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BERNHARD BÖSCHENSTEIN

STUDIEN ZUR DICHTUNG


DES ABSOLUTEN

ATLANTIS VERLAG
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\ \ {01

Atlantis Verlag Zürich und Freiburg i. Br.


© 1968 Atlantis Verlag AG Zürich
Satz und Druck: Graphischer Betrieb Benziger, Einsiedeln
Printed in Switzerland
INHALT

Vorwort 7

I
Die Transfiguration Rousseaus in der deutschen Dichtung
um I8oo: Hölderlin- Jean Paul- Kleist rr
Jean Pauls Romankonzeption 25
Leibgeber und die Metapher der Hülle 45
Antikes im «Titan » SI
Hölderlins späteste Gedichte 59

II
Ekstase, Maß und Askese in der deutschen Dichtung 83
Mörikes Gedicht «Auf eine Christblume» I02

III
Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche
Lyrik der Jahrhundertwende I27
I. Stejan George und Francis Viele-Griffi11 I27
II. Georg Trakl und Arthur Rimbaud I40
Die Sprache der Entsagung in Stefan Georges Dichtung I so
Über Valerys Prosastil I 58

IV
Johannes Bobrowski: «<mmer zu benennen» I73
Paul Celan: «Tübingen, Jänner» I77

Drucknachweise I8r
VORWORT

Diese zwischen 1958 und 1967 entstandenen Aufsätze und Vorträge


sind nicht im Gedanken an eine spätere Zusammenstellung geschrieben
worden. Ihre Gemeinsamkeit gründet indes in der Konstanz, mit der
bestimmte Gegenstände ausgewählt und einander verwandten Ver-
fahrensweisen unterworfen wurden. Die Aufmerksamkeit richtet sich
vornehmlich auf solche Werke, in denen der Zusammenhang mit der
empirischen Realität transzendiert wird. In ihnen erlangt die Kunst oft
ein zweites, fremdes Leben, dessen Gestalt nicht selten die Verab-
schiedung des früheren spiegelt. Absolutum-in diesem Begriffliegt
zugleich die niemals aufgehobene Spannung zwischen Wirklichkeit
und Entrückung, eine Spannung, die diesen Werken ihre dichterische
Gewalt verleiht.
Im Lauf der Epochen wechselt der Sinn, der diesem Absoluten ge-
geben wird. Um 18oo erbt es die Totalität des Wahren, Guten, Schö-
nen, die ihm ein neu erweckter Platonismus vermacht, es erbt die Vor-
stellungen eines johanneisch gefärbten Christentums, an dessen Stelle
es sich setzen kann, es glaubt so, eschatologische Hoffnungen einlösen
zu können, auf die der Pietismus, als Fortsetzer mittelalterlicher und
barocker Mystik, seine Adepten vorbereitet hatte.
Um 1900 ist es mit einer solchen Form von säkularisierter religiöser
Verbindlichkeit vorbei. Der Anspruch des Künstlers ist nicht geringer
geworden, allein der ungebrochene Glaube an die allgemeine Gültigkeit
seiner Botschaft ist ihm abhanden gekommen. Als Gestalter rächt er
sich dafür, wiegt er mit der Gebärde dessen, der seiner Zeit gebietet,
oder in der Haltung dessen, der ihr ausgesetzt ist, den Verlust an ver-
bürgtem Gehalt auf. Der absolute Anspruch richtet sich darum ent-
schiedener auf die dichterische Sprache. Erst von diesem Augenblick
an gibt es «absolute Dichtung».
Der in Mörikes Gedicht inkarnierte Zustand steht in der Mitte
zwischen diesen beiden Erscheinungsweisen des Absoluten. Auch das
Thema der ekstatischen und asketischen Dichtung kreist um diese
Verwandlung.
Dichtung als Statthalterirr theologischer Anschauungsformen -
diese von der jüngeren Geistesgeschichte herausgearbeitete Perspek-
tive war den hier versammelten Aufsätzen nicht a priori vorgegeben.
Nur innerhalb der ihre Gegenstände niemals verlassenden Interpreta-

7
tionen erscheint sie, oft nnmerklich und gewiß mit wechselnder Deut-
lichkeit, als implizites Leitmotiv. Sie erweist sich auch als geschicht-
liche Perspektive, insofern die Transzendierung der Geschichtlichkeit
sich aus dem jeweiligen historischen Kontext begründet. Von ihm ist
in diesen Texten selten die Rede. Er ist hier in der Negation vertreten,
die eine Seite der Auseinandersetzung der Dichtung des Absoluten mit
der Geschichte darstellt. Solche Konsequenz mag als Mangel erschei-
nen, sie kann aber auch die Intention der hier behandelten Dichter
schärfer hervortreten lassen, den irdischen Schauplatz zum Gleichnis
für eine über ihn hinausführende Wahrheit zu erheben. Indem der
Verfasser mit seinen Autoren von der ersten, unverwandclten Wirk-
lichkeit schweigt, hofft er, die zweite, aus den Materialien der ersten
kühner, kohärenter, anspruchsvoller gebaute neue Welt der Dichtun-
gen des Absoluten deutlicher zu vergegenwärtigen. Er könnte sich
dabei aufBaudelaire berufen, der der schöpferischen Einbildungskraft
eine entfernte Beziehung zu jener erhabenen Macht zuerkennt, «kraft
deren der Schöpfer sein Universum entwirft, erschafft und am Leben
erhält.»
Genf, im März 1968 Bernlzard Böschenstein

8
I
DIE TRANS FI G U RATI 0 N R 0 U S SE AUS
IN DER DEUTSCHEN DICHTUNG UM r8oo:
HÖLDERLIN- JEAN PAUL- KLEIST 1

In seiner 1747 entstandenen Ode An des Dichters Freunde ruft Klopstock


einen nach dem andern der ihm im Geiste verbündeten Dichter wie
zu einer Feier auf den elysäischen Feldern heran, um. jedem sein Teil
Unsterblichkeit zuzuweisen. Orpheus und Dionysos führen als Schutz-
geister der Dichter ihr«heilig Geschlecht» an, das für das goldene Zeit-
alter zeugt.
Diese Form der Evokation hat Hölderlins Elegien tmd Hynmen ge-
prägt, am meisten den Rhein. Auch dort treten im Zeichen des heran-
nahenden goldenen Zeitalters Halbgötter, Genien und Freunde au(
Einer von ihnen ist Jean-Jacques Rousseau- aber ein dichterisch ver-
klärter Rousseau, der sich von dem historischen grundlegend unter-
scheidet, wie dies auch bei den beiden andern zu behandelnden Dich-
tern deutlich zu erkennen ist. Rousseaus Bedeutung für Hölderlin
spricht sich in zwei einander entgegengesetzten Situationen aus, deren
eine sich im Begriff des «Gesezlosem kristallisiert. 2 Dieses Wort darf
zu den zahlreichen Hölderlinischen Leitworten gerechnet werden, in
denen sich jeweils ein genau festgehaltenes Verhältnis von Gott und
Mensch niederschlägt. Ihre Erforschung bildet eine der unerläßlichen
Grundlagen für die Interpretation der um und nach r Soo verfaßten
Gedichte.
Hölderlin feiert Rousseau im Rhein, weil er<<aus heiliger Fülle I Wie
der Weingott, thörig göttlich I Und gesezlos sie die Sprache der Rei-
nesten giebt>>. Diese Verse sollen hier nicht auf ihre Stelle im Ganzen
der Hynme hin untersucht werden, sondern sie sollen Rousseaus Platz
in Hölderlins Spätwerk überhaupt bestimmen helfen. 3

1 Deutsche Fassung der Genfer Antrittsvorlesung vom 25. 1.1965.

z Es ist bedauerlich, daß Kurt Wais in seiner gründlichen Studie über Rousseau et
Hölderlin, Armales de la Societe J.-J.Rousseau, Band 35 (1959-1962), S.287-315, das
Baugesetz des Rheins, das Hölderlin selber aufgezeichnet hat (Gr. Stg.A. 2, 722), nicht
beachtet. Weder der Gegensatz zwischen den beiden Rousseau gewidmeten Strophen
noch die grundlegende Verschiedenheit Rousseaus vom Rhein können von einer kon-
ventionellen Vorstellung von Einheit her verstanden werden.
J Rousseaus Funktion in der Hymne Der Rhein habe ich in meiner Dissertation unter-
sucht: Hölderlins Rheinhynme. Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistes-
geschichte, hg. von Emil Staiger, Nr. r6, Zürich 1959. Neue Auflage 1968. Zu Rousseau
vgl. insbesondere S. 88-107.
Heinz Otto Burger weist in seinem Überblick Die Hölderlin-Forschung der Jahre
1940-1955, DVj 30 (1956), S.353f., der Forschung einen Weg zur Untersuchung von
Hölderlins Verhältnis zu Rousseau.
Es ist Paul de Mans Verdienst, die Einheit der Thematik, die Rousseaus Gegenwart

II
«Gesezlos» heißt die Sprache des Weingatts in einem gewollten An-
schluß an die zu Aruang genannte Ode Klopstocks, deren zweite Fas-
sung Wingolfihre zweite Strophe so einsetzen läßt:
Willst du zu Strophen werden, o Haingesang?
Willst du gesetzlos, Ossians Schwunge gleich,

-ich fahre mit dem Wortlaut der ersten Fassung fort-


Gleich Zeus erhabenen trunkenen Sohne,
Frey aus der schaffenden Seele taumeln ?4

«Zeus' erhabener trunkener Sohn» ist natürlich kein anderer als Diony-
sos. Klopstacks Vergleich seiner Ode mit Ossians Liedern erinnert an
Hölderlins Interpretation des Pindarfragments Das Belebende, wo zu-
sammenfassend gesagt wird: «Die Gesänge des Ossian ... sind ... mit
dem Stromgeist gesungen ... » 5 Der Stromgeist bestimmt sowohl die
Rheinhymne als auch die folgenden Strophen der Ode Wiagolf. Klop-
stock faßt sie so zusammen:
So floß der Waldstrom hin nach dem Ocean!
So fließt mein Lied auch, stark, und gedankenvoll.

In beiden Gedichten verbindet sich also der Stromgeist mit Dionysos,


der im Rhei11 zu Rousseau wird. Klopstock, seinerseits auf Horaz zu-
rückweisend, der Pindar mit einem reißenden Strom vergleicht, hat
diese Verbindung begründet. 6 Sie beruht auf dem Gedanken eines
himm.lischen Ursprungs, der sich in keine irdische Fessel fügt. Klop-
stock hat also bereits vor Hölderlin die Unmittelbarkeit der Dichtung,
den fessellos fließenden Strom und den Gott des Weins, der zugleich
der Gott der Dichter ist, in einw Zusammenhang gebracht, der dann
in Hölderlins Evokation Rousseaus Gestalt annimmt. Doch die Ver-

in der Rheinhymne rechtfertigt, neu durchdacht zu haben. Seine Interpretation (L'image


de Rousseau dans Ia poesie de Hölderlin, Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung,
5.Band, Bern und München 1965, S. 157-183) stützt sich aufeine ontologische Deutung
der Ciuquieme Reverie von Rousseau, wodurch neue Beziehungen zur achten Strophe
des Rheil'ls aufgedeckt werden. Leider reduziert de Man Hölderlins Rousseaubild, wie es
in der Ode Rousseatt erscheint, auf diejenigen Züge, die sich seiner Perspektive unter-
ordnen, Rousseau als Begründer der Dichtung zu erweisen. Auch die Prägung <<Sohn
der Erde>> kommt in seiner Untersuchung nicht zu ihrem Recht. Hölderlin verbindet
damit sowohl hinsichtlich der Elemente als auch auf der Ebene der Menschen einen
Wechsel von Fülle und Bedürftigkeit. Endlich verdünnt die Identifikation des Vaters
mit dem Sein, der Mutter Erde mit dem In-der-Welt-Sein Heideggers den Hölderli-
nischen Mythos zu einer poetischen Einkleidung.
4 Klopstacks Werke, hg, von R.Hamel, 3. Teil, S.4 und 5, Vers sff. In : Deutsche
National-Litteratur, hg. von ].Kürschner, 47· Band.
s Gr. Stg. A. 5, 290.
6 V gl. Horaz, Carm. IV, 2, 5-8.

I2
wandtschaft reicht noch weiter. Nachdem, oft von einem dionysischen
Ritual umgeben, einer nach dem andern der zeitgenössischen Dichter
die Szene betreten hat, wendet sich Klopstock an die goldene Zeit, der
sich die Natur, «Gottes Nachahmerin», zugesellt. Allein die Dichter
sind imstande, ihre Stimme zu vernehmen, sie, die aus dem goldenen
Zeitalter stammen, dem antiken wie dem künftigen.
Dieser Verlauf der Ode entspricht auch der Perspektive der Rhein-
hymne: nach Rousseaus Rückzug in eine läuternde Einsam.keit mün-
det das Gedicht in die wiedererstandene goldene Zeit. Ein «Brautfest»
zwischen Menschen und Göttern spiegelt den allgemeinen Geist öffent-
lichen Festes - Hölderlin nennt ihn «Gemeingeist» -, den Rousseau
öfters beschrieben und in seinem Cantrat social auf die politische Ebene
übertragen hat. 7 In Hölderlins Augen hat es Rousseau vermocht, den
Gefahren vorzubeugen, denen er sich als Statthalter der Unmittelbar-
keit aussetzte.
Es sind die gleichen Gefahren, die Antigone fortgerissen haben, sie,
deren Gottesverhältnis Hölderlin ebenfalls mit dem Begriff des <<Gesez-
losen» umschreibt. Warum Hölderlin des Vorbilds Rousseau bedurfte,
erhellt am ehesten aus einem Vergleich seines Schicksals mit dem der
Antigone. 8
Für Hölderlin stellt Antigone dar, «was den Antitheos karakterisirt,
wo einer, in Gottes Sinne, wie gegen Gott sich verhält, und den Geist
des Höchsten gesezlos erkennt». Der Chor, der ihr Schicksal mit dem
der Danae, des Lykurg und der Söhne des Phineus vergleicht, betont
zugleich «die fromm_e Furcht vor dem Schiksaal, hiemit das Ehren
Gottes, als eines geseztem. 9 Wie Hölderlins Rousseau beruft sich Anti-
gone auf eine ursprünglichere Instanz als die Gesetze der Polis, auf«die
ungeschriebnen / Die festen Sazungen im Himmel>>. So ist sie einer-
seits Gott besonders nahe, andererseits Gottes Gegnerin. Beide Be-
deutungen hört Hölderlin aus dem Wort &vriffeor; heraus. Hölderlin
verknüpft Antigones Rebellion mit dem Strukturwandel einer ganzen
Epoche: Antigone wird es der von Kreons Gesetzen regierten Stadt
ermöglichen, sich zu verjüngen und sich zu einer net1en Gestalt zu
fügen, der griechischen Demokratie. Antigone kündigt eine Revolu-
tion an, die sich erst nach ihrem Tod erfüllen wird. Die pharisäisch er-

7 Kurt Wais erinnert daran, daß der Hölderlinische Begriff <<Gemeingeist>>, der die
von Rousseau im Contrat social dargelegte «volonte generale» wiedergibt, von pietisti-
schen Autoren wie Zinzendorf und Jung-Stilling stammt.
s Vgl. Karl Reinhardt: Hölderlin und Sophokles, in: Tradition und Geist. Gesammelte
Essays zur Dichtung, hg. von Carl Beckcr, Göttingen 1960, S. 384.
9 Gr. Stg. A. 5, 268.

I3
starrte Gesellschaft läßt ihr keine andere Wahl, als sich aufs entschie-
denste von ihr loszusagen. Eben dies ist aber auch Rousseaus Situation.
Auch er präfiguriert eine neue Gesellschaft, auch er kündigt eine
Revolution an, zu der sich Hölderlin durchaus bekannte. Aber Rous-
seau ist darin weise, daß er die Gottheit, die ihm seinen kühnen Auftrag
erteilt hat, nicht herausfordert. Er weiß auf die Identifikation mit ihr zu
verzichten, weiß sich davor zu bewahren, sich in der Vereinigung mit
der göttlichen Wahrheit aufzuzehren, wie es Antigone geschieht, als
sie ihre Wahrheit vor Kreon verteidigt. Ist es Rousseau dank seinem
Rückzug vor der Geschichte in einem bestimmten Augenblick seines
Lebens geglückt, seine in ihrer Unmittelbarkeit gefährliche Vision
nur vermittelt weiterzugeben, läßt Antigone dagegen den Göttern
keinen Ausweg als den, sie zum Tode zu verurteilen. Nur dieser Tod
rettet das für einen Augenblick gestörte Gleichgewicht zwischen der
Stimme der Natur und der Ordnung des Staates. Auch Rousseau ver-
harrt in der Weise eines Tragödienhelden in seiner Wahrheit, doch
schützt er sich und die Gesellschaft vor den Gefahren ihrer unmittel-
baren Anwendung. So deutet Hölderlin die Weigerung Rousseaus,
von seinen in der Profession de foi du Vicaire Savoyard entwickelten
Grundsätzen jemals wieder abzurücken. So erklärt sich die Existenz
des Verbannten auf der St. Petcrsinsel im Bielersee und diejenige des
Greises, der die Reveries d' Ull promeneur solitaire verfaßt. Er beteuert
dort, das Verlangen nach irdischem Glück zugunsten der Ruhe auf-
gegeben zu haben, die auf sicher erlangter Fassung («assiette ») gründet.

Dann scheint ihm oft das Beste,


Fast ganz vergessen da,
Wo der Stral nicht brennt,
Im Schatten des W alds
Am Bielersee in frischer Grüne zu seyn,
Und sorglosarm an Tönen,
Anfängern gleich, bei Nachtigallen zu lernen. 1 o

Natürlich beziehen sich diese Verse der Rheinhymne auf Rousseaus


Aufenthalt am Bielersee, wie ilm das letzte Buch der Confessiolls und
die fünfte Reverie schildern. Aber Hölderlin stellt damit zugleich eine
bedeutsame poetische Analogie zu einer verwandten Situation her, die
außerhalb des Umkreises von Rousseaus Biographie steht. Ich meine
eine der beiden einzigen Stellen aus Sophokles' Oediptls auf Kolonos, die
Hölderlin übersetzt hat, diejenige, die sich als das früheste Zeugnis sei-
10 Gr.Stg.A.2, 147.

14
ner Beschäftigung mit Sophokles erhalten hat, die erste und die zweite
Strophe des ersten Stasimons.
Die erste Strophe ruft Rousseau in Erinnerung, wie er, vor der
Sonne geschützt, bei Nachtigallen zu lernen bereit ist.

Auf Kolanos weißem Boden


Bist du angekommen,
0 Fremdling dieser Gegend,
Wo durchdringend klagt
Die wiederkehrende Nachtigall
Unter grünem Buschwald
Überwölbt von dunklem Epheu,
Und von des Gottes unzugänglichem Geblätter
Dem früchtevollen, sonnenlosen,
Keinem Sturme bewegten.
Wo immerhin der bacchantische
Dionys einhergeht ... 11

Oedipus ist ein Fremdling, wie Rousseau auf der St. PetcrsinseL <<Wie
nenn ich den Fremden?>> hatte Hölderlin seinen deutenden Anruf be-
schlossen. Oedipus ist blind, da er, nach Hölderlins Auffassung, die
Grenze des Erketmens nicht einhalten wollte, die der Gott der Erkennt-
nis, Apollon, ihm vorgezeichnet hatte. «Der König Oedipus hat ein
Auge zuviel vieleicht», steht in dem späten Gesang, den Waiblinger in
seinem Roman Phaethon mitteilt. 12 Dieser Gefahr ist Rousseau zuvor-
gekommen, indem er das Exil wählte. Beide halten sich in einem Hain
auf, der zur Meditation einlädt und so den der Gottheit gefährlich
nahen Gedanken erlaubt, sich zu beruhigen, zu läutern und zu differen-
zieren. Dieser Hain wehrt die Sonne ab - Sophokles' cpv},),aoa: &v&Awv
entspricht Hölderlins Vers «Wo der Stral nicht brennt». Beide hören
dieN achtigall, für Hölderlin die schüchterne Vorbotin eines künftigen
Zustands. Diese beschattete Einsamkeit ist zugleich diejenige des Dich-
ters zu Beginn der Hymne: «<m dunkeln Epheu sass ich», wenn er unter
dem Zeichen des Dionysos das Schicksal des deutschen Stroms und
durch ihn das Schicksal des Abendlandes bedenkt. Dionysos, der im
Sakrament des Weines überdauert, wird zum Wegweiser des Dich-
ters in der nächtigen Zeit zwischen den beiden goldenen Altern. Oedi-
pus bewohntjetzt einen Ort, «wo immerhin der bacchantische/ Dio-
nys einhergeht». Auch ihn situiert der Dichter, wie den Philosophen,
dessen Sprache an den Weingott gemahnte, und wie den Dionysos
11 Gr.Stg.A.s, 32. 12
Gr.Stg.A.2, 373·

rs
selber, zwischen zwei Epochen, zwischen einstiger allzugroßer Götter-
nähe und ausgeglichener Zukunft. Oedipus bringt den Athenern, die
ihn aufgenommen haben, die Verheißung Apolls. Rousseau bringt
dem Abendland eine neue Gesellschaft, die ein allseitiger Liebes-
verband zusammenhält. Beiden ist also günstige Botschaft verliehen.
Beide sterben einsam und unscheinbar, ganz anders als sonst die Helden
der griechischen Tragödie, Antigone zum Beispiel. Nach Hölderlins
Anschauung sterben sie auf abendländische Weise, sie werden be-
graben, nicht verbrannt vom Feuer des Himmels. Sie brauchen nicht
ihren Körper der unmittelbaren Zerstörung auszusetzen, da ihr Tod
einen viel geistigeren Charakter annimmt als der der antiken Tragö-
dienhelden. So ist Oedipus auf Kolo11os nicht so sehr für die griechische,
eher für die sogenannte «hesperische» Tragödie repräsentativ, die
Hölderlin im Einklang mit den Erfordernissen seiner Zeit zu schaffen
trachtet. Deren Held will durch seinen stillen Tod den Nachgeborenen
den Dienst erweisen, ihr Verhältnis zu den Göttern zu klären. Darin
geschieht zugleich ein Dienst an der Gottheit. Nicht als Vertreter einer
Partei, sondern als Weise, die in den Willen der Gottheit eingeweiht
sind, ihre Priester sind, sterben Oedipus aufKolonos und Empedokles.
In diesen Dramen ist es «das Wort aus begeistertem Munde>>, das
tötet. 13 Wie Rousseau deutet auch Empedokles auf eine endzeitliche
Harmonie, die nicht mehr von der Spannung zwischen Natur und
Kunst zerrissen sein wird. Jede der beiden Mächte würde von der an-
deren so umfassend durchdrungen sein, daß es für niemand mehr die
Bedrohung durch Feinde geben könnte, durch die Unfrommen, deren
«freigeisterische Kühnheit» oder pharisäische Form der Blasphemie,
diebeideeinem Zerrbild der Aufklärung entsprungen sind, das Evan-
gelium der Versöhnung bedrohen würden.
Indem er ein goldenes Zeitalter entwirft, das den Cantrat social in
Kraft zu setzen vermöchte, wagt sich Hölderlin in kühnere Hoffnun-
gen hinaus, als sie Rousseau jemals hätte hegen dürfen.

Die Kühnheit der historischen Anwendung solcher Entwürfe wird


nicht geteilt von Hölderlins Zeitgenossen]ean Pa11l. Auch er war, mehr
noch als Hölderlin, Rousseaus Schüler, vor allem in den Jahren seines
Theologiestudiums in Leipzig, I78I-I784. AufJean-Jacques geht die
Verwandlung von Johann Paul in Jean Paul zurück. Aus dieser frühen
Zeit hat sich ein Entwurf erhalten, in dem Jean Paul bekennt:« Über-
haupt sprech' ich wol von niemand öfter und lieber als von Rous-
13 Gr.Stg.A.s, 270.

r6
seau ... »14 Auch Jean Paniliebt es, wie Klopstock und Hölderlin, ein
Pantheon um sich zu versammeln, dem Rousseau beinahe jedesmal an-
gehört. Er wird dort Sokrates, Platon, Pico della Mirandola, Shake-
speare zur Seite gestellt, um nur die wichtigsten Namen zu nennen.
1791, einige Monate nach dem bekannten 15. November 1790, wo
Jean Paul erstmals das ganze Ausmaß der Herrschaft des Todes über
das Leben vor Augen sah, hat er sich in einem Traktat Über die Fort-
dauer der Seele und ihres Bew11j3tseiHS die Unsterblichkeit der Seele be-
wiesen.15 In diesem Zusammenhang denkt er über die verschiedenen
moralischen Stufen der Menschheit nach, und dabei entwickelt sich
ihm der Keim einer Vorstellung, die von den Bewohnern seines
Pantheons erfüllt wird. Was er an ihnen feiert, stimmt mit dem über-
ein, was er aus der Lektüre Rousseaus gezogen hat. In ihrer endgültigen
Fassung erscheint die Vorstellung von den «hohen Menschen» in dem
bekannten <<Extrablatt» der Unsichtbaren Loge:

Gewisse Menschen nenn' ich hohe oder Festtagmenschen ... Unter einem ho-
hen Menschen mein' ich nicht den geraden ehrlichen festen Mann, der wie ein
Weltkörper seine Bahn alme andere Abirrungen geht als scheinbare -noch
mein' ich die feine Seele, die mit weissagendem Gefühl alles glättet, jeden
schont, jeden vergnügt und sich aufopfert, aber nicht wegwirft - noch den
Mann von Ehre, dessen Wort ein Fels ist und in dessen von der Zentralsonne
der Ehre brennenden und bewegten Brust keine anderen Gedanken und Ab-
sichten sind als Thaten außer ihr- und endlich weder den kalten von Grund-
sätzen gelenkten Tugendhaften, noch den Gefühlvollen, dessen Fühlfäden
sich um alle Wesen wickeln und zucken in der fremden Wunde und der die
Tugend und eine Schöne mit gleichem Feuer umfasset- und auch den bloßen
großen Menschen von Genie mein' ich nicht unter dem hohen, und schon die
Metapher deutet dort wagrechte und hier steilrechte Ausdehnung an. Sondern
den mein' ich, der zum größern oder geringem Grade aller dieser Vorzüge
noch etwas setzt, was die Erde so selten hat- die Erhebung über die Erde, das
Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Thuns und der Unförmlichkeit
zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Ge-
büsch und den ekelhaften Köder unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht,
den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken. 16

14 Sämtliche Werke, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, z.Ab-
teilung, 2. Band, S. 510.
Eduard Berends Namenkartei verdanke ich die Kenntnis sämtlicher Jean Paul-Stellen,
in denen Rousseau erwähnt wird. Für diese großzügige Unterstützung bin ich Herrn
Professor Berend zu großem Dank verpflichtet.
1 5 S. W.II,3, 339-360, insbesondere 351f.
16 S. W.I,2, 2o9f.

17
Zu dieser «wahren Fürstenbank des hohen Adels der Menschheit >> ge-
hört als einziger Autor des r 8.Jahrhunderts Jean-Jacques Rousseau.
Beinahe alle bedeutsamen Stellen, an denen er erwähnt wird, stehen im
Zusammenhang mit dieser einen. Rousseau hat Jean Paul gelehrt,
bereits aufErden das Leben eines Gestorbenen zu führen, w ie Rousseau
es sich in der Projessioll deJoi du Vicaire Savoyard wünscht: «J' aspire au
n1.oment ou, delivre des entraves du corps, je serai moi sans contra-
diction ... »17 Dieses Leben wird in der Epoche der Niederschrift der
Reveries das seine werden.
Rousseaus Botschaft verlegt Jean Paul ins Jenseits. Er meint, Rous-
seau habe eigentlich schon vom Himmel gesprochen, als er sich den
Naturzustand ausmalte. «Glücklicherer Rousseau, als du selber wuß-
test! Deinjetziger erkämpfter Himmel wird sich von dem, den du hier
in deiner Phantasie anlegtest, in nichts als darin unterscheiden, daß du
ihn nicht allein bewohnest ... »18 J ean Paul bewundert an Rousseau die
Seelenstärke, die sich einmal aufgestellten Prinzipien zu unterwerfen
vermag, selbst mitten im Wirbel einer Großstadt wie Paris. Er bewun-
dert den Vierzigjährigen, den keine Doktrin mehr aus seinem Frieden
zu reißen imstande ist. Diesen Zustand nennt er eine Verwandlung aus
dem Raupenstande, welche die zweite Verwandlung, den Tod, vor-
wegnimmt. Und schließlich vergleicht er Jean-Jacques mit einem
Stoiker: «Der Poet [er meint dabei Rousseau] und der Stoiker
sind sich vielleicht nicht so unähnlich; jeder wirft sich aus der
äußeren Welt in seine eigne: nur daß der Poet der wirklichen Welt
mehr seine schimmernde Täuschungen anmalt [leiht] und der Stoiker
hingegen ihr mehr ihre fürchterlichen abzieht [nimt]; wenn man der
erstere nicht mehr bleiben kan, so mus man der andere werden. Dem
J .J. Rousseau vertrat seine Phantasie die Stelle der Apathie.>> 19
Für Jean Paul steht der Stoizismus des Jean-Jacques im Zusammen-
hang mit dessen Verehrung für Plutarch und die römischen Helden.
Jean Paul hat sich die Szene aus den Conjessiot1S gemerkt, wo Rousseau
«auf einer verliebten Reise einaltrömischerTempel»-in Wahrheit han-
delt es sich um den Pont du Gard- «plötzlich die Brust von Weibern
ausleerte und sie mit der großen kalten Heldenwelt ausfüllte». 2 o Er hat
sich daran erinnert, als er die römischen Kapitel des Titan verfaßte.

17
Emile, livre quatrieme, cd. Garnier, hg. von Franqois und Pierre Richard,
Paris 1961 , S. 358.
' 8 S.W.I,2, 366.
1
9 Ein Brief über Gegenstände der Lebensphilosophie. S. W . I!, 3, 19f.
20
S. W. I, 16, 330. Die Rousseaustelle fi ndet sich in den CEuvres completes Biblio-
theque de la Ph~iade, 1, 255f. '

I8
Wie das Kind Rousseau liest Albano in der ersten Jünglingszeit Plut-
arch. Seine Wirkung auf ihn gleicht derjenigen Rousseaus, dem Al-
bano, wie Jean Paul selber, die Erhebung über die Welt verdankt: «In
dieses goldne Zeitalter seines Herzens fiel auch seine Bekanntschaft ITlit
Rousseau und Shakcspeare; wovon ihn jener über das Jahrhundert er-
hob und dieser über das Leben.>> 21 Rousseaus Einfluß begleitet die Ein-
weihung Albanos in Homer, Sophokles und in die Geschichte des
Altertums. So kommt er den «hohen Menschen» nahe.
Diese Erhebung der Seele, die als eine Vorwegnahme des Todes ver-
standen wird, strahlt aber noch unmittelbarer auf die großen Romane
aus, deren weibliche Hauptpersonen vor allem ihr Gestalt zu geben
versuchen. So erscheint Liane als die Inkarnation der von Rousseau im
6. Buch der Confessiolls beschriebenen Erfahrung, die dern in den
Charrn.ettes von Herzbeschwerden Befallenen zuteil wurde: «Je puis
bien dire que je ne commenc;:ai de vivre que quand je me regardai
comme un homme mort.» 22 Nicht anders sieht Viktor im Traum
Klotilde an ihm vorüberschweben: Klotilde ging «erhaben wie eine
Verstorbene, heiter wie ein Mensch in der andern Welt, geführt bald
von geflügelten Kindern, bald von einer verschleierten Nonne, bald
von einem ernsten Engel, aber sie ging ewig vor Horion vorüber ... »23
Die vielen Analogien zwischen Szenen aus den großen Rornanen
und solchen aus der Notwelle Heloi"se, auf die teilweise Max Kommerell
in seiner Dissertation Jean Pauls Verhältnis zu Rousseau 2 4 und Eduard
Berend 25 aufmerksam machen, sind eher dazu geeignet, die Verschie-
denheit der Anwendung gleicher Themen zu erweisen, wie es sich fast
von selber versteht, wenn sich eine Wirkung in durchaus verinnerlich-
ter Form vollzogen hat. 26 Aber die Liebe zu Wesen, die nur aus Ab-
wesenheit bestehen, hat Jean Paul selbst in die Nähe der Liebe Saint-
Preux', der Hauptfigur der Notwelle Heloi"se, zu Julie d'Etanges ge-
rückt: wenn Siebenkäs sich prüft, ob er gleichzeitig Lenettes Gatte sein
und Natalie verehren darf, fmdet er die Antwort: «Er verbarg sich
nicht, daß er- da er N atalien vorzusterben sich entschieden- in ihr ja
nur eine Abgeschiedene liebe als ein Abgeschiedener; ja als ein noch
Lebender eigentlich nur eine für ihn schon verklärte V ergangene- und
21 S.W.I, 8, 123. 22 o.c. I, 228. 2 3 S.W.I, 3, 283.

