–) Timothy Snyder
kommen. Volker Weidermann 20 (19) Wladimir Kaminer Der Weg in die Unfreiheit
Die Kreuzfahrer Wunderraum; 20 Euro C. H. Beck; 24,95 Euro

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Kultur

Schriftstellern mit vorwiegend psycho-

Die Doppelgänger logischer Einstellung«, wie es in einem


Brief hieß.
Zur Psychoanalyse, wie sie von Freud
entwickelt worden war, hatte er zeitlebens
Literatur Sie lebten in Wien, bewunderten einander, und sie interessierten eine ambivalente Haltung. Zweifellos er-
sich für das Unbewusste. Wie nahe waren sich der mutige sie, befand er, »in Tiefen zu for-
Schriftsteller Arthur Schnitzler und Sigmund Freud? Von Volker Hage schen, die früher aus konventionellen
Gründen, zuweilen aus Gründen des Ge-
schmacks, am häufigsten aus Feigheit oder
m Mai 1906, als Sigmund Freud 50 liner Aufführung und dem daraus erwach- Grauen nicht durchforscht wurden«.
I wurde, schickte ihm der sechs Jahre
jüngere Schriftsteller Arthur Schnitz-
ler einen schmeichelhaften Brief. Er gra-
senden Skandal. Freud, ebenfalls ein be-
rühmter und umstrittener Zeitgenosse,
hatte damals seine Schriften »Die Traum-
Zwar überzeugten ihn Freuds Traum-
deutung, die Erforschung des Unbewuss-
ten, die Erkenntnis von der Bedeutung
tulierte dem »verehrtesten Herrn Profes- deutung«, »Zur Psychopathologie des All- erotischer Vorgänge für das Alltagsleben
sor« zum Geburtstag und teilte mit, dass tagslebens« und die »Drei Abhandlungen und die Entstehung von Nervenkrank-
er dessen Schriften »mannigfache starke zur Sexualtheorie« veröffentlicht. heiten. Aber in der Praxis empfand er die
und tiefe Anregungen« verdan- Methode als borniert und dog-
ke. Nun sei Gelegenheit, »Ih- matisch.
nen die Versicherung meiner Auch hielt er Freuds berühm-
aufrichtigsten wärmsten Ver- te Unterscheidung in »Ich, Übe-
ehrung darzubringen«. rich und Es« für geistreich, aber
Was für heutige Maßstäbe künstlich. Schnitzler hatte da
reichlich geschwollen klingt, seine eigenen Vorstellungen. Er
kam gut an. Es folgte postwen- setzte eine Einteilung in »Be-
dend eine Antwort, die kaum wusstsein, Mittelbewusstsein
weniger überschwänglich aus- und Unterbewusstsein« dage-
fiel: Seit vielen Jahren sei er, gen. Sie komme den wissen-
Freud, sich der weitreichenden schaftlichen Tatsachen näher,
Übereinstimmung bewusst, fand er. An anderer Stelle
»die zwischen Ihren und mei- sprach er auch vom »Halbbe-
nen Auffassungen mancher wussten«, das er als »eine Art
psychologischer und erotischer fluktuierendes Zwischenland
Probleme besteht«. zwischen Bewusstem und Un-
Beide waren in der Wiener bewusstem« betrachtete.
Leopoldstadt aufgewachsen Für Schnitzler und Freud,
und jüdischer Herkunft, sie die beide in Wien wohnten
hatten Medizin studiert, sogar und arbeiteten, ergaben sich
bei demselben Professor. Und zunächst einmal nur beiläu-
beide maßen sie den nächtli- fige Begegnungen. Schnitzlers
chen Träumen, unabhängig Bruder Julius, auch er ein Arzt,
voneinander, allergrößte Be- traf sich mit Freud regelmäßig
deutung zu. in einer Tarockrunde. Schnitz-
AUSTRIAN NATIONAL LIBRARY / INTERFOTO

Sie waren, jeder auf seine lers Tochter Lili war eine Zeit
Art, Seelenforscher und lang von Freuds Tochter Anna
Schriftsteller: Freud, Begrün- in der Schule unterrichtet wor-
der einer neuen Therapie- den. Und Schnitzlers Schwa-
methode und herausragender ger schließlich, der Arzt Marcus
Stilist, schrieb Anamnesen, die Hajek, sollte an Freud später,
mitunter Erzählungen glichen; als der an Rachenkrebs er-
Schnitzler, lange Jahre prakti- krankt war, eine – allerdings
zierender Arzt, zeigte in sei- tragisch missglückte – Opera-
nen Theaterstücken und seiner Dramatiker Schnitzler 1931: »Aus Feigheit oder Grauen« tion vornehmen.
Prosa auf, wie das Unbewusste Nach Schnitzlers Gruß zum
den Menschen umtreibt. Kol- 50. Geburtstag vergingen sechs
legen waren sie und auch Konkurrenten, Jeder von ihnen lobte im anderen genau Jahre, bis es zu einer erneuten Annähe-
galten sie doch beide später als Anwär- das, was eigentlich zur eigenen Rolle ge- rung kam. Wieder war ein runder Geburts-
ter auf den Nobelpreis – und zwar für hörte. Sehr früh, 1886, hatte Schnitzler in tag der Anlass, nun der 50. von Schnitzler.
Literatur. einer wissenschaftlichen Rezension Freuds Freud bedauerte in seinem Brief, nie in
Schnitzler war 1906 schon ein recht be- »außerordentliche Stilgewandtheit« her- die Lage gekommen zu sein, »ein Wort
kannter Schriftsteller, die großartigen No- vorgehoben, während er selbst von Freud mit Ihnen zu wechseln«, zumal er sich
vellen »Sterben« und »Leutnant Gustl« später so charakterisiert wurde: »Im Grun- doch »Ihrer Teilnahme und Ihres Verständ-
waren erschienen, auf der Bühne hatten de Ihres Wesens sind Sie ein psychologi- nisses bei meinen Arbeiten« sicher sei und
seine Stücke »Liebelei« und »Der einsame scher Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch sich auch zu denen rechne, »die Ihre schö-
Weg« Erfolge gefeiert, und der »Reigen« und unerschrocken, wie nur je einer war.« nen und ernsten poetischen Schöpfungen
war in kleiner Auflage publiziert worden, Tatsächlich zählte Schnitzler sich in ganz besonderem Maße verstehen und
allerdings noch weit entfernt von der Ber- selbst gern »zu den Naturforschern, genießen können«.

124 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Aber erst volle zehn Jahre später, im Diese Begegnung im August 1922 war So im Frühjahr 1926, als Freud sich wegen
Mai 1922, anlässlich des nächsten runden der Augenblick der größtmöglichen Nähe eines Herzproblems in ein Sanatorium
Geburtstags von Schnitzler, wurde Freuds zwischen Schnitzler und Freud. Für den begab. Es lag nur wenige Meter von
Werben, sein Interesse an einem persön- Schriftsteller vielleicht zu viel Nähe. Schnitzlers Haus entfernt, und er schickte
lichen Gedankenaustausch so deutlich, Mehr als ein Jahr später, im Dezember einen einladenden Gruß über die Straße:
dass der Schriftsteller sich dem nicht län- 1923, trafen sich beide zufällig auf der Stra- »Ich war Ihnen noch nie so nah.« Viel
ger entziehen konnte. ße. Es war eine erschreckende Begegnung. Witz und Wehmut lagen in dieser Formu-
In der Gratulation hatte Freud geschrie- Freud, dafür bekannt, druckreif zu spre- lierung.
ben, dass ihn die Frage quäle, warum er chen, konnte kaum ein verständliches Schnitzler folgte der Einladung. Er war
eigentlich in all diesen Jahren nie den Wort hervorbringen. beeindruckt davon, wie stoisch Freud sei-
Versuch unternommen habe, »Ihren Ver- In Arztkreisen hatte sich herumge- ne Krankheiten ertrug. Der Patient mach-
kehr aufzusuchen und ein Gespräch mit sprochen, wie nachlässig Freuds Krebs- te es dem Besucher so leicht wie möglich.
Ihnen zu führen« – wobei natürlich, erkrankung im Frühjahr behandelt wor- Wenige Wochen danach, im Mai 1926,
so fügte er zur Absicherung hinzu, in den war, verbunden mit einer Strahlen- schrieb Freud als Antwort auf einen Ge-
Betracht zu ziehen sei, »ob Sie selbst therapie. Erst im Herbst nahm sich ein burtstagsbrief Schnitzlers: »Es soll doch
eine solche Annäherung von mir gerne ge- versierter Facharzt der weit fortgeschrit- nicht ein Vorrecht des Kranken bleiben,
sehen hätten«. In diesem Brief fiel auch tenen Erkrankung an, musste aber schon Sie öfters zu sehen.« Er würde mit
das gern zitierte Wort von dem Autor gern über dessen
der »Doppelgängerscheu«: »Traumnovelle« sprechen, je-
Sie sei es vermutlich gewesen, ne Novelle, die Jahrzehnte spä-
hieß es, die ihn habe zögern ter Stanley Kubrick unter dem
lassen. Titel »Eyes Wide Shut« in die
Nun aber war es so weit. Kinos bringen sollte – als eine
Drei Wochen danach erfolgte von gut hundert Verfilmungen
eine Einladung Freuds in die schnitzlerscher Stoffe von 1914
Berggasse 19 zu einem priva- bis heute.
ten Abendessen, anwesend Was Freud zu dieser Novel-
nur Freuds Frau Martha und le hatte sagen wollen? Eigent-
Tochter Anna: »Ich freue mich lich hätte es Schnitzler doch
darauf, ohne mir ein Pro- interessieren müssen. Aber zu
gramm für diese Stunden zu diesem Gespräch kam es nie,
machen.« Es werde kein ande- auch nicht zu einer Gegen-
rer dabei sein. einladung in die Sternwarte-
Sie hatten sich viel zu erzäh- straße 71. Sie verloren einan-
len, es wurde sehr spät. Und der einfach wieder aus den
Freud wollte den Faden nicht Augen.
abreißen lassen. Er bestand da- Den Nobelpreis erhielten
rauf, seinen Gast noch heimzu- sie beide nicht. Freud notierte
begleiten, quer durch Wien bis im Oktober 1929 verbittert:
zur Sternwartestraße, ein Weg »Im Nobelpreis übergangen«,
von nahezu einer Stunde. Sie er war auch als Kandidat für
sprachen über das Altern und Medizin immer wieder im
das Sterben. Gespräch gewesen. Den Lite-
Zwei Monate später sahen raturnobelpreis erhielten 1929
sie einander wieder. Schnitz- Thomas Mann, 1930 Sinclair
ler besuchte Freud auf dem Lewis und 1931 Erik Axel
Obersalzberg, wo der mit sei- Karlfeldt. Die Schriftstellerin
MARY EVANS / INTERFOTO

