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Unscheinbarkeit
Günter Figal
Unscheinbarkeit
Der Raum der Phänomenologie
Mohr Siebeck
Günter Figal, geboren 1949; Studium in Heidelberg; 1976 Promotion; 1987 Habilitation; 1989–
2002 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen; seit 2002 ordentlicher Professor für
Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau.
ISBN 978-3-16-153711-0
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-
graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Verzeichnis griechischer Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
Einleitung
Will man etwas über die Sachen und Sachverhalte der Welt sagen, sollte man
nicht so tun, als sei man selbst nicht da. Zwar muss nicht jeder Satz eine Erfah-
rung protokollieren; nicht in jeder Bezugnahme auf etwas muss ein Hinweis auf
diese selbst enthalten sein. Aber jeder Satz, in dem eine Sache oder ein Sachver-
halt zur Geltung kommt, ist eine Bezugnahme. Sie mag anonym sein oder ano-
nym geworden sein, sodass sie sich keiner Person mehr zuordnen lässt; sie mag
als ganz auf die Sache oder den Sachverhalt konzentrierte, ganz und gar sachliche
Feststellung gemeint sein und etwas bezeichnen, als sei es einfach nur an sich da,
ohne jemanden, der es wahrnimmt oder denkt. Aber jede Feststellung kommt
von jemandem her, auch wenn sie das nicht zu erkennen gibt. Und als Feststel-
lung ist sie eine Bezugsmöglichkeit, in der man vom Sichbeziehen auf etwas ab-
sieht, damit allein das, worauf man sich bezieht, in der Aufmerksamkeit stehe.
Das soll nicht heißen, Sachen und Sachverhalte seien allein durch die Bezug-
nahme auf sie da. Etwas mag aus dem Blick geraten oder vergessen werden, ohne
dass es dadurch aufhörte, da zu sein. Man kann sich von etwas abwenden und
weiß dabei genau, dass es durch die Abwendung nicht verschwindet. Es bleibt
auch nicht allein in der Erinnerung aufgehoben; kehrte man um, an den Ort zu-
rück, an dem man etwas erfahren hatte, könnte man erfahren, dass es nach wie
vor da ist. Und wäre es verschwunden, wüsste man, dass es dort, wo man es
sucht, einmal gewesen ist. Es war, wenn man sich nicht getäuscht hatte, wirklich
da, und es blieb da, als man sich abwandte, etwas Reales, das nicht dadurch, dass
man es erfuhr, real war, sondern in der Erfahrung lediglich seine Realität erwies.
Also nicht durch die Bezugnahme auf etwas ist etwas real, sondern es zeigt sich
als real in der Bezugnahme. Zwar weiß man ohne die Möglichkeit, auf Reales
Bezug zu nehmen, nicht, was Reales ist. Aber die Realität des Realen kommt nicht
aus dem Bezug und nicht aus diesem Wissen.
Wenn es so ist, kann eine philosophische Betrachtung der Sachen und Sachver-
halte, die berücksichtigt, wie diese im Bezug auf sie und für den Bezug auf sie da
sind, eine realistische Betrachtung sein. Und nennt man eine Betrachtung, die
das, was ist oder war oder sein kann, nicht ohne die Möglichkeit des Bezugs auf es
denkt, phänomenologisch, so gibt es die Möglichkeit einer realistischen Phänome-
nologie. Man muss den philosophischen Realismus dann nicht gegen die Phäno-
2 Einleitung
menologie ausspielen und als deren Überwindung darstellen – als ob die Unter-
suchung von Möglichkeiten des Bezugnehmens als solche bereits den philosophi-
schen Realismus verfehlte. So kann es gewiss in besonderen Varianten einer
solchen Untersuchung sein, etwa dann, wenn man die ‚Repräsentation‘ der Sa-
chen und Sachverhalte von diesen selbst unterscheidet und damit zu der Frage
kommt, wie der ‚Zugang‘ zu den Sachen und Sachverhalten durch die Repräsen-
tationen ‚hindurch‘ zu denken sei. Demgegenüber ist es sinnvoll, mit Jocelyn Be-
noist festzuhalten, dass wir ‚die Dinge haben‘, in dem Sinne, dass sie einfach da
sind.1 Aber das ist kein Einwand gegen die Phänomenologie, sondern kann, wie
John Drummond gezeigt hat, auch als phänomenologische Kritik des ‚Repräsen-
tationalismus‘ formuliert werden.2 Außerdem suspendiert der Hinweis darauf,
dass wir die Dinge ‚haben‘ und dass diese ‚einfach da sind‘, nicht von der Frage,
wie dieses ‚Haben‘ und dieses ‚Dasein‘ der Dinge zu verstehen ist. Es ist die phä-
nomenologische Frage danach, wie die Dinge erscheinen, und zwar als Dinge, in
ihrer Realität. Diese Realität ist nichts ‚jenseits‘ der Repräsentationen, des Be-
wusstseins oder der Sprache, nichts, zu dem man erst vordringen muss und doch
nur in den Möglichkeiten der Repräsentation, des Bewusstseins oder der Sprache
vordringen kann, sodass das Äußere wie ein ‚geschlossenes Äußeres‘, ein „dehors
claustral“, ist, demgegenüber es ein ‚Großes Äußeres‘ gibt, ein Grand Dehors, das
man nie erreicht.3 Diese von Quentin Meillassoux beschriebene Aporie entsteht
nicht daraus, dass man überhaupt die Bezogenheit auf die Sachen und Sachver-
halte bedenkt, sondern allein daraus, dass man glaubt, die Bezogenheit von den
Sachen und Sachverhalten so unterscheiden zu können, als seien diese in der Be-
zogenheit nicht als solche da. Demgegenüber sollte man festhalten, dass die Mög-
lichkeiten von etwas, in Bezugnahmen auf es zu erscheinen, Möglichkeiten seiner
Realität sind. Entsprechend führt ein Realismus, in dessen Zentrum, wie Markus
Gabriel es formuliert, „das Problem des Erscheinens“ steht, also die Frage, „unter
welchen Bedingungen Dinge an sich, die auch zuwendungsunabhängig individu-
iert wären, durch Zuschauer erfasst werden können“,4 zu einer realistischen, die
offene Äußerlichkeit des Erscheinens bedenkenden Phänomenologie. Man ist in
den Möglichkeiten, sich auf die Sachen und Sachverhalte zu beziehen, nicht ein-
geschlossen, sondern äußerlich bei den Sachen und Sachverhalten in ihrer Äu-
1
Jocelyn Benoist, Éléments de philosophie réaliste, Paris 2011, 17.