24 Nach den Hauptromanen dargestellt. Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft


Nr.23, hg. von E.Elster, Marburg 1925, S. 15o-162.
2s In mehreren Anmerkungen zu den Romanen.
26 KommereHs Betrachtungsweise leidet darunter, daß er sich hier, anders als in der
späteren, noch immer unübertroffenen Monographie, auf einen monumentalen Jean
Paul festlegt, den er keineswegs ausschließlich aus dem Werk des Dichters herleitet.
Proportional dazu wird Rousseaus Bedeutung in einem Zerrspiegel verringert.

I9
er that frei die Frage an sich, ob er nicht diese in die Vergangenheit ge-
rückte N atalie so gut und so feurig lieben dürfe als irgend eine längst
in eine noch fernere Vergangenheit geflogene, die Helo1se eines A bä-
lards oder eines St. Preux oder eine Dichters Laura oder Werthers
Lotte ... »27
Weil sie schon als Lebende einer Verstorbenen gleicht, vermag
Natalie die Welt dieses Romans zu bestimmen, wo das Abwesende
allein Gegenwart besitzt, während die konkrete Gegenwart Kuh-
schnappeis sich lediglich zu ihrer eigenen Aufhebung erbietet. J ean
Paul ist in dieser Richtung noch weiter vorgeschritten, in der Gestal-
tung des Emanuel. Schon dessen ländliche Idylle gemahnt an Rousseau,
in ihrer archaischen Einfachheit. Unterstützt von der Astronomie und
der Musik gibt er sich nurmehr der Meditation jenseitiger Existenz hin,
gleichsam emporgehoben von dem Gedanken an unmittelbar bevor-
stehenden Tod. Emanuel bereitet in langem Zeremoniell sein Sterben
vor, er kennt sogar die trügerische Erfahrung des Todes und des Lebens
im Jenseits. Wahnhaft wendet er sich an die Lebenden als an abgeschie-
dene Seelen, die er im Garten Eden findet. Hier will J ean Paul die Über-
schreitung der Grenzen, die dem hohen Menschen gezogen sind, offen-
baren. Zusammengefaßt darfJean Pauls Nachfolge Rousseaus in der
Weigerung gefunden werden, den «Säkular-Menschen » anzuerken-
nen, der die irdischen Gesellschaften und Institutionen ernst nimmt,
woraus eine lächerliche Verengung der Perspektive erwächst. J ean
Paul findet zwar, daß Rousseau in seinem Emile den «reinen N atur-
Menschen ... öfter mit dem Ideal-Menschen vennengt», aber er er-
klärt dies damit, daß «beide rein und gleichförmig vom Säkular-
Menschen abliegen ... »za
Dies verbindet Jean Pauls und Hölderlins Verklärung Rousseaus.
Beide haben in seiner Person und in seinen Schriften die Präfiguration
eines M enschen gefunden, der die doppelte Seinsweise des goldenen
Zeitaltcrs darstellt, die anfängliche des Naturzustands und die endzeit-
liehe des Ideals. Aber Hölderlin situiert diese beiden Gipfel der Z eit im
Feld der Geschichte und weist Rousseau, als dem Verkündiger des
neuen goldenen Alters, einen Platz zwischen ihnen an. J ean Pauls
Perspektive ist dagegen durchaus ungeschichtlich, hat er doch von
Rousseau eben dies gelernt, schon aufErden ein Leben nach der Wahr-
heit des Herzens zu führen, frei von den Fesseln der Sterblichkeit.
Rousscaus goldenes Zeitalter soll als ein Elysium die Dimension mysti-

27 S. W . I, 6, 41 6. 28 S. W. I, 12, 108.

20
scher Innerlichkeit erfüllen, aus der die wichtigsten Frauengestalten
seiner großen Romane leben. Darin liegt ein Verzicht, der in allen
Romanen dem Tod das letzte Wort erteilt. Die Jean Faulsehe Szene
bedarf seiner, um die irdischen Begebenheiten auf das Jenseits hin
durchsichtig zu machen. 2 9

Beiden Dichtern ist ein gläubiger Blick auf das Künftige gemein-
sam, der sich in Hei11rich I!Oit Kleists Rousseau-Nachfolge völlig ver-
düstert hat.
Rousseau wird von Kleist zum erstenmal in einem Brief aus dem
Jahre 1799 zitiert, als er in Frankfurt an der Oder sein Studium begann
und Wilhelmine von Zenge kennenlernte, die eine begeisterte Leserin
Rousseaus gewesen zu sein scheint. Kleist bekräftigt sie in dieser Vor-
liebe. Im März 1801 schreibt er ihr: «Es hätte sich nicht leicht ein Um-
stand ereignen können, der imstande wäre, Dich so schnell auf eine
höhere Stufe zu führen, als Deine Neigung für Rousseau.>> 30 Und einige
Wochen später: «Gewilme Deinen Rousseau so lieb wi~ es Dir immer
möglich ist, auf diesen Nebenbuhler werde ich nie zürnen.» 31 Die Be-
schreibungen seines Pariser Lebens aus demselben Sommer verraten
deutlich Rousseaus Einfluß. Kleisterblickt überall nur Zeichen der Un-
natur. Die Stadt ist tot, die Menschen sind einander langweilig, die
Höflichkeit ist nur Maske, allgemeine Indifferenz erstickt die Regun-
gen des Herzens. Die Vergnügungen, Festlichkeiten, Feuerwerke,
etwa zum 14.Juli, werden aus dem Gesichtspunkt des ersten Discours
a
«Si le Retablissement des Seiences et des Arts a contribue epurer les mcettrs»
a
und der Lettre M.d'Alembert verurteilt. «Rousseau ist immer das
4· Wort der Franzosen; und wie würde er sich schämen, wenn man
ihm sagte, daß dies sein Werk sei? ->> 32 Die fatalistische Perspektive
von Rousseaus erstem Discours macht sich Kleist in einer langen Er-
örterung zu eigen, welche in ein hoffnungsloses Bild mündet, in die
Kombination von Sisyphos' Felsblock mit Ixions Rad. Kleist nimmt
nur teilweise Rousseaus Partei. Er stellt fest, daß beide Zustände, der un-

2 9 Eine vollständige Darstellung der Gegenwart Rousseaus im Werk J ean Pauls

müßte den Dialog, der in der Leva11a mit dem Emile geflU1rt wird, beachten. Jean Paul
liebt es, öfters ein Detail aus Rousseaus Lebenunverbunden herauszugreifen, um es zum
Gegenstand eines Paradoxons oder eines grillenhaften Einfalls zu machen. Sieht man,
wie in der vorliegenden Studie, von all diesen Stellen ab, so konzentriert sich Rousseaus
Bedeutung für Jean Paul vor allem darauf, daß er ihm Anweisungen zu weltlicher Him-
melfahrt gegeben hat.
3° Sämtliche VI erke und Briefe, hg. von Helmut Semhdner, München 1961 ~.
Band 2, S.632.
3 1 S. W. 2, 647. 3 2 S. W .2, 664f.

21
schuldiger Natur und der entwickelter Wissenschaft, mehrNachteileals
Vorteile bringen, insofern im ersten Fall kein Schutz vor Naturgewal-
ten und Aberglauben, im zweiten vor Luxus und Lastern gegeben ist. 33
Die Empörung erreicht ihren Höhepunkt, wenn Kleist die künst-
liche Rückkehr zur Natur im Hameau de Chantilly, einem Park im
Norden von Paris, beschreibt. Jeder kann dort nach Belieben das patri-
archalische Leben eines Jägers, Schäfers, Fischers führen, indem er sich
«die raffiniertesten Speisen und die feinsten Weine ... in hölzernen
Näpfen und in irdenen Gefäßen>> auftragen läßt. Aber die Anrufung
der «großen, stillen, feierlichen Natur», die dieser Schilderung folgt,
befreit sich durch die tropenreich unanschauliche Anwendung der
Metapher der Kirche auf die Natur- «Kathedrale der Gottheit, deren
Gewölbe der Himmel, ... deren Kronleuchter die Sterne ... >> -von
dem Unbehagen an der Naturferne in einer pathetisch gesteigerten,
daher nicht minder naturfernen Weise.H
Die Sinnlosigkeit eines Lebens, das sich denaturierten Institutionen
wie der Armee und der Verwaltung widmet, oder den Wissenschaften,
die niemals zum Handeln führen, erweckt in Kleist das Bedürfnis, als
Bauer in der Schweiz nur noch dem. Willen der Natur zu leben. Aus
der Weigerung seiner Verlobten folgt die Trennung. Er hofft, ein
Landgut am Thunersee zu erwerben, sieht aberangesichtsder unsiche-
ren politischen Lage der Helvetischen Republik davon ab. Unter-
dessen führt er das Leben der ersten Schöpfungstage, auf einer kleinen
Insel in der Aaremündung bei Thtm. Seine Selbstgenügsam.keit läßt an
Rousseaus Aufenthalt auf der St. Petcrsinsel denken. Während dieser
kurzen Zeit arbeitet er an der Familie Sclzrojfensteill, die voller Rous-
seauischer Kontraste steckt. Da dieses Stück alle künftigen Werke
Kleists vorwegnimmt, lohnt es sich, näher bei ihm zu verweilen. Zwei
Zweige derselben Familie sind nicht mehr, wie einstmals, liebend ver-
bündet, sondern nur noch durch einen Vertrag, der die Erbfolge be-
stimmt: stirbt der eine Zweig aus, erbt der andere alle seine Güter.
Dieser Vertrag entspricht einer Epoche des Mißtrauens und der Mittel-
barkeit menschlicher Beziehungen. Beide Sippen klagen sich gegen-
seitig des Mordes an und bereiten eine Rache vor, der ihre Kinder zum
Opfer fallen sollen. Diese fmden sich indessen in einer Liebe, die einer-
seits auf das erste goldene Zeitalter vor dem Sündenfall deutet, ande-
rerseits auf den Willen, diesen ersten Zustand erneut herzustellen, allen
Zerstörerischen Unternehmungen der Eltern zum Trotz. Diese dop-
pelte Beziehung kommt in der Szene zum Ausdruck, in der Ottokar,
33 s. w. 2, 68 I ff. H S. w. 2, 690.

22
aus dem Hause Rossitz, Agnes, aus dem Hause Warwand, an den
Augenblick erinnert, da sie die noch von keinen menschlichen Ein-
griffen, nicht einmal von der Taufe, berührte Natur verkörperte.
Deine Seele
Lag offen vor mir, wie ein schönes Buch,
Das sanft zuerst den Geist ergreift, dann tief
Ihn rührt, dann unzertrennlich fest ilm hält ...

Und er endet:
Nun bist
Du ein verschloßner Brief. _ 3s

Ottokar weiß inzwischen, daß beide im Netz desselben Verhängnisses


gefangen sind, das ihn dennoch nicht unentrinnbar dünkt. Hier offen-
bart sich nun Kleists äußerste Schonungslosigkeit. Von Sophokles
übernimmt er die Technik der Szenenfolge, wenn er die Katastrophe
unmittelbar aus der glücklichsten Konstellation herleitet. Die Höhle,
die am Ende des Dramas die Liebenden vereinigt, spiegelt zunächst
den unschuldigen Anfang der Welt, zuletzt aber deren höllischen End-
zustand. Ottokar entkleidet Agnes und erläutert diese Handlung:
Ein Gehülfe der Natur
Stell ich sie wieder her. 36

Aber sein Bestreben, die Bande der Familie, der Gesellschaft und der
Geschichte zu übersehen, schlägt in äußerste Vernichtung um. Un-
mittelbar nach diesem Ausspruch rücken die Ritter von Warwand an,
und Ottokar tauscht seinen Mantel mit Agnes. Die beiden Väter, die
bezeichnenderweise vom Menschen nur das Kleid gewahren, töten
ihre eigenen Kinder. Ein teuflisches Lachen beschließt das Stück.
Dieselben Gegensätze liegen der Novelle Das Erdbeben in Chili zu-
grunde, die fünf Jahre später entstand. Sie bedarf nicht mehr der
schwerfälligen und künstlichen Mittel des Trauerspiels. Eine Gesell-
schaft, die in unmenschlichen Konventionen erstarrt ist, freut sich, der
Hinrichtung einer jungen Nonne beizuwohnen, die im Klostergarten
ihren Geliebten empfangen und einen Sohn geboren hat. Ein Erd-
beben, das die ganze Stadt zerstört, verhindert im letzten Augenblick
die Enthauptung. Die Liebenden finden sich in einem einsamen Tal
wieder. Kleist führt uns hier erneut in die Irre. Er gewährt uns wieder
die Illusion des irdischen Paradieses, das keineswegs nur die Liebenden,
das die ganze Menschenfamilie zu neuen Liebes banden nach dem Wil-
3s s.w.1, 95 r. 36 s.w.1, 14 2.
23
len des Herzens befähigt. «Und in der Tat schien, mitten in diesen gräß-
lichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen
zugrunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte,
der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume, aufzugehn. Auf
den Feldern, sowei t das Auge reichte, sah man Menschen von allen
Ständen durcheinanderliegen, ... als ob das allgemeine Unglück alles,
was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.>> 37
Aber wieder folgt dem Augenblick, der die Wahrheit menschlichen
Zusammenhangs darstellt, ein unerwarteter Rückfall in die anfängliche
Brutalität: die Liebenden begeben sich zur Messe, wo der Prediger die
Anklage wiederholt und die Gläubigen zum Mord fanatisiert. Wieder
zerstört Kleist amEndeseines Werkes jegliche Hoffnung auf ein neues
goldenes Zeitalter. 38
Hölderlin hat auf Rousseaus Evangelium eine eschatologische V er-
heißung gegründet, deren geschichtliche und metaphysische Dimen-
sion weit über Rousseaus Hoffnungen hinausführt. Jean Paul hat eine
Gesinnung ins Jenseits verlegt, die Rousseau von seinen Zeitgenossen
verwirklicht sehen wollte. Treuer als diese beiden hat Kleist die Lehre
seines Meisters im Leben wie im Werk befolgt, um danach das Ab-
surde solchen Unterfangens einzusehen. Indem er es zerstörte, zer-
störte er sich selber und ein ganzes ungeschriebenes Werk. Darum
wird er heute besser als jene verstanden.

37 S. W. 2, 152.
JB In seiner umfangreichen Abhandlung Heinrich voll Kleist lllld]. J.Rousseau, Germa-
nische Studien, H eft 193, Berlin 1937, führt Oskar Ritter von Xylander die Tatsache,
daß Kleist die Existenz seiner Helden im Gefühl gründen läßt, jedesmal auf Rousseaus
Einfluß zurück. Die Unzahl von N achweisen dieser Art, aus denen Xylanders Buch
besteht, erschwert es dem Leser, ein profliiertes Bild des von Rousseau abhängigen
Kleist zu gewinnen.

24
JEAN PAULS ROMANKONZEPTION

Jean Pauls Romankonzeption soll hier aus der synoptischen Betrach-


tung zweier Ausdrucksformen des Dichters sichtbar werden. Die
Untersuchung hat gleichzeitig die Romanauffassung des Autors der
Vorschule der Ästhetik und die Vorstellung vom Roman, die in den vier
Hauptwerken Hesperus, Siebe11käs, Titan und Flegeljahre Gestalt an-
nimmt, im Blick. Indem sie die Übereinstimmung zwischen der Jean
Faulsehen Selbstdarstellung «romantischer Poesie» in der Vorschule
und dem Geist seiner Hauptromane zu erweisen strebt, ist sie genötigt,
ständig Probleme der Form und Probleme des Gehalts in dialektischer
Zusammengehörigkeit zu sehen. Die traditionellen, von Jean Paul
selber teilweise noch bewahrten Unterteilungen nach Fabel, Charak-
teren, Stil usw. werden hier nicht nacheinander beachtet, sondern in
ihrem steten Wechselbezug. Damit ist freilich eine bestimmte Auf-
fassung vomJean Faulsehen Roman vorausgesetzt: die Überzeugung,
ein wesentlicher Teil der tradierten Romanelemente besäßen für ihn
nur noch den Charakter von Attrappen, deren Vernichtung dem
Autor erst die Möglichkeit verschaffe, seine Aussage zu formulieren.
Dieser Ansatz wirkt sich besonders folgenschwer aus, wenn es darum
geht, die Jean Faulsehen Romane von einem Koordinatennetz unge-
fähr gleichzeitiger europäischer Werke abzuheben. Die Gleichungen,
die Jean Paul im Romankapitel seiner Vorschule(§ 72) selber zieht, in-
dem er fremde und eigene Werke metaphorisch unter den drei Schu-
len der Malerei, der italienischen, deutschen und niederländischen,
rubriziert, verdeutlichen sein gebrochenes Verhältnis zur Tradition
und zu seinen Zeitgenossen. Denn hinsichtlich des «allgemeinen Gei-
stes», den jeder Roman beherbergen muß und der «das historische
Ganze ... heimlich zu einem Ziele verknüpfe und ziehe», 1 könnten die
Divergenzen zwischen den eigenen und den fremden Beispielen nicht
entschiedener hervortreten. Jean Pauls eigene Unvergleichbarkeit
spiegelt sich sowohl in seinem Wahn, alle von ihm aufgezählten Ro-
mane beseele «derselbe romantische Geist»,Z wie in der Äußerlichkeit
seiner Kriterien zur Unterscheidungdreier Formen der Verkörperung
jenes Geistes, die unter sich je eine einheitliche Familie zu stiften ver-
möchten.
I V 253, rff.- Zitiert wird nach der Ausgabe in 6 Bänden, München 1959-1963.
z V 253, 21.

25
Indem der vonJean Paul augewandte undialektische Dualismus von
Geist und Körper beiderseits Scheinverwandtschaften hervorbringt,
umreißt er per contrarium die Methode zur Erforschung dialektischer
Zusammengehörigkeit, die hier eingeschlagen werden soll, und ver-
bietet er im selben Zug die Herstellung historischer Nähe zu anderen
Romanen, die Jean Paul anstrebt.
Unter solchen Auspizien möge die Jean Paulsche Einteilung der
Skizzierung seiner eigenen brüchigen-literarhistorischen Tradition zu-
gutekommen:
Unter den Romanen der italienischen Klasse gehören Werther, Der
Geisterseher, Jacobis Woldemar, Ardinghello, La Nouvelle Heloi"se,
Bouterweks Graf Do11amar insofern in die Nähe des Titan, als in ihnen
ein steter Ton pathetisch-gespannten Gefühls eine Höhenlage der Dik-
tion erzwingt, die von Goethe, Schiller und Rousseau mit Notwendig-
keit, von den übrigen nur kraft manierierter Pose behauptet wird.
Werthers bewegte Sprache unterscheidet sich freilich vom Ausdruck
kalter, souveräner Strategie des seelenknechtenden Geistersehers, aber
das erhabene Genus, das sich von der mittleren Lebenserfahrung ab-
hebt, ist es allein, worauf Jean Paul hier achtet. Daß er die wahren
Dichter und ihre Nachahmer in einem Atemzug nennen kann, wirft
ein Licht auf sein Verhältnis zu ihrer Kombination von Pathos und
Empfindsamkeit. Der Titan verbindet deren wahre Einheit (wie sie
Werther zeigt) mit ihrer bis zur Mimikry reichenden Verfälschung
(z. B. im Grafeil Do11amar), indem etwa Albanos Unbefangenheit von
Roquairols virtuoser Äffung desselben zeitbedingten Tons relativiert
wird.
Jean Pauls Verhältnis zu dieser heroisch-empfindsamen Tonart
wäre also durch die gleichzeitige Aneignung ihrer echten und ihrer
w1echten Spielart gekennzeichnet, welche in unauflösbarer, zerrissener
Einheit in den Roman hineinspielen.
Weniger deutlich lassen sich die beiden anderen Klassen bezeichnen.
Die niederländische um faßt Jean Pauls Idyllen (Wutz, Fixlein) und be-
zieht Teile von Smolletts und Sternes Romanen ein, zum Beispiel die
Rolle des Korporal Trim aus Tristram Slzandy. Offenbar gehören ein-
fältige Charaktere aus einfachem Stande und Milieus ohne Spuren
zivilisierter Naturfeme hierher. Jean Paul hat gewiß von den beiden
Engländern die gestellte Naivität übernommen, die den Mikro-
kosmos, der die idyllischen Helden umgibt, und die Beschränktheit
ihrer Gedanken gleicherweise maßstäblich vergrößert und damit ernst
zu nehmen scheint. Die so entstehende Distanz erlaubt dem Erzähler,

26
sich als Detailberichterstatter eine Wichtigkeit zuzulegen, die pro-
portional zur Belanglosigkeit des Geschilderten zunimmt. Der eng-
lische Einfluß wäre hier der permanenter behaglicher Digression im
Hinblick auf die Durchlöcherung einer zuvor künstlich verabsolu-
tierten Kleinwelt.
Gewichtiger nimmt sich freilich die mit der niederländischen ver-
wandte deutsche Klasse aus, die die bürgerliche Mitte zwischen der
adligen Erhabenheit und dem Hausrat kleiner Leute einhalten muß.
Wenn hier Hippel, Fielding, Sterne, Teile der Lehrjahre und der Vicar
of Wakefield zum Siebenkäs und zu den Flegeljahren treten, so läßt sich,
trotz der ungleichen Qualität der zitierten Werke, immerhin in all
diesen Beispielen die Bedeutung des Erzählers erkennen, der in diesen
Werken teils durch seine Konstanz, teils durch seine zwischen ent-
gegengesetzten Partien ausgleichende Intervention den Charakter des
Romans mitbestimmt. Dies gilt ganz besonders von Sternes konti-
nuierlich den Handlungszusammenhang unterbrechender Erzähl-
rnethode, die Jean Pauls Erzählerrolle ja von Grund auf geprägt hat.
Die Zerstückelung einer gemeinhin linear gebotenen Fabel spiegelt die
Präsenz des subjektiven auktorialen Bewußtseins angesichts der zur
Unwirklichkeit degradierten objektiven Kausalität. Jean Paul macht
sich dieses Verfahren zu eigen, freilich in einer metaphysisch transzen-
dierenden Sinngebung, die noch zu erörtern sein wird.
Diese <<deutsche» Romanklasse kennt einen mittleren Helden, zu
dem der Autor eine mittlere Distanz ejnhalten mag, wobei er freilich,
in den beidenJean Faulsehen Beispielen, diese Mitte nur durch perma-
nenten Zusammenklang polarer Gegensätze aufrecht erhalten kann.
Darin unterscheiden sich seine Heldenpaare Siebenkäs-Leibgeber oder
W alt-Vult fundamental vom Helden der Lehrjahre, der in einer gleich-
bleibenden Korrelation zur gleichmäßig fortschreitenden Offenbarung
des Romangeists aus dem Standpunkt der auktorialen Ironie steht.
Goethe erlangt durch seine Erzählweise, was Jean Paul mit der For-
mel«reine Bildung» 3 bezeichnet, die sich bereits im ersten Satz des dem
Roman gewidmeten XII. Programms der Vorschule der Ästhetik findet.
Schon dort zeigt sich der Autor in einer Verteidigungsstellung gegen-
über den ihm durchaus ehrwürdigen Weimarer Meistern. Das Ver-
trauen in die strenge Einheit, Notwendigkeit und Konsequenz künst-
lerischer Schöpfung, die für Goethe und Schiller in repräsentativer
Weise den Zusammenhang mit außerkünstlerischen Gesetzmäßig-
keiteil (der Natur, des Menschen) zu spiegeln hatte, spricht Jean Paul
J V 248, 29.

27
sich und seinen Geistesverwandten ab. Er erkennt in einer Stimmig-
keit, die durch Auswahl und Ordnung zustande gekommen ist, eine
luziferische Versuchung, die den menschlichen Schöpfer zum Besitzer
eines Analogieverfahrens macht, kraft dessen er die Architektur der
physischen und moralischen Welt nachzubilden hofft.
Jean Paul versagt es sich, aus einer in körperlicher, also verweslicher
Gestalt erscheinenden Formensprache unvergängliche Wahrheiten
herauszulesen. Indem er seine Unabhängigkeit von den dem Menschen
unterlegenen Wesen und Dingen in unbegrenzt freier Verfügung über
ihre beschränkten Daseinskreise wahrnimmt, beweist der aus dem
Selbstbezug die Weltmaterialien ausbeutend kombinierende ab-
strakte Geist seine Andersartigkeit gegenüber allem Todgeweihten.
Als Welt-Fremder entgeht der Geist des Dichters, wie Jean Paul ihn
versteht, der Hinfälligkeit der Welt. Seine Bezugslosigkeit zu ihr be-
stätigt ihn in seiner zeitenthobenen Souveränität, die er als Pächter des
Unsterblichen verwaltet.
Die zweite, entgegengesetzte Offenbarung jenseitiger Wahrheit,
deren Schauplatz der Mensch ist, gewährt das Herz den Liebenden und
Leidenden, indem es in der Zeit, aber durch sie hindurch greifend, die
Ausdehnungen der Körper, der Staaten,jeglicher Machtbereiche durch-
bricht. Jean Pauls Helden leben auf solche Situationen der Sprengung
hin. Alles, was zwischen diesen Hauptstationen vorfällt, wird von der
Flamme der wahren Momente vertilgt.
An die Stelle der einen, die Wahrheit des Dichters verkörpernden
Form setzt Jean Paul für den Roman eine Vielheit von Formen. Daraus
wird sein uneigentliches Verhältnis zur Kategorie der Form deutlich.
Sie ist ihm als ein zitierbares, kommentierbares Erbstück, an dem man
seine relativierenden Künste versucht, willkommen, nicht als Beglau-
bigung seiner Aussage.
Die Vielheit der Formen verleiht dem Jean Paulschen Roman den
Charakter einer N ummernoper, die lyrische, dramatische, lehrhafte,
epistolare Stücke inselhaft gegeneinander absetzt. Träume, geschlos-
sene theatralische Szenen, Traktate, Briefwechselleben von der ihnen
nur auf die Dauer eines Kapitels konzedierten formalen Autonomie,
deren Relativität dem Autor wahrer erscheint als ihrjeweiliger Schein
von Absolutheit.
Der Verkörperungstendenz klassischer Dichtung wirkt der Jean
Paulsche Roman auch dadurch entgegen, daß er die ungebundene
Natur der Prosa in einem Goethe und Schiller fremden Sinn hervor-
hebt: die Fessellosigkeit steigert sich zur schwerelosen Folge zugleich
gedanklicher und syntaktischer Glieder, die über alle spielerisch auf-
gerichteten Widerstände hinwegfliegen.
Die RechtfertigLmg für diese zunächst als Def1zienzen geschilderten
Eigenheiten des Romans gibt sich Jean Paul durch seinen Willen zur
Spiegelung der Totalität. Der griechisch-römischen \Veisheit einer
Götterpluralität, die chorisch die Ganzheit ausdrückt, folgte im Mono-
theismus alttestamentlich-christlicher Prägung ein System der uni-
versalen Perspektive, die Jean Paul keineswegs auf das Mittelalter ein-
grenzt. Im Gegenteil, er scheint den Progreß der Neuzeit als immer
sichtbarere Erfüllung des grenzenlosen Zusammenhangs aller Dinge
im Zeichen eines allgemeinen Geistes zu verstehen. Daher findet er den
Begriff der romantischen Poesie, im Gegensatz zur plastischen der
Antike, besonders tauglich. Denn dieser spült über die Grenzen der
Zeitalter seit Christus hinweg, um deren Gemeinsamkeit an die Stelle
differenzierterer Abteilungen zu setzen. Die Kunst, die der monothe-
istischen Universalität des Geistes entspricht, kann nicht mehr zu ab-
gesonderten Teilansichten der Welt zurückkehren, wie sie sich in den
von der Antike ererbten klassischen Gattungen spiegeln. Darin läge
eine zwar besonnene, ökonomische Beschränkung der Gestaltungs-
kräfte, die aber mit einer dogmatisch anmutenden, unwahren Selbst-
gerechtigkeit der autonom gewordenen Kunst einherginge. Jean Paul
müßte die Überlegungen der Weimarer Klassiker zum Wesen des
Epischen oder Dramatischen für eine künstliche Gefangenschaft inner-
halb ungeschichtlicher Fassaden halten, die der Offenheit der Welt-
erfahrung seiner Zeit im Wege stünden.
Totalität ist zur selben Zeit eine auch für Hölderlin bestimmende
Kategorie, und wie für den Hymniker stellt sich auch für den Roman-
schriftsteller das Problem ihres Niederschlags im Medium der an zeit-
liches Dasein gebundenen Sprache. Hölderlin löst dieses Problem im
Wechsel der Töne. Jean Paul geht ähnlich vor, wenn wir die gegen-
einander sich verschließenden Kapitel mit Strophen einer Hymne zu
vergleichen bereit sind. Mit dem Hinweis auf die epische Episoden-
technik(§ 74) rechtfertigt Jean Paul die lockere Folge jeweils geschlos-
sener Teile des Zeitverlaufs, wobei sein Totalitätssinn freilich niemals
erlaubt, die einzelne Episode im Sinne des antiken Epos für sich gelten
zu lassen. Sie trägt ·das Zeichen ihrer Scheinhaftigkeit an sich, indem
sie als inszenierte, vormusizierte Kostbarkeit selbstironisch ihres Glan-
zes sich zuweilen zu schämen scheint.
Wie konsequent die ästhetische Auseinandersetzung mit der Klassik,
als deren Resultat die Vorschule aufzufassen ist, auf den religionsge-

29
schichtlieh bedingten Gegensatz von antiker und christlich-moderner
Welterfahrung zurückgreift, beweist die auf die apologetische Ein-
leitung folgende Umkehrung aller bisher berücksichtigten W ertever-
hältnisse zugunsten der eigenen Position (§69). Die göttlich-mensch-
liche Identität des antikenJupiter prägtJean Paul zu einer dissonanten
dualistischen Erscheinung um: er erfindet sich, um seine Distanz von
der goetheschen Harmonisierung von Wesen und Schein zu veran-
schaulichen, einen unendlichen Gott; der mit einem dürftigen Gefäß
vorlieb nimmt." Die griechische Epiphanie verkehrt sich in eine Ver-
mummung, deren Vielgesichtigkeit die trügerische Natur irdischer
Zeichensprache anzuprangern hat. Falsche politische Konstellationen,
falsche Verwandtschaftsverhältnisse, falsche Namen, falsche Masken,
falsche Freunde bilden die objektive Seite eines Illusionstheaters, dem
im Subjekt das Erträumen illusorischer Hoffnungen entspricht. Die
wahrsten Personen der Romane J ean Pa uls sind ohne faßbaren körper-
lichen oder gesellschaftsbezogenen Umriß: die jugendlichen Helden,
die hohen Frauengestalten, Leibgeber-Schappe- sie alle durchschreiten
den Raum ihrer Geschichte ohne no twendige Verankerung in der
bürgerlichen oder höfischen Sphäre, die dem Roman den Schatten
eines Körpers leiht.
Die selbstsichere Verurteilung des Weltstoffs darf sich J ean Paul nur
erlauben, weil er seiner poetischen Kraft sicher ist. Diese wird sogleich
als romantische definiert. Jean Paul meint nicht, daß es heute roman-
tische Poesie neben anderer geben kann. Es gibt nur diese, wie der
Gang der Offenbarung des Geistes lehrt (§zz). Die romantische Poesie
geht von der Untauglichkeit unmittelbarer Spiegelung einer mittleren
Existenzweise aus. Die uns aus dem Alltag bekannten Größenverhält-
nisse darf der Roman nicht nachbilden, da er sonst den Zufallscharak-
ter, das Provisorium irdischer Ordnung sanktionieren würde. Das
Programm realistischer Romane wie etwa des Kellersehen Grünen
Heinrich, der die sterblichen Gegenstände der Natur und der Gesell-
schaft auf ihre würdigste Norm hin anzuerkennen strebt, würde für
J ean Paul die größte Häresie darstellen. Denn darin läge die Möglich-
keit zum Friedensschluß mit der Endlichkeit eines individuellen Le-
bens, einer geschichtlich bedingten Gesellschaft, einer bestimmten
Epoche. Der Roman muß aber den permanenten Unfrieden mit allem
Gegebenen eines individuellen geschichtlichen Moments säen, indem
er den Wirklichkeitsstoff seinen zufälligen Begrenzungen entreißt.
Dies kann auf dreierlei Arten vor sich gehen. Jedesmal scheint der
Autor,jeanpaulisch gesprochen, ein Fernrohr zu Hilfe zu nehmen. Er

