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BeiträgezurRechtsgeschichteÖsterreichs
PeterDINZELBACHER,Salzburg
PädophilieimMittelalter
PedophiliaintheMiddleAges
Althoughmanyanddiversekindsofmedievalsourcestellaboutpedophiliaandpedosexuality,thistopichasuntil
now only been studied with regard to a few local cases. Therefore, a first overview is presented here, taking into
accountnonjuridicaltexts,ecclesiasticalandpubliclaw,andcourtpractice.
IncontrasttotheveryhighesteemandprotectionwithwhichchildhoodisgenerallyassociatedinmodernWestern
society, neither the legislation nor the juridical practice of the Middle Ages did pay much attention to the age of
femalevictimsofsexualviolence:virgins,wivesandwidowswereconsidered–independentlyofthephaseoflife–
therelevantgroups.Insomelawsthepunishmentforrapeorviolationwasnotdifferentintermsofthisclassifica
tion,inotherlawsitwas,butitneverdependedonthevictim’sage.Giventhatcanonicallawallowedmentomarry
agirloftwelveorevensevenyears,sexualitywithfemalechildrencouldbepractisedwithoutbreakinganylaws.
Sexualrelationsofmenwithboys,however,countedassodomyandusedtobepenalisedascruellyassexactsbe
tweenmaleadults.
Keywords:Children–MedievalLaw–MiddleAges–Pedophilia–Rape–SexualViolence
Einleitung gionale Untersuchungen zu Einzelfällen und
einige Erwähnungen in Studien über die Stel
Die hier vorgestellte Thematik hat sich aus der
lung des Kindes im Mittelalter. Überhaupt fällt
Arbeit an einer (in statu nascendi befindlichen)
auf,dassanscheinendkeineeinzigeumfassende
eingehenden Darstellung der mittelalterlichen
Monographie zur Geschichte des europäischen
Sexualität ergeben.1 Es war mir überraschend,
Sexualstrafrechts existiert, wogegen andere
dass angesichts der Präsenz des Komplexes
Rechtsbereiche historisch ausführlichst bearbei
„Sittlichkeitsverbrechen an Kindern“ in der Ge
tetwurden.
genwart keine zusammenfassende Unter
WasdieForschungzurmittelalterlichenSexuali
suchungdarüberexistiert,obundwiebeiSexu
tätgenerellbetrifft,soisteinemarkanteDispro
aldelikteninderGesetzgebungunddergericht
portion zwischen dem geringen Anteilhomose
lichen Praxis des westlichen Mittelalters die
xuell Veranlagter in der Bevölkerung und ihrer
Unmündigkeit der Opfer eine Rolle spielte. Die
Prominenz in der Sekundärliteratur zu konsta
allgemeinen Rechtsgeschichten jener Epoche
tieren. Dies ist nur zum Teil damit zu erklären,
behandeln die Frage gar nicht oder völlig mar
dass schon v.a. die geistlichen Autoren jener
ginal. Es gibt nur einige wenige lokale oder re
Epoche diesem Thema überproportionales Inte
resse entgegenbrachten – es gibt keine Schrift
1Vgl.vorläufigDINZELBACHER,Mittelalterliche zur sündigen Heterosexualität, die auch nur in
Sexualität;DERS.,FutilitatesGermanicae;DERS., etwa dem der Ausrottung homosexuellen Ver
SexualitätundLiebe;DERS.,Gruppensex;DERS.,
LebensweltendesMittelalters.
http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE20181s5
6 PeterDINZELBACHER
haltens gewidmeten „Liber Gomorrhianus“ des Kanonistik wie jenen der profanen Rechte be
Kardinals und Kirchenlehrers Petrus Damiani2 trifft.
gleichkäme.Vielmehrperpetuiertdiegegenwär WieeineGesellschaftmitihrenKindernumgeht,
tige historische Forschung ungeachtet allen Fe stellt ein wichtiges Element ihrer spezifischen
minismus die traditionelle Konzentration auf Mentalitätdar;zudiesergehörenunbedingtdie
dasmännlicheGeschlecht,insoferneseineReihe typischenWerte,NormenundVerhaltensweisen
von Publikationen speziell zur Sexualität mit inderSphäredesSexuellen.KindundKindheit
unmündigen Knaben, aber deutlich weniger zu wird hier im Sinne der heutigen Biologie und
jener mit unmündigen Mädchen gibt. Die Stra Psychologie gebraucht, denn die „psycho
tegie bestimmter akademischer Kreise des physiologische Ausstattung zu Beginn jeder
„Queering the Middle Ages“3 ist vollaufgegan Ontogenese ist keinem historischen Wandel
gen. Als Chiffre für die mediävistische For unterworfen“.6VerschiedeneQuellendesMittel
schungslage mag gelten, dass das von zwei alters, speziell rechtliche, kennen unterschied
durchaus kompetenten Rechtshistorikern her licheAltersgrenzenfürdasEndederMinderjäh
ausgegebene„HandbookofMedievalSexuality“ rigkeit bzw. Kindheit, am häufigsten wird für
PädophilieausschließlichunterJudenundMus Mädchen das zwölfte, für Jungen das 14.Jahr
limenerwähnt,alsobsieimchristlichenAbend angesetzt. Um diese Altersgruppen geht es im
land nicht existiert hätte.4 Auch die Bibliogra Folgenden.
phie „Medieval Sexuality“ enthält praktisch Der terminologischen Klarheit willen sei vo
nichts zum Thema.5 Ähnlich verhält es sich mit rausgeschickt,dasssexualwissenschaftlichunter
den epochenübergreifenden Geschichten der Pädophilie die sexuelle Neigung Erwachsener
Sexualität,einschließlichderjüngsten.Rebussic zuPräpubertärenverstandenwird,unterHebe
stantibus kann mein Beitrag nur versuchen, die philie dasselbe zu Pubertierenden sowie unter
Frage in groben Umrissen zu präsentieren, wo Parthenophiliebzw.EphebophiliediePräferenz
beisichausdengegebenenDefizienzeneoipso für postpubertäre Jugendliche.7 Eine so genaue
einige Linien für mögliche künftige Forschun Differenzierung lassen die mittelalterlichen
genergeben. Quellenaberfastniezu,wienochdeutlichwer
DiehierzubehandelndeThematik–beschränkt den wird. Entgegen dem weitverbreiteten un
aufdielateinischeChristenheitdesMittelalters– wissenschaftlichen Sprachgebrauch handelt es
sehe ich im Schnittpunkt mehrerer historischer sich dabei nicht um ein Delikt, sondern eine
Entwicklungen: Einerseits der Geschichte der Sexualpräferenz(ParaphilieodersexuelleOrien
Kindheit, nämlich insofern die je nach Epoche tierung8). Folgt daraus eine sexuelle Handlung,
differierende Beurteilung dieses Lebensalters soistvonPädosexualitätzusprechen,nurdiese
den generellen Hintergrund bildet; anderseits kann rechtsrelevant sein. Mit Pädophilie soll
derGeschichtederSexualität,alldieweilsexuelle hier also jede erotische Orientierung Erwachse
Präferenzen und Praktiken nicht nur Sache der ner auf in der damaligen Gesellschaft altersbe
Veranlagung des Individuums sind, sondern dingt Unmündige gemeint sein. Päderastie
auch kultur bzw. epochenspezifisch geformt; meint sexuelle Beziehungen von Männern nur
und schließlich der Geschichte des Rechts, wo
bei das Thema gleicherweise den Bereich der
6FRENKEN, Kindheit und Autobiographie, hat wichti
11Siehe z.B. BARAZ, Medieval Cruelty. Insbesondere „Ancilla“ 132f.; LANSING, Girls in Trouble 300f.; RUG
102 für Mongolen; 126 für aufständische Bauern; 130 GIERO,Iconfinidell’eros68,178f.,247f.
fürRitter. 19Ebd.164.
8 PeterDINZELBACHER
Amorestpassio133–146;speziellimJuristischenz.B.
LANSING, Girls in Trouble 297f. Nicht ganz wenige der Rubrik „de homicidio“ steht, kann nur letzteres
Historiker missverstehen auch die mittellateinischen gemeint sein. Gemeinsamer Kindesmissbrauch
Texte; SCHWARZ, Schutz des Kindes 106f. konstruiert kommtinkeinemBußoderBeichtbuchvor.
z.B. einen Kindesmissbrauch durch beide Elternteile 22SCHWARZ,SchutzdesKindes108.
imBettbeidenElternschläft–einUnfall,derinzahl 26SCHWARZ,SchutzdesKindes117,126.
PädophilieimMittelalter 9
ohne Geschlechtsverkehr.28 Beides war so häu des Spätmittelalters der erste Geschlechtsver
fig, dass Erzbischof Hinkmar von Reims (gest. kehr für Mädchen empfohlen.35 Es wäre auch
882) einen eigenen Traktat „De coercendo et durchaus von Interesse, Informationen über ein
exstirpando raptu viduarum, puellarum29 et mögliches aktives Verhalten der Unmündigen
sanctimonialium“andenKönigrichtete.30Nicht zuhaben.WaresimmernureineSchutzbehaup
selten wurden begüterten Eltern oder Vormün tung, wenn Angeklagte einwandten, sie seien
dern kleine Mädchen entführt, um sie zu einer verführt worden? In einer Sprichwortnovelle
Ehezuzwingen,wasoftwohlmehrauspekuni Cornazanos(gest.1484)sagteinBeichtvateraus
ären als aus erotischen Interessen geschah.31 derRomagna:„nemaiconfessaidonnadadieci
Sonst kommt u.a. vor: „oppressio, stuprum, anniinsusochenonhavessepassatiqueidui“36
mhdt. Magdehuor“,32 welches am genauesten –nämlichGeliebte.GewißeinfiktiverText,aber
den Tatbestand illegitimen Geschlechtsverkehrs sinegranosalis?
mitunmündigenMädchenbezeichnet. Viele Quellen mit einschlägigen Informationen
Wesentlicheindeutigerlässtsichindennormie berichten einen Fall nur unvollständig, wes
renden Quellen bei anderen Zusammenhängen wegensiefürunsereUntersuchungwenigWert
alsinpunctopunctifeststellen,wieKinderund besitzen. So wurde z.B. im späten 15.Jahr
Erwachsene unterschieden wurden, aufgrund hundert ein Mann von einem Vater angeklagt,
des Alters Unmündige und Mündige also (es „tohavedeflouredhisdoughteroftheageofv
gab ja auch Unmündigkeit aufgrund des Ge yere to[o] ahomynably to speke of“.37 Weitere
schlechts, des Standes oder bestimmter Erkran Informationen fehlen. Ebenso wissen wir nicht,
kungen).DieSpieglernennenfürMännerunter obderDomherrGrafFriedrichvonRietberg,der
schiedliche Termine der Volljährigkeit, unter 1516 eine Zehnjährige zu vergewaltigen ver
schiedlicheTermineauchfürbestimmterechtli suchte und sie dabei verletzte, je zur Rechen
che Bereiche, etwa die Eidesfähigkeit oder die schaftgezogenwurde.38InMünchensetzteman
Lehensmündigkeit.33 Da von den Frauen nur 1517 einen Mann gefangen, der ein zehn oder
Witwen in einigen Rechtslandschaften nicht elfjähriges Mädchen geschwängert hatte. Aber
unter einem Muntherren standen, erübrigten obundwieerbestraftwurde,gibtderChronist
sichfürsieähnlicheAngaben. nichtan.39
Über die einzige sachgerechte Einteilung, die Dass in narrativen Quellen, aber auch in Ge
nach der individuellen Geschlechtsreife (puber richtsakten, eine Beschuldigung nichts anderes
tas),lassensichfürdasMittelalterkeinepraxis als Unterstellung und Verleumdung sein konn
bezogenen Daten erheben. In medizinischen te, gilt natürlich für das Mittelalter ebenso wie
Werken der Epoche, die bekanntlich vielfach füralleanderenEpochen.Sowarinzestuöseund
antike Ansichten wiederholen, wird die Menar pädophileSexualitäteinStandardvorwurfgegen
che mit 13 bis 14 Jahren angesetzt.34 Genau für alle möglichen Ketzersekten.40 Heinrich von Le
diesesAlterwirdindermedizinischenLiteratur Mans (von Lausanne) etwa, einer der im Volk
ungemein beliebten kleruskritischen und frau
28DUNN,Language.
enfreundlichen Prediger der ersten Hälfte des
29OhneAltersangabe. zwölftenJahrhunderts,gegendenu.a.Bernhard
30PatrologiaLatina125,Sp.1017–1036.