2
John J. Drummond, Intentionality without Represententionalism, in: The Oxford Handbook
of Contemporary Phenomenology, hrsg. von Dan Zahavi, Oxford 2012, 115–133.
3
Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris 2006,
21.
4
Markus Gabriel, Ist die Kehre ein realistischer Entwurf?, in: David Espinet/Toni Hilde-
brandt (Hrsg.), Suchen, Entwerfen, Stiften. Randgänge zum Entwurfsdenken Martin Heideggers,
München 2014, 87–106, hier 91.
Einleitung 3
ßerlichkeit. Diese wiederum gehen weder in den Möglichkeiten, auf sie Bezug zu
nehmen, auf, noch entziehen sie sich diesen – als ob sie ihre wahre Natur für sich
behielten. Sich auf etwas zu beziehen, heißt immer auch: die Grenzen der je be-
sonderen Möglichkeit des Bezugs erfahren und so zu erfahren, dass die Sachen
und Sachverhalte immer auch anders sind, als man sie jeweils erfährt. Auch an-
ders – aber nicht vollkommen anders; im jeweiligen Blick auf etwas ist dieses als
es selbst da, eben so, wie es in dieser besonderen Hinsicht da sein kann und so,
wie es in seinen Möglichkeiten über diese hinausreicht, um sich möglicherweise
und vielleicht überraschenderweise in anderen Hinsichten zu erschließen.
Was man die Erfahrung von Sachen und Sachverhalten nennen kann, ist dem-
nach ein komplexes Spiel von Möglichkeiten des Bezugs und von Möglichkeiten,
direkt oder auch indirekt da zu sein. Man nimmt in bestimmter Weise auf etwas
Bezug und dieses, das Etwas, ist in bestimmter Weise da, so wie es auch in ande-
ren Bezugsweisen da sein kann oder so, wie es nur in dieser Bezugsweise da ist.
Das Spiel im Ganzen ist unerschöpflich; mit jeder Sache und jedem Sachverhalt
ist es anders und ebenso mit jeder Möglichkeit der Bezugnahme, die, wie gering-
fügig auch immer, von anderen Möglichkeiten abweicht. Niemand kann je das
Spiel vollständig erfassen; was man erfährt, sind immer nur besondere Ausprä-
gungen und Ausschnitte einer unendlich reichen Möglichkeit und Wirklichkeit.
Aber das Spiel lässt sich als solches verstehen. Dazu gehört, dass man es nicht
einfach spielt oder, mit einer Formulierung Gadamers gesagt, von ihm gespielt
wird,5 sondern es reflektiert, indem man seine Möglichkeit bedenkt – das Offene
des Bezugnehmens auf etwas und das Offene, in dem etwas für die Bezugnahme
da ist; die Äußerlichkeit, die in jeder Bezugnahme liegt und am sinnfälligsten in
der Geste des Zeigens ist, des Hindeutens auf etwas, und die Äußerlichkeit dessen,
was da ist, außerhalb des Zeigens und allein darum zeigbar. Gewiss ist die Äußer-
lichkeit des Bezugnehmens verschieden von der Äußerlichkeit der Sachen und
Sachverhalte; beide sind unterscheidbare Möglichkeiten der Äußerlichkeit. Aber
die Äußerlichkeit muss ebenso für beide ‚Seiten‘ dieselbe sein, gleichsam die Mit-
te, die sich weder aus dem Bezugnehmen noch aus den Sachen und Sachverhalten
erklären lässt, weil beides in ihr zusammengehört und immer wieder zusammen-
findet. Diese eine Äußerlichkeit muss bedacht werden, wenn die Möglichkeit des
Spiels von Bezugnahme und Sache oder Sachverhalt verständlich werden soll. Sie
ist das Hauptthema einer realistischen Phänomenologie. Und nimmt man, was
naheliegt, an, dass diese eine Äußerlichkeit als Möglichkeit des Raums verstan-
den werden muss, ist das Hauptthema dieser Phänomenologie der Raum.
5
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme-
neutik. Hermeneutik I, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, 112: „Alles Spielen ist ein Ge-
spieltwerden.“
4 Einleitung
Das ist freilich noch zu schwach und deshalb auch missverständlich formu-
liert; man könnte meinen, eine Phänomenologie im angedeuteten Sinne solle
zwar den Raum zum Thema machen, aber sei als das Thematisierende bereits,
was sie sei – eine Möglichkeit philosophischer Betrachtung und Forschung, die
sich als solche auch unabhängig von ihren Themen, selbst von ihrem Hauptthe-
ma, bestimmen lasse. Aber so ist es nicht. Wenn die Äußerlichkeit und in ihr der
Raum die Ermöglichung des Spiels von Bezugnahme und Sache oder Sachver-
halt ist, so ist sie auch die Ermöglichung einer Phänomenologie, die ihrem Na-
men entspricht, indem sie Phänomene nicht nur untersucht, sondern wesentlich
Aufschluss über die Phänomenalität der Phänomene gibt. Phänomen ist ja nach
den bisherigen Überlegungen alles, was im Spiel von Bezugnahme und Sache
oder Sachverhalt zu erfahren ist, weil es sich in diesem Spiel gibt – also alles. Es
ist alles, was in der angedeuteten Äußerlichkeit, also räumlich da ist und in die-
ser Räumlichkeit erkundet werden kann. Erst mit dem Thema des Raums ge-
winnt eine Phänomenologie, die die Phänomene von der Äußerlichkeit her ver-
steht, ihre Sache, die Phänomene in ihrer Phänomenalität, sodass sie sich mit
diesem Thema in ihrer Möglichkeit reflektiert. So muss im doppelten Sinne vom
‚Raum der Phänomenologie‘ die Rede sein; gemeint ist der Raum, sofern er phä-
nomenologisch zum Thema wird und sofern er die Phänomenologie als solche
ermöglicht. Den Raum betrachtend und bedenkend, gehört die Phänomenologie
in den Raum.