30
kann mit ihm die Gegenstände ins Riesenhafte vergrößern. Dadurch
steigert er die Menschen zu Titanen, dieWeisen zu Gottesmännern, die
Jungfrauen zu Madonnen, die geistig Mächtigen zu Dämonen und
Magiern, die Ironiker zu Universalzweiflern, die Idylliker zu Paradie-
sesbewohnern. Oder er wendet sein Glas um, so daß die politisch Mäch-
tigen zu zwerghaften Krüppeln, die Würdenträger der Kirche zu
hölzernen Kleinstatuen, die friedlichen oder boshaften Kleinbürger zu
Inventarstücken inmitten eines Gewirrs verknäulter Requisiten erstar-
ren. Der ersten perspektivischen Verschiebung entspricht die Erhaben-
heit der drei letzten Bücher des Tita11 und mancher Partien aus dem
Hesperus, der zweiten die satirischen Anfangskapitel des Siebenkäs oder,
in den Flegeljahren, Walts Erfahrungen bei der Erfüllung der vom van
der Kabelsehen Testament vorgeschriebenen einzelnen Aufgaben, die
ihn mit den Haßlauer Bürgern konfrontieren.
Eine dritte Form der Entwirklichung, die Hauptform Jean Pauls,
bildet der Humor. Mit den beiden geschilderten Einstellungen hat der
Jean Paulsche Humor den Abstand von den Gegenständen seiner Zu-
wendung gemeinsam. Doch ist hier seine Subjektivität nicht nur am
absichtlich gewählten, die Objekte verändernden Standort erkennbar,
sondern vor allem an der steten Präsenz des närrischen Kommentars,
mit dem das Ich seine witzigen Bild- und WOrtkombinationen im Akt
der Erfindung auch schon glossiert. Von der Objektseite gesehen ent-
steht eine zuvor nicht vorstellbare Entgrenzung mit Hilfe der Erschaf-
fung eines pseudosystematischen Zusammenhalts heterogenster Ele-
mente. Von der Subjektseite her entblößt der auf willkürliche Einfälle
angewiesene Geist seine Eigengesetzlichkeit, die außerhalb dei von
ihm berührten und scheinbar verbundenen Materialien sich in selbst-
bezogener narzißtischer Einsamkeit auslebt. Wenn die Vergrößerung
die Menschen zu Titanen steigert, so enthüllt die Einsamkeit des humo-
ristischen Weltzerstörers eine andere, nicht minder unbedingte Form
des Titanismus. Doch ist diesmal der im Werk ablesbare Befund nach
der Intervention des titanischen Würgegriffs als Trümmerfeld, als
Scherbenhaufen erkennbar. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber der
gegebenen Welt der Körper ist eine Weise, sie aus dem Schlaf ihrer
bewußtlosen Norm zu reißen. Ehe sie der Regie des humoristischen
Spielleiters anheimgegeben wird, lastet auf der Welt der Objekte der
Fluch ihres Selbstseins.
Damit hängt nun weiterhin zusammen, daß es Jean Paul, im Gegen-
satz zu Homer oder Goethe, nicht so sehr um eine Schilderung größe-
rer Bereiche von Welt und Welten gehen kann. Denn er müßte ihre

31
für ihn zunächst tote Objekthaftigkeit durch seinen Beleuchtungs-und
Kombinationszauber darstellbar machen, wodurch ihre vorgegebene
Ordnung gefährdet wäre. Wenn Jean Paul aber statt eines solchen
epischen Romans einen dramatischen liefert(§ 71 ), besitzt er die Mög-
lichkeit, seine Subjektivitätechohaft in verwandten Spiegelungen sei-
ner selbst zu produzieren, wobei ihm die dem Dramatiker eigene
Form der Aufsplitterung seines Geistes in sich befehdende oder aus
ihrem Gegensatz heraus sich ergänzende Pole zur Verfügung steht. Die
Subjektivität bestätigt sich in partiellen Verdeutlichungen und Steige-
rungen ihrer selbst, wobeijede der Hauptgestalten ihrerseits von einer
sie spiegelnden und fortsetzenden Sphäre «objektiverer» Welt um-
geben ist. Damit überträgt der Schöpfer Jean Paul seine Regie auf
Untertanen seiner Totalität, die jeweils mit ihrem besonderen Zauber-
stab ihr zugehöriges landschaftliches, gesellschaftliches, seelisches Feld
beherrschen(§ 74). So umgibt der Dichter Emanuel mit einer Einsie-
delei, die arkadisch-seraphische Züge trägt, den Lord Horion mit einer
monumentalen Geisterinsel, Leibgeber mit einem Meeressturm,
Liane mit einer mondbeglänzten Statuenterrasse mitten in Spring-
brunnen, Linda mit der feurigen Gewalt des nächtlichen Vesuvs, um
nur einige Situationen in Erinnerung zu rufen.
Die Charaktere, die inJean Pauls Romanen dominieren, sind immer
von einer mittleren Wilhelm Meister-Linie entfernt, sei es zur himm-
lischen, sei es zur luziferischen Richtung hin. Selbst die Hauptpersonen,
Viktor, Siebenkäs, Albano, offenbaren ihr Zentrum nur in gesteigerten
Augenblicken. Freilich bedarf diese Gruppe von Personen des un-
bedingteren, geliebten oder gefürchteten, Widerparts, um ganz in die
Jean Paul selbstverständliche Region der Absolutheit zu ragen. Der
Charakter-Roman, den er erschafft, ist auf Ausnahmemomente hin
komponiert: in ersten, liebenden, und in letzten, endgültig abschied-
nehmenden, Begegnungen, in Briefzeugnissen, wo aus der Trennung
die verzehrende Nähe dringt, in Selbstgesprächen, die die W elt über-
schauen, in philosophischen Rechenschaftsberichten über die mensch-
liche Existenz überhaupt werden die äußersten Spitzen eines Lebens
ansichtig, die Himmelfahrt der Liebe, der umfassende Einsturz im
Tode. Solange diese einzigen erfüllten Pw1kte der Zeit erst erwartet
oder nur mehr erinnert werden, ka1m das Leben des Helden auf weite
Strecken stagnieren.
Im SiebCilkäs wird vor dem Auftauchen des Plans einer Wieder-
geburt durch den Scheintod das Stilleben der Uneigentlichkeit gemalt.
Im Titan dämmert Albano in der Erwartung einer Begegnung mit
Liane im süßen, doch unfruchtbaren Zwielicht des Leidens um sich
selbst. Aber das durch weite Räume hin gespannte empfindsame Zeit-
maß Jean Pauls hat eher an ausgedehnten Romanen wie Richardsons
Clarissa und Rousseaus Nouvelle Heloi'se denn am gedrängten Werther
sein Vorbild, trotz der mit Werther gemeinsamen apriorischen Zer-
störung aller Bedingungen zu gegenseitiger Verwandlung der Liebes-
partner. Warum bei der Festgelegtheit sämtlicher Romanfiguren den-
noch eine ungewöhnliche Ausdehnung des Erzählraums nötig wird,
hängt mit Jean Pauls negativer Schöpfungsauffassung zusammen.
Raum und Zeit sind für ihn nur wahr, wenn sie transzendiert werden
können. Sobald der Dichter sich auf sie einläßt, benutzt er sie als Schau-
platz verhinderter Wahrheit. Für die empfmdsamen Partien des Ro-
mans ergibt sich daraus der Vor- oder Nachtraum entscheidender Be-
gegnungen. Für die humoristischen Strecken ist die Selbstunterhaltung
des zugleich erzählenden und die Erzählung durch eine kommentie-
rende Nebenschöpfung verdoppelnden auktorialen Ich charakteri-
stisch. Diese Nebenschöpfung schlägt sich vornehmlich in Metapher-
ketten nieder, die jeweils autonom vom Hauptstrang der Erzählung
abgezweigt und in sich selber fortgeführt werden. Oder sie fristet in
Anmerkungen ein gesondertes Dasein. Was hier in die Simultaneität
gebannt erscheint, legt sich in der Gestalt von Extrablättern und ein-
geschobenen Reden des Autors an sein Publikum sowie in unabhängi-
gen Einlagen von der Art der Blumenstücke des Siebenkäs horizontal
auseinander.
Wenn der Autor sich solchermaßen unablässig ins Wort fällt, sieht
es so aus, als ob er den einsinnig fortschreitenden Erzählzusammenhang
nicht um seiner selbst willen respektierte. In der Tat, wenn in diesen
a ufErschaffung irrauthentischer Welt hin angelegten Romanschöpfun-
gen ein Element im Hinblick auf seine Nichtigkeit erfunden wurde,
dann ist es die Fabel. <<Die Geschichte ist nur der Leib, der Charakter
des Helden die Seele darin», 4 steht unter den «Regeln und Winken für
Romanschreiben (§ 74). Jean Paul braucht die Fabel, um sie dann doch
als willkürliche Attrappe oder als dem Trivialroman benachbarte
opernhafte Schauerkonstellation zu entblößen. Welchen Sinn kann sie
für seine Form der Regie besitzen? Sie äfft durch vorenthaltene Tat-
sachen einen allegorisch zu erahnenden Geheimnisstand der Haupt-
personen nach, deren Märchenhaftigkeit durch die scheinbar reale
Fassade der Handlung hindurchblitzt und so erhalten bleibt. Sie führt
die einander fremden Hauptgestalten äußerlich zusammen, ohne daß
4 V 268, IO(

33
eine vom Autor negierte Zusammengehörigkeit ernsthaft postuliert zu
werden brauchte. Wenn im Titan zum Beispiel Schoppe von Gaspard
als Bibliothekar angestellt wird, so wird dem Leser nicht erlaubt, diese
Verbindung ernst zu nehmen. Als eine untaugliche, von vornherein
fiktive Hülle soll sie die Unverwendbarkeit Schoppes für gesellschaft-
liche Funktionen dartun. Wenn Viktor im Hesperus Arzt w ird und sei-
nen blinden Pflegevater operiert, so wird der Entschluß des Autors,
ihm diesen Beruf zuzuteilen, vielleicht nur aus einer solchen Situation
gerechtfertigt.
Nicht anders steht es um die Einkleidungen, mit denen sich das bio-
graphische Ich des Schriftstellers drapiert, um seine fiktive und gerade
darum umso ernsthaftere Gegenwart in der Geschichte zu offenbaren.
Die unsichtbare Loge, Hesperus und FlegeUahre liefern Varianten solcher
an der Peripherie der Romane eingebauter scheinbarer Selbstporträts.
Ihre Überflüssigkeit hängt damit zusammen, daß der Autor ja von
Anfang an und bis zur letzten Seite permanent anwesend ist und dem-
nach nur in einer Zwerggestalt seiner selbst den Historiographen seiner
Helden spielen kann. Das beständige Pochen auf die historische Echt-
heit seiner Dokumente verrät e contrariodie philosophisch begründete
Verachtung aller historischen Begebenheiten. Jean Paul ist einer der
letzten Romanschreiber, die die enzyklopädische Konzeption des
Polyhistors erfüllen, aber auch wieder nur, um sie ad absurdum zu
führen. Das Ausmaß an mechanischer, naturwissenschaftlicher, juristi-
scher, geistesgeschichtlicher Information, das er über seine Romane
hinstreut, zeigt ihn im Besitz des Wissens seiner Zeit, zugleich aber
vom Willen beseelt, diesen Besitz zu unverbundenem Stoff zu degra-
dieren, um ihn, gegen seine interne Ordnung, neu zu gruppieren.
Nicht daß die vom witzigen Einfall gesteuerten neuen Kombinationen
dem Stoff eine Dignität zukommen ließen, im Gegenteil: sie sollen
den Weltvorrat als anekdotischen Raritätenkasten kennzeichnen, von
dem der unabhängige Geist sich unversucht, unangefochten, jederzeit
unterscheidet.
Diese Perspektive des Autors wird am ehesten in Leibgeber und
Schoppe zur Person erhoben, natürlich zu einer Person, die im Gegen-
satz zu den Konturen einer geschlossenen Gestalt erschaffen ist. Leib-
geber-Schoppe, im Viktor des Hesperus teilweise vorweggenommen,
im Vult der FlegeUahre variiert, kommt ein besonderes Gewicht zu,
weil der in allen Hauptgestalten mitanwesende Autor hier unbeding-
ter, programmatischer seine Geistesart enthüllt. Leibgebers Adam-
Rede oder die Schilderung seiner Geburt auf stürmischer See verraten

34
die Apriorität des Jean Faulsehen Wesens. Es ist es selber nur vor jedem
Kontakt mit dem Stoff der Welt, vor der großen Säe-Aktion des
Stammvaters aller Menschen. Die verständig eingerichtete Welt soll
aus der Perspektive der nirgends begrenzbaren göttlichen Vernunft
aufgelöst und in das Chaos des jüngsten Tags überführt werden. Die
eschatologische Aussicht wird indes metaphorisch in ihre rückwärts-
liegende Entsprechung übersetzt, in das erste Chaos vor aller Zeit. Die
Wirrnis soll durch möglichst bestimmte sinnliche Einzelvorstellungen,
Fakten, Daten stoffliches Eigenleben gewinnen, das durch den unbe-
grenzten, unwillkürlichen Übertritt einer Vorstellung in die folgende
die Einbildtmgskraft in dithyrambischem Rasen zeigt. Ein solcher An-
blick führt nahe an die Grenze zum Wahnsinn heran. J ean Pa ul weist
öfters darauf hin, daß Schoppes Wahnsinn demjenigen des Humori-
sten Swift nachgebildet ist.
Leibgeber ist jener ewig potentielle Drang zur Einkörperung, der
selber niemals in einem Körper zur Ruhe kommen kann. Sein Ver-
hältnis zu den Kleinbürgern in Kuhsehrrappel ist von weltbürger-
lichem Zuschnitt. Er schreckt sie aus ihrer Zugehörigkeit zu mensch-
lichen Gewohnheiten und selbstgesetzten Ordnungen auf, doch wird
er niemals begriffen, gelingt ihm keine Verwandlung des untauglichen
Weltstoffs. Nur Siebenkäs, der bloß mit seinem Körper in dieser
engen Sphäre wohnte, erkennt sich in ihm und gibt sich dank ihm dem
Projekt des Scheintodes hin.
Der Scheintod wirft ein Licht auf die günstigste Form der Verwen-
dung einer Romanfabel im Werk Jean Pauls. Er hat metaphorische
Bedeutung, ähnlich wie Gustavs Erziehung unter der Erde: in beiden
Romanen fängt nach dem Scheintod ein als jenseitig umschriebenes,
doch weiterhin im Diesseits verbleibendes zweites Leben an, das die
Entbehrungen des ersten auslöscht. Jean Faulmöchte in seinen Roma-
nen immer wieder jene Dialektik zwischen einem abzuschüttelnden
ungelebten Leben in der diesseitigen Wohnung der Erde oder des Kör-
pers und einem in liebendem Einklang mit anderen Seelen und mit der
göttlichen Kraft lebendiger Natur verbundenen wahren Leben dar-
stellen: als Humorist ex negativo, als Allegoriker in der Metapher sei-
ner Fabel, als Traum-Dichter in der grenzenlosen Produktivität ver-
schwimmender Bildfolgen, die nach Farben, Formen, Stoffen eine
Topik westöstlicher Paradiese geben. Die Humoristen sind am wenig-
sten befähigt, als Organ solcher Träume zu dienen. Die Empfmdsamen
dagegen, Viktor, Albano, Walt, deren kosmische Empfänglichkeit die
weibliche Seite der Jean Faulsehen Schöpferkraft bezeichnet, können

35
von solchen Seligkeitsvisionen besucht werden, die das irdisch unaus-
sprechliche Ziel ihrer unbedingten Sehnsucht dennoch aussprechbar
machen.
Die Frauengestalten, die Jean Paul wegen ihrer zum Himmel ge-
wandten Sehweise zu den «hohen Menschen» (Extrablatt der Unsicht-
bareil Loge) zählt, steigen in die Romane herab wie Bewohnerinnen
jener Träume und sind daher dem Tod, der Nacht, der Musik, der
Fernliebe zugeordnet. Ihre bestimmende Ferne enthebt sie der irdischen
Sphäre und nähert sie der Unantastbarkeit der Gestirne. Liane erblicken
wir als mondhaft Hinschmelzende, Klotilde als Eisgängerirr im Um-
kreis des Abendsterns, des Hesperus, Natalie am Rand des Kirchhofs
vor der von Wolken gereinigtenätherischen Nacht. Ihre Herkunft aus
dem Traum nötigt den Dichter, ihre Gegenwart im Roman mit Re-
quisiten zu umgeben, die der Traumsphäre entliehen sind und somit
magischer Steigerung bedürfen.
Nicht nur die hohen Frauengestalten verbinden die autonome
Sphäre der Traumdichtungen mit der Ebene des Romans, auch die
Parkbeschreibungen stellen diese Brücke her: das scheinbar Abseitige
rückt an zentrale Stelle und entmachtet so zugleich den von der Hand-
lung gesteuerten Nexus des Romans auch von dieser Seite her. Lilar
zum Beispiel, der vom alten Fürsten erdichtete Park im Tita11, materiali-
siert die in den Traumdichtungen vorgestellten Paradieses- w1d Höl-
lenvisionen in analoger Zweiteilung: das Elysium und der Tartarus
werden zu Versammlungsstätten entsprechender Zeichen, z. B. tropisch
ineinandergeschlungener Bäume, magisch leuchtenden Wassers, ek-
statisch fliegender Musik oder fahler Totenköpfe, verschlossener Pfor-
ten, unterirdisch tosenden Flusses, wobei die Metaphern beim Wort
genommen und in reale Dinge übersetzt werden, während umge-
kehrt die Realität vortäuschende Ebene der «Handlung» ständig als
Ausgangspunkt metaphorisch gefaßter Reflexionen benutzt wird.
Die Veräußerlichung innerer Welt kann freilich zur entartenden
Autonomie des Scheinhaften führen, wenn kein echter Traumursprung
den Schöpfer eines Parks beseelt. Ein Beispiel dafür bildet Neupeters
Park (Flegeljahre), wo Tafeln mit empfmdungsvollen Devisen an den
Bäumen hängen. Rousseaus Grab wird zur Folie für eine von der Na-
turwahrheit entfernte, kaufmännisch-habsüchtig versteinerte Welt.
Die Flegeljahre kennen bereits neben den radikalen Aufschwüngen der
früheren Romane deren skeptische Zurücknahme oder gar Parodie,
eine Entwicklung, die im letzten Romanversuch Jean Pauls, im Kome-
ten, kulminiert.
Selbst dort nun, wo die Welt der Träume eine scheinbar unabhän-
gige Gestalt annimmt, läßt sich ihr Zusammenhang mit dem übrigen
Roman nachweisen. Walts Schlußtraum ist aus lauter auf den Roman
bezogenen mosaikhaft kombinierten Einzelteilchen komponiert, die
den außerindividuellen Gehalt des Romans, z. B. die Analogien zu
mystischen Seelenwanderungen, -begegnungen und -hochzeiten,
figurieren. Auch die Rede des toten Christus nimmt die Strukturen des
Romangeistes, des Leibgeberianismus, auf: die quecksilbrig zersplit-
terte, in Atome aufgelösteWeltder Humes und ihrer Bundesgenossen
spiegelt sich in der Selbständigkeit unmenschlicher Partikeln, einzelner
Töne, Schimmer, Schatten, Schlangen. Die leeren Augenhöhlen deu-
ten auch auf die erstarrten früheren Vulkane, auf Lord Horion, den Er-
blindeten, auf Gaspard, den Starrsüchtigen, aufRoquairol, von dessen
Bränden nur Schlacken übrigblieben. Der Titall gewährt diesen
makroskopisch geschilderten Leichen den größten Raum. Ihr Zusam-
menhang mit ihrem Zeitalter und mit der adligen Gesellschaft, in der
sie eine leitende Rolle spielen, verdeutlicht Jean Pauls Zeit- und Ge-
sellschaftskritik im Namen sowohl des humoristischen als auch des
empfindsamen Absolutheitsanspruchs. Dabei gehört es zu den Eigen-
heiten des Dichters, daß er Menschen des Herzens solche Väter oder
Scheinväter zuweist (so auch Wina den General Zablocki). Von daher
fällt ein Licht auf die gesellschaftsfeindliche Reinheit des Herzens, die
den Romanhelden, Gustav, Viktor, Siebenkäs, Albano, W alt, auch
etwas von einem tumben Charakter beigibt, der auf die Domäne der
Idylle weist. Siebenkäs ist als ganzer Roman der Idylle benachbart, die
Flegeljahre schildern mit der Welt der Eltern (in Elterlein !) ein an die
Kindheit des Dichters in Joditz und Schwarzenbach 5 eritmerndes
ländlich-dingliches Nestglück. Walt wird diesen Ton unverändert
durch den ganzen Roman tragen. Die Kindheit Viktors und Albanos
bietet jenes «Vollglück in der Beschränkung», 6 das Jean Paul der kind-
lich-ursprünglichen Form der W elt-Entzifferung, möglichst in länd-
lichem Umkreis, zudenkt. Daß diese bis zum Ende der Ro1nane mit
der Jugendstufe verknüpfte Tonart in der Welt der Väter einen skep-
tischen, ja zynischen Widerpart erhält, der die Unschuld als abzu-
grasende Blumenweide verhöhnt, gehört zur Jean Paulschen Polarität,
die auch im Doppelgängerpaar Siebenkäs-Leibgeber wie in den Zwil-
lingen W alt und V ult Gestalt annimmt.

s V gl. seine Selberlebensbeschreibung VI 1039-IIOJ.


6 V 258, 25.

37
Diese auch biographische Verankerung erleichtert das Verständnis
für die Konstanz der Personenkonstellation, die in den Hauptromanen
wiederkehrt. Gustavs Freundschaft mit Amandus ähnelt Viktors Ver-
hältnis zu Flamin, Matthieu, der böse Engel im Hesperus, nimmt Ro-
quairol vorweg. Emanuel gleicht dem Hofprediger Spener des Titan
und jenem Plato-Herder, der am Anfang der Flegeljahre Walt begeg-
net. Die Ausgebrannten, die Humoristen, die hohen Frauengestalten,
die jugendlichen Helden, die durch alle Romane fast dieselben bleiben,
sind schon erwähnt worden. Aber es genügt nicht, auf die einzelnen
Personen hinzuweisen. Es wiederholen sich die Konstellationen, deren
Teilhaber sie sind. So bleiben die Humoristen trotzihrer Freundschaft
zu den idyllisch-empfindsamen Helden von diesen unverstanden und
ziehen sich zuletzt in ihre angeborene Einsamkeit zurück (Leibgeber,
Schoppe, Vult). So verraten die leidenschaftlichen, aber ungefestigten
Freunde die Helden und lassen sie eine lange Frist einsamer Leiden er-
dulden (Amandus, Flamin, Roquairol). So bleiben die geliebten Jung-
frauen den Helden unzugänglich, trotz aller scheinbar sich anbahnen-
den Begegnungen. So müssen sich die dämonischen Väter mit leeren
Händen in einsam trotzigem Stolz aus der Geschichte entfernen, un-
verwandelt, doch selber auch keine Verwandlung bewirkend. Sämt-
liche Romane Jean Pauls enden mit einem Ausblick auf die Unerreich-
barkeit der Menschen füreinander, auf den Tod als ihre, jede bleibende
Einsicht fördernde, Aussicht. Diese Entleerung der Bühne mag Jean
Paul von Shakespeare gelernt haben.
In der Vorschule teilt] ean Paul den Charakteren einen Zauberkreis zu,
der alle Zufälligkeiten zur Einheit bindet. In der Tat eignet den Haupt-
figuren eines Romans vielfach eine magische Überzeugungskraft,
deren Wesen auch die Geistererscheinungen im Titan zu erhellen ge-
eignet ist. Der Zauber, der von den Hauptpersonen ausgehen muß,
mag manche Künstlichkeit und Gestelltheit der Handlung entschuldi-
gen. Die Ungewißheit über die Herkunft der Hauptakteure wird zwar
durch Mittel, die oft dem Kolportageroman nahestehen, bewerkstel-
ligt, wenn etwa rivalisierende Höfe sich vor einer für sie nachteiligen
Erbfolge durch täuschende Vaterschaftsmanöver schützen. Die Recht-
fertigung solcher Intrigen bezieht Jean Paul aus der Intention, den
Hauptgestalten den Nimbus rätselhaften Ursprungs zu verschaffen,
der ihren Handlungen eine überindividuelle Macht und Notwendig-
keit gewährt, als rührten sie von Geistern her. Gaspard ist daher nicht
einfach ein bezahlter Fürstendiener, der über alle menschlichen Bin-
dungen mit unmenschlicher Zielstrebigkeit hinwegschreitet, er wird
auch zum Sprachrohr eines dämonischen Schicksals, dessen Schauer
vielleicht nur die gleichzeitige Musik zu offenbaren vermöchte: er
spielt die Rolle des steinernen Gastes in Mozarts Don Giovanni, nicht
durch seine Gegenwart, nur durch den Angstraum, den er eröffnet.
Diese Attrappen, die eine jenseitige Färbung über alle Gegenstände
ihres Umkreises legen, sind meist auch die einflußreichsten Regisseure
des Romangeschehens und machen durch eben diesen Einfluß den alle-
gorischen, uneigentlichen Charakter der Handlung deutlich.
Aber auch die strengen Humoristen sind in eine Wolke des Geheim-
nisses getaucht: ihre Herkunft ist ebenso undurchsichtig wie ihre Zu-
kunft; als Reisende, als Schattenreißer, d.h. als Schilderer der Mit-
menschen, die nur deren phantomhafte Scheininkarnation beachten, ja
als trügerische Schauspieler, die eine Scheinexistenz annehmen, um den
Schein jeglicher Existenz zu enthüllen, fallen sie aus dem nirgendwo zu
fixierenden absoluten Raum herab in die Geschichte und verlassen
diese wiederum als unbeantwortete Frage. Dieser absolute Raum kann
sich ironischerweise der Fichteschen Terminologie bedienen, um
deren Unmenschlichkeit und weltzerstörende Geschlossenheit aus ver-
wandter und dennoch parodistischer Nähe und Ferne zugleich zu
relativieren.
Albano ist vielleicht der einzige Versuch Jean Pauls, einen ausge-
glichenen Menschen zu erschaffen. Nur insofern sich sein Daseinskreis
mit dem der geschilderten großen Zauberer überschneidet, bleibt er
lebendig. Sowie er auf sich selber zurückweist, fehlt ihm die Jean
Paulsche Zerrgröße, die dem Blick in einen verändernden Spiegel ent-
spricht. Albano ist hauptsächlich bedeutsam, weil er den Blick des
Dichters auf ihn reflektiert, der die verzehrende Spannung zwischen
absoluter Konzeption und inkarnierter Norm verrät.
Wenn Jean Paul seinen Roman als eine «Rennbahn der Charaktere» 7
definiert, stellt sich die Frage nach dem Wesen seiner Gestalten. Die
Antwort ist nicht ohne Bezug auf ein göttliches Prinzip universaler
Liebe zu geben, das keine dauernde Wirkungsmöglichkeit aufErden
erhält, nur eine allegorisch-repräsentative in seltenen Augenblicken,
die als Erinnerung und Hoffnung über jede Gegenwart triumphieren.
Je nach dem Verhältnis des Zentrums jeder einzelnen Person zu diesem
Liebeszentrum ist ihre Rolle im Roman festgelegt. Die jugendlichen
Helden sind immer im Besitz einer verheißungsvollen Intuition dieser
Kraft geschildert. Ihr unwissendes, unerfahrenes Wesen aber schützt
sie nicht vor dem Irrtum, in anderen Wesen, die dieser Intuition er-
7 V 252,22.