31BeispieledazubeiLEHMANN,Larépression286.
32DIEFENBACH, Glossarium 558b; „stuprum“ wurde 35GIALLONGO,Ilbambino202.
i.d.R. für illegale Entjungferung, unabhängig vom 36Prov.16,inCORNAZANO,Proverbii97.
Alter,verwendet:PAYER,Literature120f. 37DUNN,Language111.
688. 39REM,Chronica69.
34BULLOUGH,Sexology37f.;POST,Agesatmenarche. 40DINZELBACHER,Gruppensex.
10 PeterDINZELBACHER
von Clairvaux auftrat,41 hat, wenn man einer wird, gilt durch die Zeiten. So war1418 ein ge
feindlichen Schilderung glauben darf, gezielt wisser Symonnet angeklagt, die zehnjährige
erotische Beziehungen mit Kindern als öffentli KatharinazumSexgezwungenzuhaben.Deren
chen Tabubruch inszeniert: „Matrones etiam Entjungferung und Verletzungen im Scham
atqueimpubespueri(namutriussexusutebatur bereich bezeugten auch einige Frauen. Der An
lenocinio)provariavicehuicaccedentes,exces geklagte dagegen behauptete, „qu‘il n‘y peust
sus suos profitentur; sed augmentant plantas entrer parce qu‘elle estoit trop jeusne“45, womit
ejus, clunes, inguina tenera manu demulcen alsoeineVergewaltigungnichtstattgehabthätte.
do.“42Heinrichverschwandetwa1145ineinem Das Gericht glaubte ihm nicht, sondern verur
erzbischöflichen Kerker und damit aus der Ge teilte ihn zum Tode. 1507 gab es in Hamburg
schichte. Falls ein Prozess ordnungsgemäß er eine Verhandlung, weil eine Zwölfjährige be
öffnet wurde, war der Hauptanklagepunkt hauptete, im vorherigen Jahr von einem Zim
zweifellos nicht sein Verhältnis zu Kindern, mermann genotzüchtigt worden zu sein. Die
sondernseineErkenntnis,dassdieGläubigenzu Frauen,dieuntersuchten,obsieunberührtsei–
Gott unmittelbar finden müssten, d.h. ohne die die übliche forensische Methode im Hoch und
Sakramente der diese exklusiv und mit Heils Spätmittelalter46 –, kamen zu gegensätzlichen
notwendigkeitverwaltendenPriesterschaft,eine Urteilen. Das Mädchen wurde ins Gefängnis
Theologie,diediesemStanddieExistenzgrund gesetzt und anscheinend peinlich befragt, der
lagezerstörthätte. leugnende Mann nicht. Er wurde freigespro
Andererseits haben wir auch Quellen, an deren chen,dadasKindebenerstnacheinemJahrdie
Seriosität nicht zu zweifeln ist, so wenn der Anklage erhoben und inzwischen von ihm Ge
ehemalige Abt des Pariser Klosters der schenkeangenommenhatte.47
hl.Genoveva peinlicher Weise selbst an seinen Schließlich ist nachdrücklich darauf zu verwei
Nachfolger über das Treiben eines Pädophilen sen, dass die Texte eine sichere Beurteilung der
berichtenmußte,derdortKnabenmitGeschen rechtlichen Situation oft nicht ermöglichen. Ein
kenverführte.43Ebenso,wenndieListedervon konkretesBeispiel:ImRahmeneinesHexenpro
der Inquisition dem Prévôt Hugues Aubryot zesses in der Dauphiné sagte 1437 ein gewisser
von Paris um 1360 vorgeworfenen Verbrechen Jubert neben den üblichen Verbrechen, die die
enthält: „juvencularum adhuc uellare signa Gerichte von einschlägig Beschuldigten hören
culum integrum retinencium exoptans concubi wollten, aus, dass er mittels eines Zauberbuchs
tus [...] fiebat victrix libido.“ Es wäre sinnlos Dämonen herbeiholen könne, deren einer, pas
gewesen, dies hinzuzuerfinden, denn ähnlich senderweise Luxuriosus48 genannt, ihm in Ge
wie später bei Gilles de Rays war sein hinläng stalt einer lieblichen Zwölfjährigen (virginis
lich strafbares Hauptvergehen, die Privilegien mulieris placibilis duodecim annorum)erschien
des Klerus und der Universität nicht beachtet sei,undsiehättenächtenserfreulichenSexmit
und Magie zu Hilfe genommen zu haben. einander gehabt.49 Wohl die allermeisten Ange
Aubryot wurde zu lebenslangem Kerker verur hörigen einer heutigen westlichen Kultur wür
teilt,konnteaberbaldentfliehen.44 den hierin unbesehen einen Fall von praktizier
Dass ein Fall von den Beschuldigten, den Zeu ter Pädophilie, getarnt als dämonische Erschei
gen, den Opfern unterschiedlich dargestellt
45GONTHIER,Lesvictimes22und28f.Einenanalogen
42BOUQUET,Gestapontificum548A. 47KÜMPER,Notzucht152.
43HURTER,GeschichtePapstInnocenz609. 48Mittellat.„luxuria“istdieSündederUnkeuschheit.
44TANON,Histoiredestribunaux121f. 49HANSEN,Quellen540f.
PädophilieimMittelalter 11
nung, erkennen. Dies erscheint umso wahr einmal, ob nun Papst AlexanderVI. und sein
scheinlicher, als ein derartiges Bekenntnis kei Sohn tatsächlich Sex mit Lucrezia hatten, oder
neswegszudemStereotypderVerbrechenzähl diesnurübleNachredewar.
te, die in Hexenprozessen abgefragt und erfol
tert wurden. Kennten sie jedoch das damalige
Kirchenrecht,müßtensiesofortihreVoreiligkeit Pädophilieinnichtjuristischen
eingestehen,denninKontinuitätzumrömischen
mittelalterlichenQuellen
Recht war das Heiratsalter für Frauen ab zwölf
Jahre festgeschrieben. Ergo könnte sich der He ZunächstistdieFragezustellen, obPädophilie
xergenausoeineverheirateteunddamitvolljäh inmittelalterlichenQuellenüberhaupteineRol
rige Frau (mulier) in diesem Alter als Succubus le spielt. Menschliches Verhalten wird in einem
vorgestellt haben (wogegen natürlich virgo Rahmen psychosomatischer Möglichkeiten
spricht). praktiziert, die der Spezies vorgegeben sind,
Erwähntseinochdiezweifelsohneextremhohe Thema besonders der Humanethologie bzw.
Dunkelziffer. Wenn man bedenkt, dass sie bei Verhaltensforschung. Die dem Homo sapiens
Sexualdeliktenindergegenwärtigenwestlichen möglichen Verhaltensweisen stehen nun kei
Welt etwa bis zu 80% ausmacht,50 so muss sie neswegs alle in jeder Kultur zur Verfügung,
imMittelalternochdeutlichhöhergewesensein. manchesindüblich,andereexzeptionell,weitere
Ein wichtiger Faktor war dabei (abgesehen von blockiert. Es genüge daran zu erinnern, wie
derunvergleichlichgeringerenOrganisationdes falsch es etwa wäre anzunehmen, der Kuss ge
Rechtswesens), dass die sehr machistisch ge höreimmerundüberallzurkörperlichenLiebe.
prägte Gesellschaft jener Epoche weibliche Op In vielen Berichten über die traditionellen Japa
fer mit dem Makel der Ehrlosigkeit demütigte, ner erfährt man: „[...] der Kuß ist ihnen unbe
was in vielen Fällen den Gang zur Obrigkeit kannt.ErerscheintihnenalsetwasTierisches.“55
verhindert haben wird. Aus diesem Grund ver Andererseitsliebkosenu.a.beidentungusischen
zichtetenFamiliensogardarauf,dieSachedurch Manchu,eineminChinaverbreitetenVolk,oder
eine eigentlich vorgesehene öffentliche Bestra bei den KoBuschleuten die Mütter ihre Söhne
fung des Täters bekannt werden zu lassen.51 durchFellatio,dienichtalssexuellgilt,wogegen
Dass es einem Mädchen einmal gelang, das der Kuss gerade so empfunden und daher zwi
Schwert des Vergewaltigers zu ergreifen und schen diesen Verwandten nicht praktiziert
sichselbsterfolgreichzuwehren,52gehörtzwei wird.56 Päderastie war bekanntlich in der grie
felloszudenAusnahmefällen. chischrömischenAntikeweitgehendakzeptiert,
als religiöser Kult bei den Mayas und Azteken
Inzest in der Kernfamilie (mhdt. siphuor)53
üblich,57 für Juden und Christen dagegen die
kommt zwar in einer Reihe hoch und spätmit
telalterlicherRomanevor(namentlichApolloni
55HESSEWARTEGG, China und Japan 415. Vgl. aus
usvonTyra54),wieseltenoderhäufigerfaktisch
führlichRICHIE,ALateralView220ff.
war, ist nicht zu eruieren. Auch heute weiß die 56CLARKE, Looking at Lovemaking 15f. „In the Man
ForschungtrotzdesReichtumsanQuellennicht chutribe,amotherwillroutinelysuckhersmallsons
penis in public but would never kiss his cheeks.
Amongadults,theManchubelieve,fellatioisasexual
50ROSSIAUD,DameVenus18. act,butkissing–evenbetweenmotherandinfantson
51Ebd.187. – is always a sexual act, and thus fellation becomes
52S.u.S.29. the proper display of motherly affection.“ Vgl.
53DieKanonistikderEpochehatteeinenvielweiteren https://en.wikipedia.org/wiki/Kiss#cite_note38,
BegriffvondieserSünde,sieheUBL,Inzestverbot. Anm.38–41. Weitere Beispiele: DUERR, Nackheit und
54ROUSSEL, Aspects du père; BUSCHINGER, Quelques Scham201f.;LAUTMANN,Soziologie197f.
aspectsduthème. 57PLOß,RENZ,Kind219f.,530f.
12 PeterDINZELBACHER
nem süßfließenden Blick der Augen, heiterem mit diesen wunderschönen Mädchen: „Sie
AngesichtundschmeichelndemHändepatschen nâmen si zu wîben / und hatten mêr wunnen /
berührte,betastete,streichelte,glättete,liebkoste dan wir ie gewunnen, / sint daz wir worden
Waldefs Kopf und Gesicht, und indem es sein geborn.“ Der Sex mit ihnen war also besser als
Haupt an Waldefs Haupt, seinen Mund [...] an mit jedem anderen weiblichen Wesen. Danach
Waldefs Mund legte, drückte es ihm zahlreiche verwelkten diese Blumenkinder allerdings.68
Küsseauf.Eraber,berauschtvomSturzbachder Formuliert ist somit eine pädophile Utopie von
Lust (‚inebriatus a torrente voluptatis‘), gab einer nur wenige Monate währenden, aber un
jedem einzelnen Glied dieses unseres Jesulein übertrefflichenerotischenErfüllung.
zahllose Küsse.65 Das Abküssen des gesamten In der „Chanson de geste Doon de Mayence“
Leibesdes Christkindeszeigt eine Intimität, die (zweite Hälfte zwölftes Jahrhundert) trifft der
wirpostFreudLebendenkaumandersdennals Held auf ein wunderschönes Mädchen von ge
pädophil interpretieren können. Sein Biograph nau elf Jahren und einem Monat. Binnen Kur
dagegen schreibt, dieses „felix experimentum“, zem tauschen sie Küsse und verbringen dann
die beglückende Erfahrung der mit Christus dieNachtzusammen.69ImFablel„Duprestreet
ausgetauschten körperlichen Zärtlichkeiten, d’Alison“ziehtdieZwölfjährigedenGeistlichen
erweisedieHeiligkeitdesAbtes. vorallemdurchihrejugendlichenBrüstean.70
Ganz ähnliche Phantasien berichtet der Kaplan Der von zahllosen Germanisten analysierte
Friedrich Sunder (1254–1328) in seinen autobio „ArmeHeinrich“desHartmannvonAue(Ende
graphischen Aufzeichnungen über die „Kurz des zwölften Jahrhunderts) kann verschieden
weil“, die er – seine Seele – mit dem Jesuskna gelesen werden; man mag hier eine fromme
ben in dem „vielwonniglichen Bettlein“ beim Legende,sogareinechristlicheAllegoriesehen,71
Connubiumspiritualeerlebte.Wiewohlkatholi dochniemandwirdleugnen,dasseszurPeripe
sche Germanisten verbissen darauf bestehen, tie der Dichtung durch eine voyeuristische Sze
man habe hierin nur eine metaphorische Façon nekommt,indereinältererManneingefessel
de parler zu sehen und eine psychologische tes nacktes Mädchen von etwa elf Jahren72 be
Interpretation schlichtweg für verboten erklä trachtet. „ir lîp der was vil minneclich“ und
ren,66istevident,dassdieSchilderungderartiger „wünneclich“(vs.1233,1273),deshalbverzichtet
Phantasien nicht ohne entsprechende sexuelle Heinrich darauf, sie töten zu lassen, um seine
Dispositionmöglichseinkonnte.67 Erkrankung mit ihrem Blut zu heilen. Schon
Ein in vielen volkssprachlichen Versionen bear früherhattedieserRittermitdeminihnvernarr
beiteterErzählstoffwarderIndienzugAlexand ten Kind eine zärtliche Verbindung (326ff.), er
ersdesGroßen.Imum1180gedichteten„Straß schenkte dem Mädchen „gürtel und vingerlîn“
burger Alexander“ (vs.4720ff.) trifft das Heer undnanntesie„sîngemahel“(338,341,431),so
des Welteroberers im Orient auf „megede rehte dassdieAssoziationanBrautgürtelundEhering
vollencomen“imAltervonzwölfJahren,dieaus mehr als nahe liegt. Seine Füße pflegte er der
Blumen herauswachsen. Über drei Monate ver „Süßen“indenSchoßzulegen(462f.),wasman
gnügen sich der Herrscher und seine Vasallen
68LAMBRECHT, Alexanderroman 432–441; vgl.