Mit dieser Formulierung ist eine eigentümliche Schwierigkeit angezeigt. Wie
soll der Raum, in den die Phänomenologie gehört, phänomenologisch zu be-
trachten sein? Wie soll sich das, was die Phänomene ermöglicht, phänomenolo-
gisch erkunden lassen? Als das die Phänomene und die Phänomenologie glei-
chermaßen Ermöglichende ist der Raum kein Phänomen. Er erscheint, anders
gesagt, nicht wie eine Sache, auf die man sich beziehen kann. Wie sollte das, was
das Spiel von Bezug und Sache oder Sachverhalt ermöglicht, als Sache oder Sach-
verhalt erscheinen können? Doch Raum ist nichts Verborgenes, keine ‚hinter‘ den
Phänomenen stehende Ermöglichung, die nur indirekt zu erschließen wäre. Man
erfährt Raum, zwar nicht so wie die Sachen und Sachverhalte, die im Raum sind
und darin selbst räumlich sind, sondern anders, ohne dass man auf ihn zeigen
oder ihn greifen könnte; man erfährt ihn mit – im Sichbeziehen auf etwas, in der
Räumlichkeit dessen, worauf man sich bezieht und in dem eigentümlichen Spiel,
in dem beide zusammengehören, wohl als dieses Zusammengehören, auch wenn
man das nicht ohne weiteres sagen kann. Raum, so lässt diese Überlegung sich
zusammenfassen, erscheint nicht, sondern ist unscheinbar, sodass eine Phäno-
menologie der Äußerlichkeit, eine realistische Phänomenologie, als solche eine
Phänomenologie der Unscheinbarkeit ist.
Einleitung 5
Was das genau heißen soll, muss sich erst zeigen, und es kann sich nicht zeigen,
ohne dass man das angedeutete Verständnis der Phänomenologie entwickelt.
Das wiederum muss in zwiefacher Hinsicht geschehen, nämlich im Hinblick auf
das Verständnis der Phänomenologie und im Hinblick auf das Verständnis des
Raumes. Die Differenzierung ist sinnvoll, weil einerseits die Phänomenologie
nicht immer schon vom Raum her verstanden wurde und weil andererseits nicht
jedes Verständnis des Raumes phänomenologisch ist.
Wer phänomenologisch philosophiert, schreibt sich in eine Tradition ein, und
wer das reflektiert tun will, muss die für diese Tradition maßgeblichen Gedanken
und Konzeptionen bedenken. Dabei sollte sich zeigen, dass eine Phänomenologie
der Unscheinbarkeit, obwohl sie etwas Neues ist, als Konsequenz der maßgebli-
chen Bestimmungen der Phänomenologie verstanden werden kann, wie sie vor
allem von Husserl, doch ebenso von Heidegger und Merleau-Ponty ausgearbeitet
wurden. Die Konzentration auf diese drei Philosophen könnte willkürlich schei-
nen; sie mag sich jedoch als begründet und berechtigt erweisen, wenn es darum
geht, die Phänomenologie aus ihrem Zentrum, also vom Verständnis des Phäno-
mens her zu diskutieren. Was dies betrifft, dürfte die Bedeutung Husserls sich
von selbst verstehen, ebenso wie diejenige Heideggers, der im Anschluss an Hus-
serl das Verständnis von ‚Phänomen‘ differenziert und präzisiert. Für Mer-
leau-Ponty gilt Ähnliches, aber in anderer Hinsicht, nämlich für die Phänome
nalität des Wahrnehmbaren, die Heidegger so gut wie ganz vernachlässigt hat.
Demgegenüber sagen zum Beispiel Sartre oder Lévinas zur Phänomenalität der
Phänomene wenig und nichts wirklich Neues; obwohl sie doch ohne Zweifel der
Phänomenologie zuzurechnen sind, bleibt das Nachdenken über die Phänomen-
alität der Phänomene bei ihnen erstaunlich marginal. Und folgt man Hans-Die-
ter Gondek und László Tengelyi in ihrer gut begründeten und gut belegten Cha-
rakterisierung der gegenwärtigen Phänomenologie in Frankreich, indem man
diese als ein Ensemble von Versuchen versteht, „einen Zugang zu den Sinnbe-
ständen und Sinnregungen der Welt zu finden, ohne diese Sinngebilde auf eine
Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein zurückzuführen“,6 so bleibt da-
rin ein Grundzug der Phänomenalität unberücksichtigt, der mit dem Hinweis
auf Merleau-Ponty ins Spiel kam: die Wahrnehmbarkeit, die übrigens auch für
Husserl wesentlich für die Phänomene ist. Auch in ihrer Räumlichkeit lassen
Phänomene sich ohne die Berücksichtigung von Wahrnehmbarkeit und Wahr-
nehmung nicht bestimmen. Raum ist nicht zuletzt der Raum der wahrnehmba-
ren Lebewesen und Dinge und ebenso der Raum des Wahrnehmens, ohne das es,
23.
6 Einleitung
zumindest für leibhafte Lebewesen, auch kein Verstehen und kein Denken gibt.
Und Raum, wie er am deutlichsten als solcher erfahren wird, nämlich als in Räu-
men gebauter Raum, ist, ohne seine Unscheinbarkeit zu verlieren, vor allem leib-
haft erfahrener Raum – Raum in Räumen, in denen man sich aufhalten kann,
und Raum, den man beim Aufenthalt mit allen Sinnen, in Ruhe und Bewegung
erfährt.
Damit sind auch schon die in diesem Buch behandelten Themen genannt. Es
wird, nach dem ersten Kapitel über Phänomenologie und Raum, im zweiten Ka-
pitel um die Dinge gehen, im dritten um die Lebewesen, im vierten um Bauten
und im fünften um die Begriffe, in denen sich das Denken und Verstehen hält
und darin, wie sich zeigen soll, seine eigentümliche Räumlichkeit hat. Dinge sind
phänomenologisch von Bedeutung, weil man bei dem, worauf man sich beziehen
kann, wie selbstverständlich an Dinge denkt. Zum Leben von Lebewesen gehört
demgegenüber, dass es Bezug ist – Wahrnehmen, Ergreifen, das Erreichen eines
Ziels und, bei den Lebewesen, die ‚wir‘ sind, das Verstehen und Denken. In ge-
bauten Räumen verbinden sich Möglichkeiten der Bezugnahme mit den Mög-
lichkeiten dessen, worauf man Bezug nehmen kann; Räume geben das Verhält-
nis, in dem man zu anderen Lebewesen und zu den Dingen steht, auf je eigen-
tümliche Weise vor, wie, auf ganz andere Weise, auch die Begriffe, in denen man
sich verstehend und denkend hält.