39
mangeln, im übrigen aber ihnen nahezustehen scheinen, einen Gefähr-
ten auf dem Weg zu ihrer erahnten Zukunft zu erkennen. In dieser
Verwechslung gründen die vielen zusammenbrechenden Freund-
schaften der Hauptfiguren. Daß überhaupt solche Verwechslungen
(am deutlichsten wohl im Verhältnis Albanos zu Roquairol) möglich
wurden, setzt die virtuose Verfügung über eine vorgeprägte Sprache
der Empfmdungen voraus, auf deren Vorhandensein seit der Genera-
tion Klopstocks, des Sturms und Drangs und des Göttinger Hains Jean
Paul anspielt. Roquairol wird eigens als historisches Zitat in den Roman
eingeführt! Jede Hauptgestalt und viel deutlicher noch jede Neben-
gestalt wird zu einerneuen Variante genau bezeichneter überlieferter
Typologien erweckt. Mythologische Anspielungen, Hinweise auf die
bildende Kunst, Vergleiche aus der christlichen Ikonographie, Präzi-
sionen der geistigen Atmosphäre durch die Angaben der Lieblings-
lektüren und der bevorzugten Musikstücke, Fixierungen mit Hilfe der
Spiegelung in der Konstellation der Personen einer fremden Dichtung
(wie Goethes Tasso) situieren die objektivierbare Seite einer Gestalt,
wobei der Kontrast zwischen der aus gebildeten Hinweisen gewebten
Hülle und dem Wesen einer PersonJean Pauls Ironie gegenüber den
untauglichen Versuchen historischer Inkarnation aufs neue enthüllt.
Derselbe schrille Dualismus zwischen dem traditionsbezogenen
Schein und dem zeitenenthobenen Wesen tritt inJean Pauls Verwen-
dung der Metapher zutage.
Die Mitteilungen, die zur Herstellung eines geradlinigen Erzähl-
zusammenhangs unentbehrlich sind, ließen sich mit einer kontinuier-
lichen Fläche vergleichen. Jean Paul kommt nun alles darauf an, diese
Fläche zu durchbrechen, sie zu einem Gitter, zu einem Spalier zu lich-
ten. Dies geschieht durch eine auf verschiedensten Ebenen einsetzende
Technik, die die bloßen Daten des Berichts mit einem vertrauten
Bilder- und Sentenzeninventar verflicht. Das Neue dieses Berichts
wird so in ein Netz uralter Formeln und hergebrachter Allegorien ein-
gebettet. Deren Verwendung fügt freilich zu der Erinnerung an Ver-
trautes gleichzeitig das betroffene Staunen über die erstmals gefundene
unerwartete Korrespondenz der Bildungsintarsie mit dem durch sie
illustrierten Phänomen. So arbeiten sich die Inteo-ration
;:,
des Neuen in
das Tradierte und die Entfremdung des Tradierten durch seinen geist-
reichen, abersachwidrigen Bezug zum Ursprung des Vergleichs ent-
gegen. Das Ergebnis ist eine doppelte Entwirklichung: das Erzählte
wird aufgesplittert und seiner faktischen Würde entkleidet; die geist-
reiche metaphorische Illustration verliert das Fade der abgestandenen

40
Redensart oder Redeblume und erzielt einen surrealistischen Effekt
angesichts der am Formelhaften sich entzündenden Detailschärfe und
-mag1e.
Die einzelnen Elemente des ersten Gangs von Siebenkäsens Hoch-
zeitsmahl z.B. werden mit Allusionen auf die Verhältnisse im franzö-
sischen Revolutionsparlament, auf ein in der Bibel geschildertes Un-
tier, auf das Schicksal eines alttestamentlichen Propheten verknüpft,
welche in der dargestellten doppelten Weise den unermeßlichen Zu-
sammenhang alles zeitlich Geschehenen durch die Weltgeschichte hin
und die Sinnlosigkeit eben dieser Zusammengehörigkeit der mensch-
lichen Historie deutlich werden lassen. Der von Jean Paul zitierte Welt-
stoff wird nur installiert, um zertrümmert werden zu können.
Dennoch ist der permanente Drang zur Anspielung auf vorgebildete
Strukturen, Sitten, Denkformen nicht ohne Beziehung zu einer be-
stimmten Tradition, der Jean Paul sein Verfahren indirekt verdankt:
der barocken Exegese unmittelbarer Handlung durch das befrachtete
Beiwerk gelehrter Parallelen. Einschübe, die an Gryphius' oder Lohen-
steins selbstverfaßte Kommentare gemahnen, bautJean Paul, natürlich
ironischerweise, in sein Werk ein: derart, daß der Hauptstrang oft nur
den Ausgangsptmkt für seine Nebensprößlinge abgibt. Es läßt sich
kaum feststellen, auf welchen - höchst indirekten - Schleichwegen
Jean Paul mit diesen barocken Traditionen bekannt wurde. Seine Hin-
weise auf barocke Dichter sind außergewöhnlich spärlich. Er hat
zweifellos in der Bibliothek des Pfarrers Vogel in Rehau eine Fülle
nach barocken Mustern gearbeiteter Erbauungsliteratur aufgenom-
men, die seine entscheidenden schriftstellerischen Verfahrensweisen
sehr früh bestimmt hat. Hierfür sind die satirischen Jugendschriften
besonders aufschlußreich.
Barock ist die Jean Faulsehe Metapherntechnik, wie schon ange-
deutet wurde, freilich vor allem in der Illustration der Weltabsage
durch einen Überfluß an prunkendem und glitzerndem Weltvorrat.
Die barocke Dialektik von unsichtbarem Wesen und überkonkretem
Schein schlägt sich im Medium der Allegorie nieder, deren Formel-
haftigkeit in Heraldik erstarren oder, den überlieferten Topoi ent-
wachsend, zu neuer Unmittelbarkeit erwachen kann. Jean Paul kennt
beide Verfahrensweisen, die abstrahierende, bei der ein formalisierter
Gegensatz (z. B. «Trauerroß >> und «Freudenpferd» bei Fürstenbestattun-
gen) sich einer historisch beglaubigten Realie nur bedient, um sie als be-
liebig wiederholbare Chiffre benutzen zu können, und die konkreti-
sierende, die dem Sachverhalt, den ein terminus technicus festhält, ein

4I
erweitertes räumlich-zeitliches Eigenleben wiederschenkt (zum Bei-
spiel dem <<Silberblick», einem Begriff aus der Welt des Bergwerks).
Die Metaphern stammen nicht selten aus dem Bereich des Theaters
und lassen so den Zusammenhang zwischen ihrem Inhalt und ihrer-
theatralischen- Struktur erkennen. Das fremde Bild wird als masken-
hafter Überzug über den zu erläuternden Gegenstand gestülpt. Je nach
dem Charakter der Romanpartie nehmen die Metaphern einen ratio-
nalen, gelehrten, satirischen oder einen assoziativen, imaginativen,
empfmdsamen Charakter an. Die erste Gruppe fmdet sich mit Vor-
liebe in den karikierenden Hof- und Kleinstadtschilderungen, die
zweite bei den Begegnungen «hoher Menschen>>. Im ersten Fall ist die
äußerliche Herstellung der Metapher durchsichtig, im zweiten trägt
diese zur Sprache des Unaussprechlichen bei. Die erste Gestalt kombi-
niert gern, wie im Barock, Natur und Kunst, die zweite verwandelt
die allenfalls herangezogenen künstlichen Elemente in eine magisch
gesteigerte, übernatürliche Natur. Nur die erste Gruppe entspricht im
strengen Sinn barocker Bildtechnik Die zweite weist bereits auf den
romantischen Bildgebrauch voraus; ihre Vorläufer hat sie z. B. in alt-
testamentlicher, vielleicht auch anderer orientalischer Dichtung (die
Herder Jean Paul vermittelt hat), in mystischen Texten des Mittelalters
und ihren Nachfolgern, bei Shakespeare und in Klopstacks M essias.
Es ist nicht abwegig, die Funktion und Gestalt der Metapher in J ean
Pauls Romanen im Zusammenhang mit der Totalität dieser Romane
zu untersuchen, da der Aufbau im Kleinen seine genaue Entsprechung
im Grundriß besitzt. Manche Episode erscheint als das aus dem Be-
gleittext in die Dimension des Haupttextes emporgewachsene Ergeb-
nis einer Maßstabverschiebung. So bringt der Geist des vogelgleich in
den unendlichen Raum entfliegenden jugendlichen Albano die Trans-
position dieses Gleichnisses in die Romanwirklichkeit zuwege: Albano
läßt sich auf die dem Vogelschießen dienende Stange binden und lebt
so in Wahrheit den Gehalt der M etapher dar. Ähnlich wird Siebenkäs
zum Schützenkönig erkoren - inmitten einer festlichen Maskerade,
wo alle erträumten Werte für einige Stunden Wirklichkeit werden, die
Wirklichkeit dagegen ihre Macht einbüßt: Spiegelung der Ohnmacht
der realen Wünsche angesichts der Macht der bis zur Irrealität kari-
kierten kleinbürgerlichen Sphäre.
Die allegorische Struktur solcher Szenen wird freilich nicht mehr,
wie in der Literatur des 16. und 17.]ahrhunderts, in sentenziöser Form
aus der Erzählung herausgezogen. Sie verschmilzt mit der scheinhaften
Realität des Romanfortgangs, olmedaß dessen Uneigentlichkeit direkt

42
faßbar würde. Daß hier eine barocke Verkehrung von Sinn und Ex-
~mplifizierung stattfindet, wird nicht mehr eigens hervorgehoben, es
wird ab lesbar an der Produktivität der Erläuterungsteile gegenüber der
Dürftigkeit der «realen Handlung ». Es sieht so aus, als ob die barocke
Wertetafel selbstverständlich zur Verfügung stünde, ja, als ob alle in
der barocken Poesie verwendeten ü herlieferungsschweren Vergleiche
und Metaphern in virtuoser undkomplexer Steigerung zu potenzierten
Geflechten intensiviert werden könnten, derart scheint ihre Bedeutung
von vornherein zugänglich zu sein. So wirkt der Jean Faulsehe Bilder-
witz in der Gestalt einer nachträglich kompilierenden Montage, eines
sich seiner Künstlichkeit bewußten Mosaiks. Die Tradition wird zi-
tiert und dabei zerstäubt, Aufnahme und Zerstörung liegen nahe bei-
einander.
Ähnlich steht es mit Jean Pauls Verhältnis zur Didaktik der Auf-
klärung. Vornehmlich in den Extrablättern wird ein Sachbereich in
seiner enzyklopädischen Darbietung erschöpft, im Doppelsinn der
peinlichen Fülle und ihrer Aufhebung. Schließlich wird auch das Erbe
des empfindsamen Romans (etwa von Millers Siegwart) so potenziert,
daß die Nachfolge zur Verketzerung und Entwirklichung führt. Ganz
anders stellt sichJean Paul zur klassischen Linie der Romanproduktion
seiner Zeit, die mit Wielands Agathon anhebt und sich in Goethes Ro-
manen fortsetzt. Die Vereinfachung der Mehrstimmigkeit zugunsten
symbolisch ernst genommener Humanität, die in ihrem eigenen Na-
men, nicht mehr in dem eines apriorisch gedeuteten theatrum mundi
auftritt, konnte Jean Paul seinen Romanen nicht zugute kommen
lassen. Er ermißt an ihr seine Fremdheit, welche Auseinandersetzung
der Vorschule den erstaunlich objektiven Überblickscharakter verleiht.
Seine eigene Intention liegt in der Vermischung der drei Typen des
hohen, niedrigen und mittleren Romans, 8 und zwar nicht nur dort,
wo er die mittlere Linie anstrebt, wie in den Flegeljahren, sondern auch
in den meisten anderen Romanen, etwa im Hesperus, wo der hohe Ton
mit dem humoristischen, dem satirischen, dem idyllischen alterniert,
so daß wir die drei Schulen höchstens nach Kapiteln unterscheiden
können. Wo Jean Paul den Wechsel der Töne sich versagen muß, wie
im Titall, der nicht für das Volk auf dem Markt geschrieben sei, ist er
nicht mehr ganz er selber. Der Tita11 reflektiert diese Absage an eine
zentrale Seite seiner selbst im Motiv des totenhafterstarrenden Titanis-
mus: in Gaspards Schauerlichkeit, in Roquairols Selbstzerstörung, in
Schoppes Wahnsinn, in Lianes verklärtem Entschwinden.
s Vgl. dazu Eva D.Becker: Der deutsche Roman um 1780, Stuttgart 1964.

43
Die Geschichte des deutschen Romans zeigt, wie Jean Paul die
hybride Kombination sich bislang entgegensetzender Traditionen
wagt, um hernach von seinen Nachfolgern wieder nur aufjeweils eine
der Überlieferungen festgelegt zu werden. Ein ganz anderes Dichter-
geschlecht wird den Titan verehren als das vom Humor des Siebenkäs
angesprochene. Mörike, Platen, Meyer, George werden den hohen
Stil Jean Pauls würdigen, Eichendodf die Unendlichkeit seiner Per-
spektive, Keller die Schlichtheit des im Überfluß der Weltevokation
zum <<Leserherzen» sich wendenden kauzigen Bruders, Stifter die
Kühnheit seiner Landschaft der Ferne. Büchner greift mehrfach Jean
Paulsche Bildfunde wieder auf.
Doch die Wiederentdeckung des Dichters in der Zeit des Jugend-
stils zeugt von einer notwendigeren Korrespondenz, indem jetzt der in
magischen Sinneseindrücken von märchenhafter Fremdheit, Intensität
und Fülle schwelgende Regisseur künstlicher Paradiese am stärksten
und gerrauesten anspricht. Die Autonomie der mit durchsichtiger
Künstlichkeit gearbeiteten Kompositionen, deren Töne, Farben,
Düfte in oft betäubender Steigerung simultan auf den Leser einwirken,
ließ ihn um die Jahrhundertwende seinem Entdecker George als einen
<<vater der ganzen heutigen eindruckskunst»9 erscheinen.
Nicht mehr ihre Verbindung mit dem empfmdsamen Gehalt der
Romane ist es, die heutigen Autoren die TraumdichtungenJean Pauls
nahebringt, sondern die eigentümliche Struktur ihrer Bilder, die die
Ebene der Handlung und die Ebene des metaphorischen Begleittextes
vertauschen kann. Darum hat die Komposition des Siebellkäs Günter
Grass nach seiner eigenen Aussage 10 eine willkommene Bestätigung
eigener Intention geliefert, als er den Helden seiner Bleclztrommel aus
der allegorischen Dimension in die Realität einer Romanhandlung
übersetzt hat- ähnlich wie Jean Paul den zunächst nur von seiner alle-
gorischen Bedeutung her verstehbaren Einfall des Scheintodes zur
Mitte des realen Geschehens erhob.
9
Tage 1111d T aten, Band 17 der Gesamt-Ausgabe, Berlin 1933, S.6o.
10
Im Gespräch mit dem Verfasser.

44
LEIBGEBER UND DIE METAPHER
DER HÜLLE

Jean Pauls Roman Siebenkäserlangt seine Form aus der Spannung zwi-
schen Wesen und Hülle. Der Namenstausch der Freunde, der Schein-
tod des Siebenkäs, der Gegensatz der Frauengestalten Lenette und
Natalie, der Schauplätze Kuhsehrrappel und Bayreuth bilden lauter
paradoxe Verhältnisse, die keine Beziehung zwischen irdischer Er-
scheinung und unirdischer Idee zulassen, es sei denn diejenige wechsel-
seitiger Verstoßung. Diese Struktur läßt sich auf engem Raum modell-
haft nachweisen, amleichtesten dort, wo Leibgeber, der totale Humo-
rist, einen «Bezug>> zu Gegenständen der konkreten Welt herstellt.
Zu Leibgebers Totalperspektive stimmen seine an alle oder an nie-
mand gerichteten Vorlesungen, deren Inhalt um ihre eigene Existenz
kreist, wobei der Stoff aus dem Weltinventar sich allseitig und beliebig
zur Verfügung stellt. Ausschweifend in Räume und Zeiten illustriert
dieser zur absoluten Idee gesteigerte Professor sein Dasein durch die
These des vertausendfachten simultanen Reisensund Dozierens. Die
Unbedingtheit seines Prinzips wendet er auf die bedingtesteWeise an,
um den sprengenden Kontrast zwischen Idee und endlicher Realität
vor Augen zu führen.
Unter solchen Auspizien ist das konkrete Beispiel zu würdigen, wo-
mit er seine Darlegungen beschließt:
Auf einmal sprang er auf und sagte: «Wollte Gott, ich ginge einmal nach
BrückenaLl. * Dort auf Badezubern wäre mein Lehrstuhl und Musensitz. Die
Kauffrau, die Rätin, die Landedelfrau oder deren Tochter läge als Schaltier im
zugemachten Bassin und Reliquienkas ten und steckte, wie aus ihrer andem
Kleidung, nichts heraus als den Kopf, den ich zu bilden hätte- welche Predig-
ten wollt' ich als Antonius von Padua erobernd der weichen Schleie oder
Sirene halten, wiewohl sie mehr eine Festung mit einem W assergraben ist! Ich
säße auf der hölzernen Hulfter ihrer feurigen, wie Phosphor unter Wasser ge-
haltenen Reize und dozierte! - Was wär' aber das gegen den Nutzen, den ich
stiften könnte, wenn ich mich selber in ein solches Besteck m1d Futteral ein-
schöbe und drinnen im Wasser wie eine Wasserorgel ginge und als Flußgott
meine wenigen Amtgaben an der Schulbank auf meiner Wanne versuchte;
wenn ich zwar die Lehr-Gestus unter dem Wasser machte, weil nur der Kopf
mit dem Magisterhut aus der Scheide, wie ein Degenknopf, herauslangte,
indessen aber doch schöne Lehren, üppige unter Wasser stehende Reis-Ähren
und Wasserpflanzen, einen philosophischen W asserbau und dergleichen aus
dem Zuber heraustriebe Lmd alle Damen, die ich jetzt ordentlich mein

45
Quäker- und Diogenes-Faß umringen sehe, mit dem herrlichsten Unterricht
besprenget entließe? - Beim Himmel! ich sollte nach Brückenau eilen, als
Badgast weniger denn als Privatdozent.»'
* Seite 163 des Taschenbuchs für Brunnen- und Badegäste 1794 steht die Nachricht:
daß vor Damen, während sie in den Badewannen eingeriegelt liegen, auf den Deckeln
der letztenjunge Herren sitzen, um sie unter dem Wasser zu unterhalten. Dagegen kann
freilich die Vemunft nichts haben- da das Wannenholz so dicht ist wie Seide, und da in
jedem Falle jede allemal in einer Hülle stecken muß, in der sie ohne Hülle ist- aber wohl
das Gefühl oder die Phantasie, und zwar aus demselben Grunde, warum ein Deckbette,
% Elle dick, keine so anständige und dichte Kleidung ist als ein Florhabit für einen Ball.
Sobald nicht die Unschuld der Phantasie geschonet wird: so ist keine andere weiter zu
schonen; die Sinnen können weder unschuldig noch schuldig sein.

Leibgeber, der es verschmäht, sich an einem endlichen Ort zu einer


endlichen Zeit niederzulassen, existiert entweder im absoluten Raum
seiner «weltbürgerlichen>> Ausblicke oder, als deren Zerstörer, inner-
halb einer frei arrangierten kleinbürgerlichen Kulisse. Übergänge aus
der kosmischen in die begrenzte körperliche Sphäre sind nur durch den
Sprung möglich, der die Diskontinuität Leibgeberscher Zeit deutlich
macht. Die Schilderung der Dozententätigkeit in Brückenau, bei der
es gleichgültig ist, daß sie nur als Erfindung, nicht als Erfahrung wieder-
gegeben wird, weil für Jean Paul dieser Gegensatz keine Wirklichkeit
besitzt, dient ausschließlich der Ausgestaltung einer Metaphern-
kombination. Die Untermauerung durch Realien hat sich mit einer
Anmerkung zu bescheiden. Die Situation der in verriegelten Bade-
wannen liegenden Damen kommtJean Pauls Methode, die Welt der
Körper beim Buchstaben zu nehmen, entgegen. Die Nackten sind der
Hüllen nicht entledigt, sondern in der undurchdringlichsten Hülle ge-
fangen, in ihrem Körper. Diese Einsicht setzt sich in die Metapher des
verschlossenen Zubers um. Daß der Zuber die Blöße zu schützen hat,
gibt Jean Paul nur vor, wie der ironische Unterton der gravitätisch be-
haupteten Sentenz lehrt: <<und da in jedem Fallejede allemal in einer
Hülle stecken muß, in der sie ohne Hülle ist>>. Die jungen Herren, die
auf den Deckeln sitzend die Damen unterhalten, geben die Real-
Staffage für erotische Erörterungen her, aus denen die Ohnmacht
materieller Verschanzungen vor der zeugenden Gewalt der Phantasie
im Verhältnis zur Dichte der Verhüllung in komischer Konkretheit
hervortritt. Dieses konventionelle Widerspiel von entzogenem und
dadurch erst recht anziehendem Liebesobjekt benutzt Jean Paul als
Attrappe für die Leserilmen galanter Romane, die auf die Fährte einer
ihnen geläufigen stereotypen Situation gelockt werden. Wie diese um-
gebogen wird, gilt es nun zu erweisen.
1
II 453, 21ff.- Zitiert wird nach der Ausgabe in 6 Bänden, München 1959-1963.

46
Leibgeber setzt sich als Lehrstuhlinhaber auf den Badezuber. Sein
Unterricht erbt scheinbar die in der Anmerkung geschilderte erotische
Situation. Er wendet sich an die wie Schaltiere in ihrem jeweiligen
Stand- Kauffrau, Rätin, Landedelfrau - gefangenen Damen, deren
Kopf einsam aus dem Behälter ragt, abgetrennt vom Ort der Begier-
den, die umso schrankenloser brennen, doch nur dem Tode zu, den die
Reliquien vorwegnehmen. Jean Pauls Blasphemie richtet sich zugleich
gegen die Damen, deren geistliches Leben ertötet ist, wie gegen die
Kirche, deren leichenhafter Zustand dem ihrigen nicht nachsteht.
Leibgebers Gedanken können aber ihrerseits als Erzeugnisse eines von
seinem gefangenen Körper isolierten Hauptes aufgefaßt werden. Diese
Umkehrung wird denn auch in der Folge dargestellt. Die Sirenen, die
ihn erobern wollen, will er seinerseits erobern. Zwischen diesen For-
men der Verführung besteht ebenfalls eine vonJean Paul als komisch
ausgelegte Verwechslung. Beide Gestalten erscheinen als gespaltene,
gespannte Wesen, doch in einer ganz verschiedenen Dimension. Leib-
gebers Predigten entspringen dem Selbstbezug der absolut gesetzten
metaphorisierenden Denkfigur und zugleich der- durch die Varia-
tionsfülle so vieler in den verschiedensten Bereichen der Welt angesie-
delter Metaphern- aus ihren bekannten Schranken austretenden Wirk-
lichkeit, die überbordend in ein zweites Chaos sich auflöst. Die Sirenen
dagegen sind nur vordergründige Gefangene ihrer menschlich-tieri-
schen Zwienatur, wie auch die Metapher der Schleie es verdeutlicht.
Ihre unter Wasser gehaltenen Reize toben wie Phosphor im feindlichen
Element und werden mit dem Pulver in einer Pistole verglichen, dank
dem Bindeglied der Hulfter (Pistolenfutteral), auf der Leibgeber sitzt.
Dieses Rasen des Elements spiegelt indes nichts als die in den Schranken
galanter Konventionen verengte Entsprechung zum Rasen des Leib-
gebersehen Humors, der, <<ein rasender Sokrates», die Seele mit einem
«Dithyrambus .. entflammen>> soll. 2 Dieser metaphysische Standort
Leibgebers fordert nun die Umkehrung der Situation: Leibgeber wird
selber zum Bewohner des Elements, aus dem sich seine dem Kopf mit
dem Magisterhut entsteigende Philosophie nährt. Der Hut, der wie ein
Degenknopf aus der Scheide ragt, verendlicht das unendliche Gehirn
per contrarium, um zudem die «weltbürgerliche» Erotik seines Unter-
baus umso elementarer zu bezeichnen. Das Wasser, aus dem Leib-
gebers Pflanzen aufsteigen, ist dasjenige des Schöpfungsbeginns, und
so wird er, der auf dem Meer Geborene, hier erneut, wie in dem be-
rühmten Brief an Siebenkäs, zum Adam aller künftigen Erdenbewoh-
2 Vorschule der Asthetik, V 139f.

47
ner. Das schöpferische Prinzip, das als unendliche Veschleuderung (so
legt Jean Paul im Titan Leibgebers Namen Schoppe aus: «Sciupio») in
keinem Leib jemals zur Beschwichtigung gelangt, besprengt, wie eine
revolutionär gegen die Unsterblichkeit sich auflehnende Taufe, die
Damen, die das Faß jenes zynischen Philosophen der weisen Welt-
verachtung umstehen. (Er heißt im Titan Schoppe, weil er «ein Ab-
kömmling des sogenannten grammatikalischen Hundes, des .. Huma-
nisten Scioppi us »3 ist, und dessen Hundewesen (Zynismus!) vererbt
sich als seine grundlegende Eigenschaft auf ihn.) Diespermatische Aus-
lösung unendlichen Gestaltungsdrangs (wie der Name <<Leibgeber »ihn
auf die kürzeste Formel bringt) springt auch aus dem phallischen Degen-
knopf, während die Scheide, in der der Körper des Lehrers steckt, auf
eine vorgeschlechtliche Einigkeit deutet. Der Schoß des Ur- und
Fruchtwassers umhüllt ihn als noch immer nicht in die Welt hinein
Geborenen und drückt seine vormenschliche Wesenheit im Windmaß
der Wasserorgel und in der ungestalten Anarchie des Flußgatts aus.
Die zeugenden Lehr-Gestus aber münden nicht in die empfangenden
Seelen, sondern versprühen im einsamen Element. Darum sind seine
Saaten ohne Nährwert, ohne ergiebige Frucht. Jean Paul entlarvt hier
seine grundlose, fruchtlose, folgenlose Verschleuderung schöpferi-
schen Geistes als vergebliche Initiation seiner Leser in eine unverbind-
liche Kirche. («Wollte Gott», «beim Himmel» sind Blasphemien des
ohnmächtig mit der für ihn ungültig gewordenen Sprache der Ver-
bindlichkeit fechtenden Gründers einer neuen, unsichtbaren Kirche.)
Dieser neue Antonius übt buBpredigend ein säkularisiertes Schutzrecht
für seine «Bräute».
Im Umkreis des Eros nimmt Leibgebers Satire eine spielerische BuB-
tracht an; im Umkreis des Todes aber schlägt sich die Bußpredigt
dieses neucn Heiligen unmittelbar in der Wahl des metaphernauslö-
senden Requisits nieder. Zu den Vorboten des Scheintods, die wieder
nur im Potentialis, in der Erörterung der Sterbestrategie, gegenwärtig
sind, gehört auch der folgende Gegenstand aus Leibgebers Besitz:
«Sieh hier habe ich mir eine alte Haus-Postille um halbes Sündengeld erhan-
delt, weil nirgends so eindringliche Leichenpredigten gehalten als in diesem
Werke, und zwar in dessen hölzernem Deckel, worin ein lebendiger Prediger
wie in einer Kanzel eingepfarrt sitzt.» - Es saß nämlich im Deckel der Käfer,
den man die Totenuhr, auch den Holzbohrer, Trotzkopf nennt, weil er an-
gerührt den Schein eines Scheintoten unter allen Martern fortsetzt, und weil
seine Schläge, die nur ein Türklopfen für das geliebte Weibchen sind, für An-
3 III 29, 26 f.
klopfen des wahren Todes genommen werden; daher sonst ein Hausgerät,
worin er schlug, als bedeutendes Kauf- und Erbstück gegolten. - Leibgeber
erzählte ihm weiter: da ihm nichts in der Welt so verhaßt sei als ein Mensch,
der aus Todes-Furcht Gott und den T eufel durch schnelle Bekehrung zu über-
listen suche: so stecke er gern bei solchen höllenscheuen Sündern die Postille
auf einige Tage unver merkt unter die Möbeln, um sie durch die Leichen-
predigten recht zu quälen, die der Käfer voraushalte, ob er gleich dabei seiner-
seits, so gut wie mancher Pfarrer, gerade nur an Weltliches denkt. «Könnt' ich
aber nicht füglieh die Postille mit dem Leichenprediger so rmter deine Bücher
schieben, daß deine Frau ihn härte rmd dann an das Sterben dächte, nämlich
an deines, und sich immer mehr daran gewöhnte? »4

Wenn die verriegelten Badewannen durch ihren Kontrast zur Nackt-


heit der Badenden deren Körperhülle umso augenfälliger zum. Ge-
fängnis umprägten, so verwandelt der Buchdeckel, dadurch daß er die
erbauliche Botschaft spendet, deren Gewand, das im Druckbuchstaben
überlieferte Wort, zur nichtigen Larve, die so wenig mit dem Geist zu
schaffen hat wie der Körper der entblößten Damen. Die groteske Ver-
absolutierung der körperlichen Fesseln heiligen Sinns höhlt das Myste-
rium der Inkarnation und seine historischen, institutionellen Folgen
aus. Der Vergleich mit dem in seiner Kanzel eingeschränkten Prediger
bestätigt die in der Individuation komisch hervortretende Diskrepanz
zwischen der Idee und ihrem irdischen Repräsentanten. Leibgeber-
Schappe geißeln unentwegt die Ungereimtheit solcher Pacht der
Wahrheit durch «positive» Diener des Buchstabens, denen die humo-
ristische Weltzerstörung der wahrhaft Einsichtigen ein unbegreifliches
Ärgernis bleibt.
Der aus der Hülle statt aus dem Wort der Wahrheit spricht, nimmt
selber an solcher Verkehrung teil: er lebt nur als Totenuhr, das Holz
durchbohrend, das ihn nährt, gleichzeitig aber von ihm. zerstört wird.
Sein Leben ist der Tod seiner Behausung. Tritt er nun mit Lebenden in
Kontakt, spielt er den Toten, um sich ihrem Zugriff zu entziehen; in
solcher Situation kann er nicht mehr als klopfende Totenuhr dienen.
Dazu ist nötig, daß er die ihm angemessenen Lebenszeichen gibt. Seine
Funktion, Sprache des Todes zu sein, setzt also voraus, daß er sich als
Lebender betätigen darf. So erzeugt das Leben sich den Holzkäfer des
Todes, der sein Memento mori nurkraftseines Lebens zu senden ver-
mag, aus einem Haus, das die Botschaft des wahren Lebens beherber-
gen sollte, in Wahrheit aber unmittelbar, beim Buchstaben genommen,
konkret sich zu dieser Botschaft versteht, deren niemals in Körpern an-

49
schaubare Wahrheit sich so, per contrarium, den Boden ihrer Mitteil-
barkeit entzieht.
Doch dies Klopfen ist selber für den Mahner nichts als die Stillung
seiner lebendigsten Bedürfnisse, das Eintrittszeichen zur Kammer der
Gefährtin, mit der er künftiges Leben erzeugen wird. So entspringt die
Todesmahnung an die Menschen dem Trieb, das Leben zu erneuern,
ein Leben freilich, das von vornherein unter dem Zeichen des Todes
steht. Die in irdischen Institutionen geistlichen Anspruchs verlautenden
Predigten der Bußewerden so als heuchlerische angeprangert oder, viel
fundamentaler, als untaugliche Verdinglichungen des Geistes, der sich
ins Unbedingte entzieht, wenn er nicht durch ihre Scheinhaftigkeit per
contrarium siegreich, ein Phönix, aus Jean Pauls makabrem Stilleben
aufersteht.
Wieder zeigt sich die Ohnmacht des humoristischen Dichters, die
Idee im Gewand der Körper verbindlich zu überliefern, in einer absur-
den Konkretisierung der Körperwelt, die sich niemals als symbolische
Repräsentation, sondern als unmittelbare Illustration eines gewandlos
bleibenden Gedankens zu geben hat. Diese Illustration muß sich im-
merfort als Schein erzeugen, der sich sogleich aufgibt, um die verbind-
liche Idee, auf die er sich negativ bezieht, hervortreten zu lassen, doch
jedesmal nur als neuen, im Augenblick seiner Entstehung sich schon
wieder aushöhlenden Schein. So reißt die Kette der produktiven As-
soziationen zwar nie ab, aber sie zeigt an ihren Brandspuren nur die
Zündkraft der unlöschbaren Sehnsucht überschüssiger Schöpferkraft
nach dem unbekannten innersten Zentrum. Das Meer, in dem die sinn-
lichen Dinge so, wie der erste und der letzte Wunsch sie begehren, er-
tränkt werden, und die sich um ihre Identität abspulende Selbstbefra-
gung der absoluten Idee hat der die Brandstätte der Poesie abräumende
Interpret hinterher negativ zu erraten. Dies sollte ein Versuch solcher
Entzifferung sein.

so
ANTIKES IM «TITAN>>

In diesem nordischen Winter wurde mein Geist in Ionien und Attika erquickt;
ich meine ich las mit einer Wonne, wovon Ihnen H erder erzählen könnte, die
Odyssee, die Ilias, den Soplwkles, etwas vom Euripides und Aeschylus. Die
unterstrichneu ergriffen mich fast bei den N erven; nach den letzten Gesän-
gen der Ilias und dem Ödip zu Kolonos kann man nichts mehr lesen als Shake-
speare oder Goethe. Sie wirken schön auf meinen T itan, aber nicht als Väter
sondern als Lehrer, nicht als plastische Formen dieser Pflanze sondern als
reifende Sonnen. I

Diese Worte, aus einem Brief, denJean Paul am 8.März 1799 aus Wei-
mar an seinen jungen Freund Thieriot richtet, geben der erweckenden
Wirkung griechischer Dichttrog auf den damals entstehenden Titan
Ausdruck, ohne doch die Grenzen, die der Geltung der Vorbilder ge-
setzt sind, zu verschweigen. Nicht der feste Umriß der griechischen
Dichtungen soll nachgebildet werden, entsprechend der «Nach-
ahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst»,
wie sie Wirrekelmann in der Mitte des Jahrhunderts gefordert hatte,
vielmehr möge die neue Pflanze, von griechischer Schönheit bestrahlt,
ihrer eigenen Bestimmung entgegenwachsen. Denn nur für die Plastik
willJean Paul wahrhaben, daß die Griechen die Vollendung der Gat-
tung für alle Zeiten erreicht haben. «Eine Apollos Gestalt ist für die
Erde vollendet; aber kein Gedicht kann es sein ... : unsere Augen blei-
ben für die Statuen, aber unsere Geister wachsen höhern Gedichten
entgegen.» z Auch die Erwähnung des Oedi pus a ufKolonos von Sopho-
kles deutet über die Vorbildlichkeit griechischer Kunst hinweg auf die
neuere Zeit, führt Jean Paul doch in der Vorschule der Ästhetik« Ödips
Dahinverschwinden», 3 seine rätselhafte Entrückung, als Beispiel für
romantische Streiflichter durch die griechische Poesie an. Und wenn
Shakespeare und Goethe als die einzigen Neueren solchem Rang ge-
wachsen sind, so klingt darin umgekehrt eine Huldigung mit für das
Antike, das bei ihnen in «romantischer» Verwandlung weiterwirkt.
Shakespeare heißt «der echte Zauberer und Meister des romantischen

I Sämtliche Werke, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin,

3.Abteilung, 3.Band, S.163f.


2 An Karoline Herder, 3r.]uli 1797. A. a.O. z.Band, S.35 8.

J Wenn immer möglich wird nach der Ausgabe in 6 Bänden, München 1959-1963,
zitiert: V 98, 9.