65VON FURNESS, Vita Sp. 255 BC. Übersetzung: DIN SCHLECHTWEGJAHN,MachtundGewalt81f.
ZELBACHER,ChristlicheMystik129f. 69PEY,ChansondegesteDoon110f.
309 für eine Liste jener MystikerInnen, bei denen in der Erzählung achtjährig (vs.303). Alle Zitate nach
derKindheitsexuelleTraumatazuvermutensind. PAUL,GÄRTNER,ArmerHeinrich.
14 PeterDINZELBACHER
lum parvulum“ einer Frau missbrauchte.76 In Völker, bei denen Mädchen unter zehn in die Ehe
Dijon wurde 1449 aktenkundig, dass ein Mann gegeben wurden und diese auch vollzogen wurde:
eine Vierjährige zu vergewaltigen versuchte, PLOß,RENZ,Kind552,554,702f.
80DiesturenumerischeBestimmung,dieja(mitande
was ihm jedoch wegen „eiaculatio praecox“
ren Zahlen) auch die gegenwärtigen Rechte be
herrscht, geht zurück auf Justinian, wogegen das
73InderfeministischenMediävistikgiltdiePastourel ältere römische Recht die Heiratsfähigkeit nach der
le,dieein(intendiertes)sexuellesVerhältniszwischen individuellen Reife der Partner feststellen ließ, siehe
einerjungenSchäferinundeinemerwachsenenRitter ONGLIN,L’âgerequis.ZumrömischenRechtTAFARO,
thematisiert,alsPoesiederVergewaltigung,wasauch Pubes. Es ist eine Ausnahme, wenn das Konzil von
oft zutrifft. S. jedoch PADEN, Rape. Altersangaben Fréjus 796/7 ohne Altersangabe bestimmte, niemand
kommenm.W.nichtvor. solle vor den „annos pubertatis“ vermählt werden
74SOBCZYK,L‘érotisme157f. (SCHWARZ,SchutzdesKindes131).
75MILLS,SuspendedAnimation141. 81ÜberdiediversenAuslegungendiesesGrundsatzes
sischen Latein, ebenso in der Vulgata und im eine „desponsatio impuberum“ Frieden zu stif
Mittellatein„Bosheit“,imLateinderKanonisten ten.89 Nur gelegentlich behielt sich im Spätmit
ist jedoch in gegebenen Zusammenhang „Früh telaltereinBischofdiePrüfungsolcherHeiraten
reife” gemeint, was sich der prinzipiellen Ab vor.90 Dass demgemäß auch Laien, wie der
wertung von Sexualität an sich verdankt. Diese Notar und Dichter Francesco da Barberini, ein
aus dem spätrömischen Strafrecht stammende Zeitgenosse Dantes, die Verheiratung einer
Lehre, „malitia supplet aetatem“,82 wurde von Neunjährigen in Ordnung befanden,91 kann
Papst HonoriusIII. (reg.1216–1227) festge nicht verwundern. Dementgegen war in Rom
schrieben;83 AlexanderIII. (reg.1159–1181) hatte seitAugustusderGeschlechtsverkehrmiteinem
bereitsalle Ehen, derenPartner Geschlechtsver MädchenausehrbarerFamiliestrafbargewesen,
kehr vor dem Heiratsalter hatten, legitimiert, falls sie noch nicht „viripotens“ war,d.h. biolo
indem er die erfolgte Copula als Konsens inter gischreifgenug.92
pretierte,84ohnenachdenUmständenzufragen. Die auch unter Mediävisten zu findenden Ver
Thomas von Aquin hat dies in der Theologie teidigereines„leuchtendenMittelalters“werden
verankert und Verlöbnisse Siebenjähriger als hiereinwenden,dasAltervonsiebenJahrensei
bindend erklärt.85 Es war kirchliche Praxis, eine nur auf den frühesten Verlobungs, nicht auf
Ehe mit dem Vollzug als unlöslich zu erklären, den Heiratstermin zu beziehen. Vergebens;
sogar wenn der Geschlechtsverkehr ohne Kon Papst AlexanderIII., der bekanntlich seine Kar
sens und im noch nicht heiratsfähigen Alter riere als Kanonist an der Universität Bologna
erfolgtwar.86 begonnenhatte,erließ eineDekretalie,inderer
Berthold von Regensburg spricht in seiner Ehe festsetzte: „desponsationes et matrimonia ante
predigtalsvonetwasGewöhnlichem,„Gîtman septem annos fieri non possunt“. Daraus geht
zweikintzesamene,diusibenjâraltsint[...]“.87 eindeutig hervor, dass nicht nur Verlöbnisse,
Diese Rechtssituation blieb in der Catholica bis sondern auch Ehen ab dem siebenten Jahr der
ins 19.Jahrhundert gültig. Zusätzlich durften Braut kirchenrechtlich legitim sind. Zuvor
die Altersgrenzen noch „aliqua urgentissima schrieber,aufdenkonkretenFallbezogen,essei
necessitate“88 außer Kraft gesetzt werden (ein entscheidend, ob „puella ipsa [...] quum esset
reichlich dehnbarer Begriff) sowie wenn es da minorisaetatis,fueritproximaaetatiaptaemat
rumging,zwischenverfeindetenFamiliendurch rimonìo, aut infra septem annos“.93 Im ersten
Fall, also wenn die Braut zwischen sieben und
die hier nicht zu verfolgen sind, siehe detailreich zwölf war, ist die Ehe gültig, im zweiten nicht.
HÖRMANN,Desponsatio,33f.,37u.pass. Dasheißt,eineUnmündigekanndas„geeignete
82DELMAILLE,Âge344;ONGLIN,L’âgerequis241.Vgl.
Heiratsalter“ mit sieben Jahren erreicht haben.
Cod. Just.2, 42, 3 pr. (Diokletian). Es dürfte auch
Ecclesiasticus25,26zuGrundeliegen:„Brevisomnis Demgemäß entschied dieser Papst auch in kon
malitiasupermalitiammulieris“;bemerkenswertder kreten Fällen für die Validität von Ehen, wenn
Gegensatzzu1Cor20! dasMädchenzwischensiebenundzwölfJahren
83CLAUSEN,PapstHonoriusIII.378.
238. II,674;vgl.zumAnlaßBROOKE,Ilmatrimonio166f.
16 PeterDINZELBACHER
alt war, selbst wenn sie schon als Baby verlobt freiePartnerwahlerstab15fest–fallsdieFami
wordenwar.94 EinBeispielausderPraxisbietet lie zustimmte.101 Selten äußerten sich Päpste
jenerMann,dersichmiteinerFünfjährigenver (natürlich nur in den Hochadel betreffenden
lobte und versprach, die Ehe „erst“ in ihrem Fällen) dafür, die Ehe einer Unmündigen zu
zehnten Jahr zu vollziehen.95 Übrigens wussten annullieren.102 Und der dominierende Theologe
sogar Bischöfe nicht immer, ob ein Mädchen der Catholica, Thomas von Aquin, zitiert zu
unter zwölf bindend verheiratet werden durfte stimmend Hugo von St.Viktor: Es reicht, wenn
odernicht.96 das Mädchen nicht widerspricht! Und fügt hin
DieseBestimmungenimplizieren,dassder(erst zu:„Undeverbaparentumcomputanturincasu
seitdemzwölftenJahrhundertgeforderte)Kon illo ac si essent puelle.“103 Manche Kanonisten,
sens beider Ehepartner leicht zu umgehen war, wie der Mag. Rolandus (zweite Hälfte des
wenn der Muntwalt zustimmte. Hierfür konnte zwölften Jahrhunderts) schrieben sogar, die
man auf eine Entscheidung des Papstes Hor „Traditioadcarnalemconjunctionem“darfauch
misdas zurückgreifen, die ins „Decretum Grati „eadem invita“ geschehen, falls sie irgendwann
ani“ einging: Der Vater kann die unmündigen früher der Verbindung zugestimmt hat.104 Wie
Kinder „cui uult, in matrimonium tradere, et solltedasohneGewaltablaufen?
post, quam filius peruenerit ad perfectam e Somit konnten Pädophile ohne Verletzung des
tatem, omnino obseruare et adinplere debet“.97 Rechts mit siebenjährigen Mädchen ins Bett
So wurde z.B. gegen ihren ausdrücklichen Wil gehen,vorausgesetzt,siehattensiemitZustim
len die Hochzeit für die elfjährige Eustochia mung des Muntwalts geheiratet. Die Quellenla
Calafato(1434–1485)indieWegegeleitet(wobei geerlaubtkeineStatistik,wieoftEhenvonsehr
siefastinOhnmachtfiel),undnurderToddes jungen Mädchen mit Erwachsenen vorkamen,
Bräutigams verhinderte den Vollzug.98 Die El immerhin sind u.a. Namen einiger Bräute der
ternhattenohnehindurchdasZüchtigungsrecht Merowingerzeit bekannt, die bei der Vereheli
die Möglichkeit, ein unwilliges Mädchen zur chung zehn Jahre oder wenig älter waren.105
Abgabe des Jaworts vor dem Priester zu zwin AuchwennmanvonderVerheiratungvonzwei
gen, und Beispiele zeigen, dass dies oft genug Kindern absieht,106 sind im ganzen Mittelalter
geschah.99 Wie hätten auch so junge Kinder100 Ehen sehr junger Mädchen v.a. aus dem Adel
eine das ganze Leben bindende Entscheidung bezeugt,107 wofür jedoch meist die politischen
treffenkönnen? Verbindungen ausschlaggebend gewesen sein
Partikulare Gesetze wiederholten nicht immer dürften, nicht erotische Vorlieben (so heiratete
diekanonischenVorschriftenbzgl.„consensus“; 1284der66jährigeKönigRudolfI.dievierzehn
sosetztedasinderRegionvonTrondheimgel jährige IsabelleAgnes von Burgund). Aber
tende „Frostothing“ (XI, 18) für Mädchen eine
101KORPIOLA, Nordic Perspectives 143. Die Autorin
Patrologia Latina162, Sp.118f. Siehe auch ein erzbi 103S. Th. Suppl. qu. XLV, a. 2 ad tert. (2854) ed. cit.
97Decretum31,2,inFRIEDBERG,CorpusI,1113f. 105VERDON,Lesfemmes243.
113SHEPERD,Dialogus6,18.
114GODET,Érasme395. 116HÖRMANN,Desponsatio101.
115Christiani matrimonii institutio, Basel 1526 (sine 117GRIMM,WeisthümerI,311.
pag.). 118PLOß,RENZ,Kind551.