ner Familie Urlaub machte. Clara Pollaczek, die sich wie


Auf der Terrasse des Hoch- viele andere immer wieder
gebirgskurheims sprachen sie für ihren Freund Schnitzler
über Gustav Mahler, der bei eingesetzt hatte, notierte An-
Freud einmal um therapeuti- fang Oktober 1931 in ihrem
sche Hilfe ersucht hatte, aus Psychoanalytiker Freud 1931: »Im Nobelpreis übergangen« unveröffentlichten Tagebuch:
Verzweiflung über den Ehe- »Den Nobelpreis hat ein un-
bruch seiner Frau Alma. Of- bekannter Schwede bekom-
fenbar, da waren sie sich einig, hatte das Teile des Ober- und Unterkiefers entfer- men. Daher wenigstens keine Kränkung
dem von beiden verehrten Komponisten nen. Eine Prothese wurde angefertigt, für ihn.«
geholfen. nach neuestem Stand. Arthur Schnitzler starb noch im selben
Auch der Schriftsteller verspürte plötz- Freud hasste diese Prothese, da »der Monat, Sigmund Freud kurz nach Aus-
lich den Wunsch, mit dem Psychoanaly- Kampf mit dem Mechanismus so viel kost- bruch des Zweiten Weltkriegs in London.
tiker über sich und sein Innerstes zu spre- bare Kraft verbraucht«, wie er später ei-
chen. Aber er schreckte dann doch davor nem amerikanischen Journalisten verriet. Volker Hage war von 1992 bis 2014 Litera-
zurück. Im Tagebuch hielt er hinterher »Und doch ist mir dieser Kiefer lieber als turredakteur des SPIEGEL. Sein neuer Ro-
fest: »Ich verspüre eine gewisse Lust, über überhaupt keiner. Noch immer ziehe ich man »Des Lebens fünfter Akt« erzählt von
allerlei Untiefen meines Schaffens (und die Existenz dem Ausgelöschtsein vor.« den letzten Lebensjahren Arthur Schnitzlers.
Daseins) mich mit ihm zu unterhalten – Schnitzler und Freud sahen sich nach Er erscheint am 8. Oktober bei Luchterhand.
was ich aber lieber unterlassen will.« dieser Begegnung nur noch wenige Male.

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DER SPIEGEL im Gespräch


auf der Frankfurter Buchmesse
Kerstin Ahlrichs

Wilfried Gerharz

Dennis Williamson

Sven Jaax
Karen Duve Aladin El-Mafaalani Robert Habeck Dörte Hansen
Urban Zintel

Sara Arnald

Cristopher Civitillo

Peter von Felbert


Helene Hegemann Jonas Jonasson Timur Vermes Juli Zeh

Mittwoch, 10. Oktober Donnerstag, 11. Oktober


12.00 Uhr Oliver Polak »Gegen Judenhass« 11.00 Uhr Der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2018
13.00 Uhr Wolf Haas »Junger Mann« 12.00 Uhr Wolf Wondratschek
»Selbstbild mit russischem Klavier«
13.30 Uhr Stephan Thome »Gott der Barbaren«
13.00 Uhr Volker Hage und Volker Weidermann
14.00 Uhr Helene Hegemann »Bungalow« »Des Lebens fünfter Akt« und »Träumer«
15.00 Uhr Timur Vermes »Die Hungrigen und die Satten« 13.30 Uhr Lena Greiner und Carola Padtberg »Ich muss mit auf
16.00 Uhr Andreas Rödder »Wer hat Angst vor Deutschland?« Klassenfahrt – meine Tochter kann sonst nicht schlafen!«

16.30 Uhr Inger-Maria Mahlke »Archipel« 14.00 Uhr Burghart Klaußner »Vor dem Anfang«

17.00 Uhr Lukas Rietzschel »Mit der Faust in die Welt schlagen« 15.00 Uhr Dörte Hansen »Mittagsstunde«
15.30 Uhr Martin Doerry und Volker Hage
»SPIEGEL-Wissenstest Literatur«
16.00 Uhr Constanze Kurz »Cyberwar«
16.30 Uhr Margarete Stokowski »Die letzten Tage des Patriarchats«
17.00 Uhr Jonas Jonasson »Der Hundertjährige, der zurückkam, um
die Welt zu retten« (Veranstaltung in englischer Sprache)
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Marcus Höhn

Mike Meyer
Freitag, 12. Oktober
11.00 Uhr Heinz Strunk »Das Teemännchen«
11.30 Uhr Annette Hess »Deutsches Haus«
12.00 Uhr Juli Zeh »Neujahr«
13.00 Uhr Karen Duve »Fräulein Nettes kurzer Sommer«
13.30 Uhr Aladin El-Mafaalani »Das Integrationsparadox«
14.00 Uhr Katharina Adler »Ida«
15.00 Uhr Bodo Kirchhoff »Dämmer und Aufruhr«
María Cecilia Barbetta Bas Kast
16.00 Uhr Max Czollek »Desintegriert euch!«
17.00 Uhr Nino Haratischwili »Die Katze und der General«

Samstag, 13. Oktober Sonntag, 14. Oktober


10.00 Uhr Simone Buchholz »Mexikoring« 11.00 Uhr Bas Kast »Der Ernährungskompass«
11.00 Uhr Comiczeichner Flix 11.30 Uhr Tim Mälzer »Neue Heimat«
11.30 Uhr María Cecilia Barbetta »Nachtleuchten« 12.00 Uhr Konstantin Wecker
»Auf der Suche nach dem Wunderbaren«
12.00 Uhr Florian Henckel von Donnersmarck »Werk ohne Autor«
13.00 Uhr Kinderquiz »Dein SPIEGEL«
13.00 Uhr Robert Habeck »Wer wir sein könnten«
13.30 Uhr Markus Feldenkirchen »Die Schulz-Story« Die Veranstaltungen dauern rund 30 Minuten.
Änderungen vorbehalten
14.00 Uhr Alice Pantermüller und Daniela Kohl
»Mein Lotta-Leben«
15.00 Uhr Hasnain Kazim »Post von Karlheinz«
16.00 Uhr Ahmad Mansour »Klartext zur Integration«
17.00 Uhr Volker Kutscher und Nathalie Boegel
»Der nasse Fisch« und »Berlin – Hauptstadt des
Verbrechens«

Mittwoch bis Sonntag, 10. bis 14. Oktober 2018


SPIEGEL-Stand, Halle 3.0, D56,
und auf spiegel-live.de
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Kultur

»Die Einwanderung
verändert alle. Niemand kann
bleiben, wie er war«
SPIEGEL-Gespräch Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft, sagt die Wiener
Philosophin Isolde Charim – und wir beginnen gerade erst
zu verstehen, wie grundlegend der damit verbundene Wandel ist.