Die Betrachtung der Dinge, Lebewesen, Bauten und Begriffe hat vor allem den
Sinn, diese in ihrer eigentümlichen Phänomenalität und also in ihrer Räumlich-
keit oder ihrem Raumcharakter zu erkunden. Dabei sollten Beschreibungen hilf-
reich sein, und je anschaulicher diese sind, desto besser. Dennoch kommt es we-
niger auf das Einzelne, Individuelle an als darauf, an ihm etwas zu zeigen und
verständlich zu machen. Insofern sind die Beschreibungen exemplarisch und
paradigmatisch; sie sind der phänomenologischen Absicht der Untersuchung,
also dem Verständnis der Phänomene vom Raum her, unterstellt.
Das gilt umgekehrt auch für den Raum selbst, der allein phänomenologisch,
als das die Phänomene Ermöglichende, zum Thema gemacht werden soll. Damit
ist das Thema des Raumes klarerweise nicht erschöpft. Viel spricht dafür, dass
Foucault recht hat und die Gegenwart eher als Zeitalter des Raumes und nicht
mehr als Zeitalter der Zeit und der Geschichte zu verstehen ist, derart, dass wir
im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen,
des Nebeneinander und des Zerstreuten leben und die Welt eher als Netz, als
Gewebe von Elementen oder als Struktur verstehen denn als Prozess, als Ent-
wicklung und erst recht nicht als Entwicklung, die ein Ziel, eine Vollendung hat.7
„L’époque actuelle ne serait peut-être plutôt l’époque de l’espace. Nous sommes à l’époque du
7
Einleitung 7
ness to the normative simpliciter“,14 ein Versuch, in und aus der Ermöglichung zu
denken, die auch, aber nicht nur die Ermöglichung des Denkens ist.
14
Steven Crowell, Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger, Cambridge,
UK 2013, 29–30.
Erstes Kapitel
Raum
Der Sachverhalt ist vertraut: Damit man auf etwas aufmerksam sein kann, muss
man anderes außer Acht lassen, und das meiste bleibt so außer Acht. Man be-
trachtet etwas und sieht von allem anderen ab, auch von seiner Umgebung. Man
liest ein Buch und versteht die gelesenen Sätze, indem man die gedruckten Buch-
staben auf dem Papier sieht und zugleich übersieht. Man führt ein Gespräch, hört
zu und antwortet und man hört nicht auf das, was im selben Raum noch zu hören
ist – diffuse Geräusche, Gesprächsfetzen, das Klingeln der Straßenbahn drau-
ßen. Man beschreibt etwas, denkt nach, wie es zu beschreiben sei, findet Worte
und Sätze und findet, dass sie dem zu Beschreibenden entsprechen. Doch über
die Worte und Sätze selbst, darüber, wie man sie finden kann und findet, denkt
man nicht nach. Man lässt sie auf sich beruhen, ebenso wie die Möglichkeit, dass
man etwas beschreiben kann und dass man dabei versteht, was und wie es ist.
Ein solches Außer-Acht-lassen, Absehen, Übersehen und Überhören, Auf-
sich-beruhen-lassen ist gewiss etwas, das man, wie auch immer, ‚tut‘; es ist eige-
nes Verhalten, wenngleich die Bezeichnung eines Lassens als eines Tuns nicht
ohne Paradoxie ist. Zumindest gelingt das Außer-Acht-lassen meist, wie auch
immer; dass es ein Gelingen ist, erfährt man daran, dass es auch scheitern kann.
Scheitert etwa der Versuch, sich zu konzentrieren, so denkt man an manches
andere, nur nicht an das, woran man denken soll. Man hat nicht ‚gekonnt‘, was
man wollte; weder konnte man auf etwas aufmerksam sein noch von anderem
absehen, warum auch immer.
Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit, Beachten und Außer-Acht-lassen,
sind individuelle Möglichkeiten. Doch allein individuell, von individuellen Dis-
positionen, Stimmungen oder Einstellungen abhängig sind sie nicht. Das erfährt
man, sobald der Versuch, sich zu konzentrieren, gestört wird, auch sobald die
Aufmerksamkeit, die man etwas widmen möchte, sich nicht einstellen kann.
Dann gibt es etwas, von dem man nicht absehen kann, weil es sich nicht überse-
hen oder überhören lässt. Man kann das nun Auffallende nicht mehr außer Acht
lassen. Nicht mehr – daran sieht man, dass dies zuvor möglich war, und man
10 Erstes Kapitel: Raum
sieht auch, woran das liegt: Etwas ist nun auf andere Weise da; sein ‚Zustand‘ hat
sich geändert, während vieles andere noch in diesem ‚Zustand‘ ist. Es war un-
scheinbar, und nun hat es seine Unscheinbarkeit verloren.
Der Ausdruck ‚Unscheinbarkeit‘ soll hier einerseits so verstanden werden, dass
er verschiedene Möglichkeiten des Gemeinten umfasst. In diesem Sinne kann
das Unscheinbare zurückhaltend, leise oder still, auch schlicht sein. Die Un-
scheinbarkeit lässt sich demnach an Eigenschaften, die etwas oder jemand hat,
festmachen. Diese Eigenschaften wiederum lassen sich im Kontrast zu anderen,
die etwas hervortreten oder gar dominieren lassen, beschreiben. Aber in solchen
Eigenschaften geht die Unscheinbarkeit nicht auf. Auch wenn bestimmte Eigen-
schaften etwas dazu prädestinieren mögen, unscheinbar zu sein, kann es trotz
dieser Eigenschaften auffallen, während anderes, das keine vergleichbaren Eigen-
schaften, sondern ganz andere, vielleicht sogar gegenteilige hat, unscheinbar
bleibt. Unscheinbarkeit ist demnach nicht notwendig an bestimmte Eigenschaf-
ten gebunden; sie ist, wie vorhin noch ganz unspezifisch, im Sinne einer Annähe-
rung, gesagt wurde, ein ‚Zustand‘. Man könnte sie auch einen Modus nennen
und damit meinen, sie sei eine bestimmte Weise, in der etwas da sein kann, aber
nicht da sein muss.
Aber auch das würde dem skizzierten Sachverhalt, an dem man das Unschein-
bare erfährt, noch nicht gerecht. Es ist nicht so, dass man Dinge und Personen in
die Modi der Unscheinbarkeit und ihres Gegenteils aufteilen könnte – als seien
dies Möglichkeiten der Dinge und Personen, die sich ihnen als solchen zuschrei-
ben ließen. Damit ist es nicht getan, wenn Unscheinbarkeit und ihr Gegenteil
zusammengehören und in ihrer Zusammengehörigkeit das Zusammenspiel von
Aufmerksamkeit und Außer-Acht-lassen gestatten. Man ist aufmerksam auf et-
was, indem man anderes außer Acht lässt, und entsprechend steht etwas in der
Aufmerksamkeit, weil anderes unscheinbar ist. Sagt man von dem, was in der
Aufmerksamkeit steht, dass es erscheine, so gibt es ohne Unscheinbarkeit keine
Erscheinung.