18 PeterDINZELBACHER
vor.119 Es muss, jedenfalls im späten Mittelalter, liche Pädosexualität besonders häufig gewesen
nicht wenige unmündige Prostituierte gegeben zuseinscheint.IneinemGedichteinesetwaum
haben, teilweise von den Eltern dazu gezwun 900 geschriebenen Kodex werden die Männer
gen,120 oder auch entführt.121 Bischof Albertus vonOrléansalsdieerstenunterden„puerorum
MagnuswarderMeinung,dieMenarchewürde concubitores“genannt.127Florenzwarimspäten
bei noch nicht geschlechtsreifen Prostituierten Mittelalter eine Hochburg der Homosexualität
erst verzögert eintreten,122 er spricht davon, als und damit auch der Päderastie, gegen die eine
ob dies nicht etwas Ungewöhnliches sei. In Bo eigene Strafverfolgungsbehörde, die Ufficiali
lognawurde1298eineFraualsKupplerinange della Notte, eingerichtet wurde.128 Nach den
klagt, die „puellas parvas“ raubte und sie für gerichtlichenDokumentenmussdortFellatioan
GeldvonKundenentjungfernließ.123DerBasler kleinen Jungen neben Analverkehr besonders
Stadtrat verbannte während des Konzils eine häufig gewesen sein.129 In Siena war Päderastie
Familie, weil die Eltern ihr neunjähriges Töch so häufig, dass der Volksprediger Bernhardin
terlein gegen Geld an Konzilsteilnehmer „ze sichinseinerPredigtgegendieSodomiebeson
schande“ vermieteten.124 Einige Städte, wie ders warnend an die „fanciulli“ wandte, sich
Würzburg 1444, verboten bei Strafe, ein Mäd derartigem zu verweigern, und sagt, hätte er
chen, „das weder brüste noch anders hette, das Söhne, würde er diese im Alter zwischen drei
dazuo gehört“, im öffentlichen Bordell zu hal und vierzig permanent ins Ausland schicken.130
ten.125 In Hamburg stand 1516 eine Kupplerin AuchinVenedigwardieSituationähnlich,wo
vor Gericht, die eine elfjährige Jungfrau einem rauf die Regierung mit einer Reihe von Maß
gräflichen Domherrn zur Defloration vermittelt nahmen reagierte, etwa der Beschränkung der
hatte126–usw. abendlichenSchulzeiten,KontrollevonApothe
EsgabeinigewenigeStädte,indenen,auswel kernundBarbieren(diesichoffenbarbesonders
chen Gründen auch immer, gleichgeschlecht der Sodomie verdächtig machten), die Beleuch
tungeinschlägigbekannterTreffpunkteu.a.m.131
119BOSWELL, Christianity 144; RUGGIERO, I confini Die Venezianischen Behörden wurden im
dell’eros68. 15.JahrhundertvonheftigerFurchtergriffen,es
120Beispiele dazu: ROSSIAUD, Dame Venus 110, 131,
könnte ihrer Stadt wie Sodom und Gomorrha
190. Das Thema der angeblich in Skandinavien exis ergehen,dennoffenbarfandensichbeidenBar
tierenden „Gastprostitution“, bei der junge Mädchen
bieren und Chirurgen so viele anal verletzte
einem Gast für die Nacht zur Verfügung gestellt
wurden (WEINHOLD, Altnordisches Leben 447), ist Jungen (und Frauen) zur Behandlung ein, dass
quellenmäßig schlecht belegt, ihr Alter ungewiss. diese Fälle 1467 meldepflichtig wurden.132 Im
Sicher ist dagegen, dass portugiesischen Entdeckern spätmittelalterlichen Basel kam Notzucht an
im 15. Jahrhundert ab und an quasi als Willkom
Kindern „eher häufiger vor als der gewaltsame
mensgeschenk„unagarzonadeannj12/in13/negrae
moltobella“insBettgelegtwurde(EIBL,Menwithout MissbraucheinerFrau“undwurdemitVerban
Wives66f.).Sicheristauch,dassderUsusbeiaußer nungoder–wohlnurbeischwererVerletzung–
europäischen Völkern existierte (PLOß u. a., Weib sogarmitPfählunggeahndet.133
118f.).
121Grabinschrift eines „scorti egregii“ des Dichters
Panormita: „Rapta fui e patria teneris pulchella sub 127DÜMMLER,BriefeundVerse358.
annis[...]“inFORBERG,Hermaphroditus(2,30,3)112. 128DEAN, Crime and Justice 144; vgl. GOODICH, Un
122Deanimalibus9,1,1,zit.SOBCZYK,L‘érotisme5. mentionableVice83f.
123LANSING,GirlsinTrouble305f. 129MILLS,SuspendedAnimation91.
124SCHUSTER, Lebensbedingungen 272f. (mit weiteren 130S. BERNARDINO DA SIENA, Le Prediche (Pred. 39)
Beispielen). 899,901,904.
125Zit.n. DUERR, Tatsachen 777. Gleichlautend Straß 131RUGGIERO,Iconfinidell’eros225ff.
burg1493(SCHUSTER,Frauenhaus82). 132Ebd.195.
126IRSIGLER,LASSOTTA,BettlerundGaukler200. 133HAGEMANN,BaslerRechtsleben264.
PädophilieimMittelalter 19
Hat es im Mittelalter eine pädophile Subkultur zigsten Nachlässigkeiten stets Prügel vorge
gegeben? Zweifellos v.a. in manchen Klöstern, schrieben sind, achtet geradezu hysterisch da
woOblatenundNovizenderBefehlsgewaltder rauf, dass es keinen körperlichen Kontakt zwi
älteren Mönche unterstellt waren. Schon im schendenJungengibt,„dasskeinerderSchüler
zehnten Jahrhundert beschuldigte Gunzo von auch nur den Saum von des anderen Rock be
Novara die Mönche, eine Art homosexueller rührenkann“,dassdieKnabeneinandergenau
Bruderschaft zu sein,134 und Petrus Damiani estens bespitzeln, die Lehrer sie stets überwa
stellte den Missbrauch der Knaben im Konvent chenusw.139DieMöglichkeitenzufliehenwaren
dem Inzest gleich, da die älteren Fratres eben fürdieKinderdamalsnochvielschwierigerals
geistliche Brüder oder Väter seien.135 Allein die in den letzten Jahrzehnten, wo wir aus katholi
VielzahlderdefensivenVorschriftenläßtdarauf schen und protestantischen Institutionen zur
schließen, wie sehr die Oberen mit homo Genüge wissen, wie die Praxis der Caritas oft
sexuellen Beziehungen unter und mit den ge aussieht.
mönchten Kindern rechneten. Kennt man die WeitergibteseineReiheeinschlägigermittella
Bestimmungen der monastischen Regeln und teinischer Gedichte, in denen der oder die Ge
Consuetudines, die den Schlaf der Religiosen liebte expressis verbis ein Kind ist, wie das be
undbesondersderNovizenbetreffen,136alsoder rühmte „O admirabile Veneris idolum“, das in
zahlreichen Kinder, die im Alter von fünf bis den „Carmina Cantabrigensia“ (um 1100) an
acht Jahren als „Zehnt von ihren Eltern einem einen„puerulus“gerichtetwird.140Auchwarim
Klosterpatronverlobtunddamitzumeistlebens FrankreichdeszwölftenJahrhundertsunterden
länglich gemöncht worden waren – natürlich lateinischenDichterndasGanymedThemaganz
ohnegefragtzuwerden–,dannisteineintensi besonders beliebt.141 Derartige Poesie muss ei
ve Angst vor homosexuellen Akten sehr deut nen Kreis von gleich veranlagten Interessenten
lich. Die 973 für die englischen Benediktiner gehabthaben.Päderastiewarimnormannischen
erlassene „Regularis Concordia“ z.B. sagt, Abt Englandsoverbreitet,dassAnselmvonCanter
und Mönche dürften die Oblaten weder umar buryjedenSonntagdenBannüberdieSodomi
mennoch„labrisleuiterdeosculando“,sondern ter verkünden ließ.142 Nicht anders unter den
ihnen nur mit spiritueller Caritas begegnen,137 AnjouPlantagenet, wie Johannes von Salisbury
undähnlicheVorschriftengalteninvielenKlös ausführt: „Sed quid filias et uxores (quod licet
tern. Das Dormitorium war ein Bereich beson iuraprohibeant,tamenquocunquemodonatura
ders strenger Überwachung.138 Um auch ein permittit)exponiqueror,autprostitui?[...]Fili
spätmittelalterliches Beispiel zu geben: Die os offerunt Veneri, eosdemque in oblatione
Hausordnung der Benediktinerabtei Saint Bé pupparum virgines praeire compellunt. In illis
nigne in Dijon (14.Jhd.), nach der für die win etenim aetatis maturitas exspectatur; at in his
sufficit alienae impudicitiae voluptatem posse
134POLY,Lechemin389. expleri.“143
135D’ANGELO, Liber Gomorrhianus 126f. Konkrete
Erstaunlich viele Literaturhistoriker pflegen
Beispiele bei DRESDNER, Kultur und Sittengeschichte
324. freilich in einer Art skurriler Realitäts
136DIEM,OrganisierteKeuschheit.
137SYMONS,Regularis7f. 139EVANS,Leben135.
138DIEM,Experiment.FürdasausgehendeFrühmittel 140STRECKER,CarminaCantabrigensia105f.
altersieheHOFFMANN,MittelalterlicherMensch122f.; 141BOSWELL, Christianity 243f., zustimmend wieder
QUINN, Better Than The Sons of Kings 155–194. Es holt von POLY, Le chemin 393f. Siehe auch LIMBECK,
wäreübrigenseinLeichtes,einSchwarzbuchüberdie Homoerotik454ff.
Brutalität zusammenzustellen, mit der Kinder im 142GRUPP,Kulturgeschichte95.
Cassian,Inst.IV,27. VerwendungeinesantikenTextes.
20 PeterDINZELBACHER
verweigerung angesichts solcher Lyrik von blo – Schauen, Streicheln, Küssen – und man ihre
ßenStilübungenundAntikennachahmungenzu Reifung ohne vaginale Stimulierung abwarten
reden,sieglaubenes,wenneinDichterwiePa müsse.SoderVerfasserdes„CarmenBuranum“
normitanus schreibt, seine pädophilen Verse, 88, ein Student oder Geistlicher: „Ludo cum
vondenensein„Hermaphroditus“vollist,seien Cecilia;nichiltimeatis!sumquasicustodiafragi
bloß elegante Spielerei. Aber diese Gedichte lis etatis, ne marcescant lilia sue castitatis. Flos
wurden handschriftlich verbreitet und waren, est; florem frangere non est res secura. uvam
wiemittelalterlicheLiteraturgenerell,zumVor sino crescere, donec sit matura; spes me facit
trag bestimmt. In einer Liederhandschrift des vivereletumreventura.Volotantumludere,id
frühen 13.Jahrhunderts aus der Abtei Saint est:contemplari,presensloqui,tangere,tandem
Martial (Aquitanien) finden wir ein Gedicht, in osculari; quintum, quod est agere, noli sus
dem sich der Verfasser (von einigen für Petrus picari!“146
vonBloisgehalten)darüberbeklagt,erhabesich Und ein (fiktives) Pedigtexempel des zwölften
ein kleines Mädchen aufgezogen mit dem Ziel Jahrhunderts erzählt von einem Priester und
„primitias pudoris“ zu genießen, also sie zu seiner Adoptivtochter, wie der Geistliche „cepit
entjungfern;vorläufig begnügte er sich, mit sei in eius exardescere concupiscentia“, als sie „ad
nem Penis an ihrer Scheide herumzuspielen, pubertatis annos peruenisset“. Jedoch zwang er
ohne einzudringen: „Me meo memini scripsisse sie zu nichts, sondern erbat und erhielt „eius
legeminguini:proforibusastaret,necmolestum assensum“.147DaesindieserTextsortejadarum
virgini profundius intraret!“ Sie aber, „audax geht, gottgefälliges Verhalten zu lehren, ver
virguncula“, hat sich bereits mit sieben Jahren meidetderPriesterdieSündefreilich,indemer
„licetparvula[...]gremiopropicio“den„illeceb sichnochrechtzeitigentmannt(wasinderReali
ras amoris“ mit anderen Männern hingegeben. tät bisweilen vorkam, so agierte etwa der hl.