Das Wiener Kaffeehaus Jelinek atmet den grundlegend hat sich das Land verändert – Frau dabei, die auch oft einen Lodenman-
angestoßenen Charme vergangener Tage. und wir. Die Pluralisierung war kein poli- tel trug. Die haben bestimmt, was öster-
Zeitungen liegen herum, die Mitglieder der tisches Projekt, es steckte keine Intention reichische Normalität ist. Sie haben vor-
Band Wanda zeigen sich hier ab und zu, dahinter. Sie ist einfach passiert, ungeplant gegeben, wie ein Österreicher ausschaut.
die Autorin Stefanie Sargnagel – und die und ungesteuert. Und nun müssen wir mit SPIEGEL: Solche Männer sieht man heute
Philosophin Isolde Charim, die für ihr Buch ihr leben und anfangen, sie mitsamt ihren immer noch.
»Ich und die Anderen. Wie die neue Plura- Folgen zu verstehen und zu bewältigen. Charim: Ja. Aber sie geben nicht mehr vor,
lisierung uns alle verändert« (Zsolnay; SPIEGEL: Aber wenn ich mich gar nicht was normal ist. Neben diesen Männern
224 Seiten; 22 Euro) gerade in Hildesheim verändern will? gibt es all die anderen, die auch Bahn fah-
den Philosophischen Buchpreis verliehen Charim: Das können Sie natürlich wollen, ren und die ganz anders aussehen, aber
bekommen hat. Charim, 59, ist in Wien auf- das wird nur nichts nutzen, denn die Ver- ebenso Österreicher sein können.
gewachsen. Ihre Familie kommt aus Gali- änderungen vollziehen sich, ohne uns um SPIEGEL: Wenn man in diesen Tagen Bil-
zien, ihre Eltern waren Juden und mussten Einverständnis zu fragen. der vom Münchner Oktoberfest sieht,
vor den Deutschen nach Palästina fliehen, SPIEGEL: Warum verändert Einwande- dann ist Tracht dort durchaus normal.
die meisten Angehörigen wurden von den rung die Einheimischen? Charim: Richtig. Man kann auch in Wien
Deutschen ermordet. Mitte der Fünfziger Charim: Weil sie die Art verändert, wie eine Wiederkehr der Tracht beobachten.
gingen ihre Eltern nach Wien, wo Charims die Einheimischen sich selbst erfahren. Hat man vor Kurzem noch versucht, die
Vater für viele Jahre Korrespondent der Zei- Deutschland und mit gewissen Einschrän- Tracht als eine Mode unter anderen zu ver-
tung »Haaretz« war. Charim war eine Mit- kungen auch Österreich haben sich lange stehen, so scheinen es die Trachtenträger
organisatorin der großen Proteste gegen als homogene Gesellschaften gesehen, was heute wieder ernst zu meinen: die Tracht
die schwarz-blaue Koalition im Jahr 2000. zwar nicht stimmte, aber eine mächtige als Kostüm für den echten Österreicher.
Sie lehrt an der Wiener Universität und ist Fiktion war. Diese homogenen Gesellschaf- SPIEGEL: Wann fängt dieser Wandel denn
Kolumnistin verschiedener Zeitungen. ten machten ihren Mitgliedern ein Ange- an? Wann hat die Pluralisierung begonnen?
bot: Sie durften mit Selbstverständlichkeit Charim: Ich würde drei historische Typen
SPIEGEL: Frau Charim, die Bundesrepu- dazugehören. Das ist heute nicht mehr so. unterscheiden, wobei sie fast nie in Rein-
blik Deutschland ist seit Langem ein wich- Diese Fiktion ist nicht mehr aufrechtzu- form vorkommen und heute auch neben-
tiges Einwanderungsland für Menschen erhalten, deshalb gilt das Angebot nicht einander weiterexistieren. Da gibt es den
aus aller Welt. Nun hat die Große Koalition mehr – und das macht vielen Menschen Mensch der Fünfziger- und Sechzigerjahre,
Eckpunkte eines Gesetzes beschlossen, zu schaffen. der in einer Gesellschaft lebt, die noch von
das die Einwanderung regeln soll – nach SPIEGEL: Fehlt Menschen dadurch nicht der Fabrik, den Kirchen, den Gewerkschaf-
Jahrzehnten der Diskussion. Warum fällt etwas? ten und den Volksparteien geprägt ist.
es uns so schwer, das Offensichtliche zu Charim: Aber sicher, jeder dürfte das Ge- SPIEGEL: Der Lodenmantelmann.
akzeptieren? fühl kennen. Ich bin in Wien aufgewach- Charim: Genau. Die Institutionen haben
Charim: Weil die Einwanderung größer ist sen. Wenn ich da, in den Sechzigern, als ihm einen Halt gegeben, er war eingefügt
als ein Gesetz. Sie verändert uns alle, Ein- kleines Mädchen mit der Bahn gefahren in eine Gemeinschaft, die ihm auch ein
heimische wie Einwanderer. Niemand bin, dann gab es diese Männer im Loden- Vokabular zur Verfügung gestellt hat, in
kann so bleiben, wie er war. mantel, die hatten einen Hut auf, an dem dem er seine Erfolge und Enttäuschungen
SPIEGEL: Wieso? ein Gamsbart steckte, und die hatten eine artikulieren konnte. Oder sein Scheitern
Charim: Die Pluralisierung der Gesell- auffangen konnte. Eine zutiefst paterna-
schaft ist eine der großen Veränderungen listische Welt.
unserer Zeit. Sie hat sich vollzogen, wäh- SPIEGEL: Gegen die sich die Revolte der
rend wir leben, jeder, der älter ist als »Einer Leitkultur, die späten Sechziger und Siebziger wendete.
40 Jahre, kann sich noch an die ersten gefordert werden muss, Charim: Das wäre der zweite Typus. Die
fremden Gesichter erinnern, die er oder paradigmatische Figur der 68er ist der
sie gesehen hat. Das ist eine Erfahrung,
fehlt der Kern: die Rebell, der die Autorität infrage stellt. Der
die heute kaum noch vorstellbar ist, so Selbstverständlichkeit.« im Namen der Minderheit spricht. Der der

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MICHAEL APPELT / DER SPIEGEL


Autorin Charim: »Das Begehren unserer Zeit«

Minderheit zu ihrem Recht verhelfen will. und erstaunlicherweise verwendeten sie haben. Das waren keine normalen Partei-
Politisch ist das die Zeit der NGOs und die meiste Energie darauf zu vermeiden, veranstaltungen. Die unterschiedlichsten
der neuen sozialen Bewegungen. Die dass irgendjemand in ihrem Namen Leute sind dort nach vorn gegangen und
Grünen sind daraus hervorgegangen, die spricht. Das stand so im Vordergrund, dass haben ihre Geschichte erzählt. Und ihnen
Friedensbewegung, die Bürgerinitiativen, das Formulieren politischer Forderungen wurde zugehört. Wie eine Sprechtherapie.
Greenpeace. Das ist schon eine buntere ganz in den Hintergrund trat. Die Leute Macron ist damit die Quadratur des Krei-
Gesellschaft, die sich hier zeigt, aber die waren nur noch damit beschäftigt, sich ses gelungen – in einer Massengesellschaft
Identität der Einzelnen ist immer noch Strukturen auszudenken, die jeden Teil- den Einzelnen vorkommen zu lassen, ohne
vom Kampf gegen die Mehrheit geprägt, nehmer uneingeschränkt vorkommen las- dass er sich unterordnen muss. Das ist das
gegen die Vorstellung, der Mainstream sen sollten. Begehren unserer Zeit.
würde alles gleichmachen. SPIEGEL: Deshalb verlief die Bewegung SPIEGEL: Sie meinen, dass erfolgreiche
SPIEGEL: Und heute? dann auch ins Nichts. Politik, die die Menschen bei ihren Gefüh-
Charim: Ist das auch hinfällig. Die große Charim: Möglicherweise. Es war aber auch len abholt, heute ein bisschen wie Face-
Krise der politischen Parteien und der das, was die Leute wirklich bewegt hat. book funktioniert? Dort kann ja auch jeder
Aufstieg des Populismus hat für mich vor Und ich glaube, dass man das sehr ernst ganz er selbst sein und sich der Welt un-
allem damit zu tun, dass sich ein dritter nehmen und verstehen muss. Das ist ein eingeschränkt mitteilen.
Typus herausbildet: der gar nicht mehr tiefes Bedürfnis, und damit die Leute dieses Charim: Ja, sie muss den Menschen einen
vertreten werden will. Der nur noch mit Gefühl bekommen, muss es Räume geben, Resonanzraum bieten.
seinem Ich vorkommen möchte. Ganz, die ihnen das vermitteln. Wem das gelingt, SPIEGEL: Aber was hat das mit der Ein-
ohne Kompromiss. der kann Menschen für sich einnehmen. wanderung zu tun?
SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. SPIEGEL: Aber das war nur eine kleine Charim: Wenn ich gerade die drei Typen
Charim: Erinnern Sie sich an die Occupy- Gruppe von Protestierern. skizziert habe, dann ist für die Identität
Wall-Street-Bewegung? Diese Protestbe- Charim: Der französische Präsident Em- des ersten Typs die Mehrheitserfahrung
wegung, die sich gegen den Finanzkapita- manuel Macron hat genau verstanden, was wichtig. Für den zweiten die Minderhei-
lismus richtete und weltweit Ableger für ein Wunsch dahintersteht. Der Kern tenerfahrung. Der dritte, und da kommt
hatte? Wochenlang zelteten da Demons- seines Wahlkampfs waren Bürgerversamm- die Einwanderung ins Spiel, lebt nun in
tranten im New Yorker Bankenviertel – lungen, die im ganzen Land stattgefunden einer Welt, in der es nur noch Minder-

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heiten gibt oder sich zumindest SPIEGEL: In Ihrem Buch skiz-


alle so fühlen. zieren Sie das Modell »Begeg-
SPIEGEL: Auch wenn sie in der nungszone«. Was ist das?
Mehrheit sind. Charim: In Wien gibt es die
Charim: Das ist für die Gefühle Mariahilfer Straße, das war ein-
nicht wichtig. Die Angst ist mal eine große Einkaufsstraße,
wichtig. Natürlich gibt es eine wo die Autos fuhren und die
massive Bewegung, die die Plu- Menschen sich auf dem Bürger-
ralisierung und die Einwande- steig drängten. Dort hat die