Erscheinung ist hier nicht als subjektiver Eindruck verstanden, auch nicht als
Schein, hinter dem sich etwas verbirgt, das möglicherweise anders ist, als es den
‚Anschein‘ hat. Indem etwas erscheint, zeigt es sich. Darin ist es Phänomen; als
Phänomen ist es das, was es ist. Wenn es beständig ist, sich in verschiedener Hin-
sicht anschauen lässt und darin dasselbe bleibt, so gehört auch das zu seinem
Erscheinen. Auch indem etwas widerständig ist, sich nicht von der Stelle bringen
lässt, erscheint es. An der Realität dessen, was sich nicht von der Stelle bringen
lässt, weil es zu schwer ist oder im Boden verankert, lässt sich nicht zweifeln.
Aber auch diese Realität ist in der Erscheinung. Erscheinung, mit einem Wort, ist
die originäre Gegebenheit von etwas, die sich, mit Husserl gesagt, der „originär
§ 1 Zur Sache 11
gebenden Anschauung“ bietet, die, wenn man Husserl folgt, als ebenso sinnliches
wie intellektuelles und in jedem Fall unmittelbares Auffassen die „einzige Rechts-
quelle der Erkenntnis“ ist. Deshalb ist alles, „was sich uns in der ‚Intuition‘ origi-
när, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzuneh-
men“ – „als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da
gibt“.1 Dieser Grundsatz, Husserl nennt ihn „das Prinzip aller Prinzipien“, ist die
magna carta der Phänomenologie.
Wenn die bisher entwickelten Überlegungen zum Verhältnis von Erscheinung
und Unscheinbarkeit überzeugend sind, wären Phänomene im skizzierten phä-
nomenologischen Sinne also nur angemessen in ihrer Zusammengehörigkeit mit
dem Unscheinbaren zu verstehen. Das lässt sich festhalten, obwohl das skizzierte
Phänomenverständnis noch genauso unspezifisch ist wie das ihm entsprechende
Verständnis von Phänomenologie. Wenn Phänomene sich nur in ihrer Zusam-
mengehörigkeit mit dem Unscheinbaren verstehen lassen, muss beides sogar
noch unspezifisch sein. Ein Verständnis der Phänomene und ihrer Phänomena-
lität vom Unscheinbaren her ist ja erst zu entwickeln. Und erst indem es entwi-
ckelt wird, klärt sich das ihm zugehörige Verständnis von Phänomenologie.
Dass es Phänomenologie, die vom Unscheinbaren her denkt, bisher noch nicht
gab, könnte eine voreilige Behauptung sein, denn in jedem Fall gibt es einen auf
sie hindeutenden Titel. Heidegger hat ihn geprägt; die spätesten Zeugnisse seines
Denkens dokumentieren ihn. In dem Seminar, das Heidegger im Kreis von
Freunden und Schülern 1973 in seinem Haus in Freiburg-Zähringen gehalten
hat, ist von einer „Phänomenologie des Unscheinbaren“ die Rede.2 Heidegger
prägt diesen Titel, um ein in der Auseinandersetzung mit Parmenides erläutertes
Denken als den „ursprünglichen Sinn der Phänomenologie“ zu charakterisieren.
Heidegger nennt es „das tautologische Denken“;3 es ist das Denken, das seine
Sache einfach nur als sie selbst nennt – so wie es nach Heideggers Verständnis im
ἔστι γὰρ εἶναι des Parmenides geschieht. Der Satz, wie Heidegger ihn versteht,
nennt das Anwesen, weil εἶναι, „griechisch gedacht“, „Anwesen“ sei. Und er
nennt, wie Heidegger denkt, das Anwesen, indem er vom Anwesen sagt, dass es
„anwest“; der Sinn des Satzes sei: „anwest Anwesen selbst.“ Damit aber sei man
„im Bereich des Unscheinbaren“;4 das Anwesen selbst, wie Heidegger es versteht,
ist nichts Anwesendes, das sich bestimmen oder beschreiben lässt. Es ist das Un-
1
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana, Band III.1,
hrsg. von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, 51.
2
Martin Heidegger, Seminar in Zähringen, in: Seminare, Gesamtausgabe (im Folgenden:
GA), Band 15, hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt am Main 1986, 372–407, hier 399.
3
Heidegger, Seminar in Zähringen, GA 15, 399.
4
Heidegger, Seminar in Zähringen, GA 15, 397.
12 Erstes Kapitel: Raum
chen Betastens und Ansprechens“ möglich. Und zur Erläuterung heißt es dann,
dieser Ausdruck sei gewählt, um „das schlechthinnige (nicht zu anderem ab-
schweifende oder von anderem herkommende) Haben von etwas an ihm selbst“
zu verstehen zu geben.10 Und nochmals zur Erläuterung: „Was darin begegnet,
hat die eigentlichste Nähe, innerhalb deren es keine Ferne gibt, nur das Begeg-
nende an ihm selbst, sonst nichts, radikaliter kein anderes, das vorhanden, rein
an ihm selbst.“11 Das einfache „Ansprechen“, wie es dem Einfachen angemessen
ist, deutet auf das „Nennen“ des tautologischen Denkens voraus – mehr auf die-
ses als auf das dichterische Nennen im Sinne der Kunstwerk-Abhandlung. Als
Beleg muss man nur hinzufügen, dass Heidegger die Frage nach dem ὂν ἀληθές
als die nach dem „Sein dieses Seienden“ versteht, indem er sagt, bei Aristoteles
übernehme „die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit“, wie sie „am Leitfa-
den“ des Berührens und Sagens gegeben werde, „die Stellvertretung für die Ant-
wort auf die Frage nach dem Sein“.12 Damit hat sich der Kreis zum tautologischen
Denken geschlossen. Das Sein wird nicht ausgesagt; es wird berührt und ange-
sprochen, gesagt oder, wie es später heißt: genannt.