Nun bejammert er seine eigene Zurückhaltung: UlrichvonZell148).DerhierrelevantePunktaber
„corpusadhucimpube,tenerum,furtimvendis, ist, dass der monastische Verfasser sich durch
migrans,adulterum:doleo!doleo!doleo!“144 aus vorstellen konnte, auch ein sehr junges
IchseheindieserSequenzwenigereineIllustra MädchenumZustimmungzuersuchen.Genau
tionneuplatonischerNaturphilosophie145alsein sohieltesinderRealitätderaufS.12genannte
Medium,indempädophileKreiseihrVerhalten PetrusClericus.
reflektierten. Man muss ja die Überlieferung in In allen in diesem Abschnitt bisher erwähnten
einermonastischenHandschriftberücksichtigen, Quellen ging die sexuelle Aktivität von Män
deren sonstige Lieder zum Vortrag bestimmt nern aus. Ganz wesentlich seltener werden in
waren. Dieses Lied kann nur vor gleichgesinn dieser Rolle Frauen erwähnt (was mit den heu
ten Vaganten oder Religiosen erklungen sein tigen Verhältnissen übereinstimmt). In einem
undistsomitalsIndizeinerpädophilenSubkul zisterziensischen Mirakelbericht des 13.Jahr
tur zu werten, in der Kinder mit eindeutigen hundertsistvoneineradeligenWitweausKent
Absichtenaufgezogenwurden. dieRede,dieunzähligeVerhältnissemitUnter
UmderVielfaltderhistorischenRealitätgerecht tanengehabthabensoll,aberauch„proprionon
zu werden, soll hier nicht unerwähnt bleiben, abstinuitfilio,setillodiutiusabusaesttanquam
dass es durchaus auch Männer gab, die beton marito. Preterea omnes uirgines prouincie [...]
ten, dass sehr jungen Mädchen gegenüber nur fecit deflorari“; nicht einmal vor Äbten machte
eine zurückhaltende Zärtlichkeit angebracht sei sie halt. Schließlich schloss sie einen schriftli
146HILKA,SCHUMANN,CarminaBurana78.
144DRONKE,MedievalLatin378. 147EASTING,StPatrick‘sPurgatory153.
145SoMOSER,CosmosofDesire214f. 148BROWE,Entmannung;TUCHEL,Kastration.
PädophilieimMittelalter 21
chen Pakt mit dem Teufel. Diese frühe Hexe unter Jungfrauen. Ein Mädchen zu missbrau
missbrauchte auch die Eucharistie, indem sie chen war also deutlich weniger gravierend als
sich diese in die Vagina einführte.149 Man sieht einenJungen.WennBernhardinvonSiena,einer
die Übertreibung, die die Kumulierung der De der bedeutendsten Heiligen des Franziskaner
likte nahelegt, aber gerade Hostien für Liebes ordens,expressisverbispredigte,Müttersollten
zauber zu verwenden, war eine durchaus auch im Fall des Falles lieber ihre Töchter als ihre
sonst belegte magische Manipulation.150 Wasan Söhne zum sexuellen Missbrauch freigeben,
den sexuellen Ausschweifungen wahr ist, muss denndiesseidiegeringereSünde,sobrachteer
offen bleiben, dem Verfasser des Mirakels ist damit nur die communis opinio einer machisti
jedenfallsderinzestuöseVerkehrmitdemSohn schen Gesellschaft zum Ausdruck, deren mora
(dessen Alter allerdings nicht angegeben wird) lische Ideologie v.a. eine jeweils gerade oppor
die an erster Stelle zu nennende Todsünde. In tune Selektion aus den Normen des Alten und
der „Zimmerschen Chronik“ wird eines Straß Neuen Testaments darstellte. Die paradigmati
burger Frauenkonvents Erwähnung getan, wo scheStellewarhierdiebekannteGeschichtevon
Knaben „sein in der jugendt kindtsweis in der LotinSodom(Gen.19,1ff.),aufdieBernhardin
umbtreibenden scheuben ins closter gezogen zuvorzustimmendeingegangenwar.154
worden,darinsiebißiniremanbarejarbehalten Sehen wir von den präventiven Verordnungen
undnachderhautseingebrauchtworden“.151 in den Klöstern ab und wenden uns dem allge
meinen Kirchenrecht zu. Seine generelle Ten
denzwaresseitdemFrühmittelalter,jedesvon
SexmitUnmündigen der Norm abweichende Verhalten durch Kir
imkanonischenRecht chenbußen(anfänglichv.a.Fasten)zuzüchtigen.
Legaler Sex war einzig der Geschlechtsverkehr
Diese Thematik ist im Gegensatz zu den profa zwischen Verheirateten in der „Missionarsstel
nen Rechten mehrfach redundant hinsichtlich lung“ und exklusiv mit dem Zweck, Kinder zu
der normativen Quellen behandelt worden;152 zeugen.155 Die Hauptquelle für die Gesetzge
dahergenügthiereineknappeErörterung.Stellt bung der Catholica seit dem sechsten Jahrhun
man nach den Schriften mittelalterlicher Theo dert sind die zunächst in Irland,156 später auch
logen und Kanonisten eine Liste der Sünden auf dem Kontinent verbreiteten Bußbücher (po
bzw. Vergehen in puncto Sexualität zusam enitentialia),diesowohlfürGeistliche,Religiose
men,153 so war die schlimmste Sodomie, d.h. alsauchLaiengalten.157DieserQuellentypdien
Geschlechtsverkehr unter Männern oder mit te der Priesterschaft zur Feststellung, welcher
einem Tier. Dann kam Inzest, Sex mit einer BußtarifbeimjeweiligenVergehenanzuwenden
Nonne,miteinerVerehelichten,miteinerJung
frau und schließlich mit einer unverheirateten 154S.BERNARDINODASIENA,LePrediche900und908.
Frau. Sex mit Kindern fällt entweder, waren es 155FLANDRIN,Untemps.
156Ob das rege Interesse der irischen Bußbücher für
Knaben, unter Sodomie, waren es Mädchen,
Sexualdelikte eine Reaktion auf die von einer Reihe
antiker Autoren bezeugten Päderastie in diesen Völ
149SCHMIDT,Narrationesmirabiles266f. kern (DE JUBAINVILLE, La famille celtique 187f.) ist,
150BROWE,Eucharistie. mußdahingestelltbleiben.
151BARACK,ZimmerischeChronik641. 157Die grundlegende Untersuchung schrieb PAYER,
152Am umfassendsten informiert über Sexualität im Sex and the Penitentials. LUTTERBACH, Sexualität im
Kirchenrecht des Mittelalters BRUNDAGE, Law, Sex, Mittelalter,beruhtweitgehendaufdieserArbeit,ohne
and Christian Society, streift Pädosexualität jedoch viel Neues zu bieten. Kurze Übersicht: SCHWAIBOLD,
nurflüchtig. Bußbücher. Siehe auch JURASINSKI, Old English Peni
153MCDOUGALL, Prosecution 698. Die wesentlichen tentials.FLANDRIN,Untemps,befasstsichfastnurmit
biblischeGrundlagenbehandeltGELIUS,SexiBibelen. ehelicherSexualitätnachdenNormenderBußbücher.
22 PeterDINZELBACHER
boek396. 168SCHWARZ,SchutzdesKindes120.
618. sion.
PädophilieimMittelalter 23
ist besonders offensichtlich etwa im (auf Cum weise den Geschlechtsverkehr einleiten. Wieder
mean basierenden170) „Paenitentiale Sangallense sindMädchenundFraugleichgestellt.
tripartitum“,wonureineBußefürdasjüngere, Wesentlich seltener werden Strafen für Frauen
passive Kind und keine für das ältere, aktive vorgeschrieben.NacheinigenBußbüchernmüs
vorgeschrieben wird: „Puer paruus obpressus a senMütter,diemitihremkleinenSohnUnzucht
maiore X aetatis annos habens, ebdomadam treiben(„cumfiliotuoparvulo,utsicimitaveris
dierum ieiunet; si consenserit, XX diebus peni fornicationem“177), mit einer Fastenbuße von
teat.“171 Besonders grausam ist dagegen eine meistdreiJahrenrechnen.178
dem hl. Basilius zugeschriebene Vorschrift, die Ab dem Hochmittelalter ist eine Tendenz zur
anscheinend zuerst in Kapitel 16 der Regel des Verschärfung der Strafen erkennbar, die in der
Fructuosus von Braga,172 dann bei Regino von DefinitionsexuellerDeviationen,namentlichder
Prüm(gest.915)zitiertwird,dannaberu.a.von Homosexualität(‚Sodomie‘),alsHäresiegipfelte
BurchardvonWorms,PetrusDamiani,173Robert unddieTodesstrafenachsichzog.179Daesstets
von Flamborough,174 also weite Verbreitung gut möglich war, dass auch einem ver
fand:„Clericusvelmonachusadolescentiumvel gewaltigten Jungen Mittäterschaft unterstellt
parvuloruminsectator,velquiosculovelaliqua wurde, wurde dergleichen wohl sehr häufig
occasione turpi reprehensus fuerit [...]“, ist öf verschwiegen, daauch dem OpferderScheiter
fentlichauszupeitschenundseineTonsuristzu haufendrohte.
zerstören.MansollihminsGesichtspucken,ihn
BeieinigenDekretisten,denakademischenSpe
in Eisen schlagen und sechs Monate lang in ei
zialistenfürKirchenrechtabdemzwölftenJahr
nen engen Kerker setzen, wobei er nur jeden
hundert, kommt zuerst die bis heute gültige
dritten Tag Gerstenbrot erhält. Weitere sechs
Ansicht vor, Sex mit einem unmündigen Mäd
Monate muss er unter Bewachung im Garten
chen, mit dessen Vater keine Eheschließung
arbeiten und beten.175 Mit welcher Strenge der
vereinbart war, sei als Vergewaltigung zu wer
gleichenpraktiziertwurde,hingzweifellosvom
ten, sogar wenn es selbst zustimme und keine
jeweiligenAbtundderStellungdesMissetäters
Gewalt angewandt wurde; jedenfalls müsse sie
inderGemeinschaftab.
demVaterzurückgegebenwerden.180Auchhier
Sonst werden andere Sexualdelikte als die Ver gehtesprimärumdenEingriffindasRechtdes
gewaltigungkaumerwähnt.NurwenigePoeni Muntwalts,nichtumdasKind,sodassmanvon
tentialiakenneneineBestimmung„siquiscont „socialcrimeratherthanasexualone“sprechen
rectaveritpuellamautmulierempectusauttur sollte.181 Noch präziser: „[...] le rapt est avant
pitudinem [...]“.176 Da gleich darauf von Inzest tout perçu comme une atteinte à la propriété“.
undFrauenraubdieRedeist,sindhierm.E.die Das zeigt im weltlichen Recht besonders ein
genannten Handlungen nicht um ihretwillen, drücklicheinEdiktderStadtGentausderMitte
sondern deswegen bestraft, weil sie üblicher des 13. Jahrhunderts, dem gemäß der „raptus“
einerwohlhabendenadeligenoderbürgerlichen
170FRANTZEN,WheretheBoysare53. Tochter mit hoher Geldstrafe und Verbannung
171Paenitentiale Sangallense tripartitum 15h, in geahndetwurde–dagegenbliebdieselbeHand
MEENS, Boeteboek 346. Vgl. FRANTZEN, Where the
Boysare54f.
172SCHWARZ,SchutzdesKindes110f.
173D’ANGELO, Liber Gomorrhianus 146. Der Kardinal 177Poen. Eccl. Germ. 157 in SCHMITZ, Bußbücher II,
expliziertdieseBußenochimDetail. 444,vgl.547.
174FIRTH,Liberpoenitentialis230. 178SCHWARZ,SchutzdesKindes106f.
HARTMANN,Sendhandbuch372. 180BRUNDAGE,Law,Sex,andChristianSociety311f.
176WASSERSCHLEBEN,Bussordnungen429. 181KÜMPER,LearnedMen90.