51
Geisterreichs», 4 das seit dem Christentum die Nachfolge des antiken
Körperreichs angetreten hat, aber er ist doch« auch ein König mancher
griechischen Inseln». 4 Er wird im Titall mit der Peterskirche, Sopho-
kles mit dem Pantheon verglichen. Die Petcrskirche aber enthält auch
das Pantheon, Mi ehelangelos Kuppel. Goethe hat, in J ean Pauls Urteil,
mit seinem Meister, mit dem Märchen und dem Faust überdauernde
Beispiele romantischer Dichtung geschaffen, aber zugleich gilt er Jean
Paul mit Herder als« Wiederhersteller oder Wirrekelmann des sillgenden
Griechentums». 5
Die Spannung, die sich dergestalt hinter den Namen des Briefes ver-
birgt, überträgt sich auf den in solcher Konstellation verfaßten Titan,
wenn in ihm antike Bilder in romantische Gegenwart beschworen
werden.
Der Held des Romans, der Jüngling Albano, wird bei seinem ersten
Auftreten vor der Überfahrt nach der Borromeischen Isola Bella als
«zürnender Musengott» 6 eingeführt, den manche sich gern in Marmor
gewünscht hätten, unter Göttern <<im farnesischen Palast oder im kle-
mentinischen Museum oder in der Villa Albani>>, 6 den drei bedeuten-
den Antikensammlungen des damaligen Rom. Eine Zeitlang erwog
der Dichter für ihn den Namen Romanus. Und vielleicht sollte der
endgültige Name Albano an die durch Wirrekelmanns Gönner, den
Kardinal Alessandro Albani, in dessen Villa angelegte Antikensamm-
lung erinnern.
Das erste Erscheinen einer Hauptgestalt soll diese schon <<auf der
Schwelle des Eintritts» 7 lebendig machen; wie Minerva soll sie belebt
und bewaffnet aus des Dichters Kopf springen. Wir wollen<< den Hel-
den sofort mehre Fuß hoch sehen». 8 So nimmt der Vergleich mit einer
antiken Göttergestalt das Wesen des Helden und die Perspektive, unter
der er im Roman stehen wird, vorweg. Gleich zu Beginn wird auch
sein Erzieher Dian vorgestellt, «ein Grieche von Geburt und ein Künst-
ler>>, 9 dem vor der Reise Albanos zur Isola Bella, seiner Kindheitsstätte,
die Einführung des Jünglings in den Geist der Antike obliegt. Von den
Zerrbildern höfischer Kunstfreunde, die an formalen oder stofflichen
Reizen der Kunst ihr Genügen finden, ohne den Gott in ihr zu ahnen,
ja, die ihr Gesicht in die unechte Maske edler antiker Stilisierung legen,
hebt sich der Grieche als freier Mensch ab, heiter und maßvoll, mit dem
Auftrag, dem unausgeglichenen Albano die Ehrfurcht vor den Gestal-
ten der griechischen Dichtung einzuBößen. Albano kommt nicht un-
4 V 98, nff. s V 452, r3f. 6 Ili 13, r6ff. 1 V 224, 25f. s V 267, uf.
9 III 14, 8f.

52
vorbereitet in seine Lehre. Sein erster Magister W ehmeier wußte den
Knaben zu begeistern, indem er, «wie in einem Abgußsaale », die «mo-
ralischen Antiken>> 10 aus dem Plutarch um. ihn versammelte. Die hero-
ische Vergangenheit geht als ein befruchtendes Gewitter an ihm nieder,
und <<unter dem Marktgetöse des römischen und des athenischen Fo-
rums>> hört er nicht, «daß die rüstige Magisterirr neben ihnen koche,
bette, keife und scheuere ».11 Der kleinbürgerliche Alltag, mit pein-
licher Schärfe in der ersten Hälfte des Siebenkäs geschildert, wird in
diesem Roman Jean Pauls unterdrückt, wie denn Albano in der Nähe
des wirklichen Forums glaubt, hier sei kein Scherz erlaubt, «jedes Wort
müsse groß sein in dieser Stadt». 12 Die römische Geschichte, die er von
Wehmeier lernt, steigert in ihm das Riesenbild seines vermeintlichen
Vaters, des spanischen Ritters Gaspard de Cesara, den er erst auf der
Insel sehen darf, und erhöht die Sehnsucht nach einem Waffenbruder,
dem künftigen Freund Roquairol. Beide, den Roman entscheidend be-
stimmende, Gestalten stellen sich dem Knaben zunächst als erhabene
dar, ihre Teilhabe an der heroischen Tonart des Buches entsteht im Zug
der Beschwörung antiker Heldengeschichte. Begleitend tritt das Bild
schweizerischer Bergketten herzu, das öfters, die heroische Sphäre zu
befestigen, eingesetzt wird. Auch der erhabene Gedanke an die künf-
tige Geliebte Liane, in der Stunde, da sie das Abendmahl nimmt, be-
darf der Stütze durch die Erweckung antiker Statuen, um die Verklä-
rung der fernen Verehrten mit der Leidenschaft des erwachenden
Jünglings in Einklang zu bringen: «o dann ging sein inneres Kolosseum
voll stiller Götterformen der geistigen Antike auf, und der Fackelschein
der Phantasie glitt auf ihnen als ein spielendes wandelndes magisches
Leben umher». 13
Was Albano bis jetzt von antikem Geist empfmg, blieb seinem inne-
ren Bild anheimgegeben. Er scheint die toten Götterkraft magischer
Beleuchtung durch seine Wünsche, Ahnungen und Träume zu er-
wecken: J ean Paul spielt auf seinen Besuch in der Dresdner Galerie im
Mai 1798 an, wo er den Abgußsaal «verklärt bei Fackeln nachts» 14 be-
trachtete. Nach solcher in romantischer innerer Neuschöpfung vorweg-
genommener Erfahrung der Antike ist Albano genugsam vorbereitet,
das Griechische durch Dians Vermittlungaus der Quelle zu empfangen.
Den Baumeister zieht bezeichnenderweise die Gestalt des Jünglings
an. Er führt ihn <<in die heilige Welt des Homers und des Sophokles
ein», 1 s wie es Herder im Winter 1798/99 fürJean Paul getan hatte, er
10 III 102, 19f. II III 102, 28ff. 12 III 573. 6. 13 III 119, 35ff.
14 S. W., 3.Abteilung, 3.Band, S.66. IS III 131, 23f.

53
bekennt sich vor den Abgüssen der Antiken, die sie gemeinsam be-
trachten, zum Zeichen der Waage, das in Herders Totenehrung am
Schluß der Vorschule den griechischen Widerwillen des Weisen gegen
jede Einseitigkeit ausdrückt. Er formt sein Wesen nach der hohen
Stille auf den Antiken, Winckelmanns Blick auf die Götterbilder
wiederholend. Seine Natur wird, in ihrer Verbindung europäischer
Kultur und ländlicher Naivität, mit der der Schweizer verglichen,
deren einfache Sitten und freie Lebensweise Jean Paul im Zusammen-
hang mit dem Griechen vorschweben. In diesen Umkreis versetztJean
Paul auch Rousseau, den Albano gleichzeitig mit den Griechen und
Shakespeare kennenlernt.

Nach dieser frühen Initiation des Helden in die klassische W elt, einer
Vorbereitung auf die erste Begegnung mit dem Vater auf der Borra-
meischen Insel, aus dessen Gestalt der Geist des düstren, trümmerhaften
Rom spricht, verschwinden die antiken Bilder für lange Z eit fast gänz-
lich aus dem Roman. Nur in seltenen Vergleichen wird Albano als
apollinisch-feuriges Wesen bestätigt, Liane zur entrückten Göttersta-
tue entwirklicht. Dians, des Abwesenden, Geist bleibt gegenwärtig in
der Idylle seines Hauses und seiner Familie, einem blumenumw unde-
nen Reich der Freude, das der Fürstenpark Lilar beherbergt. Die Luft
um Liane, Roquairol und den hilfreichen Gefährten Schoppe verträgt
sich nicht mit der Beschwörung klassischen Altertums. Alle drei figu-
rieren auf ganz verschiedene Weise die Auflösung umrissener Men-
schengestalt in die Unendlichkeit der Geisterwelt.

Was im ersten italienischen Aufenthalt sich andeutete, wird jetzt in


einer Reise nach Rom und Ischia wahr: Italien entrückt den Helden den
einseitigen deutschen Verhältnissen ; es offenbart ihm die M acht abge-
schiedenen klassischen Lebens.
Gleichzeitig vertieft sich der im anfangs angeführten Brief erkeim-
bare Zwiespalt zwischen Gegenwart und Altertum. Unter dem Zei-
chen derJugenddes Helden konnten die Bilder der Antike den Anfang
des Romans mitbestimmen. Hier traf die Stufe Albanos mit der Stufe
des griechischen Volkes in der Geschichte der Menschheit, wie Herder
sie entworfen hatte, zusammen. «Ewige Jünglinge>>, «Geschöpfe einer
M orgenzeit und eines Morgenlandes>> 1 6 nennt Jean Paul in der Vo r-
schule die Griechen.

16 V 68, 13 ff.

54
Jetzt wird die ernstere Vorbereitung auf das Fürstenamt auf klassi-
schem Boden in der Gegenwart des versteinerten Vaters in Szene ge-
setzt. «Wie wenn Geister um die Erde spielten oder auf ihr erscheinen
wollten, so seltsam schien die helle Gegend bewegt und beleuchtet»: 17
so ungreifbar künden sich die in der romantischen Zeit überlebenden
Gottheiten der Antike den Italien Zustrebenden an. Das in der Kind-
heitslektüre geahnte erhabene Gem_älde bestätigt sich zuerst im Blick
auf die Alpen, die als bewaffnete Göttersöhne das göttliche Land be-
wachen, «wo Götter und Menschen einander wechselseitig nach-
ahmten». 18 <<Roms Bild breitete sich kalossalisch aus, je länger es sich
ihm näherte.>> 19 Als «Herz einer erkalteten Helden-Welt» 20 nimmt
Albano es im Geiste vorweg. Die Beleuchtung wird von Gaspard be-
herrscht, dessen leichenhafte, von Starrsucht heimgesuchte Gestalt dem
Anblick des Trümmerreichs zugehört. Jean Paul hat ihm manche Züge
seines Bildes der beiden Weimarer Klassiker verliehen. Gaspard läßt
das Kolosseum mit Fackeln beleuchten, die überlieferten Umrisse in
magischer Beschwörung erhaben verfremdend. Der Ritter will mit
dem Sohn «wie zwei Geister der alten Zeit>> 21 in den Ruinen umher-
gehen. Das Kolosseum wird einem ausgebrannten Vulkan verglichen.
Die Wahl der Stunde für den Besuch gibt der Betrachtung über den
Kontrast zwischen dem Mond- und Sternenlicht und dem einstigen
Göttertag Raum. Wie bei Hyperions Gang mit Diotima in den Ruinen
von Athen eine allegorisch vermenschlichte Sprache der Trümmer ver-
nehmlich wird, regen sich hier die Schatten der Vorwelt und steht die
erstorbene Geschichte Ieichenhaft au( Wie dort wird der Stand der
Geschichte in ein gemäßes Naturbild übersetzt. Wie dort weht der
Herbstwind der Geschichte «über die Stoppeln», 22 richten erhabene
Geister der V crgangenheit die heutigen Menschen. Der Apollo von
Belvedere vermag seine lichte Natur nicht mehr durchzusetzen vor der
«Prosa der Zeit», 23 Albano gerät in ein einsames Brüten, woraus ihn der
Trieb zur Teilnahme an den Revolutionskriegen aufruft, wie Diotima
beim Anblick der Trümmer Athens Hyperion zu Taten auffordert.
Seltsam mutet es an, daß Jean Paul, dem Charlotte von Kalb einen Brief
Hölderlins gab, den Dichter nie beachtet hat.
Hölderlinisch wirkt auch die Vergottung der Insel Ischia in der Ge-
stalt des Vulkans Epomeo, der, verwandt dem Gott Archipelagus, als
alter Vater der Insel erscheint, «ganz in Weinlaub und Frühlingsblu-
men gekleidet». 2 4 Dians Geist waltet in solch heiterer Verkleidung des
17 m 565, 5 ff. 18 III 566, 24f. 19 III 567, 9 f. 2o III 571, 6. 21
III 58o, zo.
22 III s8r, z6. 23 III 582, 17. 24 III 617, 33.

55
Göttlichen, wie Gasparcis Dämon beim Blick auf «die gelben Krater-
Ränder auf den Küsten und die Inseln>> rings um den Vesuv, «die der
verhüllte fürchterliche Gott unter dem Meere aus seinem Feuerreich an
die Sonne getrieben». 2 s Wie schon die Erziehung des jungen Albano
auf die Beschwörung heroischer Geschichte das sanfte, blühende Maß
des heiteren Künstlers folgen ließ, so gibt sich hier die antik vergärt-
lichte elementare Natur in gegensätzlichen Erscheinungsweisen kund.
«<mmer dieselbe große, durch dies e_rhabene Land ziehende epische
griechische Verschmelzung des Ungeheuern mit dem Heitern, der
Natur mit den Menschen, der Ewigkeit mit der Minute.»26 Auch in
Gaspard, dessen Gegenwart die Ewigkeit als Leiche der Zeit be-
schwört, lebt unter der winterlichen Starre die Erinnerung an jugend-
lich blühendes Leben. Albano findet ihn im Palast seiner Kindheit als
Jüngling in Wachs geformt, «schön wie einen griechischen Gott». 27
Wenn Gaspard als ein Gespenst erstarrter geschichtlicher Größe
dem Helden den Schauer vor dem vernichtenden Werk der Jahr-
tausende einflößt, so wendet Linda de Romeiro, seine Tochter, die
totenhafte Erhabenheit der väterlichen Sphäre in gegenwärtiges Leben.
Wie Aphrodite scheint sie bei der Ankunft in Ischia dem Meer zu ent-
steigen, einem Meer, das in Flammen schwimmt: das Feuer des Him-
mels und des Vulkans ist ihr in fesdich entzückter Bewegtheit beige-
sellt. Albano erkennt sie in einer Beleuchtung, die ihr Wesen zusam-
menfaßt: unter einem Mond, den das «Opferfeuer des Vesuvs um-
spielet»,Z8 der nicht mehr bläßlich verschwimmt, wie im Umkreis der
früheren Geliebten Liane, sondern feurig, «als die stolze Göttin des
Sonnengottes, ... gleichsam eine Donnergöttin über dem Donner des
Bergs>>, 28 am Himmel steht. Lindas erstes Wort an Albano lautet: «Ich
komme vom Vesuv, ... aber er ist ebenso erhaben in der Nähe als in
der Ferne.>> 29
Dians heiter-schöne, Gasparcis und Lindas erhabene Sicht auf das
Antike stehen sich nicht ebenbürtig gegenüber. Beim Gang durch das
antike Rom wünscht sich Albano eine heroische Beleuchtung für die
Riesenstadt. Der Scherbenberg weitet sich ihm zum Schlachtfeld der
Zeit und Gebeinhaus der Völker. Dian weist ihn an, die Schönheit der
Denkmäler als zeitloses Gesetz zu würdigen, losgelöst vom Schicksal,
das sie erlitten haben. Die Perspektive der Ewigkeit, die Betrachtung
ins Allgemeine sind ihm fremd, der nur die Sprache des einzelnen
Denkmals vernimmt, das sich selber vertritt. So wandelt er schon zu
25 26 27
III 635, 29ff. III 645, II ff. 1li 671, 9f. z8 lil 620, 28ff.
2
9 III 621, 21 ff.
Beginn das riesenhaft beschattete väterliche Bild, das dem Sohn vor
Augen steht, in die gleichmäßige Ruhe des Antlitzes derJuno Ludovisi,
nicht olme Seitenblick Jean Pauls auf Goethes kultische Verehrung
dieses in seinem Zimmer aufgestellten Götterbilds.
Dians Ablelmung des tragischen Bildes der Geschichte und des ihr
unterworfenen Menschen setzt seiner Wirkung auf Albano frühzeitig
Grenzen, die während der italienischen Reise durch das Übergewicht
der Sphäre Gaspards und Lindas immer deutlicher in den Blick kom-
men. Seine Konzeption des Griechentums entspricht dem Bild der
Griechen in der Vorschule, eines Volkes, das der Schönheit, Heiterkeit,
Harmonie, Körperlichkeit in jeder Äußerung verpflichtet ist. Das
Leben gliedert sich bereits nach der reinen Gesetzmäßigkeit der Kunst,
die Jugendlichkeit übersieht die Schatten, das Maß setzt sich im Aus-
gleich der Extreme, die das Klima und die Landschaft mildern, fest.
Ein Geist der Freude verbündet die einzelnen Stämme, die Dichter mit
den übrigen Menschen, die Menschen mit den Göttern. Der griechi-
sche Künstler verlor sich in der Betrachtung seines Gegenstandes, sein
liebender Anteil an ihm ließ nicht zu, daß er, wie der heutige, <<sich und
seine Gestelle und Malerstöcke >> 30 darbringt. Diese Einbeziehung der
subjektiven Perspektive bei der Betrachtung von Gegenständen ver-
weist Dian Albano. Aber Dian ist nur ein liebenswerter Nachhall un-
wiederbringlicher Zeit. In Linda erfährt Albano das Gewesene in der
Steigerung magischer Beleuchtung als eine heilige Gegenwart, die
durch ihre Erhabenheit die Größe der Alten mit der Glut neuentfachten
Lebens wiederbringt. Sie macht begreiflich, wie das Erhabene «als
Grenzgott Antikes und Romantisches verknüpft».Jl Wie sehr Albano
am Ende der italienischen Reise mit Lindas, nicht mit Dians Augen auf
die Antike blickt, beweisen die Lieder, die Dian und Albano vor dem
Abschied zum Preis des Welschlands vortragen.
Dian singt das Märchen von Apoll, dem der häßliche Blick des Mo-
mus bei seiner Rückkehr auf die italienische Erde nichts anhaben kann.
Der Zauber der ewigen Natur läßt ilm die Ruinen der Tempel, die
Mönche und Seeräuber übersehen. Die Lorbeerwälder, sein alter Be-
zirk, haben nichts von ihrem elysischen Charakter verloren. Jünglings-
haft, lächelnd geht der Gott durch ewige Blüten.
Albano ergänzt dieses Bild Dians um alle von ihm verscheuchten
Züge: er sieht das vernichtende Walten des Schicksals, dem die Alten
zum Opfer fielen. Die Zeit selber senkte <<ihren Gipfel in ihren eignen

30 V 72, I7f. 31 V 87, 7f.

57
Krater>>,32 Kunst wird wieder Natur, Blühendes bedeckt den Grund
zerstörender Mächte, nebeneinander besteht das Heilige und das Ver-
giftete. Albano dichtet sein Lied für den Grenzgott zwischen Antikem
und Romantischem, das Erhabene, sein Gemälde fügt die vergangene
Größe des Antiken der unsterblichen Größe des ewigen Schicksals ein.
Der Sinn solchermaßen entschiedener Perspektive weitet sich zur
Erkenntnis seines Lebens überhaupt, wenn er, nach dem Verlust Lindas
und Roquairols, sein früheres Leben .«einem bunten, hohen Schau-
gerüst, voll Statuen, m.it kleinem Gebäuden, Säulen» 33 vergleicht, das
sich später als Verkleidung erweist. DieN acht in Ischia ließ die Formen
magisch auseinandertreten, zauberte eine feurige Welt in den Himmel,
befeuerte das Herz, das zwischen Himmel und Erde schwebte. «Einen
ganzen Augenblick lang, dann wirds wiederNachtund Wüste, und am
Morgen steht das Gerüst da, dumm und schwarz.»34
Als erhabene ist die Antike ihrer Umrisse schon beraubt, erscheint
sie als Zeuge immer wirkenden Schicksals und stellt sich so in den
Dienst der magischen Bezauberung, gegen die Dian sie als Heilmittel
einzusetzen hoffte. Solchermaßen der Regie des romantischen Geister-
spiels unterworfen, wirkt sie mit an der Verführung des Helden, dem
sie wie ein erhabener Spuk im Gedächtnis zurückbleibt.
Es zeigt sich, daß Jean Paul die Antiken, von denen er sich die Ge-
setze der Schönheit geben lassen wollte (so schreibt er am 17. Mai 1798
aus Dresden an Christian Otto), selber mit den magischen Fackeln be-
leuchtet, die er im Dresdener Saal gesehen hat, nach der notwendigen
Willkür, die der Bau eines modernen <<romantischen>> Romans von
ihm forderte. Denn «jedes Körper- oder Welten-Reich wird endlich
und enge und nichts, sobald ein Geisterreich gesetzt ist als dessen Träger
und Meer>>. 35
32
III 675, 35 f. 33 III 760, 16f. 34 III 760, 25 ff. 35 V 97, 9 ff.
HÖLDERLINS SPÄTESTE GEDICHTE 1

«Doch reiner ist nicht der Schatten der Nacht mit den Sternen, wenn
ich so sagen könnte, als der Mensch, der heißet ein Bild der Gottheit~
(Gr. Stg. A.II, 372, 2off.). 2
In dieser Bestimnllmg wird die doppelt negierte Gegenwart des
Tages zum Zeichen einer Imitatio dei. Der dreiteilige Gesang In lieb-
licher Bläue, dem sie entstammt und den wir nur aus Waiblingers
Phaethon kennen, endet in einer Zusammenfassung von Oedipus' tragi-
schem Schicksal. In der Schlußformel «Leben ist Tod, und Tod ist auch
ein Leben» wird mit anderen Worten nochmals gesagt, was in den An-
merkungen zur Übersetzung der Sophokleischen Tragödie als gren-
zenloses Eineswerden von Gott und Mensch tmd darauffolgendes
grenzenloses Scheiden dargestellt war. Oedipus sieht den Gott Apoll
erst als Erblindeter. Das Leben des zu Anfang des Dramas wie ein Gott
verehrten thebanischen Herrschers ging zugrunde; doch aus diesem
Tod erwuchs die Schicksalsfrömmigkeit des Oedipus auf Kalonos:
«auch ein Leben». Mit dem früheren Leben hat es nur noch so viel zu
tun wie der Schatten der Nacht mit dem ihm voraufgegangenen Tag.
Hölderlin hat den König Oedipus des Sophokles im Bewußtsein über-
setzt, ein verwandtes Schicksal zu erleiden. Zwischen dieses Werk und
seine letzten Gedichte muß wohl der Gesang gerückt werden, der an
beiden Zuständen teilhat und vielleicht das einzige sie überbrückende
Zeugnis darstellt. Er beginnt mit der Schilderung einer Kirche, wie sie,
in knappen Umrissen, nur in den sehr späten, zeitlich sicher benach-
barten Entwürfen zu Griechenlalld erscheint. Die Abgeschiedenheit des
Menschen, der unter der Glocke die Treppen herabgeht, umfangen
von «einem stillen Leben», und innen einen «ernsten Geist» findet, weist
auf die späteren Gedichte des Umnachteten voraus, nicht nur thema-
tisch, sondern vor allem durch die Scheu, anders als in demütiger Nach-
ahmung die ihm erscheinenden Bilder zu nennen. «So sehr einfältig
aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß man wirklich oft fürchtet,
die zu beschreiben.» Mit diesem Wort sind nicht nur die spätesten Ge-
dichte charakterisiert, sondern auch die Haltung der Forschung ihnen
gegenüber. Sie kann sich daraufberufen, daß der Abstandjener letzten
1 Vortrag, gehalten bei der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft am 9.]uni

1965 in Tübingen.
2 Alle Zitate werden nach der Großen Stuttgarter Ausgabe gegeben; bei den An-
gaben, die sich auf den zweiten Band beziehen, fällt die Zahl des Bandes fort.

59
fünfzig Gedichte zum früheren Werk unüberbrückbar sei und daher
nur eine phänomenologische Beschreibung der neuen Merkmale zu-
lasse.3 Ehe ich selber diesen Weg der Resignation einschlage, möchte
ich doch den entgegengesetzten gewagt haben: auch in einigen dieser
spätesten Zeugnisse Denkformen der großen Hynmen wiederzufinden
und, wo immer möglich, eine sinnvolle Folge gesetzmäßig verbunde-
ner Vorstellungen zu erkennen. Ich bin mir bewußt, daß eine solche
Betrachtungsweise dem Verdikt der meisten bisher mit dem kranken
Hölderlin befaßten Psychiater verfiele. Nun sind aber deren Unter-
suchungen in der Regel von dem Vorurteil abhängig, die Dichtungen
eines Geisteskranken könnten nicht anders denn als Zeugnisse geistigen
und sprachlichen Zerfalls gedeutet werden. 4 Unser Versuch geht aber
von der an Beispielen moderner Dichter gewonnenen Einsicht aus, daß
Geisteskrankheit und gültige Poesie einander keineswegs auszuschlie-
ßen brauchen. Überhaupt hat uns die Gewöhnung an Bilderfolgen,
denen auf den ersten Blick keine sinngebende Steuerung mehr anzu-
merken ist, gelehrt, einem zunächst befremdenden Zusammenhang
seine eigene Gesetzlichkeit zu entringen. Indem dies am Gedicht Die
Zufriedenheit versucht wurde, ergaben sich mannigfache Verbindun-
gen zur Welt der großen Hymnen.s Die Zufriedeuheit ist wahrschein-
lich zwischen 1825 und 1830 entstanden. 6
Wenn aus dem Leben kann ein Mensch sich fmden,
Und das begreifen, wie das Leben sich empfmdet,
So ist es gut; wer aus Gefahr sich windet,
Ist wie ein Mensch, der kommt aus Sturm' und Winden.

J Bisher hat nur Ulrich Häussermann: Hölder/ins spä"teste Gedichte. Germanisch-


Romanische Monatsschrift, N .F., Band XI (1961), S.99-II7, die spätesten Gedichte
wissenschaftlich untersucht. Dieser - trotz einer gewissen Sentimentalität durchaus
sachbezogene - Aufsatz fragt weniger nach der Aussage als nach dem in verschiedenen
Schichten wahrgenommenen Stil der Gedichte, die auch im Zusammenhang mit der
• gemüthaften Materie >> des Dichters betrachtet werden. Besonders verdienstvoll ist die
Erörterung des Bildcharakters der angeschauten Dinge. Treffende Einzelbeobachtungen
ergeben sich aus sinnvoll zusammengestellten W ortlisten.
4
Diese These verficht auch Rudolf Treichler in seiner Tübinger Dissertation von
1937: Die seelisclze Erkrm1k1111g Friedrich Hölderlins in ihren Beziehungen zu seinem dichte-
rischm Scluiffen. Doch werden hier ausnahmsweise die spätesten Gedichte einer genauen
und kohärenten Untersuchung gewi.irdigt, deren Ergebnisse der Erforschung sowohl
der Krankheit des Dichters als auch des Stils seiner letzten Produkte zugute kommen.
5
Wilhelm Michel scheint als einziger auf den Zusammenhang zwischen dem Bau
dieses Gedichts und dem der Hynmen aufmerksam gemacht zu haben, in: Das Lehm
Friedrich Hölderlins, Bremen 1949, S. 513 .
6
Die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Dokumente erlauben keine gründliche
Diskussion der von Beissner vorgeschlagenen Chronologie. Unsere Versuche zu einer
Unterteilung in zwei Hauptgruppen und zu weiterer Differenzierung innerhalb der
ersten Gruppe stehen nicht im Widerspruch zu der von Beissner vermuteten Reihen-
folge der Gedichtentstehung.

6o
Doch besser ists, die Schönheit auch zu kennen,
Einrichtung, die Erhabenheit des ganzen Lebens,
Wenn Freude kommt aus Mühe des Bestrebens,
Und wie die Güter all' in dieser Zeit sich nennen.
Der Baum, der grünt, die Gipfel von Gezweigen,
Die Blumen, die des Stammes Rind' umgeben,
Sind aus der göttlichen Natur, sie sind ein Leben,
Weil über dieses sich des Himmels Lüfte neigen.
Wenn aber mich neugier' ge Menschen fragen,
Was dieses sei, sich für Empfmdung wagen,
Was die Bestimmung sei, das Höchste, das Gewinnen,
So sag' ich, das ist es, das Leben, wie das Sinnen.
Wen die Natur gewöhnlich, ruhig machet,
Er mahnet mich, den Menschen froh zu leben,
Warum? die Klarheit ist' s, vor der auch Weise beben,
Die Freudigkeit ist schön, wenn alles scherzt und lachet.
Der Männer Ernst, der Sieg und die Gefahren,
Sie kommen aus Gebildetheit, und aus Gewahren,
Es geb' ein Ziel; das Hohe von den Besten
Erkennt sich an dem Seyn, und schönen Überresten.
Sie selber aber sind, wie Auserwählte,
Von ihnen ist das Neue, das Erzählte,
Die Wirklichkeit der Thaten geht nicht tmter,
Wie Sterne glänzen, giebts ein Leben groß und munter.
Das Leben ist aus Thaten und verwegen,
Ein hohes Ziel, gehaltener' s Bewegen,
Der Gang und Schritt, doch Seeligkeit aus Tugend
Und großer Ernst, und dennoch lautre Jugend.
Die Reu, und die Vergangenheit in diesem Leben
Sind ein verschiednes Seyn, die Eine glüket
Zu Ruhm und Ruh', und allem, was entrüket,
Zu hohen Regionen, die gegeben;
Die Andre führt zu Quaal, und bittern Schmerzen
Wenn Menschen untergehn, die mit dem Leben scherzen,
Und das Gebild' und Antliz sich verwandelt
Von Einem, der nicht gut und schön gehandelt.
Die Sichtbarkeit lebendiger Gestalt, das Währen
In dieser Zeit, wie Menschen sich ernähren,
Ist fast ein Zwist, der lebet der Empfindung,
Der andre strebt nach Mühen und Erfindung. (278f.)

6r
Dieses Gedicht schreitet in entschiedenen Gegensätzen fort, welche
sich teilweise durch alle Strophen hindurch erhalten. Es beginnt, wie
ein Drittel der spätesten Gedichte, mit der Konjunktion «wenn», deren
temporale oder konditionale Richtung neutralisiert wurde, derart, daß
die Beschreibung eines Sachverhalts und seine verallgemeinernde Aus-
legung sich in der Mitte treffen. Das bedeutet, daß in diesen Gedichten
keine Schilderung eines Menschen- oder Naturzustands um ihrer selbst
willen stattfindet, sondern jeweils als Zeichen einer allgemeinen,
zyklisch erfahrenen Gesetzlichkeit, die durch das gegebene Bild hin-
durch angeschaut wird.
In unserm Beispiel ist weit mehr vom Menschen als von der Natur
die Rede. Diese beiden Themen kommen in den spätesten Gedichten
meist in ihrem gegenseitigen Bezug zur Sprache, oft aber so, daß der
Mensch oder die Natur beinahe ausschließlich behandelt werden, wo-
bei dann meist der Schlußvers den heimlich mitgedachten Partner um
einer in jedem Gedicht von neuemangestrebten Vollständigkeitwillen
ergänzend einbezieht.
Die an der Art des Eingangs schon festgestellte höchste Allgemeinheit
der Aussage bestätigt sich durch die Formel«ein Mensch». Vom Men-
schen schlechthin spricht Hölderlin in den spätesten Gedichten beinahe
ebenso oft wie in den mehr als fünfmal so umfangreichen früher ent-
standenen Gedichten nach 18oo, wobei auch dort schon eine bedeut-
same Zunahme des Worts von der Zeit der Friedensfeier an auffällt.
Zu dieser fundamentalen Perspektive stimmt der ebenso häufige Ge-
brauch der freilich vorher gerrau so zentralen Begriffe «Leben>> und
«Geist», deren Vielschichtigkeit in den spätesten Gedichten erhalten
bleibt. Gott dagegen wird in ilmen überhaupt nicht mehr genannt, der
in den Gedichten nach I8oo weitaus am häufigsten gegenwärtig war;
mit ihm verschwinden das Heilige und die Liebe; alle drei kommen in
äußerst spärlichen Belegen nur noch in den ältesten Gedichten der
Gruppe vor.7 Die Gegenwart einer Gottheit im Gedicht setzt den von
Hölderlin oft umschriebenen «Dichterberuf» voraus, der dem Ich der
früheren Gedichte eine gespannte Teilnahme an der Kontinuität des
Werkes der göttlich regierten Geschichte zusprach.
Diesen Beruf übt der Verfasser der spätesten Gedichte nicht mehr
aus, er hat gleichzeitig aufgehört, der Geschichte anzugehören, ja, Ge-
schichte überhaupt noch wahrzunehmen. Dennoch wäre der Schluß
allzu summarisch, von der dialektisch aufeinander angewiesenen Trini-
tät der Töne naiv, heroisch, idealisch bleibe nun allein der erste übrig.
7
Gott: 264,2; 265, I; 268,3 -heilig : 262,8; 269,5 -Liebe: 26I, I - lieb: 266,4.