Das mag nachvollziehbar oder auch rätselhaft sein, aber es ist wohl kaum deut-
lich, dass dies ein phänomenologischer Gedanke ist – was er sein muss, wenn das
tautologische Denken der „ursprüngliche Sinn der Phänomenologie“ sein und
sich in einer „Phänomenologie des Unscheinbaren“ erfüllen soll. Dass es ein phä-
nomenologischer Gedanke sein soll, zeigt sich, wenn man berücksichtigt, dass
Heidegger das Berühren und Sagen des einfach Seienden mit Aristoteles als „ein-
faches νοεῖν“13 erläutert und dies auf Husserls Grundsatz bezieht, nach dem „al-
les, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirk-
lichkeit)“ darbiete, „einfach hinzunehmen“ sei. In diesem einfachen Hinnehmen,
Heidegger spricht vom „Vernehmen“,14 liegt für Aristoteles die Wahrheit des ein-
fach Seienden,15 für Husserl die „Rechtsquelle der Erkenntnis“.
Auch im späten Zähringer Seminar wird die Verbindung zwischen dem einfa-
chen Sagen des Seins und der phänomenologischen, von Husserl selbst in Anfüh-
rungszeichen gesetzten „Intuition“ gezogen – hier freilich nicht mehr im Hin-
blick auf Aristoteles, sondern im Hinblick auf Parmenides; das ist durchaus
schlüssig, wenn man den aristotelischen Gedanken, dass das Seiende seine
Wahrheit im Vernehmen habe (τὸ δὲ ἀληθὲς τὸ νοεῖν ταῦτα) mit dem Ähnliches
10
Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, hrsg. von Walter Biemel,
Frankfurt am Main 1976, 180.
11
Heidegger, Logik, GA 21, 180–181.
12
Heidegger, Logik, GA 21, 182.
13
Heidegger, Logik, GA 21, 182.
14
Heidegger, Logik, GA 21, 181.
15
Aristoteles, Metaphysica IX, 10; 1052a 1.
14 Erstes Kapitel: Raum
besagenden Satz des Parmenides vergleicht, nach dem Sein und Vernehmen das-
selbe ist: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.16 Das Zähringer Seminar beginnt
mit Überlegungen zu Husserl, genauer zur Konzeption der „kategorialen An-
schauung“, wie sie in der sechsten der Logischen Untersuchungen entwickelt ist
und im Grundsatz von Ideen I nachklingt. Dem Gedanken, dass „eine Kategorie
mehr als Form“ sei, nämlich etwas für die Anschauung „Gegebenes“,17 sieht sich
Heidegger verpflichtet – man darf wohl hinzufügen: wie keinem anderen Gedan-
ken der husserlschen Phänomenologie. Mit diesem Gedanken habe Husserl ver-
ständlich gemacht, dass das „ist“, das in der Feststellung des Seins von etwas er-
fahren wird, den „sinnlichen Affektionen [. . .] nicht zugefügt“ werde, sondern
„gesehen“ werde – auch wenn es „anders gesehen“ werde „als das, was sinnlich
sichtbar“ sei.18 Die Bedeutung dieses Gedankens hatte Heidegger schon früh und
in zeitlicher Nähe zu seiner Aristoteles-Interpretation herausgestellt. Im Som-
mersemester 1925, ein Semester vor der Logik-Vorlesung, liest er über Prolegome-
na zur Geschichte des Zeitbegriffs und setzt sich in dieser Vorlesung ausführlich
mit der Konzeption der kategorialen Anschauung auseinander. Die Bedeutung
von Husserls „Entdeckung“ sieht er auch seinerzeit schon in dem Nachweis, dass
es intentionale Akte gebe, „in denen ideale Bestände sich an ihnen selbst zeigen“
und dass diese „Bestände“ nicht „Gemächte dieser Akte, Funktionen des Den-
kens, des Subjektes“ seien.19 Für nichts anderes interessiert sich Heidegger dabei
so sehr wie für die anschauliche Gegebenheit des ‚ist‘, also des Seins. Husserl, so
sagt er im Zähringer Seminar, habe mit der Konzeption der kategorialen An-
schauung „das Sein als Gegebenes gewonnen“. Aber Husserl frage dem „nicht
weiter nach“, für ihn sei da „nicht der Schatten einer möglichen Frage“ gewesen,
weil „es sich für ihn von selbst verstand, daß ‚Sein‘ Gegenstand-Sein“ bedeute.20
Es ist Heideggers Intention gewesen, eine solche ontologische Orientierung am
„Gegenstand“, wie sie etwa mit Husserls Erläuterung der Ontologie als einer
„apriorischen Gegenstandslehre“ belegt werden könnte,21 zu überwinden. Be-
troffen von einer kritischen Revision dieser Orientierung sind dabei Husserls
leitende Begriffe: Wird das Sein so verstanden, dass es in einer Anschauung gege-
ben ist, so besteht in der Tat die von Heidegger im ersten Feldweg-Gespräch diag-
16
Parmenides, VS B 3. Die Fragmente der Vorsokratiker werden zitiert nach: Hermann Diels/
Walther Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, siebte Auflage, Berlin 1954, Band 1–3.
17
Heidegger, Seminar in Zähringen, GA 15, 375.
18
Heidegger, Seminar in Zähringen, GA 15, 376.
19
Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, hrsg. von Petra
Jaeger, Frankfurt am Main 1979, 97.
20
Heidegger, Seminar in Zähringen, GA 15, 378.
21
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen
Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 82.
§ 1 Zur Sache 15
nostizierte Gefahr, Sein als Vorgestelltes im wörtlichen Sinne: als vor sich hin
Gestelltes zu verstehen. Entsprechend hat Heidegger immer wieder versucht, der
Vergegenständlichung und Vorstellung des Seins entgegenzuarbeiten. Zunächst,
in Sein und Zeit, hatte er darauf gesetzt, die Anschauung des Seins als Seinsver-
ständnis zu fassen, ohne dabei freilich den Gedanken der Gegebenheit ganz los-
zuwerden.22 Seine späte, aber, wie gezeigt, schon in den dreißiger Jahren vorbe-
reitete Antwort auf die Gefährdung des Seinsdenkens durch das Vorstellen ist
das tautologische Denken im Sinne seiner Phänomenologie des Unscheinbaren.
Diese Antwort revidiert auch die des Vortrags Zeit und Sein, in dem Heidegger
„das Sein ohne das Seiende“23 zu denken versucht und in diesem Sinne dem Satz
„Es gibt Sein“ nachdenkt.24 Dass es Sein „gibt“, wird dabei gegen die Formulie-
rung „Sein ist“ gestellt,25 und entsprechend merkt Heidegger an, bei Parmenides
werde „zwar Sein, εἶναι, ἐόν gedacht, aber nicht das ‚Es gibt‘“.26 Mit dem tautolo-
gischen Denken nimmt Heidegger diese Kritik zurück.27 Einzig das Nennen, so
denkt er nun, werde dem Unscheinbaren des Seins gerecht, weil es dieses in sei-
ner Unbegreiflichkeit und Unbeschreiblichkeit belasse.