24 PeterDINZELBACHER
lung an der „filia pauperis“ mit der Intention, Vergewaltigung eines Chorknaben zu ewigem
siealsKonkubinezuhalten,ohnejedeStrafe.182 Exilverurteilt.187
Wie weit die Sanktionen der kanonischen Buß
vorschriften in der Realität umgesetzt wurden,
bleibteineoffeneFrage.Esistdurchaustypisch, Sexualdelikte,Unmündigebe
wenn anlässlich einer Untersuchung wegen treffend,ineinigenprofanen
homosexuellerVergehen1484inKölndieGeist
lichkeit mit Hinweis auf das Beichtgeheimnis
Rechtsbereichen
jede Zeugenschaft verweigerte und für „gänzli Die Frage, ob und wie oft in den normativen
ches Verschweigen“ plädierte.183 Man kann auf Rechtstexten Sex mit Unmündigen betreffende
fallend viele Beispiele beibringen, die zeigen, Gesetze vorkommen, vermag ich nicht zu be
dasssolcheVergehenvonderzuständigengeist antworten. Angesichts des Partikularismus des
lichenObrigkeitnichtwirklichernstgenommen profanenRechtsjenerEpochewärenvieleHun
wurden.184 Aus einem Mailänder Notariatsakt derte von Leges, Spiegeln, Rechtsbüchern,
von 1469 weiß man, dass der Probst von S. Coutumes, Stadtrechten, Weistümern und so
Barnaba eine Elfjährige „sfortiaverat seu viola fort durchzusehen, Stoff für eine Anzahl von
verat[...]ipsaexistenteinfirma[...]unadieliga Dissertationen. Sexuelle Verbrechen kommen
veratdictamAngerinamsuperunatabula[...]et überall vor, konzentrieren sich aber auf Verge
ipse prepoxitus sfortiaverat et violaverat et waltigung und Homosexualität, und dies in
etiam sodomitaverat dictam [...]“. Kurz darauf allen von mir in ZufallsAuswahl durchgesehe
starb das Mädchen, wie die Mutter klagte, an nen Quellen ohne Altersqualifikation. Weder
ebendieserVergewaltigung.Ebensoließdersel Gesetzgeber noch Gerichte interessierte das
bePriestereinenzehnjährigenJungeninseinem Alter der Opfer. Die Epoche war fixiert auf die
Bett schlafen, den er „sodomitabat et sodo Frage, ob es eine „virgo intacta“ gewesen war
mitavitpluribusetplurisvicibusettotiens,quo oder nicht.188 „virginitas corrupta est enormis
tiensipseprepositusvolebat[...]“.Erstmitfünf crimen“, heißt es in Akten des Lyoner Ge
zehn entzog sich der Junge diesem Umgang. richts,189 denn mit ihrem Verlust war die Ehr
Einige Jahre später findet man eben diesen Be barkeit des Mädchens und seiner Familie be
schuldigtenwiederineinerUrkunde,undzwar schädigt, die Aussicht auf eine gute Heirat zu
in seiner genannten Position. Falls er also über nichte gemacht. Ob dieses Mädchen aber neun
haupt bestraft wurde, so wenig nachhaltig.185 oderneunzehnJahrezählte,warrechtlichirrele
1525 wurde eine Elfjährige von zwei Priestern vant. Noch die „Constitutio Criminalis Caroli
vergewaltigt;derAugsburgerStadtratnahmsie na“von1532schreibteinunddieselbeStrafebei
gefangen und schickte sie dem Bischof, der sie Vergewaltigungvon„ehefrawen,witwennoder
jedoch nach kurzer Haft wieder freiließ.186 Bei jungkfrawen“190 vor. Eine Berücksichtigung des
HomosexuellenscheinendiegeistlichenGerich Alters des Opfers scheint im weltlichen Recht
te deren Taten ernster genommen zu haben, so nur in Venedig seit der Frührenaissance, so
wurde1475einVikaramBaslerMünsterwegen glaubt Guido Ruggiero indirekt schließen zu
182GREILSAMMER,L‘enversdutableau69.
183HASHAGEN,Prozeßakten309f. 187HERGEMÖLLER,Chorknaben103–118.
184FürFrankreichsieheGRAVDAL,RavishingMaidens 188Vgl.BERNAUu.a.,MedievalVirginities(fürunsere
ch.5. Fragestellungjedochnichthilfreich).
185ZANOBONI,„Oribaldoprevosto...“. 189GONTHIER,Lesvictimes23.
186REM,Chronica216. 190Art.119,zit.n.KÜMPER,Notzucht158.
PädophilieimMittelalter 25
schonfrüherinByzanzderFallwar,woJungenunter 125.
zwölf Jahren ebenfalls von der sonst gültigen Todes 198BreviariumAlariciinHAENEL,LexRomanaVisigo
WILDA,Strafrecht799–859. 200LegesLuitprandi,12.VI,MGHLL4111f.;vgl.
195GRIMM,Notnunft33f. 112.IX.undebd.282ff.,512f.
26 PeterDINZELBACHER
Jüngere zur Ehe gezwungen.201 Auch die Ehe wird sie enterbt.206 Noch König RichardII. von
zwischenerwachsenenFrauenundunmündigen England erließ eine entsprechende Bestim
JungenuntersagteLiutprand.202 mung.207MitbesonderemHasswerdenim„Co
In mehreren frühmittelalterlichen Volksrechten dex Theodosianus“ die eventuell Vorschub ge
muss oder kann der Vergewaltiger übrigens leistet habenden Ammen verfolgt: „eis meatus
nach Bezahlung einer Buße sein Opfer zur Gat oris et faucium, qui nefaria hortamenta pro
tinnehmen,eineBestimmung,dieaufgrundvon tulerit,liquentisplumbiingestioneclaudatur“.208
Ex22, 16f. und Deut22, 28f. nach Wunsch der EineAnwendungdieserStrafeimMittelalterist
Geistlichkeit eingefügt wurde.203 Das Gleiche mirnichtbekannt,aberdassdieGerichtebeider
galtauchbiszumEndedesMittelalters,204ohne Vergewaltigung eines Kindes eine dem Täter
dass die Rezeption des Justinianischen Rechts, helfende Frau strenger als diesen selbst bestraf
das dergleichen verbot (Cod. Iust.IX, 13, 2), in ten,istmehrfachbelegt.209
diesemPunktgegriffenhätte.Nureinkonkretes Im „Corpus Iuris Civilis“ wird dem Paulus fol
Beispiel: 1455 vergewaltigte ein Venezianer na gende Sentenz zugeschrieben: „Qui puero
mens Blasio ein zehnjähriges Mädchen Maria. stuprumabductoabeovelcorruptocomiteper
DiezuständigeBehörde,laQuarantia,stellteihn suaseritautmulierempuellamveinterpellaverit,
vor die Alternative, entweder von S.Marco bis quidveimpudicitiaegratiafecerit,domumprae
zurRialtoBrückegepeitschtzuwerdenundein buerit pretiumve, quo is persuadeat, dederit:
Jahr ins Gefängnis zu gehen sowie Maria eine perfecto flagitio punitur capite, imperfecto in
Aussteuer zu bezahlen, oder stattdessen das insulam deportatur; corrupti comites summo
KindzurrechtmäßigenGattinzunehmen–was supplicio adficiuntur.“210 Es ist also keinerlei
ertat.205Manfragtsich,wieesdenFrauendann Unterschied gemacht, ob ein Knabe, ein Mäd
in einer so zu Stande gekommenen Ehe ergan chen oder eine erwachsene Frau das Opfer des
genseinmag. Verbrechensist.
Dasselbetrifftauchaufdiespätmittelalterlichen
HochundSpätmittelalter Rechtsbücher zu; das Augsburger Stadtrecht
Was Hoch und Spätmittelalter betrifft, so be etwa sagt ausdrücklich, „wer die nôtnumpht
gannen mit der Frührezeption des römischen begât an megeden, an wîben oder an varnden
Rechts ab dem späten elften Jahrhundert auch wîben [...] sô ist diu rehte urtheil, daz man in
einschlägige Bestimmungen aus spätantiken lebendigen begraben sol“.211 Ein und dieselbe
Rechtsquellen Berücksichtigung zu finden. Be StrafealsobeiJungfrauen,Ehefrauen,undsogar
merkenswert ist, dass der „Codex Theodosi den übel beleumdeten fahrenden Frauen (die
anus“ von 438 die entführte und/oder verge Sodomiejedoch,daimChristentumeinspeziel
waltigte „virgo“ bzw. „puella“ prinzipiell zur lesVerbrechen,nichtinkludiert).
Mitschuldigen macht, es sei denn, sie habe mit Unter den normativen Texten scheint in
allen Kräften „clamoribus [et] omnibus conati Deutschland nur der „Schwabenspiegel“ und
bus“ Widerstand geleistet. Aber selbst dann das damit zusammenhängende Rechtsbuch des
RuprechtvonFreisingdieStrafefürVergewalti
gung nach dem Status des Opfers zu differen
201SCHWARZ,SchutzdesKindes130f.
202LegesLuitprandi128.XII,MGHLL4161f.
203WILDA, Strafrecht 844f. Auch bei den romanischen 206CodexTheodosianus(CTh.)9.24.1.2[brev.9.19.1.2].
Völkernüblich,vgl.RUGGIERO,Iconfinidell’eros31ff. 207BRUNDAGE,Law,Sex,andChristianSociety533.
GegenteiligeBestimmungnur(?)inderLexVis.3,3, 208CTh.9.24.1.1[brev.9.19.1.1]
1. 209GRAVDAL,Ravishing43,128.
204z.B.RUGGIERO,Iconfinidell’eros53ff. 210Dig.47.11.1.2.
205Ebd.54. 211MEYER,Stadtbuch88.
PädophilieimMittelalter 27
zieren: Wer eine Jungfrau vergewaltigte (somit sich 1466 in Rennes in der Bretagne ab:218 Ein
alsoaucheinKind),hattezuerwarten,lebendig neunzehnjähriger Spanier, Mitglied der privile
begrabenzuwerden,werdieseinem„wip“(nur gierten Kaufmannschaft, traf, zusammen mit
Ehefrau,oderauchunverheirateteErwachsene?) zweieinheimischenGenossen,aufdemLanddie
antat, wurde enthauptet.212 Sonst steht fast al zwölf oder dreizehnjährige Margot Simmonet,
lenthalbeneinunddieselbeStrafeaufNotzucht, Tochter eines Malers, die in Begleitung eines
auchim„Sachsenspiegel“(Landr.II,13,5;III,1, Dominikaners unterwegs war. Diesen verjagte
1). Es genüge ein beliebiges Beispiel für viele derTätermitgezogenemSchwertundverlangte
analoge Texte: Im Stadtrecht von Wiener Neu von dem Mädchen zunächst einen Kuss, verge
stadt aus dem 13.Jahrhundert heißt es, „Swer waltigte sie aber, als sie ihn abwies, indem er
einmagtodereinweibodereingemaineufraw drohte, ihr ein Ohr abzuschneiden (dies war
[...] gewaltikleich notzogt“, soll mit dem Tode eine häufige Strafe für verschiedene Vergehen,
büßen.213 weswegen alle Leute, die Margot nicht näher
Es finden sich nicht wenige konkrete Fälle sol kannten,siefüreineKriminellegehaltenhätten).
cherVerbrechenundihrerAhndungimarchiva Keiner der anderen Männer half ihr, es gab je
lischen Material und in der Geschichtsschrei doch noch andere Zeugen, die aber nicht rasch
bungfreilichohnedassjeaufdiegesetzlichen genughinzukamen.DieSpurenderDefloration,
Grundlagen einer Verurteilung hingewiesen SpermaundBlut,wurdenvonmehrerenFrauen
würde.ManmussbeiderPraxisderBestrafung festgestellt, ebenso Verletzungen im Vaginal
im Mittelalter allerdings generell von einem bereich.DasstädtischeGerichtnahmdenSpani
hohen Prozentsatz an willkürlich gewählten er in Untersuchungshaft; der Vater des Mäd
Arten des Vollzugs ausgehen, wie sie in der chens jedoch stimmte einer Entschädigung in
Gesetzgebung gar nicht vorkommen.214 So soll Höhe eines Jahresgehalts eines ungelernten Ar
maninAugsburg1409vierderPäderastieange beiters zu, zahlbar von der Gemeinschaft der
klagteGeistlicheundeinenLaienineinemKäfig spanischenKaufleuteinRennes.EineBestrafung
amPerlachTurmaufgehängtunddemHunger des Täters selbst lehnte er ab, da er von dessen
tod preisgegeben haben, der nach neun Tagen Freunden mit dem Tod bedroht worden war.219
eintrat,215 obgleich das Stadtrecht für Notzucht Ähnlich endeten viele Verfahren.220 Bemerkens
lebendig Begraben und für Sodomie (als Ketze wert ist das Verhalten jener, die als Zeugen am
rei)Verbrennenvorschrieb.216 nächsten waren: Die Gefährten des Spaniers
Andererseitswurden oft die eigentlichvorgese hatten natürlich nichts gehört oder gesehen;
henenStrafennichtvollzogen,sondernaufdem dem Mönch war von seinem Prior Schweigen
Gnadenweg durch mildere (meist pekuniäre) über die Sache auferlegt worden. Es wird wohl
ersetzt.217SpeziellwennMitgliederangesehener keinen anderen Grund dafür geben als den
Familien involviert waren, kam es auch zu ei Wunsch des Prälaten, die Freunde des Täters
nem obrigkeitlich geförderten Vergleich. Ein
ungewöhnlich gut dokumentierter Fall spielte 218Das Folgende nach LEGUAY, Notzucht 137f. Be
fremdlicher Weise sagt der Verfasser nichts zum
damals für ein solches Verbrechen in der Bretagne
212GRIMM,Notnunft40. geltenden Recht. PLANIOL, La très ancienne coutume
213WINTER,WienerNeustädterStadtrecht(§57)161. 173, vermerkt nur, Vergewaltigung sei wie andere
214Ein Beispiel habe ich erörtert an der Art, wie ein Verbrechenbestrafenswert.