62
Das Heroische, in der Lehre vom Wechsel der Töne durch energische
Dissonanzen, drängende Bewegung, ungelöstes Streben gekennzeich-
net, hört auf, als aktualisierte Ausdrucksform zu bestehen, nicht aber
als Thema der Reflexion.
Die für diese spätesten Gedichte oft betonte Einfalt der Sprechweise,
zumal der Gedankenverknüpfungen, soll keineswegs geleugnet wer-
den. Aber die Erkundung geistiger Zusammenhänge, deren Wieder-
kehr sich nicht nur pathologisch, sondern auch als Folge eines abge-
klärten Verhältnisses zum Dasein deuten läßt, darf sich durch eine
solche Diktion nicht beirren lassen.
Die erste Strophe des Gedichts zeigt den Menschen in der Distanz
zum Unmittelbaren. Er betrachtet das Leben in seinem Selbstvollzu.g;
das Leben erscheint als eine Gefahr, der zu entkommen gut ist. Sich so
von den Ereignissen fernzuhalten, die dem Menschen die stille Betrach-
tung verwehren, scheint zum Charakter der spätesten Gedichte zu
stimmen. Nun wird aberindenfolgenden Strophen vonimmerneuem
Ansatz her der eindringenderen Teilnahme am Lebendigen ein höherer
Rang zuerteilt. Das Kennen der Schönheit wird der Erkenntnis der
Erhabenheit des ganzen Lebens gleichgeordnet. Die «Mühe des Be-
strebens>> scheint eine Voraussetzung der Schönheit zu bilden.
Merkwürdig ist an diesen Bestimmungen der Schönheitsbegriff. Er
scheint in der heroischen Lebensweise zu gründen, diese selbst sich in
der Sichtbarkeit schöner Einrichtung niederzuschlagen. Erinnern wir
uns, daß in den Gedichten nach r8oo das Prädikat «schön» sehr oft auf
Griechisches bezogen wird, auf griechische Tempel, Städte, Inseln, auf
den einstigen Brauttag der Griechen oder auf den künftigen, wo grie-
chische Schönheit wieder zu ihrem Recht kommen wird. Diese ist aber
in Hölderlins Auffassung untrennbar von den Heroen, die ihr ein
Wohnrecht geschaffen haben. Die Heroen und Halbgötter, Herakles,
Dionysos, auch Christus, wollen die Einrichtung des Menschen auf
Erden. Ihre Tätigkeit gibt ein Beispiel für die Mühsal, die jener vor-
aufgeht.
Fortan behält der Dichter diesen Zusammenhang vor Augen, er
wird bis zum Ende des Gedichts von entgegengesetzten Möglichkeiten
abgegrenzt.
Eine davon ist das Leben aus der Natur. Es erscheint wie ein erhöhen-
der Schmuck in den Gipfeln der Bäume und in den Blumen. Das Ver-
hältnis des außen und oben schön Erscheinenden zum Grund, aus dem
es hervortreibt, dem Baum, dem Stamm, der Natur als ganzer wird
angedeutet, parallel zum Blick auf die Schönheit, Einrichtung, Er-
habenheit und Freude, die der Mühsal des Bestrebens entstammten. Es
ist für die spätesten Gedichte durchweg charakteristisch, daß sie das Er-
scheinende, auf dem der Blick des Dichters verweilt, als aus dem Grund
des Lebendigen entstanden betrachten. Doch nicht allein die Herkunft
aus der Tiefe, ebenso der Durchlaß des Lichtes der Höhe wird in den
Erscheinungen offenbar. 8 So heißt es hier, Baum, Gipfel, Blumen seien
ein Leben, «weil über dieses sich des Himmels Lüfte neigen». Der Him-
mel ist der Spender von Glanz und Luft, durch welche der umfassen-
dere Geist sich äußert. In ihm wird die Trennung von Natur und
Mensch, die die Gedichte durchzieht, jeweils aufgehoben. Gleich ur-
sprünglich leiten sich beide vom Geist der Höhe her. Dieser wird im-
mer wieder gezeigt, wie er sich zu den Menschen neigt. In solcher Be-
wegung liegt die vollendende Gebärde dieser Gedichte zutage, die auf
«Vollkommenheit des Lebens» (298, 8) zielt. Nicht nur der Herbst,
nicht nur der Abend bezeichnen in ihnen das Zuendekommen der
Zeit. Fast jeder Gedichtschluß wölbt einen sentenziösen Bogen der all-
gemeinsten Eintracht des Menschen mit dem Geist.
Die folgende Strophe setzt gegen die Schönheit der Natur, die un-
willkürlich erscheint, wieder das Engagement des Menschen, der die
Empfindung nicht passiv hinnimmt als «Einigkeit mit allem, was lebt»
(IV,267, 34), wie Hölderlin in der Zeit der Hamburger Aufsätze for-
muliert hätte, sondern sich in der Art des Empedokles opfert, damit sie
den andern Menschen mitteilbar werde.
Diese Lebensform wird zum drittenmal durch ein ihr entgegen-
gesetztes Verhalten eingegrenzt, das die Naivität der sich selber genü-
genden Natur nun auf die Menschenwelt überträgt. Frohes Leben,
Freudigkeit, Scherzen, Lachen bezeichnen die tmheroische Sphäre des
Menschen, dessen Leben sich von der Ruhe der Natur bestimmen läßt.
Daß die Weisen davor erbeben können, wird angesichts der Wendung
der spätesten Gedichte zur Einfachheit und Festigkeit des jahreszeit-
lichen Verlaufs aufschlußreich. Dieser naive Zustand wird nun ein
drittes und letztes Mal vom heroischen abgelöst, dessen Zusammen-
hang mit der Antike diesmal unmittelbar ausgesprochen wird: die
Männer sind, wie in den Gedichten nach r 8oo, als Helden zu verstehen.
Ihr Werk stammt aus dem griechischen Schicksalsgang, der mit Ho-
mer denWeg der Athletentugend und feststehender Gestalt einschlägt.
Es ist der Weg zum Sein, das nach Hölderlinischer Terminologie die
8
Dadurch befestigt sich der Zusammenhang mit der um und nach r8oo entstandenen
Dichtung, deren Struktur stets Grund, Zeichen und Geist zu unterscheiden erlaubt, wie
Wolfgang Binder in: Dichtu11g rmd Zeit i11 Hölderlins Werk, HabiLschrift Tübingen 1955
(Masch.schr.), S. 649 ff. nachweist.
Halbgötter und die Liebenden auszeichnet, den übrigen Menschen
aber erst am Brautfest zukommen wird. Vorher lautet der Bescheid:
«nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern I Zu lernen» (170, 172f.). Das
Sein, das die Besten kennbar macht, rückt in die Nähe der schönen
Überreste, als welche die antiken Trümmer, Bilder, Verse und Gedan-
ken gemeint sind. Vielleicht ist die abermalige Verschwisterung der
Schönheit und des Gebildeten mit dem heroischen Leben im Rück-
blick auf Hölderlins Vertiefung in Sophokles zu verstehen, der die
Gestalt der Heroen mit I-Elfe gesetzlichen Kalküls in seinen Tragödien
festzuhalten vermochte. Außer Sophokles haben Homer und Pindar
dem Dichter das höchste Muster dieser Allianz gegeben.
Die weiteren Strophen verharren bei den Helden selber, die in den
Mythen überleben. Genauer könnte das Wort pv{}or; nicht übersetzt
werden als durch« das Erzählte». Als bleibende Welt stehen die Über-
lieferungen fortan am Himmel der Nachgeborenen. Allgemeiner ge-
faßt, losgelöst von seinen heroischen Repräsentanten, wird dieses Leben
als «gehaltener's Bewegen» gefaßt, eine Formel, die an die in Eile
zögernde, geschwungnere Bahn der Irdischen erinnert, die dem Willen
der Götter gehorchen, indem sie dem Drang nach vorzeitiger Rück-
kehr in den Ursprung zu begegnen vermögen. Gang und Schritt zeu-
gen von der Gelassenheit derer, die den Menschen ein Beispiel geben
durch die Herrschaft über ihr göttlich elementares Teil. Tugend hat
hier den antiken Sinn der virtus, die im zweiten Brief an Böhlendorff,
bei der Beschreibung der kriegerischen Unruhen in der Nähe der
Vendee, als Virtuosität, sichtbar im Augenblick des Todes, bezeichnet
wird. Das Zusammengehen von Ernst und Jugend erinnert an home-
rische Helden, zumal an Achill.
Während diese Heroen zu den Sternen entrückt wurden und als be-
rühmte weiterleben, gibt es andere, deren Antlitz entstellt wird, weil
ihnen der Ernst im Befolgen des Schicksals fehlte. Sie handelten nicht
im Siime der xrx},o'X&yrx{}{rx. 0 b hier an die Selbstmörder gedacht werden
darf, die am Ende von Mnemosyne auftreten:« Und es starben I Noch
andere viel. Mit eigener Hand / Viel traurige, wilden Muths, doch
göttlich I Gezwungen, zulezt» (194,45 ff.)? «Traurig» heißt dort, wer,
wie hier steht, <<nicht gut und schön gehandelt». Auch hier bedarf der
Dichter wieder einer Folie, von der die bleibenden Gestalten der Hel-
den sich abheben. Ihre Sichtbarkeit entspricht dem «Bleiben» der die
Nacht der Gottferne überdauernden Heroen. Es setzt die Mühe großen
Bestrebens, die Erfindung, rsxvYJ, voraus, die ein Werk zustande bringt,
und bleibt getrennt von der anderen, in der fünften Strophe evozierten

6s
Lebensform dessen, der im Einklang mit der freudigen Natur lebt. Bis
zuletzt kämpft der Dichter also um eine Wesensbestimmung des hero-
ischen Daseins. Bis zuletzt gewinnt er diese aus dem Gegensatz zu ande-
ren Lebensweisen, der des Betrachters, der Natur, des Naiven, des un-
schön Handelnden. Der Hauptakzent liegt auf dem Zusammenhang
von mühseliger Tat und daraus resultierender schöner Gestalt, die über
die Zeit triumphiert. Wie diese Anschauungen bis ins einzelne mit
denen der Gedichte nach I 8oo zusammenhängen, ist bedenkenswert
angesichts der bisher vorgetragenen Meinungen, die spätesten Ge-
dichte stellten sich ausschließlich als ein Rückzug in monotone idyl-
lische Beschränkung dar. Mehr als zwanzig Jahre nach dem vollstän-
digen Ausbruch der Krankheit ist der Dichter noch imstande, den Ort,
den seine Gedichte des letzten Jahrzehnts ausfüllen werden, in das
Spannungsfeld größerer Zusammenhänge einzuordnen: ich meine mit
diesem Ort die Sphäre der dritten Strophe, die die späteren Verse vor-
wegnimmt:
Der Baum, der grünt, die Gipfel von Gezweigen,
Die Blumen, die des Stammes Rind' umgeben,
Sind aus der göttlichen Natur, sie sind ein Leben,
Weil über dieses sich des Himmels Lüfte neigen.

Von den Anschauungen der übrigen Strophen lassen sich einige Ver-
bindungen zu anderen Gedichten ziehen. So umgibt in dem viel früher,
noch vor I8II, entstandenen Gedicht Der Ruhm der «Woh llaut>}, der
den Berühmten geleitet, ein groß und klar zutage liegendes Leben, das
durch seinen Ruhm mit der Sphäre des Ewigen verknüpft bleibt. Die
Nähe zur Vorstellung der Auserwählten, deren Taten die Ewigkeit der
Sterne einholen, drängt sich auf. Von hier gibt es auch eine Verbin-
dung zu der auf alle Menschen bezogenen Funktion der Erinnerung,
wie sie im Gedicht Aussicht, das zeitlich in die Nähe der Ztifriedellheit
gehört, dargelegt wird. Die Eritmerung lebt dort, wie hier die Taten
der Helden, als weitererzählte unter den Menschen fort und begründet
unter ilmen den Zusammenhang in der Zeit und im Raum.

Erinnerung ist auch dem Menschen in den Worten,


Und der Zusammenhang der Menschen gilt die Tage
Des Lebens durch zum Guten in den Orten ... (28r,9ff.)

Außer diesen Betrachtungen über das Leben der Tradition versagen


sich die Gedichte aus der Unmachtungszeit das Thema heroischer
Existenz. Die Mühsal, der die bleibende Gestalt entspringt, würde der

66
m ihnen immer deutlicher zutage tretenden Harmonie zwischen
Mensch und Natur eine individuelle und partielle Konzentration in den
Weg stellen, die den ungestörten, gleichmäßigen Verlauf der Zeit-
bilder gewaltsam unterbrechen müßte.
Wer das halbe Hundert der Gedichte aus der Unmachtungszeit in
chronologischer Reihenfolge vornimmt - die freilich lange nicht für
alle Texte gesichert ist-, der wird eine zunehmende Einschränkung des
Anschauungshorizonts feststellen. Worin die erste Hälfte, die etwa bis
zu dem im Dezember 1837 entstandenen Gedicht Der Sommer reicht,
sich von der späteren unterscheidet, dies ist erst auszumachen, wenn
feststeht, was beiden gemeinsam eignet. Dazu ist aber zunächst die aus-
schließliche Untersuchung der spätesten Gruppe notwendig, die von
der früheren vorbereitet wird, während die frühere noch über An-
schauungen, Themen, Bilder und sprachliche Formen verfügt, die der
späteren abhanden gekommen sind. Die spätere Gedichtgruppe lasse
ich mit dem ersten «Scardanelli» unterzeichneten und mit einem
Phantasiedatum versehenen Beispiel Der Frühling beginnen. Dieses
Gedicht wird frühestens I 838 entstanden sein, fünf Jahre vor dem Tod.
Von den 27 Texten, die aus diesem Zeitraum erhalten sind, manche
erst Wochen, ja Tage vor dem Tod verfaßt, sind zwei Drittel mit der
Bezeichnung einer Jahreszeit überschrieben. Unter ihnen gibt es nur
wenige, die den Menschen gänzlich aussparen. Umgekehrt sind fast
alle übrigen Gedichte dieser Gruppe mit dem Menschen befaßt, wobei
er aber auch fast immer in seinem Verhältnis zur Natur gewürdigt
wird.
Ich verwende Bezeichnungen wie <<Jahreszeit», «Natur». In welcher
Weise dürfen diese Texte aber als Jahreszeitengedichte gelten? Es geht
ihnen keineswegs darum, einen Landschaftsausschnitt vorzustellen. In
ihnen gibt es kein Verweilen auf Einzelnem, nichts Individuelles be-
sitzt in ihnen ein Recht. Man dürfte noch weiter gehen und behaupten,
in ihnen werde nichts angeschaut. Ja, es ist sogar zweifelhaft, ob der
Name der betreffenden Jahreszeit dem Inhalt des Gedichts jeweils ganz
entspricht. In all diesen Gedichten geht es um den Vorübergang der
Zeit. Man könnte zuweilen an den antiken Reigen der Horen denken,
die eine vorgezeichnete Jahreszeit mit ihrer vorübergehenden Gegen-
wart ausfüllen, ehe sie wie von einer Bühne verschwinden und den
neuen Zeitbildern Platz machen. Die Zeit ist in diesen Gedichten mit
Schmuck, Zierde, Pracht ausgestattet, mit dem, was erscheint,· sie läßt
kaum je vergessen, daß sie Verkleidung des Ewigen ist, dessen Heilig-
keit als reine, leere Dauer dahinter faßbar bleibt.
Im Frühling, dem die n1.eisten Jahreszeitengedichte gelten, zeigen
sich, wenn überhaupt Konkretes ins Gedicht tritt, vornehmlich die
Blüten und das Grünen der Felder und Bäume.

Mit Blüthen scheint, dem Zeichen froher Tage,


Das große Thal, die Erde sich zu füllen .. . (286,6f)

Der Dichter sieht die Blüten im Gefolge der Herabkunft des Tages,
welcher aus der Höhe, wo der Geist wohnt, für eine Zeit sich den Men-
schen zuneigt, begleitet von festlichen Zeichen.

Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten


Wie eine Pracht, wo Feste sich verbreiten ... (288, 5 f.)

So wird der neue Anbruch der Zeit in einem anderen Frühlingsgedicht


zusammengefaßt. Die Erscheinungen -«erscheinen>> ist ein Schlüssel-
wort dieser Gedichte 9 - haben etwas Ausladendes, etwas über die Erde
Ausgeweitetes an sich, das vom vollen Jahr (wozu, im Einklang mit
antikem Zeitempfmden, nur Frühling, Sommer und Herbst rechnen)
wie eine Bekleidung mitgebracht wird.
Der Frühling aber blüh't, und prächtig ist das Meiste,
Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet ... (292,2f)
später:
Die Berge stehn bedeket mit den Bäumen ... (ebd. V.s).

Der Blick des Dichters haftet nie an einem Zustand. Er schaut durch
jede Jahreszeit hindurch das Ganze des Zeitumlaufs, so daß alles, was
sich ihm zeigt, auch sein eigenes Nochnicht- oder Nichtmehrdasein
verrät.
So wenig organisch im Sinn der früheren, von Grund auf gotterfüll-
ten Natur, die ohne Spinozas Pantheismus undenkbar schien, sind jetzt
deren Manifestationen, daß von den Blüten allein die Farbe, das Weiß,
am Strom herunterglänzt und daß die«Blüthenbäume sind, als wie mit
Kränzen>> (307,6), flüchtig hergestellter Schmuck für einen festlichen
Moment des Jahres. << Pracht », «p rächtig>>kommen denn auch in den
spätesten Gedichten weit häuftgervor als in den früheren Gedichten
nach r8oo.
\Ve1m der Frühling die neue Niederkunft der erscheinenden Tages-
welt bringt, der sich oft eine parallele Bewegung aus der Tiefe, «aus
der Thale Grunde», zuordnet, so entfaltet sich im Sommer, in beson-
9
erscheinen: 285,1; 288,5; 294,14; 294,16; 296,3; 296,7; 299,1; 303,7; 304,8;
306,4; 308,2 ; 308,3; 312,4-Erscheinung: 294,5; 360,9.

68
ders hervorgehobener Kontinuität, die Pracht des Frühlings. Der Som-
mer bringt die Erscheinung zu ihrer vollen Gegenwärtigkeit. Es heißt
von ihm, daß er selber, wie ein reicher Kranz, «um das Jahr sich win-
det». Jetzt ist die Zeit, wo <<sich das Feld mit Pracht am n1.eisten zeiget».
Darin ist schon die Neige des Herbstes vorweggedacht. Denn dieser
Zustand
Ist, wie der Tag, der sich zum Abend neiget. .. (293,6)

Was für jede Jahreszeit gilt, nimmt im Sommer eine erhöhte Dring-
lichkeit an: dasWeitereilen der Zeit, das sich oft vor dem Hintergrund
der Ständigkeit des Jahres ereignet.
Wie so das Jahr verweilt, so sind des Sommers Stunden
Und Bilder der Natur dem Menschen oft verschwunden.
(ebd.V.7f.)

Derselbe simultan erblickte Kontrast zwischen dem transitorischen


Charakter des Sommers und dem bleibenden des Jahres, diebeidein
denselben Erscheinungen sichtbar werden, als entgegengesetzte
Aspekte desselben Bildes, kommt noch deutlicher in einer anderen
Sommerstrophe zum Ausdruck:
So zieht der Tag hinaus durch Berg und Thale,
Mit seiner Unaufhaltsamkeit und seinem Strale,
Und Wolken ziehn in Ruh', in hohen Räumen,
Es scheint das Jahr mit Herrlichkeit zu säumen. (297, 5 ff.)

Im Maße, wie die Pracht der sommerlichen Erscheinungen hervortritt,


wird dem Dichter der V erzehr der Zeit offenbar.
So glänzt darob des schönen Sommers Sonne,
Daß fast zu eilen scheint des hellen Tages Wonne ... (300,5f.)

Andererseits ist kein Moment des Jahres so sehr dazu ausersehen, ein
greifbares Abbild des fundamentalen Charakters des Jahres darzu-
bieten, der als ständige Anwesenheit allem Erscheinenden zugrunde
liegt.
Die Vollendung des Jahres, die der Herbst bringt, wird also bereits in
den Sommergedichten vorweggenommen. Dem Herbst selber gelten
nur die wenigsten Gedichte. Die Vollendung der Zeit findet darin ihre
Entsprechung im Raum. In beiden Herbstgedichten wird das «Erden-
rund)> als Ganzes vorgestellt, angetan mit dem Schmuck der zeitlichen
Schätze. In beiden wird der Bildcharakter des Erscheinenden noch
mehr betont als in den übrigen J ahreszeitengedichten, da jetzt erst die
Bilder, die immer durch den Gang der Zeit konstituiert werden, ihre
Vollkommenheit erlangt haben. Gleichzeitig wird deutlich, daß dem
Dichter nur darum das Erscheinende zum Bild gerann, weil er stets
etwas im Auge hatte, was dieses Erscheinende überstieg. Jetzt, wo die
Bilder sich zu einem Bild gerundet haben, wird dieses andere, das nie im
Bild aufzugehen vermag, sichtbar. Es ist im Eingangsvers des zweiten
Herbstgedichts ausgedrückt:
Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen ... (299,r)

Jetzt, wo das Bild vollendet vor ihm steht, wird der Dichter auf seine
Bedeutung gewiesen. Daß diese noch nicht an das eigentliche, das
höhere Erscheinen reicht, verrät sich dadurch, daß sie ihrerseits zu
einem, wenngleich geistigeren, Bild zusammenschießt:
Der ganze Sinn des hellen Bildes lebet
Als wie ein Bild, das goldne Pracht umschwebet. (ebd.V.rrf) 10

Auf diesen Zustand folgt der bilderlose des Winters, wo sich endlich
einrichten kann, was immer schon hinter den Erscheinungen der er-
füllten Jahreszeiten bestand: die Anwesenheit des höheren Geistes im
Glanz der reinen Leere und Dauer.
Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder
Der Jahreszeit, so kommt des Winters Dauer,
Das Feld ist leer. .. (303,rff)

Von den sechs Wintergedichten gilt der Vers in dem späten Gedicht
Zeitgeist, das der gleichbenannten Romburger Ode nicht strenger ent-
gegengesetzt sein könnte: «So wie der Wechsel ist, ist übrig vieles
Wahre» (310,3). Es scheint, als ob erst im Winter anschaubar würde,
was dem spätesten Hölderlin als Wahrheit erkennbar geworden ist.
Die erfüllte Leere des Winters ist fast in allen Gedichten menschenlos.
Vom Menschen ist in den spätesten Gedichten fast immer nur im all-
gemeinsten Sinne die Rede. Er wird zu den Bildern der lebendigen
Jahreszeiten in geistige Beziehung gesetzt, den Bildern selber gehört er
kaum je an. Im Winter ist selbst diese Beziehung noch so weit verallge-
meinert, daß sie als «Geistigkeit» überlebt. Darin sind Mensch und
Natur aufgehoben. Ihre geisterhafte Unsichtbarkeit scheint die gültige
Entsprechung zur Entwirklichung des dichterischen Subjekts zu sein.
10
Häussermann (a.a.O., S.1o8) vereinfacht den Sinn dieser Verse in unzulässiger
Weise, wenn er die Verwandlung des Sinns des in diesem Gedicht gegebenen Bildes in
ein Bild rückgängig machen möchte mit der Begründung «grammatischer Unsicher-
heit».

70
Dieses hat auch den unscheinbarsten Anteil an der Zeitlichkeit seines
Sprechens ausgelöscht. Die Regelmäßigkeit der Metren und Reime,
die den V erzieht auf rhythmische Gliederung einschließt, spiegelt sich
in Eigentümlichkeiten der Sprache, zu denen vornehmlich die Allein-
herrschaft des Präsens und einer zugleich perfektischen und passiven
Zeitform gehört, welche den Einfluß des Sprechenden auf seine Be-
obachtungen gänzlich ausschließt.
Der Wälder Schatten sind (und nicht sieht, wie fast alle
Attsgaben Jä.lschlich schreiben) umhergebreitet. .. (3or, 5) u:

dies ist weder Aktion noch Zustand, oder beides zu einer neutralen
Mitte hin ausgeglichen.
Dem entspricht die Vorliebe für das Medium, das ebenfalls den Ver-
zicht auf eine Veranlassung und Führung der Handlung voraussetzt:
Das Leben findet sich aus Harmonie der Zeiten ... (3 09, 5):

es kommt zu sich, es reiht sich dem Vollendungsgang allen Geschehens


ein; es hilft mit, die von jeher vorgesehene Eintracht von Mensch und
Natur im Zeichen des alles gewährenden Geistes zu stiften.
In dieser Welt tut sich alles von selber, dem Menschen ist kein Ein-
griff, keine eigene Wirkung eingeräumt. Er fügt sich der Weisheit, die
er im Gang der Natur am Werk sieht. Die winterliche Szene aber be-
tritt er kaum, da in ihr der Geist selber sich in seiner Transparenz kund-
tut. Dieser läßt das wenige an Sichtbarem, das noch verbleibt, deut-
licher, unterschiedener sich einprägen. Hölderlin legt mehrmals den
Ton auf die neue Art der Sichtbarkeit, die der Winter gestattet. Es ist,
als ob der Unterschied als solcher schon eine Sprache spräche, die un-
gegenständliche Sprache des reinen Geistes. Der Glanz und die Ruhe
werden zum Zeichen seiner Anwesenheit, die Sterne dehnen die Hel-
ligkeit des Wintertags über die Nacht hin aus, so daß der volle Tages-
kreis zum Bild der sichtbaren Dauer wird. Der Einerleiheit des Raumes
entspricht so diejenige der Zeit. Einerleiheit aber wird zum Signum des
Wahren, das jenseits aller Veränderungen gilt.
Zu solcher Totalität gehört, daß sie auch die Epochen einbezieht, die
außerhalb ihrer selbst liegen. Was schon bei den Sommergedichten an-
gedeutet werden konnte, jenes Drängen über den eigenen Moment
hinweg, gilt in erhöhtem Maße von den Wintergedichten. In ihnen ist
manchmal auch der Frühling, ja der Sommer gegenwärtig als von
rr Die richtige Lesung gibt Wilhelm Böhm im J.Band der 1924 erschienenen 4.Auf-
lage der «Gesammelten Werke».

71
ferne mit erkennbarer Zustand, denn zum Winter gehört die Ferne der
Aussicht: da keine erfüllte Zeit den Blick auf sich lenkt, ist ihm eine
Sicht bis zu den künftigen und übernächsten Erscheinungsweisen des
Jahres gewährt.
Wenn blaicher Schnee verschönert die Gefilde,
Und hoher Glanz auf weiter Ebne blinkt,
So reizt der Sommer fern, und milde
Naht sich der Frühling oft, in~eß die Stunde sinkt. (294, r ff.)

Unterschiedener als in jeder anderen Epoche des Jahres werden durch


die Transparenz des Raums und der Zeit hin die nachfolgenden Ge-
zeiten angeschaut. Dieselbe Unterschiedenheit kann den Menschen aus
dem Gang der Natur herausnehmen, so daß er seiner selbst innewerden
kann. Als der Getrennte, der Übriggebliebene sieht er zu, wie das Jahr
gleichmäßig vorübergeht. Die harmonische Übereinstimmung des
Menschen mit dem Zustand der Natur, die meist am Ende der Ge-
dichte betont und in einem höheren, beide überwölbenden geistigen
Prinzip verankert wird, scheint in dem Gedicht, auf das ich mich hier
beziehe, in ihr Gegenteil gewendet. Es gilt nun zu verstehen, wie die
eine Sicht die andere bedingt. Das Gedicht lautet:
Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget,
So ist's, als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet,
Daß ausgezeiclmet sich der Mensch zum Reste neiget,
Von der Natur getrennt und unbeneidet.
Als wie allein ist er im andern weiten Leben,
Wo rings der Frühling grünt, der Sommer freundlich weilet
Bis daß das Jahr im Herbst hinunter eilet,
Und immerdar die Wolken uns umschweben. (3o2)

Hier wird die Voraussetzung zu jener passiven Betrachtung der Suk-


zession der Jahreszeiten offenbar, die uns bisher entgegengetreten ist.
Der Mensch, der ihnen zuschaut, ist in sie nicht mehr einbezogen. Er
lebt in der Abgeschiedenheit, ja aus ihr, er klammert sich unbewußt an
der Trennung fest, die er im Betrachten der von ihm wesensverschie-
denen Natur aufrechterhält. Hier zeigt sich die entschiedenste Ver-
änderung gegenüber der früheren Dichtung an. Dort war der Dichter
Zögling der Natur, war er darauf vorbereitet, ihren Zustand zu spie-
geln, mit ihr künftiger Offenheit entgegenzuharren. Die zweite
Strophe der Feiertagshymne sprach es am deutlichsten aus:
So stchn sie unter günstiger Witterung
Sie die kein Meister allein, die wunderbar

72
Allgegenwärtig erzieht in leichtem Umfangen
Die mächtige, die göttlichschöne Natnr.
Drnm wenn zn schlafen sie scheint zu Zeiten des Jahrs
Am Himmel oder unter den Pflanzen oder den Völkern
So trauert der Dichter Angesicht auch,
Sie scheinen allein zu seyn, doch ahnen sie immer. (uS, roff.)