MICHAEL APPELT / DER SPIEGEL


rung abzuwehren versucht. Stadt Wien eine sogenannte
SPIEGEL: Viele Konservative Begegnungszone eingerichtet.
machen die 68er für den Unter- Das ist keine Fußgängerzone.
gang der alten Welt verantwort- Begegnungszone heißt, dass es
lich und fordern eine Gegen- fast keine Regeln für die Ver-
revolte, die die Errungenschaf- kehrsteilnehmer gibt. Autos,
ten von damals rückgängig Fahrräder, Fußgänger – alle
machen soll. Charim, SPIEGEL-Redakteur*: »Auch die Mitte ändert sich« sind noch da, gleichberechtigt,
Charim: Die 68er sind aus ganz ohne dass es durchreglemen-
anderen Gründen ein Auslauf- tiert wäre. Die Stadt überlässt
modell. Wir leben heute eine andere Form SPIEGEL: Der Historiker Andreas Rödder den Menschen selbst, wie sie miteinander
der Individualisierung. Wie ich sie gerade sagt, die Mitte sei sprachlos und einge- umgehen. Und es funktioniert auf einmal.
geschildert habe – ich würde sie »identitä- zwängt zwischen einer Linken, die die Straße und Bürgersteig sind auf einer Ebe-
res Prekariat« nennen. Vielfalt feiere, und einer Rechten, die der ne. Der Verkehr muss sich jetzt selbst re-
SPIEGEL: Woher kommt denn dieser anti- Homogenität hinterhertrauere. geln. Wenn es keinen Schutz gibt, werden
pluralistische Impuls? Überall auf der Welt Charim: Ich sehe das anders. Die Plura- alle vorsichtiger. Die Begegnungszone
gewinnen populistische Bewegungen an lisierung ist einfach da. Man kann sich zwingt jeden dazu, den anderen wahrzu-
Kraft, nicht nur in Deutschland. Alle teilen nicht so verhalten, als wäre sie nicht nehmen. Sonst gibt es einen Unfall.
den Wunsch nach Eindeutigkeit. längst in unser aller Leben angekommen. SPIEGEL: Ist das wirklich die Lösung?
Charim: Die Menschen wehren sich gegen Dahinter gibt es kein Zurück. Und damit Charim: Ich bin Philosophin und keine
eine Veränderung, die sie auch selbst er- müssen wir alle einen Umgang finden. Politikerin. Es ist ein Bild. Demokratie
greift. Sie wollen die Grenzen wieder be- Daraus ergeben sich viele gesellschaftliche funktioniert nur, wenn alle Menschen sich
festigen, ihre Identitäten fixieren, Bedeu- Fragen und auch Probleme. Die aber einschränken. Und das müssen sie wollen,
tungen festschreiben. Ich verstehe das nur angegangen werden können, wenn weil sie wissen, dass ihr Überleben davon
auch. Ich glaube aber, dass das hilflose man diese neue Realität versteht. Mir abhängt.
Reaktionen sind. ist ganz wichtig, dass das kein äußer- SPIEGEL: Gibt es eigentlich eine Alterna-
SPIEGEL: Die Debatte um eine Leitkultur licher Vorgang ist. Wir alle haben uns ver- tive zum Pluralismus?
war ein Versuch, einen Rahmen für das ändert. Innerlich. Jeder. Auch die schwei- Charim: Nein. Unsere Gesellschaft ist un-
Leben in einer Einwanderungsgesellschaft gende Mitte. hintergehbar pluralistisch. Unschuldig
zu definieren. Sollte sie wieder aufgenom- kommen wir da nicht wieder heraus. Na-
men werden? türlich gibt es Möglichkeiten, ihr zu ent-
Charim: Nein. Einer Leitkultur, die nicht kommen – die Nazis haben auch gezeigt,
gewachsen ist, sondern die gefordert wer- »Eine Aufgabe für Politik wie man eine Gesellschaft homogenisieren
den muss, fehlt der Kern: die Selbstver- ist im Augenblick, wie kann. Aber es gibt nur den staatsterroris-
ständlichkeit. Sie ist eine Erfindung und man mit den Leuten über tischen Weg, ich sehe keinen anderen. Die
keine Kultur. Leute sind jetzt da. Und sie werden nicht
SPIEGEL: Aber es muss doch Spielregeln Migration spricht.« wieder gehen.
geben. SPIEGEL: Die USA waren schon immer
Charim: Nun, die Spielregeln gibt es ja, es ein Einwanderungsland. Können wir von
sind die Gesetze eines Landes. Aber die SPIEGEL: Schauen Sie nicht mit den Augen den Amerikanern lernen, mit der Plura-
Pluralisierung macht es notwendig, alltäg- der Großstädterin auf das Phänomen? lisierung der Gesellschaft umzugehen?
liche Umgangsformen neu zu verhandeln. Charim: Nein. Jedes Dorf in Österreich ist Charim: Ich glaube, dass die USA ganz
Ich halte jedoch die ganze Debatte, die in Teil dieser neuen Welt. Die Vorstellungen, anders sind als die europäischen Gesell-
Deutschland und Österreich über Integra- die wir uns von unserer Gesellschaft ma- schaften. In den USA funktioniert Einwan-
tion geführt wird, für sehr problematisch. chen, sind erschüttert. Und das wiederum derung nach diesem Dreischritt: Leute
SPIEGEL: Warum? erschüttert die Art, wie wir Ich sind. Men- kommen und schotten sich ab, es kommt
Charim: Sie suggeriert, die Gesellschaft kön- schen fühlen sich infrage gestellt. Wenn es zum Konflikt, man gewöhnt sich anein-
ne eigentlich so bleiben, wie sie ist. Ich glau- eine Aufgabe für Politik gibt, dann ist es ander. Das ist eine verführerische Ge-
be, dass das nicht der Fall ist. Das ist genau im Augenblick die Frage, wie man mit den schichte, weil sie ein Happy End hat. Der
die Zumutung, mit der wir leben müssen. Leuten über Migration spricht. Migration mächtigste Agent der Normalisierung ist
Natürlich ist Integration wichtig. Aber sie ist die Frage, entlang derer sich entschei- die Gewohnheit. Aber die Amerikaner
wird nichts wieder so machen wie früher. det, wer wir sind. Die europäischen Ge- haben nie in der Fantasie der gesellschaft-
Das Früher ist unwiderruflich vorbei. Auch sellschaften versammeln sich deshalb nicht lichen Homogenität gelebt. Wir schon.
wenn es überall beschworen wird. Selbst im mehr entlang des Widerspruchs von Ar- Deshalb spüren wir die Veränderung
besten Fall, dann, wenn alle Integrations- beit und Kapital, sondern entlang der gerade so sehr.
maßnahmen funktionieren wie gewünscht, Migrationsfrage. SPIEGEL: Frau Charim, wir danken Ihnen
wird die Gesellschaft eben immer noch für dieses Gespräch.
pluralisiert sein. Das alte Zentrum ist weg. * Tobias Rapp in Wien.

130 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Kultur

bereits abgedankt und befand sich mit seiner Gattin und

Menschen in der allen fünf Kindern unter Hausarrest in Jekaterinburg,


1400 Kilometer östlich von Moskau, als ein Überraschungs-
angriff ihrem Leben und dem von vier Zugehörigen ein im

Komfortzone Detail schreckliches Ende machte – mit Schusswaffen und


Bajonetten, mit Säure und schließlichem Verscharren im
Wald. Die klandestinen Umstände der Tat, die Vernichtungs-
wut der Mörder und natürlich die historische Bedeutung der
Fernsehkritik Matthew Weiner, der Macher 300 Jahre alten Dynastie sorgten für einen nicht enden wol-
von »Mad Men«, hat eine lenden Rumor: Hatte nicht doch eines der Kinder überlebt
neue Serie produziert: »The Romanoffs«. und weitere Nachkommen gezeugt? Wobei, abgesehen da-
von, eine so weit verzweigte Sippe wie das Haus Romanow
selbstverständlich in vielen Ländern der Erde ganz legitime
er das coole und immer gut frisierte Personal der Vertreter hat.
W Fernsehserie »Mad Men« zu seiner Sofabekannt-
schaft zählt, für den ist der Name Matthew Weiner
eine verlässliche Marke. Er hat die Serie »Mad Men«, die im
Um die Vertreter des Normalen scheint es auch Weiner ei-
gentlich zu gehen, nicht um das Monströse. Diverse Personen
der ersten drei Episoden der achtteiligen Serie hören auf den
Milieu der New Yorker Werber der Sechzigerjahre spielt, er- Namen Romanoff oder auch Romanow – tragisch in allen
funden und produziert. Weiner ist ein großer Künstler der Schreibweisen – , doch nur für eine von ihnen ist die Herkunft
Atmosphäre, mit einem klugen Blick auf die Themen – und die Hauptsache des Lebens: die Bewohnerin einer luxuriösen,
das Verdrängte – der Zeit und einer starken Begabung zum verschwenderisch großen Wohnung in Paris, die ihr russischer
Urgroßvater einer französischen Mätres-
se geschenkt hatte. Sie pflegt das Geden-
ken an eine Heimat, die sie nie sah, und
zieht aus ihrer Abstammung vor allem
das sardonische Vergnügen, minder Ge-
borene in ihrer Umgebung – also eigent-
lich alle – zu schikanieren. Das sich hier
entfaltende Drama um Erbschleicherei,
Sozialverachtung und Liebe erinnert an
die besten Novellen Guy de Maupas-
sants. Es ist komisch, im Verlauf überra-
schend und zugleich nicht ohne Herz wie
leicht gerüscht. Mit den Romanows hat
CHRISTOPHER RAPHAEL / AMAZON PRIME

es jedoch nur am Rande zu tun.