berühmter Inquisitor und Heiliger der Catholica Ju 219DassdieFamiliebzw.dieFreundeeinesTätersdas
aus der örtlichen Oberschicht nicht zu belasten. dass die Gesetzgeber an ältere Mädchen dach
Einer dieser jungen Männer hatte diesem, nach ten.Ebensoverfuhrman1515inBaselmiteinem
Aussage des Opfers, sogar geraten, die Verge Mann, der eine Fünfjährige genotzüchtigt hat
waltigtezutöten,dochwareninzwischenande te.227EinJahrezuvorwareinUtzKiem,Pfründ
reLeuteindieNähegekommen. ner zu St. Jakob in Augsburg, geköpft worden,
Weitermussnachdrücklichaufdieaußerordent „derhettbei14jungemädlingepletzt,diewaren
liche Unterschiedlichkeit hingewiesen werden, fastjung8–9–10jaralt.underhettindiescham
mit der je nach lokalem Gutdünken ein und mit den fingern geöffnet und darnach ge
dasselbe Verbrechen geahndet wurde: 1396 be macht“.228NachdemdortigenStadtrechthätteer
strafte man in Florenz den Vergewaltiger einer allerdingslebendigbegrabenwerdenmüssen.229
Siebenjährigen mit Enthauptung.221 Um 1427 DieFälle,indenenwohlstetssehrempfindliche
wurdeinSaviglianoeinverheirateterMann,der Sanktionen verhängt wurden, scheinen sich auf
eineSechsjährige„sodomictavit“,durchdenOrt analen Verkehr zu konzentrieren, wobei nicht
gepeitscht und aller Besitztümer enteignet.222 das Alter des Opfers, sondern der Akt an sich
Dagegenkam1425inDijoneinKnecht,dereine die Ursache der Strenge erklären dürfte, wurde
Zehnjährige vergewaltigt hatte, mit einem Tag SodomieunterErwachsenenimspätenMittelal
am Pranger davon.223 Doch auch wenn Sex mit terdochi.d.R.alsHäresiemitdemScheiterhau
Unmündigen gerichtskundig wurde, hat dies fen geahndet. Hinrichtungen, wie die ziemlich
die Obrigkeit keineswegs immer als Offizialde unsichereNachrichtüberdenhl.Nantwein,der
likt verfolgt. Ein Beispiel aus Bologna: Im Rah um 1290 „ein knaben der Walhen und Florenti
men eines Prozesses wegen Diebstahls wurde ner art nach geschendt“ haben soll und dafür
deutlich, dass die zehnjährige Angeklagte mit vom örtlichen Richter verbrannt wurde,230 voll
einem Mann als „amicus“ zusammenlebte. Das zogmannicht,umPädophilieimZaumzuhal
interessierte das Gericht überhaupt nicht; das ten, sondern um Gottes Zorn wegen des sodo
Mädchen wurde wegen der Entwendung zu mitischen Aktes zu besänftigen. Die alttesta
nächst in einem Kloster gefangen gehalten und mentlichen Vorstellungen müssen eine Rolle
dannexiliert.224 dafürgespielthaben,dassnichtnurdieErwach
Im ausgehenden Mittelalter wurden die Strafen senen, sondern auch unmündige Knaben, die
generell oft schärfer und betrafen häufiger Leib Sex mit Männern zustimmten, bestraft wurden.
und Leben.225 In Zürich wurde 1465 ein Mann In Perugia z.B. steckte man sie für drei Monate
gepfählt,dersechsMädchenzwischenvierund ins Gefängnis, wenn sie zwischen zwölf und
neun Jahren missbraucht hatte.226 Das war no fünfzehnJahrenalswaren.
tabene die in der deutschen Schweiz übliche Abschließend ist noch der bekannteste Fall von
Strafe für Vergewaltigung einer Jungfrau von Pädosexualität im Mittelalter zu erwähnen, der
beliebigem Alter. Dass diese dabei selbst die des Gilles de Rays (1404–1440), eines Mitkämp
erstendreiSchlägeaufdendurchdenBauchzu fersderhl.JohannavonOrléansimHundertjäh
treibenden Pfahl tun sollte, zeigt doch wohl, rigen Krieg.231 Ursprünglich einer der reichsten
221DÜRR,ObszönitätundGewalt437. 227Ebd.286f.
222COMBA,Apetitus543,Anm.65. 228REM,Chronica21.
223ROSSIAUD,DameVenus187. 229OSENBRUEGGEN,AlemannischesStrafrecht287.
Prozessjahres). 231GrundlegendsinddievonBOSSARD,GillesdeRais,
Barone Frankreichs und erfolgreicher Kriegs die Versuche eines Teufelspaktes. Zumal dieses
herr,auchTitualkanonikerinPoitiers,wandteer als „crimen mixtum“ galt und der Bischof von
sich einerseits der Alchemie und Dämonenbe Noyon zugleich Kanzler des bretonischen Her
schwörungzu,andererseitssadistischenOrgien, zogs war, kooperierte die weltliche Justiz mit
beidenenerinetwa14Jahrenetwa140Kinder der bischöflichen und der Inquisition. Im Rah
bestialischfolterte,missbrauchteundtötete.Ihn mendieserVerfahrenwurdenauchdieKinder
interessiertenvorallemheranwachsendeJungen mordeaufgedeckt,docherstbeiAndrohungder
ab sieben Jahren, Mädchen missbrauchte er an Folter – ungewöhnlich einem Hochadeligen
scheinend nur, wenn solche gerade nicht zur gegenüber–gestehtGillesalles.Erwirdwegen
Verfügungstanden;auchmitihnenhatteernur Häresie exkommuniziert, zeigt Reue, wird wie
Analverkehr.232NachAussagederAugenzeugen derindieKircheaufgenommenundvomweltli
ging es Gilles mehr um den sadistischen Lust chenGerichtmitErhängungbestraft.ImGegen
gewinn233 als um den Sexualakt, den er vor, satz zu kleineren Delinquenten wird seine Lei
währendundnachderErmordungseinerOpfer che nicht verscharrt, sondern darf in einem
vollzog. Einige der Kinder wurden auch den standesgemäßen Grabmal in einer Kirche die
Dämonen gliedweise dargebracht.234 Nur die Auferstehungerwarten.
Mitglieder seines Knabenchores, mit denen er Dieser Casus zeigt in aller Deutlichkeit, dass
ebenfalls homosexuellen Umgang hatte, ließ er sexuelleundsadistischeAusschweifungeneines
leben, da er ein großer Liebhaber der Kirchen mächtigenFeudalherrnauchanKinderneinfach
musikwar. hingenommenwurden,solangediesernichtden
DerfürdieRechtspraxisderZeitzentralePunkt Fehler beging, sich mit einem Mitglied der
ist das völlige Desinteresse der kirchlichen und kirchlichenHierarchieanzulegen.Mankanndie
weltlichen Mächte, obwohl ununterbrochen Dunkelziffer ähnlicher Verbrechen, begangen
Kinder in seinen Territorien verschwanden, vor von Mitgliedern der herrschenden Schichten,
allem solche, die an den Toren seiner Burgen kaum erahnen. Einiges hat die Geschichts
bettelten, und jede Menge Verdächtigungen schreibung bewahrt: So spricht z.B. Gregor von
gegendenMarschallunddenkleinenKreissei Tours in seiner Frankengeschichte davon, wie
ner Helfershelfer im Umlauf waren. Die Eltern ein Herzog „in amorem puellolae ruit”.235 Wie
der Opfer wagten es nicht, sich an den bretoni u.a.derFortgangderErzählunglehrt,bedeutete
schenHerzog,denKönigodereinenBischofzu „amor“injenerEpochekeineswegsromantische
wenden, aus Furcht vor seiner Soldateska. Erst Verliebheit, sondern körperliche Begierde:236 Da
alsGillesineinemWutanfalleinenineinerKir dasMädchensichnichtfreiwilligindasBettdes
chedieMesselesendenPriestergefangennahm, Fürstenlegte,ohrfeigtediesersiezusammenmit
der mit einem hohen geistlichen Würdenträger seinen Gesellen ohne Diskussion so lange, bis
verwandt war, also einen Immunitätsbruch ihr Blut in großen Strömen aus der Nase floß.
beging,beganndieMaschinederJustizlangsam DieChronikderGrafenvonArdesetwaschreibt
in Gang zu kommen. Dabei interessierten aber überBalduinvonGuines:„Intantumetenim,ut
anscheinend am meisten seine Vergehen gegen aiunt, in teneras exardescit puellas et maxime
das Kirchenrecht, neben der Sodomie speziell virgines,quodnecDavidnecfiliuseiusSalomon
intotjuvencularumcorruptionesimiliseiusesse
Prozesse bietet LEA, Geschichte der Inquisition 529– creditur.“237 Die Könige JohannI. von England
546; CHIFFOLEAU, Gilles de Rais, wird mehrfach im
und Adolf von Nassau waren berüchtigt als
Internet zitiert, war jedoch weder via Fernleihe noch
imBuchhandelzubekommen.
232BOSSARD,GillesdeRaisxcviii. 235GREGORVON
TOURS,Hist.Fr.9,27,ed.OLDONI410.
233Ebd.cxv. 236DINZELBACHER,LiebeimFrühmittelalter.
234Ebd.xcviii. 237Zit.n.SCHULTZ,HöfischesLeben612.
30 PeterDINZELBACHER
StupratoresjungerMädchen;238derStauferkaiser te von dem, was bei einer Ehefrau zu bezahlen
FriedrichII. warf seinem zeitweiligen Gegner, war.244
demgleichnamigenBabenberger,öffentlichvor:
„deflorat virgines et facit a suis complicibus
deflorari [...] auferens filias patribus“.239 Masti Ergebnisse
noII. della Scala, Tyrann von Verona (gest.