Ist Heideggers tautologisches Denken, wie es skizziert und aus seiner Entwick-
lungsgeschichte erläutert wurde, wirklich eine Phänomenologie des Unscheinba-
ren? Wenn das tautologische Denken so zu verstehen ist, wie es dargestellt wurde,
darf die Frage mit ‚nein‘ beantwortet werden. Das tautologische Denken ist, um
dies als erstes festzuhalten, dann keine Phänomenologie, wenn deren wesentliche
Aufgabe im Aufweisen oder Aufzeigen von Phänomenen besteht. So hatte Hei-
degger die Phänomenologie in Sein und Zeit charakterisiert, indem er sie als
„ἀποφαίνεσθαι τὰ φαινόμενα“ bestimmt hatte; Phänomenologie bestehe darin,
„das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, sehen [zu] lassen“.28
Heidegger hat wohl gesehen, dass diese oder eine ähnliche Bestimmung auf das
tautologische Denken nicht mehr passt, aber als Bestimmung der Phänomenolo-
22
Vgl. dazu Jean-Luc Marion, Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Hei-
degger, in: Günter Figal/Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven
(Heidegger Forum 2, hrsg. von Günter Figal), Frankfurt am Main 2009, 25–42.
23
Martin Heidegger, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, GA 14, hrsg. von Fried-
rich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2007, 3–30, hier 5.
24
Heidegger, Zeit und Sein, GA 14, 9.
25
Heidegger, Zeit und Sein, GA 14, 9.
26
Heidegger, Zeit und Sein, GA 14, 12.
27
Heideggers späte Wendung kann die kritischen Anmerkungen Jean-Luc Marions zu „Es gibt
Sein“ bestätigen. Der Satz, so Marion, sei „aporetisch“; er diene „als Ausgangspunkt, ohne je eine
wirklich phänomenologische Exposition zu erfahren“. Marion, Die Wiederaufnahme der Gege-
benheit durch Husserl und Heidegger, 27.
28
Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann,
Frankfurt am Main 1977, 46.
Personenverzeichnis
Leben 6, 57, 74, 78, 91, 95, 101–102, 114, Offene, das 3, 75, 138, 196–197, 203,
140–154, 170–172, 175–193, 204–207, 256–257, 264–265, 276
240–241 Offenheit 149–159, 164, 237, 244–245, 153,
Lebewesen 5–6, 37, 44, 61, 76, 89–90, 95, 177, 199, 230, 225–228, 256, 265–266
140–141, 144–145, 148, 151–154, 157, Organ 149–159, 164, 237, 245–247
159–160, 164–165, 171–178, 188, 198, Organismus 149
211–212, 242, 247–248 Orientierung 14, 34, 37, 60–61, 136,
Leere 26, 31, 35–37, 47–52, 55, 81–86, 98, 161–162, 165
106, 115, 128, 135–136, 230–231, 238, 252, Orientierungszentrum 34–35
254, 256–257, 260–261, 264 Ort 22, 24, 26, 28–31, 36–38, 40, 44–45,
Leerstelle (auch: Blanko) 28–30, 49, 105, 52–55, 74–76, 83, 94, 98, 126, 133–135,
135, 251–252, 251 137–138, 141, 160–161, 163–165, 168, 173,
Leib 24–35, 59, 66–68, 74, 91, 149, 182–183, 186–188, 191–193, 195, 200–201,
154–163, 171, 180, 223, 243, 245 204, 210, 229–235, 239–244, 248, 253, 273
Leiblichkeit 34, 68, 155, 157–158, 161, 167
Licht 227–228, 277–278 Paradigma 38, 54–55, 119
Lichtung 69, 74–75, 199 Person 1, 142, 159, 162, 182, 184, 187,
linguistic turn 22 192–193, 226
Lokalisierung 52, 55, 76, 155, 160, 173, 186, Phänomen 4–5, 10, 16, 19–22, 55–56,
188, 247, 258 58–61, 67, 69–71, 75, 84, 87, 119, 194
– lokalisierbar 134, 164, 213, 250–251 Phänomenologie 1–7, 11–17, 19–21, 55–57,
60, 62–63, 67–70, 73, 75, 76–87, 141–145,
Materie 91, 151, 155, 158, 216, 238 200, 239, 267, 269, 276
Möglichkeit 1, 3–4, 7, 12, 17–19, 31–33, Phänomenologie, realistische 1, 4
39–41, 46–52, 55, 61–70, 73–86, 89, Phänomenóphasis 16, 267
95–100, 105–109, 115, 120–128, 131–132, Platz 22–26, 28–30, 38, 42–45, 49–50,
135, 140–144, 146–148, 150–154, 162, 50–54, 173, 221–222, 231–233
165–167, 170, 173–175, 178–179, 189, Prinzip aller Prinzipien 11, 36, 56, 84, 269
200–206, 212–216, 219–220, 225–227, 230,
238–239, 242–251, 254–256, 261, Qualität, amorphe 46, 51, 55, 95, 134, 151
264–268, 272–275
– reine 200, 202, 230, 238, 273 Raum überhaupt 22–30, 37–39, 53–55, 76,
Monade 189 86, 98, 106, 126, 230, 243
Mystische, das 252, 254, 256 – Raum, einfacher 243–245, 250, 258
– Raumerfahrung 4, 6, 19, 23, 33, 37,
Nähe 6, 13, 23, 34, 51, 91–92, 109, 160, 45–46, 54, 137, 165, 209–213, 218–220,
166–167, 196–197, 199, 206, 217, 229, 239, 225, 243–244, 258
243 – Raum, gemeinsamer 180–184, 189
Nebeneinander 6, 32–33, 37–38 – Erscheinungsraum 182–183, 190, 206
294 Sachverzeichnis