Diese und alle späteren Hynmen sind denn auch Zeugnisse solchen
W echselbezugs, ihr Vorgang begreift an jeder Station den ihm zu-
geordneten Dichterberuf mit ein. Die Hymnen zeigen den Augen-
blick, da sie gesprochen werden, dem Leser in jedem Vers vor. Davon
sind die spätesten Gedichte gänzlich entrückt. Und doch ist eines ihrer
Hauptthemen der Zusammenhang des Menschen mit der Natur. Aber
die immer wiederkehrende Bestätigung ihres Einklanges ist selber ein
Zeichen, daß er sich nicht mehr vollzieht. In den Frühlingsgedichten
durchdringt derselbe Tag Menschen und Täler. Angesichts des Lebens
in der Natur vergesse der Mensch, was ihn in seine Einsamkeit sperrt,
Zweifel, Gram, einseitige Wendung nach innen, <<die Sorgen aus dem
Geiste», er finde sich zum Leben, er lasse die Offenheit auf sich wirken,
er werde von der neuen Pracht des Jahres zu eigener Tätigkeit beflügelt,
er erkenne den Sinn seiner eigenen Existenz, indem sein Geist ihn zur
Erkenntnis des gemeinsamen Sinns alles Lebens lenke, er sei wieder im-
stande, an den Stunden, wo der in Natur und Geschichte sich mani-
festierende Geist sich der Welt verschenkt, teilzunehmen, er füge sich
in den Vollendungsgang der Zeit ein, ja er werde selber zum Ursprung
neuen, der Wiedergeburt der Natur analogen Lebens und fördere und
vollziehe die harmonisch sich ründende Vollkommenheit mit, durch
und durch von der Gunst des überall sichtbaren Geistes beschenkt.
So sagen es die Gedichte der zweiten Gruppe immer von neuem.
Aber wenn etwas an diesen Gedichten auf Krankheit weist, so ist es die
gleichmäßige Wiederkehr solcher Bestätigung. Sie ist ein Zeichen
äußerster Selbstentfremdung. Die Abgeklärtheit, die Zufriedenheit,
die Übereinstimmung ist von vornherein gegeben und uneinge-
schränkt gültig, für die Menschen, die Menschheit, den Menschen
schlechthin. Die Begriffe Leben, Geist, Geistigkeit, Sinn, Höchstes,
Bestes, Vollkommenheit, die sein Einschwingen in den vorgezeich-
neten Gang der offenbarten Harmonie bezeichnen, sind, im Gegensatz
zu ihrer Erwähnung im Kontext der Natur, nicht faßbar, weil der
Mensch kein von ihm getrenntes Gegenüber mehr kennt, auf das er
wirkt oder von dem er geprägt würde. Der Mensch dieser Gedichte ist
einerseits von Grund auf von seiner Umgebung verschieden, ander-

73
seits ihr in allem entsprechend. Beide Bestimmungen lassen ihn un-
greifbar erscheinen, bestätigen seine Zeit- und damit Geschichtslosig-
keit ebenso wie sein Gestaltloses, das ihn hindert, als ein individuelles
Wesen verkörpert zu sein. Der hier beschworene Mensch ist Betrach-
ter und oft Teilhaber geistiger Kräfte, deren neues Auftauchen in der
Welt immer wieder vermerkt und deren Dauer so immer neu bestätigt
wird. Sein Leben korrespondiert dem frühlingshaften Beginn sowie
der Vollendung geistiger Präsenz in ,der Welt, das ist seine einzige
Wirklichkeit in diesen Gedichten.
Solche Stereotypie ist indes nicht nur auf der Seite des Menschen,
auch auf der des Naturbilds zu beobachten. Gleichgültig, um welche
Jahreszeit es sich handelt, gibt es in mehreren jener allerspätesten Ge-
dichte eine fast unveränderliche Gruppierung der immergleichen
Landschaftselemente. Sie entsprechen der Aussicht vom Zimmer des
Dichters aus auf den Neckar, auf die Wiesenjenseits des Flusses, auf das
Steinlachtal, auf die Schwäbische Alb. Daß der Dichter den Umkreis
dieses Zimmers in seinen letzten Jahren nicht mehr verlassen haben soll,
mag zur Gleichförmigkeit dieser Landschaftsbilder beigetragen haben.
Feld, Bach, Berg: das Feld ist jedesmal mit Pracht ausgebreitet, der
Berg wie in den früheren Dichtungen als Gegenwehr zum Bach ge-
setzt, welcher immer nur als hinuntergleitender die eilends sich ver-
zehrende Zeit in Erinnerung ruft.
Die bis in den Wortlaut feststellbare häufige Wiederkehr unterschei-
det diese Gruppe am deutlichsten von der älteren Hälfte der spätesten
Gedichte. Die Einheit und Einförmigkeit der Darstellung der Zeit so-
wie der Beziehung des Menschen zur Natur gilt noch kaum für diese.
Ihre Verbindung zur Epoche der reifen Dichtung hat die Analyse der
Zufriedellheit gezeigt. War dort das Weiterleben der Heroen geschil-
dert, so gibt es, in einem Herbst überschriebenen Gedicht, eine noch
umfassendere Fortsetzung des früheren Geschichtsdenkens. Im frühe-
ren Werk hatte es sich niemals von der Entsprechung zum Gesetz
zyklisch erfahrener Naturoffenbarung emanzipiert. Dieser Zusam-
menhang wird nun zum Thema der beiden ersten Strophen gemacht.
Die Natur verbürgt das Weiterleben des geschichtlich Gewesenen, das
sich ihrem Rhythmus von Gegenwart und Ferne eingegliedert hat:

Die Sagen, die der Erde sich entfernen,


Vom Geiste, der gewesen ist tmd wiederkehret,
Sie kehren zu der Menschheit sich, und vieles lernen
Wir aus der Zeit, die eilends sich verzehret.

74
Die Bilder der Vergangenheit sind nicht verlassen
Von der Natur, als wie die Tag' verblassen
Im hohen Sommer, kehrt der Herbst zur Erde nieder,
Der Geist der Schauer findet sich am Himmel wieder. (284, r ff)

Wie im Archipelagus bringt der Herbst die längst zur Sage gewordene
griechische Gegenwart der Götter auf Erden in neuer Gestalt wieder.
Dies läßt sich aus der Unbeirrbarkeit des Naturgangs ablesen. Die
Antike wird hier bezeichnenderweise erinnert, ohne genannt zu wer-
den. Aus der späteren Hälfte der Gedichte verschwindet sie, mit Aus-
nahme des einen Titels Griechenland, zu dem nur der unseren Strophen
nah verwandte Vers stimmt:

Mit Geistigkeit ist weit umher die alte Sage. (306,6)

Die Sage nur noch aus den Erscheinungen der Natur herauszulesen,
entspricht der durchweg phänomenologischen Einstelhmg, die auch
das Wesen der Tradition als anschaubaren Zusammenhang zwischen
den Menschen erfährt, der gar ihren Siedlungen den notwendigen Zu-
sammenhalt verleiht. Die Antike erscheint im Vergleich des Schreiner-
meisters Zimmer mit Dädalus, vielleicht im Gedanken an den Wunsch
des Dichters, von ihm einen holzgeschnitzten Tempel zu erhalten. Vor
allem lebt sie aber in der Reduktion des einstigen Gewittermythos auf
ein Miniaturgemälde fort, das den Dichter von den Leiden an der
Kunst und am Denken heilen soll:

Die Gottheit freundlich geleitet


Uns erstlieh mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blizen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds. (276,r7ff.)

Im Maße, wie der Quell des ursprünglichen Bilds sich von seinen Ab-
kömmlingen entfernt hat, wird deren gebauter Charakter offenbarer.
Wenn die Gottheit nicht mehr unmittelbar aus den Erscheinungen
spricht, entsteht- räumlich und zeitlich- eine Distanz zwischen ihr und
dem, was nun als ihr feststehendes Werk von ihr abgelöst ist. Die vor-
pantheistische Vorstellung des objektiven W eltenerbauers, wie sie
noch aus den Gedichten der von Hölderlin damals bevorzugten Hage-
dorn, Gleim, Zachariae, Cronegk spricht, tritt übrigens bereits in den

75
hymnischen Fragmenten, natürlich in ganz verwandelter Gestalt, im-
mer deutlicher hervor: die Natur steht zum Lernen offen, sie läßt
Linien und Winkel erkennen, der Himmel wird zu einer Schule, die
Wolken offenbaren das Gesetz ihrer sicheren Gestimmtheit, Gott ver-
birgt sich im Gewand der Zeitlichkeit, sein irdisches Werk tritt in seiner
<(ausdrüklichen Bauart» hervor, der Dichter spricht vom <<Geseze» der
Gärten und vom<( bevestigten Gesang von Blumen»- ganz zu schwei-
gen von den vielen Hinweisen auf den sicheren Bau des Alpengebirgs
oder auf den Bau der Meeresküsten.
Der weite Weg vom Zeus der Feiertagshymne, der im Blitz des
Vaterlandstages die Seele des Dichters traf, zur ersten Gruppe der
spätesten Gedichte führt über die immer strengere Auffassung der
Zeichenhaftigkeit alles Erscheinenden .
. . . Die Blize nemlich
Der Zorn sind eines Gottes. Jemehr ist eins
Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes. Aber der Donner
Der Ruhm ist Gottes. (210, 3 ff.)

Solche Entäußerung des Vaters in erscheinende Eigenschaften hat sich


in der Stufe des Spaziergangs zu einer viel weitergehenden Mittelbar-
keit entwickelt. Die Gottheit, die in den Gedichten sonst nicht mehr
genannt wird, kann hier sogar mit anwesend sein, so spielerisch stehen
ihr ihre einstigen Erscheinungsweisen jetzt als reizvoller Schmuck zu
Gebote. Daß sie selber der<( Quell ursprünglichen Bilds» ist, wird vom
Dichter nicht mehr nachvollzogen, so daß zwei ganz verschiedene For-
men, das Göttliche zu begreifen, ungestört nebeneinander erscheinen
können. Hölderlin sagt es im selben Gedicht, er werde jetzt
Durch süße Ruhe bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Ktmst und Siimen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn. (276,4ff.) 12

Hier ist die Brücke zur Vergangenheit geschlagen, hier ist das Heil-
mittel in dem von ihrem Quell abgelösten Bildcharakter der Natur-
erscheinungen eigens ausgesprochen. So erscheinen dem1 die Wälder
als gemalte, so wird ein Ort mit grünen Bäumen dem Schild einer
Schenke verglichen und <(der Sonne Tag» zu einem <(hohen Bild» für
das Streben der Menschen, ja, ganze Landschaftsgedichte entstehen als
12
Häussermanns Konjektur, wonach in Vers 7 «denn>> statt «den>> stehen sollte bana-
lisiert den Sinn des Verses (a.a.O., S.n6, Anm.73). '
ein «Bildnis», das sich als Beispiel für die freudige Gestimmtheit des
menschlichen Herzens gibt. Der Unterschied zwischen dieser Gedicht-
gruppe und der späteren besteht darin, daß uns hier immer wieder
Durchblicke auf die Genese dieser neuen Dichtungsweise, auf ihren
Zusammenhang mit dem früheren Hölderlin möglich sind, während
wir es später mit unverrrückbar gegebenen Anschauungsformen zu
tun haben.
Dazu stimmt der noch lebendigere Bezug des Menschen zur Natur,
der einmal im größeren Reichtum der geschilderten Bilder, zum an-
dem im differenzierteren Bewußtsein der Zusammengehörigkeit
beider zum Ausdruck kommt. Das Wort «Gut» erscheint nur in der
früheren Gruppe und bezeichnet das Geschenk der Gottheit an den
Menschen.

Der Erde Freuden, Freundlichkeit und Güter,


Der Garten, Baum, der Weinberg mit dem Hüter,
Sie scheinen mir ein Wiederglanz des Himmels,
Gewähret von dem Geist den Söhnen des Gewimmels. -

Wenn Einer ist mit Gütern reich beglüket,


Wenn Obst den Garten ihm, und Gold ausschmüket
Die W ohnrmg und das Haus, was mag er haben
Noch mehr in dieser Welt, sein Herz zu laben? (265,5ff)

In den späteren Gedichten ist der Mensch nicht mehr imstande, diese
Geschenke in Besitz zu nehmen. Es fehlt ihm die Gegenwart, die dazu
gehört, Herr über solche Güter zu sein. Daß die irdischen Dinge dem
Himmel gehören, wird noch behauptet, nicht mehr gelebt.
Gleiches darf vom Menschen gesagt werden. Eine so eindringende,
genetisch herleitende Verknüpfung des Menschen mit der freilich un-
genannten Macht, deren Geschenke ihn bestimmen, wie das <<dem
gnädigsten Herrn von Lehret» gewidmete Gedicht, ist in der späten
Gruppe nicht mehr anzutreffen. Die von W aiblinger überlieferte« Ge-
wogenheit», der sich Hölderlin jeweils beim Eintritt in sein Zimmer
auf dem Österberg empfahl, ist das Kernwort dieser Verse. Es über-
trägt, was wir als irdisches Gut kennengelernt haben, auf den Zustand
des von Gott begnadeten Menschen:

Sie aber haben diß in recht gewalmtem Leben,


In der Gewogenheit, von der sich Menschen ehren,
Das ist den Würdigern als wie ein Gut gegeben,
Da viele sich in Noth und Gram verzehren.

77
So unverlierbar diß, so geht es, hoch zu gelten,
Aus der Gewogenheit; die Menschen leben nimmer
Allein und schlechterdings von ihrem Schein und Schimmer,
Der Mensch bezeuget diß und Weisheit geht in Welten.
(282, 5 ff.)

Daß der Angeredete, den Hölderlin gut gekannt hat, sich nicht einsam
zu verzehren braucht, daß er sich vielmehr eines Wohlwollens bei den
Menschen erfreut, ist der Abglanz der Gunst, in der er bei seinem
himmlischen Vater steht. Schein und Schimmer stehen hier für das vom
Wesen getrennte, dieses eher verdeckende Gebaren, das nicht auf den
Quell der Erscheinungen zurückweist. Als Zeuge dieses Quells wird
der Mensch hier gewürdigt, davon wird seine Geltung unter den an-
deren Menschen abhängig gemacht. Nicht daß diese Geschöpflichkeit
des Menschen später zurückträte, im Gegenteil. Sie wird zur ständig
verfügbaren Formel verallgemeinert und besiegelt als Voraussetzung
zur Vollkommenheit des Ganzen der Welt den Verlauf der späteren
Gedichte. Aber darin sahen wir eher das Zeichen, daß der Bezug des
Menschen zum umfassenden Geist abgestorben ist.
In einem der frühesten Frühlingsgedichte bestätigt sich die Differen-
ziertheit dieser Analogie in letzten Spuren der Möglichkeit ihrer Ak-
tualisierung. Der Mensch vermag der Offenheit des Himmels durch
die Sehnsucht seines Herzens zu antworten - das Wort «Herz» ver-
schwindet nach 1832 endgültig-, und er hört «die Vögel singen, zum
Gesange schreien». Solche Intensivierung des Natureindrucks bildet
ein weiteres Indiz zur Unterscheidung der früheren Gruppe, dieebenso
noch «nakte Höhen», «mit Eichen bedeket und seltnen Tannen » wahr-
nimmt, «sanfte Gestalt» der Berge, «Duft an wilden Heken», «wo die
verborgenen Veilchen sprossen», Meere und «mit neuen Farben » «ge-
schmükt der Gärten Breite>>: lauter Anblicke, die der Transparenz und
Allgemeinheit der späteren Landschaftselemente entgegenstehen.
Auch das Motiv des Steges, das in der früheren Gruppe häufig er-
scheint, verschwindet später gänzlich. Der Steg bezeugt, daß der
Mensch sich auf der Erde eingerichtet hat:

... und über Wasser gehet


Der Mensch zu Örtern dort die kühn erhöhten Stege. (281,7f.)

In seinen letzten Gedichten fällt der Blick des Dichters nicht mehr auf
die konkreten irdischen Spuren menschlicher Kultur, die Besitznahme
der Erde scheint ihm nichts mehr zu bedeuten. Zu Beginn der Krank-
heit unterscheidet er noch die Stände, da treten noch, in überlegter
Reihenfolge,

... der Herr, der Burgersmann und Künstler (261, 5)

auf. Und es heißt:

Es geht der Mensch zu Fuße oder reitet (265,4),

vielleicht im Gedenken an die so lange in ihrem gegenseitigen Verhält-


nis erwogene naive und heroische Welt.
Am meisten aber verlor sich in der späteren Gruppe die Fähigkeit,
bei einem konkreten Zusammenhang zu verweilen, «eignes Leben» und
Geist ei11er sinnlich verbundenen Sphäre darzustellen. Wie dies in der
früheren Gruppe noch gelingen konnte, dafür ist Der Kirchhofvielleicht
das hervorragendste Beispiel. Hier wird die Geburt von Trakls Poesie
faßbar, ihre rätselhaft von einem Ganzen her gesteuerte Parataxe setzt
den Regreß des späten Hölderlin voraus. Die Dichte, die hier den irdi-
schen Dingen zuwächst, ist verschieden vom Geist der magischen
Konkretheit der hymnischen Fragmente. Sie glüht nicht aus den müh-
sam niedergerungenen titanischen Feuern, sie setzt eine fundamentale
Beschwichtigung voraus. In ihr gründet die Kontinuität des Schauens
und Sagens, die vorher von der Nähe drohender Gefahr aufgesprengt
war. Jetzt fällt der Blick wie in einen Spiegel auf die Sphäre christlicher
Gegenstände, in denen die Tradition eines fraglos hingenommenen ge-
ordneten Abhängigkeitsverhältnisses des Menschen zur Gottheit an-
geschaut werden kann. Das späteste hymnische Fragment, Griechen-
land, leitete diese Möglichkeit ein, der erste Teil von In lieblicher Bläue
begründete sie in umfassende Rückschau haltenden Reflexionen. Im
Kirchhof genügt die reine Aufzählung, da der Dichter sich der von ihm
unabhängigen Sprache der Dinge zum erstenmal ganz gebeugt hat.
Zum ersten- und auch zum letztenmaL Die künftigen Gedichte ver-
raten ja, daß fortan die Kraft, in sichtbaren Gegenständen die Erschei-
nung des Geistes einige Verse lang durchgängig festzuhalten, nicht
mehr gegeben war.
Die dritte Strophe des Kirchhofs lautet:

Wie still ist' s nicht an jener grauen Mauer,


Wo drüber her ein Baum mit Früchten hängt;
Mit schwarzen thauigen, und Laub voll Trauer,
Die Früchte aber sind sehr schön gedrängt. (277,9ff)

79
Die Vollendung leitet sich hier doppelt her: von der herbstlichen Zeit
des Jahres und vom Ende eines Menschenlebens; sie gebietet künftig,
jedes Gedicht wie in ein vorgezeichnetes Himmelsgewölbe einzutra-
gen, auf daß dieses immer neu bestätigt werde. Im Maße, wie dann das
Leben der Erde an Gegenwart einbüßt, zehrt sich auch die Trauer der
Vergänglichkeit auf.
Und die Vollkommenheit ist ohne Klage. (284,16)

So
II
EKSTASE, MASS UND ASKESE
IN DER DEUTSCHEN DICHTUNG 1

Ekstase, Maß und Askese- diese Trinität, einmal außerhalb ihres reli-
giösen Bereichs betrachtet, aber auch der antiken Herkunft jedes ihrer
Glieder entfremdet, setzt den durch die Struktur des Themas zu solcher
Askese genötigten Vertreter der deutschen Literaturwissenschaft in
nicht geringe Verlegenheit. Ekstase und Askese sind nach dem heutigen
W ortgebrauch, zumal wenn sie gemeinsam auftreten, noch immer so
entschieden von ihrem einstigen religiösen Gehalt her wirksam, daß es
sich nicht rechtfertigen ließe, sie sogleich in säkularisierter Abschwä-
chung und Umschreibung zu verwenden. Es müßte zunächst eine
Epoche ausgewählt werden, die noch von der Macht religiösen An-
spruchs an die Dichtung betroffen wird. Ekstase, als Bewegung, die
den Dichter auf ein außerhalb der menschlichen Sphäre gelegenes
Zentrum hinsteuert, ließe sich durchaus mit den Gesetzmäßigkeiteil
der Wortschöpfung, die mit den Mitteln der Sprache eine neue Welt
setzt, in Einklang bringen. Die Erhebung zu Gott als dem Schöpfer der
Welt und die Erhebung zur Sprache, die eine neue Kunstschöpfung
hervorbringt, können einander entsprechen, ja steigern. Wie diese
WOrtschöpfung die Ekstase gestaltet, soll Gegenstand unserer Be-
trachtung sein, nicht der vorsprachliche Zustand, die seelische Hal-
tung des ekstatischen Dichters, die Walter Muschgs Tragische Literatur-
geschichte meisterhaft geschildert hat. Eine Identität von religiöser und
dichterischer Ekstase möchte ich an einigen Barockgedichten illu-
strieren.
Wo nun der Überschuß aus schöpferischer Erhebung ausbleibt, ja
ins Gegenteil umschlägt, wie in der Askese, ist da überhaupt mit einer
sprachlichen Gestaltung zu rechnen, die den Namen der Dichtung ver-
dient? Diese wird sich wohl dann erst einstellen, wenn das schaffende
Vermögen der Kunst sich von Grund auf in Frage gestellt hat. Dann
dürfte ihr vielleicht die Aufgabe zufallen, die Vernichtung als Schöp-

r Vortrag, gehalten an der Universität Basel am I6.Januar 1967 im Rahmen des


Zyklus Ekstase, Maß und Askese als Kulturfaktoren. Die Betrachtung der Dichtung anhand
der drei Begriffe wurde dem Verfasser durch diesen alle Fakultäten umfassenden Vor-
tragszyklus vorgeschrieben. Daraus erklärt sich eine gewisse Gewaltsarnkeit der Perspek-
tive, die aber vielleicht einige charakteristische Züge gerade der deutschen Dichtung
schärfer hervortreten läßt. Ein Wagnis stellt insbesondere die historische, nicht syste-
matische Sicht dar. Der von der Vortragsdauer bedingte Skizzencharakter wurde bei-
behalten, um den Darlegungen eher den Charakter von Diskussion erheischenden An-
regungen zu erhalten.
fung auszusprechen und so den V erzieht auf Welt zu ihrer Aussage-
figur zu machen. So werden wir Askese nur in der modernen Literatur
aufsuchen.
Das Maß, das zwischen jenen religiös geprägten Begriffen steht, wird
von ihnen, die einen mystischen Zustand bezeichnen, negiert und
negiert sie seinerseits, im Namen der Kunstauffassung, mit der es sich
solidarisch weiß. Vermutlich wird es darum am ehesten dort zu finden
sein, wo die Kunst sich ihrer selbst versichert. Vielleicht tritt es uns
nirgends so allbeherrschend entgegen wie im Werk und im Bannkreis
Goethes.
Die Wahl der Beispiele mag ein Unbehagen einflößen, das an der
Situation heutiger Literaturwissenschaft haftet. Diese hat zweierlei Ge-
fahren vorzubeugen, ohne sich bereits zu ihrer Vermittlung empor-
heben zu können: detaillierte Einzelforschung stimmt mißtrauisch
gegen großgeartete Konstruktionen, wie sie etwa der Geistesgeschichte
bis in die vierziger Jahre hinein eigentümlich waren. Sie läßt aber zu-
gleich in wachsendem Maß den Mangel empfinden, der autonomer
Werkinterpretation eigen ist, wenn diese auf vielfältige historische
Situierung verzichtet. Wenn man sowohl dem Überblickscharakter
entgegenkommen möchte, den das Thema zu fordern scheint, als
auch das Mißtrauen gegen unbegründete, allzu kühn erbaute Zusam-
menhänge durch die Unterstützung zu neutralisieren sucht, die ein-
zelne Interpretationen liefern, wird man freilich keiner der beiden Be-
trachtungsweisen gerecht werden. Doch ist dieser schwebende Kam-
pronuß der Ausdruck eines Stadiums der Forschung, wo sie des völli-
gen Rückzugs auf die Texte müde, der großen Synthesen aber dadurch
noch keineswegs fähig geworden ist. Ein gegenwartsbezogenes Un-
behagen soll stehen bleiben, um zu seiner Überwindung anzuspornen.
Der Willkür in der Auswahl der Beispiele sollen drei Verfahrens-
weisen entgegenwirken: erstens die Beschränkung auf Dichtung im
strengeren Sinn, zweitens der V erzieht auf zweitrangige Werke, drit-
tens die Konzentration auf Beispiele, die für andere, verwandte Texte
der gleichen Zeit zu stehen vermögen. Daß nur deutsche Dichtung
vom Barock bis zur Gegenwart berücksichtigt wird, läßt vielleicht die
Entwicklungslüue deutlicher hervortreten.
Solange die Kunst daraufverzichtet, sich aus sich selber zu bestätigen,
nimmt sie freiwillig die Ketten überlieferter Vorstellungen, Bilder,
Wörter an. Die Ekstase, die in einem Aufschwung zur höchsten Gottes-
nähe besteht, ist selber durch Tradition, sogar durch im einzelnen vor-
geprägte W orttradition, vorgezeichnet. Da sie aber ihrem Wesen nach
aus allen gewalmten Ordnungen herausreißt, spiegelt sie sich in dialek-
tischer Spannung im Sprachgefäß wider; sie erinnert an frühere Eksta-
sen Erleuchteter und baut zugleich aus deren Erfahrungszeichen neu-
artige Mosaiken. So verfahren die beiden größten Lyriker des deut-
schen Barocks, Catharina Regina von Greifrenberg und Quirinus Kuhl-
mann, beide ekstatischer Dichtung wie keine andern deutschen Zeit-
genossen mächtig.
Im 191. ihrer geistlichen Sonette, die r662 in Nürnbergerschienen
sind- und erst 1967 wieder 2 -,stellt die Greifrenberg den Eingang des
Heiligen Geistes in ihren Geist als Nach-Geburt des Pfingstwunders
dar. Die Wiedergabe des vergeistigenden Vorgangs gelingt ihr durch
die antithetische Simultaneität göttlicher Offenbarung und irdischen
Unverständnisses, welche sich als Hell-Dunkel durch das ganze Gedicht
hindurch artikuliert.

Über das unaussprechliche heilige Geistes-Eingeben!

Du ungeselmer Blitz, du dtmkel-helles Licht,


Du herzerfüllte Kraft, doch unbegreiflichs Wesen!
Es ist was Göttliches in meinem Geist gewesen,
Das mich bewegt und regt: ich spür ein seltnes Licht.

Die Seel ist von sich selbst nicht also löblich licht.
Es ist ein Wunder-Wind, ein Geist, ein webend Wesen,
Die ewig Atem-Kraft, das Erz-Sein selbst gewesen,
Das ihm in mir entzündt dies himmel-flammend Licht.

Du Farben-Spiegel-Blick, du wunderbuntes Glänzen!


Du schimmerst hin und her, bist unbegreiflich klar;
Die Geistes-Taubenfliig in Wahrheits-Sonne glänzen.

Der gottbewegte Teich ist auch gctrübet klar!


Es will erst gegen ihr die Geistes-Sonn beglänzen
Den Mond; dann dreht er sich, wird Erden-ab auch klar. 3

Zwischen Gottes Wahrheitssonne und der nächtlichen Erde vermittelt


der Heilige Geist, der als Blitz, als Kraft, als Wind, als Atem, als Farben-
glanz, als Flug der Geistestauben, als Beweger des Teichs, als sich dre-
hender Mond jedesmal die Bewegung vom Zentrum der Klarheit zur
unerhellten Menschheit zeitlich figuriert, als Vorgang und Abglanz im
Verhältnis zur unbewegten Sonne. Die Vielfalt der Benennung spie-
z Geistliche Sonette,Lieder und Gedichte. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt 1967.
J Modernisierte Schreibweise nach: Deutsche Barocklyrik, hg. von Max W ehrli, Basel

19674, S. rgr.

ss
gelt die Bewegung der Seele auf die Erkenntnis dieserneuen Wahr-
heit zu, die ihr gleichzeitig als Ganzes und in allmählicher Geburt zuteil
wird. So bieten auch die einzelnen Bilder zugleich die Ganzheit Gottes
und seine nur erst werdende Überantwortung an den Geist des Men-
schen. Die Architektur des Gedichts, die auf paralleler insistenter Wie-
derholung und Steigerung beruht, macht dieses zum Niederschlag des
heiligen Vorgangs, den es berichtet. Die geistliche Ekstase umfaßt auch
die künstlerische Ekstase. Dies ist dadurch möglich, daß ein unbegreif-
licher Gegenstand immer zugleich erfaßt und nicht erfaßt wird, sich in
einem niemals verfestigten, stets elementar bleibenden Bild erkennen
läßt, dem ein anderes, verwandtes zu gesteigertem Wechsel sogleich
nachrückt. Die Sprache wird so von Vers zu Vers immer neu in Frage
gestellt, sie überläßt sich der paradoxen Bewegung, die in einem setzt
und entgrenzt und so der Gefahr entgeht, die heilige Inspiration zu
knechten.4
Die Erfahrung der Unaussprechlichkeit liegt auch Kuhlmanns eksta-
tischen Strophen zugrunde, nur ist hier der Anteil des Dichters am
geistlichen Vorgang, dem er sich aussetzt, noch viel intensiver, da
Kuhlmann als Prophet des neuen Jerusalem auftritt, der die Visionen
der Apokalypse in seinen eschatologischen Verkündigungen zu unge-
kannter Sprache zusammenballt. Im Sonett der Greiffenberg n ötigte
der Heilige Geist die Sprache, jede angemessene Annäherung an die
geschilderte Erfahrung zu transzendieren; er erlaubte ihr so, sich für
den Aufschwung der Ekstase offen zu halten. In Kuhlmanns Nach-
dichtung des Johannes vom Kreuz, im zweiten Teil seines 62. Kühl-
psalmsaus dem r684 erschienenen Kühlpsalter, überspringt der Blick,
der die Erde zum Paradies der Endzeit verwandelt, die der Ekstase
widerstrebende Beharrung im Gegenwärtigen. Der noch nicht einge-
tretene Zustand ist notwendig unaussprechlich. Er erzwingt sich eine
dichterische Sprache, indem er den Dichter in einer als wahr erlebten
Fiktion bereits zum Statthalter der Paradieseswonne macht. Dieser
rüstet sich mit dem Wortschatz der Apokalypse aus, den er krafteiner
eigenen, zugleich theo- und egozentrischen H eilslehre zum System
verfestigt und durch stete Repetition zur Absonderlichkeit erstarren
läßt. Ich zitiere die r 5. und r6. sowie die diesen Mittelteil abschließende
20. Strophe:

0 unaussprechlichst Blauen!
0 lichtste Röt! 0 übergelbesWeiß!
4 V gl. die Interpretation dieses Gedichts durch M ax W ehrli, Schweizer Monatshefte

45, Heft 6, September 1965, S. 577 ff.

86
Es bringt, was ewigst, schauen,
Beerdt die Erd als Paradeis;
Entflucht den Fluch, durchsegnet jeden Reis.

0 Erdvier! Welches Strahlen!


Der Finsterst ist als vor die lichtste Sonn.
Kristallisiertes Prahlen!
Die Welt bewonnt die Himmelswann:
Sie quillt zurück, als wäre sie der Bronn.

Im jesuelschen Schimmer
Pfeiln wir zugleich zur jesuelschen Kron:
Der Stolz ist durch dich nimmer!
Er liegt zu Fuß im höchsten Holm.
Ein ander ist mit dir der Erb und Sohn.s

Die Farben werden, von allen irdischen Gegenständen abgelöst, abso-


lut gefaßt, sie bringen die Allmacht des Himmels und seines für Gott
stehenden Gestirns zur Erscheinung, doch in Zusammenstelhmgen, die
ihre Vereinzelung zugunsten des gemeinsamen Lichts aufheben. So
versucht Kuhlmann die Verwandlung der irdischen Figur in das himm-
lische Wesen auszusprechen, wiederum mit Hilfe des Paradoxons, das
die Erde als« beerdte>>, d. h. ihrem wahren Wesen zurückerstattete, mit
dem Paradies in eins setzt. Die Vierheit, durch die Zahl der Elemente
wie der vier Weltreiche im Traum Nebukadnezars dem Zustand des
Sündenfalls zugeordnet, verschwindet in der Spiegelung des kristalle-
nen Lichts, welches das neue Jerusalem aufErden ausgesandt hat. Der
Strom des lebendigen Gotteswassers (Offenbarung 22, r), der die Erde
durchtränkt, flutet von ihr zum Himmel zurück. Wie im Sonett ver-
steht sich das Irdische nur noch als Spiegelung des Himmlischen, ein
Zustand, den die Sprache nachbildet, indem sie das feste Vokabular der
Ewigkeit in verbale Dynamik auflöst, um sich den Erdenstoff anzuver-
wandeln: «kristallisiert»,<< bewonnt», «pfeilen>>.
Das Reich, das Kuhlmann als ein gesteigerter Johannes der Täufer
verkündet, ist das KönigreichJesuels, wo Kuhlmann selber zum Sohn
Jesu wird und als Engel einen Platz zunächst dem Thron Gottes ein-
nimmt. Luzifer liegt am Boden, Jesuel erbt sein Reich. Dieser Prozeß
verläuft, wie das heilige Geistes-Eingeben, in der Zeit, freilich in einer
ihre Erstreckung überwindenden, pfeilenden Zeit, die das Paradox des
Zeitlos-Ewigen und des Zeitlich-Irdischen erkennen läßt.
s Modernisierte Schreibweise nach: Deutsche Barocklyrik, hg. von Max Wehrli, Basel
!9674, S. I99f.
Auch hier ist die Ekstase durchaus dem Umschlag vom irdischen in
den ewigen Zustand unterworfen, wobei die Sprache, wie im Sonett,
die Bewegung der über die Erde ausgegossenen Ewigkeit ebenso spie-
gelt wie die sich selber entmachtenden irdischen Trümmer, an denen
das Wund er vollbracht wird. 6
Solche echte ekstatische Dichtung ist an einen vorgeprägten Bild-
vorrat gebunden. Die Dialektik zerspaltet den Bestand der ewigen
Wörter, um die Menschheit daran teilnehmen zu lassen und so zu er-
lösen. Die Sprache liefert sich dieser . paradoxalen Erweiterung ihrer
Grenzen aus, um diese Erlösung als Zeichen des Martyriums vorweisen
zu können.
War die Autorität der christlichen Tradition einmal angetastet, ja
durchbrachen, konnte es keine Gemeinsamkeit geistlichen und künst-
lerischen Gehalts mehr geben. Genau in der Mitte zwischen dem
Barock und dem jungen Goethe steht Klopstock. Seine Frühlingsfeier
kennt durchaus noch den Bezug auf Situationen der religiösen Über-
lieferung. Die die Hymne beschließende Inszenierung des Gewitters,
dem das stille, sanfte Säuseln Jehovas folgt, gestaltet eine Erfahrung des
Propheten Elia. Aber diese Szene dient als Vorwand, um Gott in die
Natur herabzubeschwören, in eine unsichere, sich stets wandelnde
Natur, die Zerstörerische und erlösende Kräfte bereit hält. Diese span-
nungsvolle Unsicherheit spiegelt sich in den Fragen und Zweifeln des
Ich, das sich seiner Unsterblichkeit, mehr noch der Unsterblichkeit der
größten und kleinsten Wesen des Alls erst versichern und welchem
Gott sichtbar Antwort erteilen muß. Sein enthusiastisches Schwanken
fordert die Offenheit freier Rhythmen und psalmenhafter Preisung. Die
Ekstase wird hier auf der Bühne eines sich szenisch nach außen ent-
blößenden Ich ausgetragen, in einer uns wohlbekannten Spannung
zwischen der Helle göttlicher Offenbarung und dem Dunkel irdischer
Nacht. Doch ist der unantastbare Rahmen allgemeingültiger Polarität,
den wir im Sonett der Greifrenberg fanden, hier zerbrochen, damit die
nachschaffende, nachzitternde Subjektivität ihrer Freiheit überant-
wortet werde:
Der W ald neigt sich, der Strom fli ehet, und ich
Falle nicht auf mein Angesicht ?
Herr! Herr! Gott! bannherzig und gnädig!
Du N aher! erbarme dich meiner !7
6
Vgl. die Interpretation dieses Gedichts durch Heinrich Erk: Offenbarung rmd heilige
Sprache im << Kiilrlpsalten> Quirinus K11hlman11s. Diss. Göttingen 1953 (Msch.schr.).
7 Klopstacks W erke, hg. von R.Hamel. Deutsche N ational-Litteratur 47, III, S. 106,
V.6Iff.