Und auch die Hauptfigur der dritten
Episode wird nicht als Nachfahre russi-
scher Aristokraten im Gedächtnis blei-
ben, aber es ist doch gut möglich, dass
man noch lange an Corey Stoll alias
Michael Romanow denken wird. Wir se-
hen ihm dabei zu, wie er Verwerfliches
tut, doch bleibt es ganz uns überlassen,
Szene aus »The Romanoffs«: Das sardonische Vergnügen, zu schikanieren das zu erklären. Wie seine Ehefrau, wie
seine Geliebte, wie seine Therapeutin se-
hen wir nur vor die breite Stirn dieses
Plot. Die Ungemütlichkeit von Stoffen wie Rassismus und gut gebauten Durchschnittsamerikaners und in keiner Sekun-
Misogynie balanciert er erfolgreich mit der ästhetischen Ver- de dahinter. Es gibt keine Erleuchtung, keine Gewissheit,
führungskraft seiner Kulissen und Menschen aus; Konsumier- doch ist das Rätsel mit derart viel Finesse vor uns ausgebreitet,
barkeit und Verstörung halten sich in etwa die Waage. Und dass es uns anzugehen scheint.
wie die Großmeister der literarischen Erzählung im 20. Jahr- Die große quälende Frage des 20. Jahrhunderts – wozu
hundert, zum Beispiel Stefan Zweig, ist der Fernsehautor ist der Einzelne imstande, wenn die Verhältnisse inhuman
Weiner ein ausgezeichneter Psychologe, für den das jeweils sind? – wird hier in der Komfortzone fortgesetzt: Wozu ist der
normale menschliche Verhalten ebenso interessant ist wie Mensch imstande, wenn nichts ihn zwingt als
die eher kleine moralische Abweichung. Das Monströse über- seine Leidenschaft und wenn nichts ihn zurück-
lassen solche Künstler der reflektierten Unterhaltung gern hält als die Angst vor dem Erwischtwerden?
anderen. So kann man, zu diesem Stand der Dinge,
Insofern ist es überraschend, dass Weiners erster Auftritt nur sagen: Matthew Weiner hat mindestens
seit der vielfach dekorierten Produktion »Mad Men« sich drei interessante Novellenstoffe verfilmt; un-
einer Monstrosität des vergangenen Jahrhunderts widmet: erhörte Begebenheiten, die in ästhetisch reiz-
»The Romanoffs« erinnert an die Ermordung der Zaren- vollen Milieus spielen und derer man gern Video
Ausschnitte
familie im Juli 1918 vermutlich im Auftrag Wladimir Iljitsch Zeuge ist. Und das würde natürlich auch aus »The
Lenins, der den monarchistischen Gegnern der Revolution funktionieren, wenn niemand der Beteiligten Romanoffs«
keine Hoffnungsträger übrig lassen wollte. Nikolaus II. hatte einen Ehrfurcht und Schauder auslösenden
spiegel.de/
Namen trüge. Aber Reklame, das weiß der sp412018romanoff
Die englischsprachige Originalfassung läuft ab 12. Oktober bei Amazon Prime, Erfinder der »Mad Men« am besten, schadet oder in der App
2019 auch in deutscher Synchronfassung. natürlich nie. Elke Schmitter DER SPIEGEL

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Freddie Oversteegen, 92 gewesen. Wie viele Männer


Nachrufe Sie war während des Zwei-
ten Weltkriegs Teil eines
sie tötete, verriet sie nicht.
Ihr Kampf gegen die Nazis
tödlichen Trios: Mit ihrer erfüllte sie mit Stolz, aber
zwei Jahre älteren Schwes- auch mit Schmerz, manch-
ter Truus und Hannie mal ließen die Erinnerungen
Schaft, der berühmten nie- sie nicht schlafen. Ihre Kin-
derländischen Widerstands- der haben ihr geholfen, mit
kämpferin, zählte sie zu den den Traumata des Krieges
wenigen weiblichen Mitglie- zu leben. Freddie Over-
dern der dortigen Anti-Nazi- steegen starb bereits am
Aktivisten – und sie tötete 5. September in Driehus. KS
auch selbst. Die drei spezia-
lisierten sich darauf, Kolla- Geoff Emerick, 71
borateure und deutsche Am Anfang drückte er nur
Nazis an versteckte Plätze einen Knopf, da war Geoff
zu locken, wo die Männer Emerick 15 Jahre alt und
erschossen wurden. 1940, saß bei der ersten Aufnah-
Freddie Oversteegen war mesession der Beatles in
14 Jahre alt, hatte die deut- den Abbey Road Studios

JEROME BONNET / MODDS


sche Wehrmacht ihre Hei- am Bandgerät. Emerick
mat besetzt. Zusammen mit blieb und bekam zwischen
ihrer Schwester verteilte sie 1966 und 1969 eine bedeu-
Flugblätter: »Die Niederlan- tende Rolle, als die Beatles
de müssen frei sein!« Die
Mädchen wurden vor allem
Charles Aznavour, 94 von ihrer Mutter erzogen,
Eine Begegnung mit Charles Aznavour war wie eine Be- einer geschiedenen Kommu-
gegnung mit dem Eiffelturm. Dabei fühlte sich der Säulen- nistin mit ausgeprägtem
heilige französischer Kultur auch seiner armenischen Gerechtigkeitssinn. Sie half
Herkunft verpflichtet – und wäre beinahe Amerikaner ge- ab den Dreißigerjahren jüdi-
worden. Geboren wurde er 1924 als Kind des Quartier schen Flüchtlingen. Die
Latin, seine Eltern waren vor dem Genozid in Armenien Schutzsuchenden wurden
geflohen. Die Familie blieb notgedrungen in Paris, weil ihr später deportiert, Freddie
die Visa für die USA verwehrt wurden. Unter deutscher Oversteegen vergaß sie nie.

GETTY IMAGES
Besatzung ging Aznavour 1941 ans Theater und trat in Cafés Ein Anführer des niederlän-
und Nachtklubs auf. Nach dem Krieg engagierte ihn Édith dischen Widerstands warb
Piaf als »Mädchen für alles«, vom Sekretär bis zum um die Mitarbeit der
Songwriter. Versuche, 1948 in New York künstlerisch Fuß Schwestern, die Mutter wil-
zu fassen, blieben vergeblich. Wegen »skurrilen Aussehens ligte ein. Es ging um Sabota- ihre Meisterwerke »Revol-
und unattraktiver Stimme« von Kritikern gescholten, schien ge, Spionage, Fluchthilfe, ver«, »Sgt. Pepper’s Lonely
er nicht fürs Rampenlicht geschaffen. Erst in den Sechziger- aber eben auch um Mord. Hearts Club Band«, das
jahren glückte ihm doch noch der Aufstieg auf den Olymp, »Ja«, sagte Oversteegen als sogenannte Weiße Album
an die Seite von Idolen wie Maurice Chevalier. Im Gegen- alte Dame, »ich habe die und »Abbey Road« einspiel-
satz zu Frank Sinatra interpretierte Aznavour nie nur das Pistole benutzt, und ich ten – die des Toningenieurs.
Material anderer Leute. Melodien und Texte schrieb er habe sie fallen sehen. Und Emerick gab der zuneh-
selbst. Rund 180 Millionen Platten sollte er verkaufen und was geht in so einem Mo- mend auseinanderdriften-
mehr als 800 Chansons komponieren, unter anderem ment in uns vor? Du willst den Band emotionale Stabi-
für Liza Minnelli, Gilbert Bécaud oder Juliette Gréco. Zwar ihnen helfen, wieder aufzu- lität. Es war die Zeit, als
stand er für Truffaut, Chabrol und Schlöndorff vor der stehen.« Aber es musste John Lennon und Paul
Kamera und erwies sich als großer Mime aus eigenem getan werden, glaubte sie, McCartney mehr sein woll-
Recht. Nur im Chanson aber, auf Konzerten, konnte er alle es sei »das nötige Übel« ten als begnadete Songwri-
seine Talente bündeln. Während Jacques Brel zum Zynis- ter und Popmusik zu Kunst
mus und Serge Gainsbourg zur Erotomanie neigte, blieb machten. Die dazugehöri-
Aznavour dem Ideal des Chansons treu. Sein Sujet war die gen Geräusche und Klänge
COURTESY OF NATIONAL HANNIE SCHAFT FOUNDATION

Liebe, von der Euphorie des Anfangs (»She«) über Momen- nahm Emerick auf und
te postkoitalen Glücks (»Après l’amour«) bis zu ihrem experimentierte dafür etwa
Verblühen (»Du lässt dich gehn«). Für »Comme ils disent« mit neuen Mikrofoniertech-
anverwandelte er sich 1972 die Rolle des ausgegrenzten niken. Er blieb auch nach
Homosexuellen. Nie wohlgefällig, immer ehrlich, sang er in dem Ende der Beatles im
sieben Sprachen und verkörperte bis zuletzt auf den Büh- Geschäft und war verant-
nen der Welt die Wechselfälle des Lebens, von denen er in wortlich für viele Alben
seinen Liedern erzählte. Auch seine Altersrolle als über- unterschiedlicher Künstler.
ragender Botschafter des Chansons und damit der Mensch- Geoff Emerick starb am
lichkeit meisterte er mit Bravour. Charles Aznavour starb 2. Oktober in Los Angeles
in der Nacht zum 1. Oktober in Mouriès, Provence. FRA an einem Herzinfarkt. RAP

DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018 133


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Personalien

#MeToo
auf Indisch
● Vor zehn Jahren suchte sie schon einmal
die Öffentlichkeit, fand jedoch kein Gehör.
Jetzt steht Bollywood kopf: Tanushree
Dutta, 34, indische Schauspielerin und
ehemalige Schönheitskönigin, stieß die seit
einem Jahr geführte #MeToo-Debatte auch
in einer der größten Filmindustrien der Welt
an. Dutta wiederholte in einem Tweet
Anschuldigungen gegen ihren Kollegen
Nana Patekar, er habe sie 2008 während
Dreharbeiten sexuell belästigt; als sie
seinem Drängen nicht nachgab, habe er sie
bedroht. Ihre Beschwerden seien damals
ignoriert worden. Seit 2010 hat Dutta keine
Engagements mehr in Indien gehabt. Zwei
Jahre lang lebte sie in den USA und kam

THE INDIA TODAY GROUP / GETTY IMAGES


Ende Juli in ihre Heimat zurück. Prominen-
te Schauspielerinnen wie Priyanka Chopra
lobten sie für ihren Mut. Gewalt gegen Frau-
en ist in Indien ein großes gesellschaftliches
Problem. Der Beschuldigte streitet nach wie
vor alles ab. Dutta wurde inzwischen in
sozialen Netzwerken nicht nur beschimpft,
sondern auch bedroht. Die Polizei von
Mumbai gibt ihr Personenschutz. KS

Stars wie Nicole Kidman und gonistinnen auftreten zu


Einfach mal Reese Witherspoon Hauptrol- lassen. Alles andere ergab
machen len. Die Serie war so erfolg- sich von selbst. Zu dem Zeit-
reich, dass Moriarty gebeten punkt wusste sie noch nicht
● Durch ihre Arbeit wurde wurde, eine Fortsetzung des einmal, ob es tatsächlich eine
sie reich, und spätestens Romans zu schreiben. An- zweite Staffel geben würde,
seitdem ihr Roman »Big Little fangs fiel es ihr schwer, auf geschweige denn, ob eine der
Lies« als gleichnamige Serie Bestellung zu arbeiten, es war berühmtesten Schauspielerin-
verfilmt wurde, ist die austra- das erste Mal. Doch dann nen des Planeten an der Rolle
lische Bestsellerautorin Liane sagte ihre Schwester, sie solle interessiert sein würde. In-
Moriarty, 51, auch internatio- doch ihre Lieblingsschauspie- zwischen sind die Dreharbei-
nal berühmt. In der Geschich- lerin mit reinschreiben. Das ten abgeschlossen – und
te um emotional geschädigte ist Meryl Streep, und der Streep war tatsächlich mit
Oberschichtsfrauen in Kalifor- Gedanke an sie inspirierte von der Partie, zum ersten
NIC WALKER

nien, die in eine Mordermitt- Moriarty zu der Idee, die Mal seit 40 Jahren in einer
lung hineingeraten, spielen Mütter der bisherigen Prota- tragenden TV-Serienrolle. KS

134 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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Gegenstand eines Films, die


Spagat zwischen Aufbereitung als Musical ist
den Zeiten neu. Historiker erhoffen
sich so, junge Interessenten
● Die Frischvermählten, die für die Epoche zu gewinnen.
eventuell, vielleicht, wahr- Dass auch das Königshaus
scheinlich bald Eltern wer- an diese Strategie glaubt,
den, haben eine schwierige zeigt nicht nur der Besuch
Aufgabe: Meghan, Herzogin von Meghan und Harry. Zu-

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL


von Sussex, 37, und ihr vor war der Hauptdarsteller
Ehemann Prinz Harry, 34, nach Schloss Windsor ein-
sollen die jahrhundertealte geladen worden, um Origi-
Institution der Monarchie naldokumente, zum Beispiel
auf moderne Art repräsentie- Briefe von George III., zu
ren. Um den Spagat zwi- studieren. KS
schen Tradition und Moder-
ne mal wieder zu zelebrie-
ren, besuchten sie nun Die Augenzeugin
die Aufführung eines Musi-
cals, in dessen Mittelpunkt
König George III. steht, jener
britische Monarch, dessen
»Immer positiv denken«
bewegte Regentschaft von Gertraude Büttner, 103, lebt in einer Seniorenresidenz
1760 bis 1801 von seiner in Potsdam. Am 1. Oktober, dem »Tag der älteren
Geisteskrankheit stark be- Menschen«, folgte sie mit neun Altersgenossen einer
einträchtigt war; er starb
Einladung für die hundertjährigen Bürger der Stadt.
völlig umnachtet 1820. Die
Geschichte des verrückten
REUTERS

Königs – ein Urahn von ● »Das Treffen war ganz nett. Wir haben eine kleine Stadt-
Prinz Harry – war bereits rundfahrt gemacht und im Café Barberini Kaffee getrunken.
Viel mehr haben wir nicht geschafft, die anderen waren ja
auch alle so alt. Da war vor allem das Kuchenessen wichtig.
Aber eine alte Dame – die war sogar noch älter als ich,
kum ein Interview gegeben 105 Jahre – hat gesagt, dass sie froh war, dass es an dem Tag
Irrfahrt und dabei – im Sitzen, mit geregnet hat, weil sie dann ihren Garten nicht sprengen
zum Erfolg betont krummer Haltung brauchte. Da blieb mir der Mund offen stehen, mit 105 Jah-
und wie schon bei früheren ren macht sie das noch!
● Bald erscheint eine Bio- Auftritten – den Hitlergruß Ich bin nach einem Oberschenkelhalsbruch ja leider im
grafie über den Künstler persifliert. Zwar verdammte Rollstuhl. Im Februar hatte ich meinen fünften Schlaganfall.
Jonathan Meese, 48, zu er jeden »Realitätsfanatis- Vorigen Monat musste ich meine Zeitung abbestellen, weil
der er offenbar selbst den mus«, doch wurde er selbst ich sie nicht mehr richtig lesen kann. Jetzt muss ich auf
Lebenslauf beigesteuert für einen Realisten gehalten, den blöden Fernseher zurückgreifen, aber da kommt so viel
hat, und der beginnt so: sein Hitlergruß missverstan- Quatsch.
»Geboren der Sexualität, ab den, daher die (anonyme) Mein Mann ist schon vor über 20 Jahren gestorben. Ich
dann: Pflege – Eltern Geld Anzeige. Die Richterin habe danach noch ein paar schöne Reisen gemacht. Mit dem
(ZUCHTHAFT).« Später sprach ihn frei, erkannte den Omnibus war ich in Italien und Frankreich – bis ich 90 war.
die »Menschwerdung«. Der Spott, rehabilitierte ihn so. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal so alt werde. Ich
Leser erfährt einiges über Aber Meese hatte sicher habe so viel erlebt. 1945 bin ich in Dresden ausgebombt wor-
seine Eltern, die TV-Serien mehr Beistand aus dem den. Da war alles weg, außer das, was ich am Leibe hatte.
seiner Kindheit, seinen Wer- Kulturbetrieb erhofft, die Und mein Mann war im Krieg und später im Lazarett. Das
degang, auch über den Pro- Festspiele von Bayreuth, die war eine schlimme Zeit. Meine schönsten Jahre waren nach
zess, der ihm 2013 gemacht ihn engagiert hatten, luden dem Krieg, als man so langsam wieder Mensch wurde und
wurde und der wohl eine ihn wieder aus. Von seiner es wieder vorwärtsging.
Zäsur in seinem Leben und Galerie trennte er sich. Heute weiß ich: Man muss immer positiv denken und darf
seiner Karriere darstellt. Im Längst läuft es wieder: Im sich nicht unterkriegen lassen.
Jahr zuvor hatte Meese dem November eröffnet er eine Am wichtigsten war mir immer meine Familie. Ich habe
SPIEGEL in Kassel vor Publi- Schau in der Münchner Pina- zwei Enkelkinder und zwei Urenkel. Meine Tochter besucht
kothek der Moderne (»Die mich sehr oft. Das ist auch wichtig, dass immer wieder
Irrfahrten des Meese«). In jemand kommt. Die Leute hier im Haus sind alle ganz nett,
der vergangenen Woche aber es fehlt an Personal. Und es wechselt zu oft. Man
sprach er, auf Einladung hat keine feste Ansprechperson und kann kein Vertrauens-
PICTURE ALLIANCE / DPA

eines Richters des Bundes- verhältnis aufbauen.


gerichtshofs, als Gastdozent Bei dem Hundertjährigentreffen war meine Tochter auch
an der Juristischen Fakultät dabei, das war mir sehr angenehm. Sie ist auch schon 73 Jah-
in Leipzig; in diesen Kreisen re alt, aber noch sehr fit. Man sieht ihr das Alter nicht an.«
schätzt man ihn besonders. UK Aufgezeichnet von Astrid Ehrenhauser

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»Frau Merkel hat im Frühjahr 2018 ihre Kanzlerschaft erneut


für vier Jahre angetreten. Nun lasst sie doch mal machen!«
Christa Lissey, Hannover