WährendinanderenRechtsbereichenbestimmte
1351), rühmte sich, in der Fastenzeit fünfzig
DeliktesehrwohlmitpräzisenBegriffenerfasst
jungeMädchenentjungfertzuhaben240–undso
wurden, z.B. im Kirchenrecht „Blasphemie“, im
fort. Im Gegensatz zu den meisten Historikern
Feudalrecht „Felonie“ usw., empfanden weder
halte ich es für völlig unwahrscheinlich, dass
dieTheoretikernochdiePraktikerjenerEpoche
das vielberedete feudale „ius primae noctis“
eine Notwendigkeit, sexuelle Beziehungen Er
nicht auf dessen faktische Ausübung zurückge
wachsener mit Minderjährigen durch einen
hen sollte, auch wenn es in den Quellen nur
Terminus als ein Verbrechen zu bestimmten.
mehr als durch eine Geldleistung ersetzbar er
Wohl existierte in den christianisierten König
scheint.241
reichen ein Schutz des Kindes gegen die ur
Der Fall Gilles zeigt auch,dass bei Sexmit jun
sprünglich unbegrenzte „patria potestas“, also
gen Mädchen nicht nur vaginaler Geschlechts
gegen Tötung, Aussetzung, ungerechte Enter
verkehr, sondern auch Analverkehr praktiziert
bung, jedoch einen besonderen Schutz gegen
wurde, wenn auch sonst eher selten und vor
sexuelle Übergriffe, der strenger gewesen wäre
wiegend in Italien,242 wogegen Oralverkehr mit
als bei erwachsenen Opfern, kennt meines Wis
Kindernfastnieerwähntwird.243Andere,weni
senskeineinzigernormativerText245underhellt
ger gravierende sexuelle Handlungen kommen
auch nicht aus den Urteilen der mir bekannten
indenjuridischenQuellenanscheinendnursehr
Kriminalfälle.WennineinemweltlichenGesetz
selten vor, blieben also unter der zu pönalisie
schon einmal die Verheiratung zu junger Män
renden Schwelle. Wenn in der „Lex Alamanno
nerverbotenwirdwiebeidenWestgoten,dann
rum“(undanderenRechten)eineStaffelungvon
keineswegs, weil sexuelle Erfahrungen als ge
Bußen beschrieben wird, falls ein Mann einer
fährlichfürsiegalten(wieindergegenwärtigen
FraudenRockbiszudenKnienoderzurScham
Legislatur), sondern zur Verhinderung missge
hebt,sogehteshiernichtumdieAhndungvon
bildeterNachkommenschaft(s.S.25).Geradezu
Voyeurismus und dergleichen, sondern darum,
paradigmatisch für das Fehlen einer Kategorie
schoneineNotzuchtvorbereitendeHandlungen
„Unzucht mit Kindern“ im Mittelalter scheint
unter Strafe zu stellen. Übrigens kosteten diese
mir folgender Fall zu sein: In Venedig wurden
Untaten,begangenanJungfrauen,nurdieHälf
1484 zwei noch nicht zwölfjährige Dirnen für
fünfJahreverbannt,die,dasiezumVaginalver
238BUMKE,HöfischeKultur563.
239
kehr noch nicht reif waren, ihre Kunden „per
HUILLARDBREHOLLES, Historia Diplomatica 855;
MGH Const. 2, 271. In der österreichischen Historio mezzodiunaformadisodomia“bedienten.Die
graphienatürlichalsreinePropagandaabgetan,siehe involvierten Freier dagegen gingen völlig straf
THIEL, Kritische Untersuchungen (danach alle späte freiaus.246
renDarstellungen).
240ROMANO,Cronica33–45.
241Die gründlichste Untersuchung bietet SCHMIDT 244LexAlamannorum,c.56f.(58f.),MGHLLnat.Ger.
BLEIBTREU,Iusprimaenoctis.DagegenstelltBOUREAU, 5/1115f.
DasRechtderErstenNacht,einenRückschrittdar. 245Zum selben Ergebnis gelangte auch KILLIAS, Ju
Die Idee, dass es eigene Kinderrechte geben westlichen Gegenwart.250 Dies entspricht wohl
könnte(wievonderUNO1959und1989dekla einem (u.a. mit der hohen Kindersterblichkeit
riert),247 ist ein Typicum nur der gegenwärtigen zusammenhängenden) prinzipiell distanzier
westlichen Mentalität, in der Pädolatrie, d.h. terenemotionalenVerhältnisalsfürunsereKul
eine im Vergleich zur gesamten Vergangenheit turtypisch,inderEinfühlungindieBedürfnisse
extrem hohe Wertbesetzung von Kindheit, zu des Kindes und seine Unterstützung als allge
den Normen der Leitkultur zählt. Was sich erst mein akzeptierte Ideale gelten. Eine Trennung
seit Rousseau entwickelte, war dem Mittelalter zwischen der Welt der Erwachsenen und der
kein Thema. Wir würden deshalb Wolfgang Kinder wie heute existierte im Mittelalter nicht.
Schild zustimmen: „Was uns heute als wider Es wurde ihnen noch keine „Institution ‚Kind
sprüchlichoderunvereinbarvorkommt,warfür heit‘ als ‚Lebensraum‘ mit eigentümlicher, al
die damals Lebenden (vielleicht) konsequent tersspezifischer Kultur zugewiesen“.251 Die ge
und einheitlich, weil sie eben in einer anderen nannten Differenzen zur Gegenwart spiegeln
Weltstruktur lebten und so auch ein anderes sich nicht nur in der Geschichte der Pädagogik
Recht(er)lebten.“248GeradedieDarstellungund und des Arbeitslebens, sondern klar genug in
Erklärung solcher Gegensätze ist die raison derderGesetzgebungundRechtspraxis.
d‘êtrederMentalitätsgeschichte.249 Aus heutiger Perspektive fehlte im hier unter
Obwohl von zahlreichen und bisweilen gravie suchten Rechtsbereich während des Mittelalters
renden historischen Irrtümern durchzogen, er das, was man „Jugendschutz“ nennt. Dominie
weistsichimPrinzipdieErkenntnisdesDoyens rend war es, die Sexualität den Normen der
der Psychohistorie Lloyd DeMause als zutref katholischen Religion unterzuordnen (Verbot
fend, dass, jedenfalls in der westlichen Kultur, von Unkeuschheit, Inzest, Sodomie – unabhän
eine kognitive und emotionelle Evolution der gigvomAlter;GültigkeiteinerEheschließung–
ElternKindBeziehungoderüberhauptderHal unter teilweiser Berücksichtigung des Alters)
tung Erwachsener gegenüber Kindern stattge sowie das Besitzrecht zu achten (Vergewalti
funden hat, nämlich eine tendenziell stetig zu gungalsKränkungdesMuntherrn).
nehmende Empathie hinsichtlich der psychoso Illegaler Geschlechtsverkehr war im Kirchen
matischen Gegebenheiten jener Lebensepoche. recht des Mittelalters jedweder Sex außerhalb
Korrigierend kann man zusammenfassen, dass der Ehe, somit auch der mit unverheirateten
im Mittelalter hinsichtlich der ElternKind MädchenallerAltersstufenund,vielschlimmer,
Beziehung einerseits der Weggabemodus (Kin zwischen Männern jedweder Altersstufe, somit
derwerdenfrühausderFamiliegegeben,inein auch mit Jungen. Nur insofern, aber nicht als
Arbeitsverhältnis,ineinKloster)undderambi eigenerTatbestand,warPädosexualitätkrimina
valente Modus (das Kind muss vom Erwachse lisiert.IllegalerGeschlechtsverkehrwarimwelt
nen vollkommen nach dessen Vorstellungen lichen Recht primär kein Sexualdelikt, sondern
geformtwerden)weithäufigerwarenalsinder eine Verletzung der Befugnisse und der Ehre
des Muntwalts (wobei Ehre und Scham weit
stärker gefühlsbesetzt waren,252 als dies in der
247Siehez.B.WINKLER,Kindheitsgeschichte213ff.(für Gegenwart im Westen der Fall ist). Eine juristi
das Mittelalter inkompetent). Wenn im römischen
Recht „De iure liberorum“ (CTh. 8.17.0) gehandelt
wird,sindnurErbangelegenheitengemeint. 250Vgl. NYSSEN, JANUS, Psychogenetische Geschichte
248Verwissenschaftlichung als Entleiblichung des (v.a. die Zusammenfassung von FRENKEN 443–455);
Rechtsverständnisses, in: BRIESKORN, Mittelalterliches DINZELBACHER, Psychologische Erklärungsmodelle
Recht247f. v.a.58–92.
249FürdasThema„Lebensalter“sieheDINZELBACHER, 251KENTLER,SexualwesenMensch30.
Mentalitätsgeschichte239–264. 252DINZELBACHER,„strîtesêre“.
32 PeterDINZELBACHER
sche Kategorie, ein Sexualdelikt „Unzucht mit aufklärerische „Vorstellung, der Staat habe das
Minderjährigen“, existierte nicht. Ebensowenig Recht,alsBeschützerderKinderaufzutreten[...]
wurden Pädophile als Gruppe in der Gesell im 18.Jahrhundert etwas fundamental Neu
schaft gesehen und zum Hassobjekt gemacht; es“;257 erst sie führte (zusammen mit anderen
diesePositionwarinderkollektivenMentalität Komponenten) zur besonderen Stellung des
besonders seit dem hohen Mittelalter von Ho Kindes in Mentalität und Gesetzgebung der
mosexuellen, Häretikern und Juden mehr als Gegenwart.
genugbesetzt.253
In damaliger Perspektive erschien die Wertzu
weisungunddieRechtsstellunganganzandere Korrespondenz:
Eigenschaftenalsanaltersspezifischegebunden.
Prof.Dr.PeterDINZELBACHER
Religiös begründete Kategorien wie Jungfräu Hirschenhöh6,
lichkeit oder sozialer Stand spielten sowohl für 5450WerfeninSalzburg
das Zivilrecht (Eheschließung) als auch für das p.dinzelbacher@gmail.com
ORCID:0000000288727487
Strafrecht (Vergewaltigung, Sodomie) eine ent
scheidendeRolle.Dau.a.aufgrunddesvielkür
zeren Lebensalters die Mündigkeit im Allge
meinen schon mit zwölf bzw. vierzehn Jahren
angesetzt wurde, galten (von wenigen Ausnah
men abgesehen) Täter und Opfer ab dieser Zeit
als Erwachsene und wurden so behandelt.254
Wahrscheinlich ist der erste Geschlechtsverkehr
im Durchschnitt früher als heute anzusetzen
(eine Statistik ist freilich unmöglich), und zwar
unabhängig vom gesetzlichen Heiratsalter; so
klagte ein Aachener Konzil (862): „rarus aut
nullusestvir,quicumuxorevirgoconveniat“.255
DieAnalogiezumfrühzeitigenEintrittinandere
Funktionen,dieinunseremSinnseitGeneratio
nennurErwachsenenvorbehaltensind,liegtauf
der Hand, sowohl im bäuerlichen und städti
schenErwerbslebenalsauchinkirchlichenund
weltlichen Herrschaftsfunktionen, nicht zu ver
gessenimKriegsdienst.Diezentralenanthropo
logischen Kategorien wie Lebensalter und Gen
dersindwohlzueinemTeilbiologischvorgege
ben, sind aber zum Teil auch „gesellschaftliche
Kunstprodukte“.256 Insofern brachte erst die
253RICHARDS,Sex,Dissidence,andDamnation.
254Ein Beispiel, dass sogar ein Neunjähriger wie ein
Erwachsener zur Räderung von unten (!) verurteilt
undsohingerichtetwurde,istausdemspäten12.Jh.
ausNortdorfüberliefert:ASSMANN,Godescalcus100–
102.
255Aachen,29.4.862,MGHConc.4,86.
256POSTMAN,Verschwinden7,89. 257Ebd.69.
PädophilieimMittelalter 33
15.Jahrhunderts, in: Frank HIRSCHMANN, Gerd DERS., Kirchenreform und Frauenleben im Hohen
MENTGEN (Hgg.), Campana pulsante convocati. Mittelalter,in:MitteilungendesInstitutsfüröster
Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. reichischeGeschichtsforschung113(2005)20–40.
Dr.AlfredHaverkamp(Trier2005)85–123. DERS., Liebe im Frühmittelalter, in: Zeitschrift für
Rinaldo COMBA, „Apetitus libidinis coherceatur“. LiteraturwissenschaftundLinguistik19(1989)12–
Strutture demografiche, reati sessuali e disciplina 38.
dei comportamenti nel Piemonte tardomedievale, DERS., Deutsche und niederländische Mystik des
in:Studistorici27(1986)529–576. Mittelalters(Berlin2012).
Antonio CORNAZANO, Proverbii di messer Antonio DERS., Psychologische Erklärungsmodelle histo
Cornazanoinfacetie(Paris1812). rischen Kulturwandels. Übersicht, Kritik und
JeanDAUVILLIER,Lemariagedansledroitclassiquede Entwürfe,in:PeterDINZELBACHER,FriedrichHAR
lÉglise depuis le décret de Gratien (1140) jusquà RER (Hgg.), Wandlungsprozesse der Mentalitäts
lamortdeClémentV(1314)(Paris1933). geschichte(BadenBaden2015)49–92.
Trevor DEAN, Crime and Justice in Late Medieval Albert DRESDNER, Kultur und Sittengeschichte der
Italy(Cambridge2007). italienischenGeistlichkeitim10.und11.Jh.(Bres
J.DELMAILLE, Âge, in: Dictionnaire de Droit lau1890).
Canonique1(Paris1935)315–348. Peter DRONKE (Hg.), Medieval Latin and the Rise of
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