– Räume 6, 18–20, 29, 44, 190, 205–208, 45–46, 57–58, 69, 75–87, 98, 118, 120–212,
209–230, 230–238 133–138, 145, 162, 169, 179–183, 189,
– Räumen 23, 25, 38 200–202, 212–213, 225, 256–257, 274, 278
Reduktion, phänomenologische 63–64, 71 Untergrund 38
Reflexion 63, 65–67, 70, 80–81, 85–87, 89, Unvertrautheit 34, 104–106
96, 125, 143–144, 169, 208–209, 219–220
Repräsentation 2, 182 Vermögen (siehe auch: δύναμις) 52–55, 78,
res extensa 158, 162–163, 215 135, 146, 151, 170, 191
Richtigkeit 277 Vermögen, organisches 151–153
Vernehmen 13–14, 178
Schema 248, 261 Vernunft, praktische siehe φρόνησις
Seele (auch: Leib) 142, 151–154, 215, 241, Verstehen 6, 110–113, 119, 123–125, 181,
244 265
Seele/ψυχή 151–154 Vertrautheit 34, 104–106, 166–167
Sein 12–17, 48, 50, 53, 57, 59–71, 76–78, 82, Verweisung 117–121
86, 141, 144, 177, 186, 193–194, 198–199, Vorgestelltes 15, 79, 265–266
202, 213, 267–268 Vorstellung 31–33, 86–87, 109, 227, 248,
Selbst 114–115, 140, 160, 177, 186 261–262, 271
Sinn 111, 122–124, 139, 143, 181
– gegenständlicher 114–120, 129, 249 Wahrheit 12–13, 68–70, 87, 115, 249, 276
Sinnengegenstand 67, 119, 126, 241 Wahrnehmbare, das 39, 59–60, 66, 74–77,
Situation 24, 36, 180, 184, 186, 221 83, 124, 157, 162, 241–245, 249, 269, 273
Sorge 69, 166, 193, 199, 202 Wahrnehmbarkeit 5, 60, 66–68, 76, 118,
– Besorgen 69, 91, 117, 119, 137, 166, 131, 134, 157, 162–163, 179, 206, 212, 260
193–194 Wahrnehmung 33–34, 46, 57, 67–68,
– Sorge um sich 144, 201–202, 208 74–76, 86, 90, 107–108, 115–120, 127–131,
space 25, 28, 38, 230, 236–237, 239 158–160, 180, 241–242, 245, 268–273
space of reasons 7 Weite 24, 29–30, 44, 54–55, 76, 126,
spatial turn 7 131–138, 167, 206, 209, 211–212, 230–231,
Sprache 2, 12, 21–22, 27–28, 125, 197–199, 234–235, 243–245, 265–266, 273, 277–278
239, 248, 252, 255–258 Welt 6–7, 35, 60–64, 86, 90–92, 100–102,
Stimmung 85, 194, 221 107, 140–141, 171, 193–202, 241, 253–256
Stoff (siehe auch: ὕλη) 53, 113, 269–270 Werden 41
Substanz 27, 36–37 Wesentliche, das 26–30, 32
Wirklichkeit 45–46, 60–62, 146–148,
Text 123–124 151–154, 166–168, 172–173, 181–183, 200,
Textur 45–47, 50 202, 205–207, 210, 214, 239, 246–250, 256,
Transzendenz 62, 65, 67, 71–73, 80, 96, 269, 275
105, 129–130, 276 Wissen (siehe auch: ἐπιστήμη) 21, 68, 104,
106, 109–110, 113–114, 135, 207, 249, 259
Umgebung 18–19, 22–23, 54, 214, 221 Wissenschaft 57, 107, 114
Umkehrbarkeit (auch: réversiblité; Chias- Wohnen 191–209, 213, 219–220, 225, 239
mus) 66–70, 156, 178 Wort 9, 12, 197, 199, 255, 257–258, 264
Ungegenständlichkeit 19–21, 162 Wort, dichterisches 12
Unscheinbarkeit 4–7, 10–22, 28, 37–39,
Sachverzeichnis 295
Zeichen 119–120 Zentrum (auch: Zentriertheit) 108–109,
Zeigen/Sichzeigen 3, 17, 56–58, 69, 74, 161–162, 166, 180, 183, 265
82–84, 95, 98, 108, 121, 123, 126–138, 162, Zulassen 51, 54–55, 82–85, 133, 135, 171,
167, 213, 230–231, 257, 265, 269, 275 230, 243
Zeit (siehe auch: χρόνος) 6, 20–21, 30, 39, Zwischenraum 25–26, 28, 31, 36, 46, 49,
75, 86, 129–130, 141, 185–188, 226 51, 132, 136, 167, 230, 234
Verzeichnis griechischer Begriffe
Mit * gekennzeichnete Seitenzahlen verweisen auf die Anmerkungen auf der jeweiligen Seite.
ἔθος 192–193 νοέω 13–14
εἴδη 248–249 νοῦς 241
εἶδον 108
εἶδος 103, 108–111, 113, 262 οἶδα 108
ἔστι γὰρ εἶναι 11 οἰκία 198
εἷναι 11, 14, 15, 40*, 41*, 110*, 152* ὄν ἀληθές 12–13
ἐνέργεια 146*, 152*, 170 ὄργανον 149
ἐντελέχεια ἡ πρώτη 151 ὁρίζων κύκλος 24, 260. 265
ἕξις 192 οὐσία 240*, 249, 277*
ἔχω siehe ἕξις
ἐπιστήμη 110, 113 πίστις 39*, 110
ἐποχή 61, 63–67, 72, 86, 106 – πίστις ὀρθή 110
ἔργον 171, 205, 207, 249* πλατεῖα 24
πόλις 198*, 204
Verzeichnis griechischer Begriffe 297
πρᾶγμα 112 ὕλη 40*, 113, 151*, 152*
πράγματα 69, 91
πρᾶξις 69, 91, 149* φαίνομαι 58
πράττω 112 φαινόμενον 57–58
φαίνω 16
στάδιον 25 φάσις 16, 40*
στοιχεῖα 40 φημί 16
σφαῖρα 48*, 221 φρόνησις 144
σώμα 40, 134*, 149*, 152* φωνή 198
ἀσύνθετος 12
χάος 42
τέμνω 206 χορτός 231
τέτταρα γένη 41 χρῆμα 112
τέχνη 99, 205, 207, 258–259, 262 χρῆσθαι 110*, 112
τί ἐστι 50 χρόνος 30
τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι 14 χώρα 31, 38–56, 244
τὸ δὲ ἀληθὲς τὸ νοεῖν ταῦτα 13 χωρέω 38
τόδε τι 50 χωρίζω 38, 231
τοιοῦτον 40 χωρίς 38
τόπος 31, 40*, 134, 241
τοῦ παντὸς ἀρχή 277 ψύχω 151
τοῦτο 40 ψυχή 151–152, 154