Große Fußstapfen Mit dem Sturz von Volker Kauder hat die dem gibt es täglich rund 10 000 mit Die-
Fraktion nicht nur gezeigt, dass sie sich un- selkraftstoff befeuerte Zugfahrten. Was ist
Nr. 40/2018 Was kommt, wenn Merkel
abhängiger von Angela Merkel aufstellen daran jetzt umweltfreundlich?
geht? – Der Machtkampf um ihr Erbe hat
begonnen will. Zugleich ließ sie auch erkennen, dass Marie-Luise Jaspert, Münster
sie in die Zukunft schauen will, in eine Ära
Die Amtszeit der Kanzlerin neigt sich nach Merkel. Unter dem neuen Vorsitzen- Ich habe mich in 40 Jahren bei der Eisen-
wohl ihrem Ende zu. Durch ihre seltsam den Ralph Brinkhaus dürfte sich die Bun- bahn vom Mann mit der roten Mütze am
trotzige Haltung in der Flüchtlingspolitik destagsfraktion nicht mehr automatisch Bahnsteig bis zum Amtsvorstand bezie-
und ihr zögerliches Verhalten auf anderen hinter die Regierung stellen. hungsweise Niederlassungsleiter entwi-
Politikfeldern hat sie sowohl bei Wählern Werner Ritter, Schaffhausen (Schweiz) ckeln dürfen. Sicherheit und Pünktlichkeit
wie auch in der Fraktion von CDU und waren immer meine obersten Prinzipien
CSU Sympathisanten und Wegbegleiter bei der Arbeit. Fakt für mich ist, dass sich
verloren. Da wirken die Causa Maaßen seit der Wende bei der Eisenbahn im Os-
und die Abwahl Kauders allenfalls noch ten revolutionäre Veränderungen vollzo-

BERND VON JUTRCZENKA / DPA


als Brandbeschleuniger. Egal, wer auch im- gen haben. Die Qualität der übrig geblie-
mer ihr folgen mag: Sie oder er tritt in gro- benen Bahnhöfe, die Qualität des Perso-
ße Fußstapfen. Deutschland, Europa und nenwagenparks und die Taktzeiten auf
die Welt verlören eine zwar machtbeses- den Trassen sind dabei entscheidende
sene, aber überaus fähige Politikerin. Punkte. Aber die Pünktlichkeit war und
Horst Winkler, Herne (NRW) ist immer eine Achillesferse. Wenn jemand
Parteivorsitzende Merkel bis 2030 die Zahl der Reisenden verdop-
Angela Merkel ist der einzige Lichtblick, peln will, ginge das nur mit der Erweite-
den ich erkennen kann. Ich sehe keine Brinkhaus ist ein Zeichen, dass Demokra- rung des Personenwagenparks und der Er-
Nachfolge, die ihr auch nur das Wasser rei- tie funktioniert. Etwas Neues ist nach höhung der Trassenfrequenzen. Die Quel-
chen könnte. Für Deutschland und Europa Merkel möglich. Die von ihr aufgerissenen len für die Unpünktlichkeit der Eisenbahn
hoffe ich, dass Angela Merkel noch einige Gräben können geschlossen werden. Brink- bleiben bestehen. Defekte an Lokomoti-
Jahre im Amt bleibt und für Nachfolge haus allein beendet aber nicht die »Ära ven und Personenwagen, Unfälle aller Art,
sorgt. Merkel«. Die Wählerinnen und Wähler Suizide und Beeinflussung durch das Wet-
Wolfgang Jedliczka, Sundbyberg (Schweden) sind gefragt – in Bayern wie in Hessen. ter bleiben und multiplizieren bei höherer
Robert Dübbers, Frankfurt am Main Trassenfrequenz die Anfälligkeit der Bahn.
In der Politik wird man selten vom politi- Wer diese Störfaktoren ausschließt, ist kein
schen Gegner, sondern meistens aus den Notwendige Weichenstellung Praktiker.
eigenen Reihen gestürzt, was schon Kon- Jürgen Look, Frankfurt (Oder)
Nr. 39/2018 Was gegen den Verkehrs-
rad Adenauer und Willy Brandt schmerz-
kollaps helfen würde
lich erfahren mussten. Warum Angela Eine erhebliche Verkehrsentlastung wäre
Merkel diese Lehre und entsprechende Endlich einmal eine ehrliche Analyse im sicherlich auch möglich, wenn man Men-
Warnzeichen nicht sieht, bleibt ihr Ge- Verkehrsbereich mit einer klaren Aussage schen mit PC-Arbeitsplätzen vermehrt
heimnis. Ein würdiger Abgang sieht an- zu den notwendigen Weichenstellungen. ermöglichen würde, von daheim aus zu
ders aus. Ihre erneute Kandidatur für eine Die dringend notwendige Mobilitätswen- arbeiten. Das wäre in vielen Bereichen
vierte (!) Amtszeit als Kanzlerin haben de ist im Fernverkehr nur durch die Prio- problemlos ganz oder teilweise möglich.
schon damals viele mit Skepsis gesehen, risierung der Bahn bei gleichzeitiger star- Der Arbeitnehmer würde Zeit und Wege
aber angesichts noch fehlender Alternati- ker Besteuerung des Flug- und Autover- sparen und eventuell sogar auf ein eigenes
ven verstanden, auch ich. Und es ent- kehrs zu erreichen. Für eine nachhaltige Auto verzichten können. Der Arbeitgeber
sprach ihrem protestantischen Verständnis Mobilitätskette nicht unwichtiger ist die käme bei geschickter Planung mit weniger
von Politik, erst recht nach den schmerz- Stärkung des Fuß-, Rad-, Bus- und Bahn- Büroraum, Heizkosten und so weiter aus.
haften Erfahrungen der Flüchtlingskrise, verkehrs im Nahbereich. Gerade der hohe Dazu müssten weder neue Verkehrswege
nicht abzutauchen, sondern wie Luther zu Anteil des Fußverkehrs muss dabei erhal- gebaut noch sonst irgendwelche großen
sagen: »Hier stehe ich, ich kann nicht an- ten und ausgebaut werden. Investitionen getätigt werden.
ders.« Dafür gebührt ihr, Fehler in der an- Bernd Herzog-Schlagk, Gransee (Meckl.-Vorp.) Kurt Lingl, Nürnberg
schließenden Organisation des Flüchtlings-
stroms hin oder her, Respekt, den ihr die Der Energiemix der DB besteht aus 12 Pro- Regeln muss man lernen!
Geschichte auch nicht versagen wird. Nun zent Erdgas, 7 Prozent Braunkohle, 13 Pro-
Nr. 39/2018 Eine neue Studie zeigt Wege
aber ist »die Zeit längst über sie hinweg- zent Kernenergie, 23 Prozent Steinkohle
aus der Rechtschreibkatastrophe
gegangen«. Niemand ist unersetzlich, auch und 45 Prozent erneuerbarer Energie, die
nicht in der Politik, auch wenn der Ersatz allerdings mittels sehr langfristiger Verträ- Als Deutschlehrer an einer weiterführen-
oftmals doch enttäuschend ist. ge von Stromanbietern gekauft werden den berufsbildenden Schule kann ich nur
Wilfried Mommert, Berlin muss und nicht EEG-finanziert ist. Außer- bestätigen, dass die nach Abschluss der

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Briefe

10. Klasse mitgebrachten Rechtschreib- Aufbewahren für alle Zeit Traute Lafrenz. Viele ihrer scharfsinnigen
kenntnisse nicht selten nur noch den Be- Sätze regen zum vertieften Nachdenken
Nr. 39/2018 SPIEGEL-Gespräch mit
griff »rudimentär« verdienen. Es ist un- Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden
an und zum Aufbewahren für alle Zeit.
glaublich, wenn der Erwerb orthografisch der »Weißen Rose« Und die Geschichte der Weißen Rose
richtigen Schreibens durch Vorgaben mit erinnert wieder daran, dass sich auch ver-
der Einschränkung von Freiheit verknüpft Herzlichen Dank für die Hartnäckigkeit, führte (kluge) Menschen ändern können.
wird. Es gibt Regeln, und die muss man mit der Sie um ein Interview mit der hoch- Elmar Arnemann, Lippstadt (NRW)
lernen! Richtiges Schreiben ist eine soziale betagten Zeitzeugin Traute Lafrenz er-
Kompetenz. Wer entschuldigt sich für die- sucht haben. Das Gespräch mit einer of- Ich (geboren 1966) bin mit einer intensiven
se »Katastrofe« bei unseren Kindern? Dass fenbar ebenso klugen wie bescheidenen Auseinandersetzung mit der deutschen Ge-
Frau gehört schon jetzt zu meinen persön- schichte und dem »Dritten Reich« aufge-
lichen Highlights der in diesem Jahr im wachsen. Bei aller Bewunderung für das,
SPIEGEL veröffentlichten Beiträge. was die Geschwister Scholl und die Weiße
Frank Nüßgen, Wuppertal Rose ebenso wie Dietrich Bonhoeffer
taten und riskierten, waren mir die Ver-
Mit Erschrecken und Entrüstung habe ich ehrung und die Überhöhung, die ihnen
gelesen, wie Sie einer hochbetagten Dame, entgegengebracht wurde, auch immer et-
die sich immer wieder und sehr deutlich was suspekt. Traute Lafrenz entmytholo-
ablehnend äußert, nachstellen, bis nach gisiert diese deutschen Helden und Hel-
South Carolina reisen und sie uneingela- dinnen, ohne ihnen die Größe zu nehmen,
den in ihrem Haus aufsuchen, um ihr ex- und bringt sie mir damit – endlich – nahe.
es noch Bundesländer gibt, die unerschüt- trem belastende, höchst persönliche und Dafür kann ich ihr nicht genug danken.
terlich an einem verfehlten Weg festhalten, in der Haft und im Verhör erlittene Trau- Daniel Wagner, Hof (Bayern)
ist schlicht borniert! mata berührende Fragen zu stellen.
Jochen Polster, Elsterwerda (Brandenb.) Silke Bell, Darmstadt Das Interview ist ein Meisterstück, weil es
einen besonderen Beitrag zur Erinnerungs-
Was ist der Witz am Gehirn eines sechs- Sowohl die gedankliche Klarheit und Au- kultur unseres Landes leistet: Zum einen
jährigen Kindes? Genau: Dass es sich sehr thentizität von Traute Lafrenz als auch die lassen die detaillierten Schilderungen die
schnell alles merkt. Meine Mutter brachte journalistische Leistung des Autors Claas
mir einmal schlampig bei, was Bohnen und Relotius, ihr dieses humanistische Ver-
Erbsen sind. Die beiden Bezeichnungen mächtnis doch noch zu entlocken, verdie-
verwechsle ich bis heute, wenn ich nicht nen Aufmerksamkeit und Respekt.

CLAAS RELOTIUS / DER SPIEGEL


aufpasse. Jedes Wort, das zuerst nur nach Dr. Oliver Czech, Aachen
Gehör geschrieben wird, ist Sekunden spä-
ter tief im Gehirn des Kindes verankert – Ich weiß nicht, was mich mehr beein-
lebenslang. Jede Korrektur benötigt große druckt – der Mut und die unerschrockene
Aufmerksamkeit und Kraftanstrengung – Entschlossenheit, mit der Frau Lafrenz in
ebenfalls lebenslang. ihrer Jugend gehandelt hat, oder die Be-
Sissy Vogg, Augsburg scheidenheit und Würde, die Klarsicht und Zeitzeugin Lafrenz in South Carolina
Weisheit, mit der sie uns in diesem Ge-
Frau Dorst spricht mir sowohl als Mutter spräch im hohen Alter begegnet. Wie gut, Geschichte der Weißen Rose lebendig wer-
zweier Töchter als auch als Personalbera- dass Sie so hartnäckig waren! Sie haben den. Zum anderen berühren sie zutiefst,
terin aus der Seele. Ich lese jeden Tag feh- Frau Lafrenz besucht und uns alle be- da sie in einer kaum zu übertreffenden
lerhafte Anschreiben – auch von Führungs- schenkt mit einem wunderbar komponier- Weise deutlich werden lassen, welchen
kräften –, sinnlose Bezüge und eine Ver- ten Artikel, in dem wir diese großartige Mut diejenigen, die Widerstand leisteten,
armung der Sprachkompetenz. Lesenswer- Frau kennenlernen und so viel Neues über an den Tag legten und welches grausame
te Anschreiben mit klarer Struktur weisen die Weiße Rose erfahren dürfen. Schicksal sie erlitten.
fast automatisch auf eine Person um die Cornelia Schmidt zur Nedden, Frankfurt a. M. Dr. Lars Konukiewitz, Delmenhorst (Nieders.)
50 hin. Die deutsche Sprache ist so reich –
aber unseren Kindern fehlen die Worte. In Dieses Gespräch mit den historischen Er- Das Gespräch griff mir ans Herz. Ich habe
meinen Träumen sitzen die Befürworter läuterungen war das Bewegendste, das ich geweint.
und Erfinder dieses Lernkonzepts jeden seit Langem gelesen habe. Hervorragend Rolf Rüßmann, Ennepetal (NRW)
Tag in ihrem wohlverdienten Ruhestand aus zwei Gründen: Zum einen, weil Sie
und sind dazu verdammt, Alltagskorres- gerade in dieser Zeit eine solche Zeitzeu- Jeder Satz zwingt zum Innehalten, jeder
pondenz ihrer mittlerweile erwachsenen gin aufgesucht haben. Zum anderen wegen Satz fordert das Eigene zwingend heraus.
Schüler zu korrigieren. der klaren, analytischen und tief berühren- Und Bewunderung ergreift einen für die,
Susanne Wischnewski, Hamburg den Erinnerungen der bewundernswerten wenngleich auch gewissermaßen naiven,
Aktionen von Hans und Sophie Scholl und
ihren Mitstreitern. Ich hoffe, dass wir die-
Aus der SPIEGEL-Redaktion sen Mut nie werden aufbringen müssen.
Zwischen 1918 und 1933 tobt in Berlin nicht nur das verruchteste Nacht- Thomas Kemper, Schmallenberg (NRW)
leben der Welt, hier wird auch der politische Straßenkampf zwischen
Nazis und Kommunisten ausgetragen. Das SPIEGEL-Buch »Berlin –
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Hauptstadt des Verbrechens. Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger« (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
von Nathalie Boegel erzählt von gewissenlosen Mördern, cleveren Be- sowie digital zu veröffentlichen und unter
trügern und mutigen Polizeiermittlern. Es ist bei der DVA erschienen, www.spiegel.de zu archivieren.
hat 288 Seiten und kostet 20 Euro, das E-Book 15,99 Euro.

137
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Hohlspiegel
)RUWVFKULWW Rückspiegel

Aus einer Formblatt-Auskunft des


Amtsgerichts Bremen: »Teilungs-
erklärung und Aufteilungsplan können
LVWHLQIDFK Zitate
Die »Frankfurter Allgemeine Sonntags-
zur Zeit nicht eingesehen werden, zeitung« zum SPIEGEL-Gespräch mit
da die Akte VR 63 - 354 im Archiv dem Regisseur Florian Henckel von
außer Kontrolle geraten ist.« Donnersmarck (»Das Tollste wäre eine
Wanze im Beichtstuhl«, Nr. 35/2018) und
zu dessen neuem Film »Werk ohne Autor«:

Tante Elisabeth wird in die Gaskammer


geführt, und die Kamera steht da, wo die
Aus dem »Nordheide Wochenblatt Täter stehen, als sei das einerlei. Und die
Elbe & Geest« Musik tost weiter. Donnersmarck hat, vom
SPIEGEL dazu befragt, erklärt, man habe
die Szene in einer Gedenkstätte gedreht,
Von Orf.at: »Die Hundebesitzerin am Tag des Gedenkens an die Opfer des
war ohne Leine oder Nationalsozialismus, im Beisein von zwei
Maulkorb mit ihrem Vierbeiner unter- Experten. Die »richtige Haltung« sei ihm
wegs, sie wurde angezeigt.« »sehr wichtig« gewesen. Aber was hilft die
politisch-moralische Haltung, wenn man
nicht weiß, welche ästhetischen Schlüsse
daraus zu ziehen sind?

Der »Tagesspiegel« über Treffen des


türkischen Präsidenten mit dem Siemens-
Chef sowie der Kanzlerin, bei denen es
auch um ein vom SPIEGEL enthülltes
türkisch-deutsches Eisenbahnprojekt ging
(»Freie Bahn für Erdoğan«, Nr. 37/2018):

Bei dem Arbeitsfrühstück mit Bundes-


kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sams-
tag sei es auch um eine Kooperation mit
Siemens im Bahnbereich gegangen. »Bei
dem Frühstück mit Merkel haben wir auch
die Frage der Eisenbahnen diskutiert …«,
sagte Erdoğan. Der SPIEGEL hatte im
September berichtet, Siemens sei im Ge-
spräch für einen Auftrag zum Ausbau des
türkischen Eisenbahnnetzes im Wert von
Schilder an einem Schaugeschäft auf 35 Milliarden Euro.
dem Historischen Volksfest in Stuttgart

VSDUNDVVHGH Das »Handelsblatt« über das SPIEGEL-


Aus der »Zeit«: »Viele in der Stadt leben Interview mit CSU-Vize Manfred Weber
von der Hand im Mund.« (»Es geht um Stabilität«, Nr. 40/2018):

Facebook wird die Skandale nicht los …


auch in Brüssel rumort es wieder einmal:
So brachte am Samstag der mögliche
Spitzenkandidat der Europäischen Volks-
partei für die Europawahl, Manfred Weber,
:HLOXQVHUH([SHUWHQ sogar eine Zerschlagung von Facebook ins
,KU8QWHUQHKPHQPLWGHU Gespräch: »Die EU-Kommission sollte
prüfen, ob beispielsweise Facebook nach
ULFKWLJHQ)LQDQ]LHUXQJ der Übernahme von WhatsApp und Insta-
YRUDQEULQJHQ gram eine marktbeherrschende Stellung
Kleinanzeige im »Kreisboten Kempten« besitzt«, sagte der CSU-Politiker dem
SPIEGEL … Unterstützung für diese For-
derung kommt auch von anderen Par-
teien: »Eine Entflechtung von Facebook
und anderen Internetkonzernen liegt für
die SPD absolut im Bereich des Mög-
lichen«, sagte der digitalpolitische Spre-
Aus dem holsteinischen Wochenblatt cher der SPD-Bundestagsfraktion, Jens
»Prima Wochenende« Zimmermann.

138 DER SPIEGEL Nr. 41 / 6. 10. 2018


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