88
Solche Subjektivienmg der Gottesverkündigung bereitet Goethes
ekstatische Hymnen in freien Rhythmen vor, die selbst in den Momen-
ten unmittelbarer Hingabe an ein unbestimmtes höheres Wesen die
Kehrseite prometheischen Trotzes oder zumindest selbstgewissen
Pochensauf den eigenen Genius in der Brust vernehmen lassen. Wand-
rers Sturmlied nimmt die Klopstacksehe Beschwörung Gottes im Ge-
witter auf, doch wird dieser Gott zum Jupiter Pluvius, dessen Fluten
das Lied nacheifert. Nichts mehr von demütiger Unterwerfung unter
Gottes Offenbarung, wie bei Klopstock, sondern V ergöttlichung der
Übereinstimmung innerer Glut mit dem Feuer des Dionysos. Dabei
streift die abrupte, in Stößen sich kundgebende Verherrlichung der
lebenspendenden Elemente immer nahe an die huldigende Parodie des
Pindar-Klopstocktones, mit dem Goethe souverän musiziert.
An Schwager Krotws führt diesen Ton männlicher, straffer fort und
scheut nicht vor der Konsequenz zurück, das Schema der Ekstase in
eine erhabene Hadesfahrt münden zu lassen, wo nicht der Mensch vor
den Thron der Himmlischen tritt, sondern die Geister der Unterwelt
vor dem fürstlichen Dichter aufstehen. Weit stärker als bei Klopstock
wird in diesenHymnender Mensch zu seinem eigenen Gesetzgeber. Die
für die Ekstase unabdingbare Spannung zwischen irdischer und jen-
seitiger Existenz ruft im einen Gedicht die vergöttlichten Elemente, im
andern die Selbstverzehrung der sich vorausstürzenden Lebenszeit als
Horizont des Absoluten herauf. Da dieser sich selber in den irdischen
Schauplatz senkt und gar eines wird mit dem Prozeß des Lebens, gibt
es in diesen Versen nur noch den unbedingten, selbstherrlichen Mo-
ment, der von Strophe zu Strophe, von Zeile zu Zeile eine persönliche
Ausdruckskurve zeitigt. Wir befinden uns im Raum Werthers, der die
Fülle der Welt in der Umnachtung seiner Passion verderben läßt. Dem
konnte nur noch der entschiedenste Gegenentwurf, das gesetzmäßige
Gebäude einer streng durchgegliederten Klassik entspringen.
Ich könnte nun mit einer Beschreibung modernerer Formen der Ek-
stase fortfahren: wie Hölderlin den Gott aus seiner Abwesenheit kon-
stituiert; wie Jean Paul die traumhafte Vereinigung in der Alliebe
gegenüber der Ausgesetztheit im humoristisch begriffenen fragmenta-
rischen Diesseits bezeugt; wie Novalis die erotische Todeslust zu kos-
mischen Maßen erweitert; wie Brentano die Wüste der Verlassenheit
zur universalen Erfahrung ausdehnt. Diese vier Dichter vertrauen nicht
mehr, wie Klopstock und Goethe, auf die Herrlichkeit des Ich, sie
machen die W eltzugewandtheit Goethes auf je andere Weise rück-
gängig: sei es, daß sie die Gottesbegegnung auf eine ausgespannte Zu-
kunft hin versparen, sei es, daß sie ihr auf Erden überhaupt keinen
Raum zudenken, sei es, daß sie sich der Lust der Selbstzerstörung hin-
geben und so ebenfalls ihre irdische Kondition auf ein Absolutes hin
transzendieren. Für die Romantiker gilt, daß ihre Ekstase, weil sie die
Erde zu willig ausklammern, zuletzt konturlos, spannungslos, un-
dialektisch ihr Gedicht auffüllt, wie ein laugewordenes, weiches Was-
ser alle Salze aufzehrt.
Die letzten großen Ekstasen der deutschen Dichtung vermitteln uns
Wagner und Nietzsche. Sie führen die mit Klopstock angebahnte Ent-
wickhmg zu demiurgischer Selbsterlösung und Selbstzerstörung bis zu
äußerster Konsequenz. An diesem Endpunkt können wir die Ge-
schichte der Ekstase unterbrechen, um sie erst dort wieder aufzuneh-
men, wo sie als Voraussetzung der modernen Askese verstanden wer-
den will.

Parallel zu der geschilderten Entwicklung der ekstatischen Dichtung


verläuft die Geschichte der ihr mit Notwendigkeit erteilten Antwort.
Goethes Übersiedlung nach Weimar steht von Anfang an unter dem
Zeichen der Suche nach einerneuen Verbindlichkeit, die den Höllen-
ritt auf der Kutsche des Schwagers Kronos oder in der Begleitung sei-
nes brüderlichen Schattens Werther zähmen sollte. Jetzt erst entdeckt
Goethe das Maß als das Gesetz seines weiteren Daseins, und er erfüllt es
auf die mannigfachste Weise, immer der sich selbst aufhebenden punk-
tuellen Ich-Zeit die Übersicht, die Kontinuität, die Dauer entgegen-
haltend. Der Mondblick Iphigeniens oder der Prinzessin im Tasso ist
ein scheuer Entwurf solcher Verbindlichkeit. Der Glaube an die wäh-
rend der italienischen Reise, bei der Lektüre H omers, bei der Betrach-
tung antiker Skulpturen, bei der Wahrnehmung der Urpflanze ent-
deckten ewigen Naturgesetze des Menschen gibtjedesmal Antwort auf
den Fortriß der ekstatischen Straßburger und Wetzlarer Zeit. ~Vilhelm
Meisters Lehrjahre bieten eine andere Form der Kritik an ekstatischem
Realitätsverlust: der ironische Blick des Erzählers straft Wilhelms
ahnungslose Gespanntheit zu absoluten Zielen in einem fort Lügen.
Die ekstatischen Existenzen, Mignon, Aurelie, die schöne Seele, dienen
zur Illustration eines Mißverhältnisses von inneren Sehnsüchten und
äußeren Gegebenheiten, um aus der Destruktion ekstatischer Span-
nung die skulpturale Ruhe erfüllter Lebensbilder hervorzurufen. Die
Klassik, die sich ganz vielleicht nur im Briefwechsel zwischen Goethe
und Schiller, im letzten Buch der Lehrjahre und in Hermann und Doro-
thca erfüllt, begibt sich vollends der Ekstase, indem sie dem Maß eine

90
säkularisiert religiöse Kompetenz zuschreibt. Schon während der
italienischen Reise werden Worte, die sich bisher einem transzenden-
ten Horizont unterwarfen, zur Bestätigung des Hiesigsten: «Diese
hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von
Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht
worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die
Notwendigkeit, da ist Gott.» 8
Das so gewonnene Maß birgt noch viel Aggressivität gegenüber den
früheren Aufschwüngen. Nicht anders sind etwa die RömischenElegien
zu verstehen, die sich in die unverrückbaren Maße des elegischen
Distichons ebenso wie in die gelassene Betrachtung eines Körpers ein-
schließen. So ist diese Klassik auch eine Klassik der Abwehr, und darum
erscheint es als sinnvoll, an ihr den notwendigen Zusammenhang des
Maßes mit der Ekstase zu beschreiben. Auch Hermann und Dorothea
verrät jenen Hang zu programmatischer Einschränkung, indem das
Paar, das sich findet, daran glaubt, daß der einzelne dem Zeitgeschick
zu widerstehen vermag: «Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus
und die liebenden Eltern, j 0, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher
entgegen.>>9 Der Bund wird gegen die Erschütterung der Zeit geschlos-
sen. Diese Zeitenthobenheit spiegelt sich in der gnomisch verallgemei-
nernden Sprache. Die antike Gepflogenheit, in Sentenzen zu reden,
wirkt auf die Darstellung des Menschen, der jeweils allgemeinste Züge
zu repräsentieren hat. Zwischen den betrachtenden Partien und denen,
die Handlung vorführen, besteht gerraue Übereinstimmung. Wenn
der Pfarrherr das Wesen der Jugend und dasjenige des reiferen Mannes-
alters beschreibt, weiß er Glück und Unglück zum Besten der Stre-
benden auszugleichen. Auch das Ungereimte beugt sich dem Maß,
das den Gang des Menschen heimlich leitet.

In der Jugend ist ihm ein froher Gefährte der Leichtsinn,


Der die Gefahr ihm verbirgt und heilsam geschwinde die Spuren
Tilget des schmerzlichen Übels, sobald es nur irgend vorbeizog.
Freilich ist er zu preisen, der Mann, dem in reiferen Jahren
Sich der gesetzte V erstand aus solchem Frohsinn entwickelt,
Der im Glück wie im Unglück sich eifrig und tätig bestrebet;
Denn das Gute bringt er hervor und ersetzet den Schaden. ro

Diese undialektische Verabsolutierung des Maßes wird sich in der

s Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd.XI6 , S. 395·


9 a.a.O. Bd.II 6 , S.5r4.
ro a.a.O. Bd.II 6 , S.440f.

9I
deutschen Literaturgeschichte mehrmals als Antwort auf die Unge-
bundenheit eines ekstatisch seiner irdischen Verankerung entrissenen
Ich einstellen. Dichter, die alle der nachromantischen Epoche ange-
hören, beweisen uns, wie die fast kultische Feier des gemessenen Da-
seins noch die Angst vor dem Fortriß in einen nicht menschlichen, sei
es religiösen, sei es dämonisch-elementaren Bereich im Rücken spüren
läßt. Mörikes Feier des Maßes zeigt diese Abwehr deutlich, wo seine
Worte und Formen den Raum des Verzichts einkreisen. So ist das
Lustgemach des Gedichts Auf eine Lampe vergessen, sind die fröh-
lichen Kinder von einem mortifizierenden Efeukranz umflochten. So
mündet Die schöne Buche in den Preis der Einsamkeit, in einem Hain,
wo das Gleichmaß des Baumes eine geometrische Abgeschlossenheit
ausschneidet, die den Baum zum Kunstgegenstand abstrahiert. So
wandeln die anmutigen Göttinnen der Zeit langsam, schweigsam, hei-
ligem Maß verpflichtet, vor den Augen des Künstlers, der seine Zeit
ihrer Zeit unterwirft und ihr Schweigen zu dem seinen macht. Die
Sprache dieses Sechszeilers hält sich in der Mitte zwischen dem ruhigen
Fortgang der Zeit und ihrer anmutigen Erheiterung in der wohl-
geordneten Bewegung des Tanzes. Diese geometrische Reinheit ant-
wortet den für Mörike tödlichen Ekstasen seiner Peregrina-J ugend, als
er vom Heidesturm fortgerissen dem lieblich beäugstenden Kopf des
Zaubermädchens folgte oder als er mit dem Feuerreiter die Fahrt ins
Aschengrab antrat. Mörikes Urekstase wird im Maler Nolten geschil-
dert, wo der Held zum erstenmal die dämonische Zigeunerin Elisabeth
trifft. <<Seht nur ... als ich Euch ansah, da war es, als versänk' ich tief in
mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu
Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert
Träumen gesehen habe, so, wie Ihr da vor mir stehet; ich flog im Wir-
bel herunter durch alle die Zeiträume meines Lebens und sah mich als
Knaben und sah mich als Kind neben Eurer Gestalt, so wie sie jetzt
wieder vor mir aufgerichtet ist; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo
meine Wiege stand, und sah Euch den Schleier halten, welcher mich
bedeckte: da verging das Bewußtsein mir, ich habe vielleicht lange ge-
schlafen, aber wie sich meine Augen aufhoben von selber, schaut' ich in
die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Rätsel meines
Lebens lag. >> n Die Ekstase, die tödlichen Selbstverlust zur Folge hat,
steuert hier auf ein Wesen zu, das nicht in den Grenzen der Menschheit
verharrt. Dieser Elementargeist reißt dämonische Spalten auf, durch
die das Unbegrenzte hereinblickt und den weitabgewandten Einsamen
11
M örikes W erke , hg. von H arry Maync. Bd.IP, S.2oo.

92
magisch reizt und aufscheucht. Die beiden Hälften seines Werks
stehenunversöhnt nebeneinander, das Maß hat so sehr auf die Ekstase
verzichtet, daß es deren menschenfeindliche Dämonie in fast außer-
menschliche Regelmäßigkeit umschlagen läßt.
Auch Gottfried Kellers Grüner Heinrich darf als Antwort auf roman-
tische Ekstasen verstanden werden. Der dritte Band setzt sehr bewußt
mit der Hingabe an Goethische Lektüre ein, und dabei werden allge-
meinste Bekenntnisse zur innerlich ruhigen und stillen Welt laut, die
<<das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Über-
schwängliche» 12 zurückweisen. <<Gott hält sich mäuschenstill, darum
bewegt sich die Welt um ihn.» 13 Diese Abkehr von der «Willkür und
Schrankenlosigkeit», 14 die Heinrich in seiner Jugend als Jean Faul-
Leser empfunden hatte, bestimmt durchweg die Richtung des Er-
ziehungsromans. Die Lust, in eine ungegenständliche Ferne zu schwei-
fen, sei sie nun poetischer, erotischer oder philosophischer Natur, wird
danieder gehalten, der Held muß sich unter die Einsicht in das selb-
ständige, sich selber genügende Dasein der nächstliegenden Gegen-
stände seiner Umgebung ducken, sein Maß ist meist eines der Be-
schwichtigung, Begrenzung, Ermahnung, dem die Ausbrüche aus der
überschaubaren Ordnung der Sitte ständig als Beängstigung vor-
schweben.
Noch weit entschiedener zeigt sich dies in Stifters Nachsommer, der
einen von Goethe der Polarität abgerungenen Zustand apriorisch ver-
absolutiert, ohne diese Einseitigkeit zu beklagen. Die jugendliche Liebe
zwischen Mathilde und Risach entspricht einer Offenheit der Leiden-
schaft, wie wir sie von den Goethischen Romanen gewohnt sind. Ihre
Unterbindung begründet die Norm des neuen Liebesverhältnisses,
dessen feierliches Ritual wieder nur als Antwort auf die Ungebunden-
heit der vorangehenden Generation verständlich wird. Auch wird,
ähnlich wie bei Mörike, nur viel kultischer, das neugefundene Maß so
ehrfürchtig zelebriert, daß daran seine undialektische Isolierung, die
für diese Zeit repräsentativ zu sein scheint, erke1mbar wird.

Ein letztes Mal scheint einer Epoche, die ihre eigene, neue Form der
Ekstase kultivierte, der antwortende Gegenschlag erteilt worden zu
sein: Kafka und Brecht setzen dem Selbstwert gesteigerter Sprache
den Ausdruck neuer Kargheit, Sprödigkeit und Glanzlosigkeit ent-

12 Sämtliche Werke, hg. vonJonas Fränkel, Bd.s, S.7.


13 a.a.O. Bd.s, S.6.
14 a.a.O. Bd.4, S.63.

93
gegen, der mit der Ekstase nun auch das von der Tradition gestützte
Maß zu entthronen unternimmt. Indem sie auch vom Maß abrückt,
dringt die neue Sprache in eine bisher unbesetzte Z one der Literatur,
die ich hier mit Askese umschreiben möchte. Um aber diese neue Form
der Antwort erhellen zu können, muß ich ihre Voraussetzung, die
umgeprägtc Ekstase der Jahrhundertwende, darstellen.
Hugo von Hofmannsthals Kleines Welttheater endet in ekstatisch
fortgerissener Bewegung, die der Wahnsinnige beschreib t: «... von
mir selber fort / Mich schwingend wie ein Dieb aus einem Fenster.>> 15
Doch wohin? In ein urtümliches Meer, wo die «ungeheuren dumpfen
Kräfte >> aller Dinge <<kreisen dröhnend >>. Hier wird kein fest umgrenz-
tes Ich von einem außerhalb stehenden Fixstern angezogen, hier wird
jeglicher Selbstbestätigung des Ich ein Ende gesetzt, hier gibt es nicht
einmal mehr, wie bei Novalis, den allerlösenden Tod, den Christus
vorgezeichnet hat. Hier führt die letzte Reise zur Selbstauflösung im
undurchdringlichen Geheimnis der Lebensmächte, in einer Einheit
von Leben und Tod, der anaximandrische Züge eignen.
Rainer Maria Rilke fand in seinen Duineser Elegien den Ton der Ek-
stase, als ihn, im Eingangsgedicht, der «Wind voller Weltraum» aus
dem geläufigen Anschauen der Gegenstände heraus zu einer neuen
Aufgabe hinriß, die er in der 9. Elegie als bevorstehende, nicht schon
geleistete, sich selber verkündet. Die uns anvertraute Aufgabe, das un-
sägliche Wort in ein sägliches hinüberzuretten, erscheint als Forderung
der irdischen Dinge. Um ihnen zu genügen, muß der Dichter, ähnlich
wie Hofmannsthal, sich jenem Grund nähern, der ein Ding überhaupt
erst ermächtigt, sich zur hier und jetzt erscheinenden Gestalt zusam-
menzuschließen. Doch gibt sich Rilke nicht wie Hofmannsthalmit der
Hingabe an diesen Vor-Raum des Unsäglichen, der allem Wort vor-
hergeht, zufrieden, sondern er wendet sich aus ihm zur Hoffnung einer
neuen Dichtungsweise. Seine Ekstase ist mithin zugleich Abschied von
gewohnter, in Subjekt und Obj ekt gespaltener Betrachtung der Welt
und Ankunft in einer neuen Sprache, bleibt aber nur erhalten, solange
dieser Zwischenzustand dauert, nicht mehr in den letzten Gedichten,
die ihn hinter sich lassen. Diese Ekstase ist nur noch Rechtfertigung für
die eigene Schöpfung, sie beansprucht eine Verbindlichkeit, die nur
im Gedicht ihre Rechtfertigung findet, keine außerhalb seiner formu-
lierbare Verheißung enthält- trotz der Gebärde der Verheißtmg, die
auf frühere Ekstatiker zurückweist.

rs Gedichte und Lyrische Dramen, hg. von Herbert Steiner (Auflage 1963), S.315.

94
Georg Trakl schließlich ruft, zum Beispiel im Friihling der Seele, die
nur in Bildern aussprechbare Wahrheit über den Bau der Welt nicht
mehr als ein Ich aus. Die Welt erscheint ihm vom «Sonnenabgrund>>
gleichzeitig erleuchtet und zerstört. Seine Ekstase ist, wenn es das gäbe,
Selbstsprache des Gedichts. Ekstatisch ist diese Sprache, weil sie die
Spannung zwischen dem Zerstörungswerk der Sünde und der Präsenz
geistlichen Friedens als simultane aussteht und ins Naturbild hüllt, das
sie zwar oft zu beschwichtigen vermag, das aber oft auch von ihr ge-
sprengt wird. Ekstase ist hier, wie bei Hofmannsthai und Rilke, dem
unbegreiflichen Grund alles Erscheinenden zugewandt, doch kennt
das Ich, das hier spricht, keine eigene Konsistenz, nicht einmal in der
Gestalt eines dichterischen Auftrags (wie bei George und Rilke). So
mündet diese Form der Ekstase in n1.ehrdeutiges Schweigen: des Todes
und des allüberschauenden Gottes.
Diese drei Lyriker der Jahrhundertwende kennen also noch die Figur
der Ekstase; ihr Sinn ist ihnen indes im gleichen Maße geschwunden
oder ins Subjektive zusammengedrängt, wie das Ich, das die Ekstase
erfährt, sich seinerseits aufgelöst oder eingeschränkt hat. Wo aber eine
Sprache aus der Notwendigkeit ihrer selbst, nicht aus einer Spannung,
die über sie hinausweist, lebt, entsteht ein \Viderspruch zwischen W e-
sen und Erscheinung. Diese hat jenes ganz in sich geschlungen, so daß
Dichtung hier zum erstenmal ganz aus ihrer sprachlichen Gestalt ver-
standen werden muß. Auf die Gefahr unerfüllbaren Anspruchs ant-
wortet die nachfolgende Generation unter anderem mit provozieren-
dem Rückzug aus der Bewegtheit individueller Sprache. Statt ihrer
häuft sie mit Absicht ein stereotypes Inventar ausgeleierter sprach-
licher Gefüge, die jederzeit an längst bekannte Zitate erinnern, denen
Uneigentlichkeit das Gepräge verleiht. Darin liegt ein Verzicht auf
subjektive Sprachgebung, den ich nicht anders als asketisch bezeichnen
katm. Kafka und Brecht sind die bedeutendsten Vertreter dieser neuen
Form.
Kafkas Sprache, von der alle magische Wirkung längst abgeblättert
ist, eine Sprache, die alle Spuren der Abnutzung vorweist, findet ihre
Entsprechung in den Themen seiner Erzählungen. Das deutlichste Bei-
spielliefert vielleicht die Geschichte des Hungerkünstlers, dessen Welt-
verleugnung in der Gewißheit gründet, die Welt halte die Speise, deren
er bedürfe, nicht bereit. Die via negationis hat mit der Ekstase den außer-
weltlichen Bezug gemeinsam, doch ist das völlige Fehlen eines ziel-
gerichteten Aufschwungs gegenüber der bisherigen Dichtung neu.
Der wissende Blick, der die Unmöglichkeit irdischer Erfüllung aus-

95
hält, ist ohne Trost, ohne Hoffnung, aber nichtsdestoweniger uner-
schütterlich auf den absoluten Punkt gerichtet, der eine niemals ein-
tretende Freiheit aus dem Geist verbürgt. Der inhaltlose, ja glaubens-
lose Glaube, der sich nur noch in der Differenz von allem den Men-
schen irdisch Umgebenden bezeugen kann, verzichtet auf die Schöp-
fung neuer Welt; er kann nur die vorhandene Welt zitieren, um ihre
Wesenlosigkeit erneut bloßzustellen. Askese bedeutet hier unschöp-
ferische, zukunftslose Ekstase, die zur absoluten Figur des Andersseins
verarmt ist. Das Moderne an ihrist der radikale V erzieht, der dennoch die
altüberlieferte Spannung zu einem jenseitigen Zentrum aufrechterhält.
Noch radikaler geben sich zwei verwandte Geschichten, Die Sorge
des Hausvaters und Blttmjeld, ein älterer Junggeselle, die beide mit
Selbstverständlichkeit und clownesker Leichtigkeit ein vollkommen
zweckloses Dasein in seinem leeren Ablauf schildern, jene das Dasein
der Zwirnspule Odradek, die vom Autor wie ein Mensch behandelt
wird, diese das Leben eines einsamen älteren Mannes, dem als einzige
Gesellschaft zwei ihn ständig verfolgende und störende Bälle beige-
geben sind. Diese werden ebenso mit menschlichen Intentionen ausge-
rüstet, wie umgekehrt Blumfeld zur reinen Funktion eines immerglei-
chen, in purem Verlauf sich abstrakt wiederholenden Existenzmecha-
nismus reduziert wird. So gleichen sich beider Verhaltensweisen an-
einander an und fallen in einem Dritten zusammen, das weder Mensch
noch Ding heißen kann, vielmehr einem Niemandsland zwischen bei-
den angehört: eben dem_ Bezirk der Zwirnspule Odradek. Die Askese
ist so total, daß sie nicht dabei haltmacht, den Menschen seiner Zu-
kunft zu berauben, ihn ganz zum Ding zu degradieren. Sie neutralisiert
selbst diese entschiedene Intention, indem sie ihn im Paradox als ent-
menschten Menschen wie den Trapezkünstler auf dem Seil über dem
Leeren schweben läßt, in das zu fallen er stets fürchten müßte, retteten
ihn nicht seine absoluten Kunstfiguren. Diese moderne Askese weiß
nichts mehr von sich selbst, sie ist mitgelieferte Kondition des Daseins,
das keine Herkunft und keine Aussicht kennt, nur den absoluten Ver-
zicht, der nicht einmalmehr weiß, daß anderes besteht, was ihn erst
zum Verzicht macht. Es wird verzichtet, ohne daß die Negation noch
von einem selbstverständlichen Hintergrund sich abheben kann. Es gibt
nur noch sie, und darum hat sie ihre Spannung, ihre Funktion, ihren
Namen verloren. Die Askese wurde zum einzigen Zustand und somit
frei von ihrer einstigen, religiös bedingten Wirkung.
Bertolt Brecht würde ein solches Weltbild als Mystiftkation hin-
stellen, da es wahre Einsichten in die Situation des Einzelnen in einer
anonymen Gesellschaft einerseits modellhaft analysiere, andererseits
visionär verschlüssele. Seine Form des Askese verzichtet auch noch auf
die- bei Kafka selbst in ihrer Abwesenheit hinzuzudenkende- eschato-
logische Komponente, um den Menschen nicht von seinen nächsten
Aufgaben abzulenken. Es ist die Askese der Gebrauchsliteratur, die der
Kafkaschen Zwecklosigkeit spiegelbildlich entspricht, als radikale
Zweckhaftigkeit einer bewußt unter das Niveau der Kunst hinab-
steigenden Unterbietung. Dieses Programm drückt Brecht in dem
Ende der dreißiger Jahre entstandenen Gedicht Schlechte Zeiten für
Lyrik aus. Von schönen Bäumen und Menschen wendet sich der Dich-
ter verkrüppelten zu, weil diese die Erkenntnis über den gegenwärtigen
Moment fördern, während jene darüber hinwegtäuschen. Dem ent-
spricht eine Sprache, die auf Schönheit und Beglückung verzichtet, um
sich nicht voreilig einzuschmeicheln, sondern durch ihre Risse zum
Nachdenken zu zwingen. Die Askese erhält hier die Spannung z-vvi-
schen einem von Brecht als durchaus berechtigt anerkannten Glücks-
zustand und seinem Gegenteil aufrecht, indem sie den von ihr Aufge-
rüttelten auffordert, die Entstellungen nicht anzunehmen, vielmehr an
ihrer Beseitigung mitzuwirken. Der V erzieht auf Kunst soll die Vor-
aussetzung befördern, daß einst wieder Kunst gedeihen könne. Es gibt
hier keine Isolierung der Kunst, wie bei Kafka, sondern einen ständigen
Hinweis der degradierten Kunst auf die von ihr im Stich gelassene
Norm, deren Glück keineswegs verschwiegen wird. Eine solche Kunst
befindet sich unterwegs zu ihrer Überwinderin, die sie gänzlich hin-
fällig machen wird. Diese Bescheidenheit schlägt ein Erbe aus, über das
Brecht durchaus verfügen könnte, das ihm aber angesichts des «Ent-
setzens über die Reden des Anstreichers» verlogen vorkäme.
Seither ist Dichtung ohne die Präsenz dieses Entsetzens kaum mehr
entstanden, wenngleich die Absage an die Kunst nicht mehr auf die-
selbe frische Wirkung wie zu Brechts Zeit vertrauen darf und daher
mit der Kunst selber ein neuartiges Bündnis eingehen muß. Paul Celan,
joharu1es Bobrowski, Ingeborg Bachmann bezeugen es. Ich möchte es
den Zusammenfall von Askese und Ekstase nennen. Paul Celan hat
diese neueste Sprache am entschiedensten verwendet. Mit seinem Ge-
dicht Tenebrae aus dem I959 erschienenen Band Sprachgitter gibt er ein
Beispiel für die negative Theologie der Modeme. Die Umwertung der
Tradition, aus der unsere ersten Beispiele ekstatischer Dichtung stamm-
ten, ereignet sich mit derselben Konsequenz in der Aussage wie im
Medium der Sprache.

97
Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.

Gegriffen schon, Herr,


ineinander verhallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.

Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.

Windschief gingen wir hin,


gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.

Zur Tränke gingen wir, Herr.

Es war Blut, es war,


was du vergossen, Herr.

Es glänzte.

Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.


Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.

Wir haben getrunken, Herr.


Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.

Bete, Herr.
Wir sind nah.

Die Spannung zwischen den Menschen und ihrem Herrn bedient sich
der Form des traditionellen Gebets aus der Bedrängnis, doch liegt die
Kühnheit darin, daß der Herr nicht mehr außerhalb der Menschen
thront, sondern aus ihrer Geschlagenheit und Leere hervorgebracht
wird. Die Kreuzigung ist inzwischen das repräsentative Schicksal der
Menschen geworden. Die ineinander verkrallten Leiber sind in der
Qual vereint; diese Gemeinsamkeit ist ihre Transzendenz, die aber nur
greifbar wird, indem sie sich in der Menschenwelt spiegelt. Darum
bringen sich die Gott repräsentierenden Menschen ihm als einem Un-
greifbaren dar, der zu ihnen, den Gezeichneten, beten soll, um sich zu
erfüllen. Hölderlins Mn emosyne-Verse finden hier eine radikalere Fort-
setzung:
Nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen
Die Sterblichen eh' an den Abgrund. Also wendet es sich
Mit diesen ...

Die Menschen haben den Göttern die Erfahrung der abgründigen V er-
lassenheit voraus, welche in unserer Zeit eine Voraussetzung zur er-
neuten Vergegenwärtigung des Göttlichen unter den Menschen wer-
den kann. Hölderlin glaubt an diese Wendung, Celan fleht sie, be-
drängter noch, herbei, indem er den Gott nur noch anzusprechen
hofft, wenn er ihm die Rolle des selber Bedürftigen zuweist.
Die leere Transzendenz solcher Dichtung kennt zugleich die Span-
nung der Ekstase und die Kargheit ihrer Unerfüllbarkeit. Deshalb ent-
steht eine neue Verbindung, die das Maß überspringt. Dieses Maß, im
klassischen Sinn verstanden, hat in der Literatur der Modeme weniger
denn je einen Platz. Es findet sich nur noch als funktionaler Wert, als
Regelung der Beziehungen zwischen maßlosen Erfahrungen, die nach
verschiedenen Richtungen ausschreiten. Nach wie vor kann das Maß
die wesentliche Voraussetzung der Kunst heißen, wenn es seines the-
matischen und fonnalen Eigenwerts beraubt wird und nur noch die
notwendigen Vermittlerdienste innerhalb ihm entgegengesetzter Ge-
halte und Formen leistet.
Daß es eine moderne Form der Askese gibt, ist vielleicht greifbar
geworden. Doch die zuletzt skizzierte moderne Rettung der um ihren
Sinn gebrachten Ekstase wird die Frage auslösen, ob bei Celan nicht
ein Sonderfall vorliege, indem er, wie auch, in anderer Weise, Nelly
Sachs, eine messianische Form des Dialogs weiterführt, die andem
Zeitgenossen fremd bleibt. Für die Lyrik würde ich diese Skepsis ab-
lehnen, weniger für die andem Gattungen, die aber von jeher der
Ekstase fernstanden. Ihnen ist heute eine Distanz gegenüber jeder tradi-
tionellen Position eigen, die mit der Ekstase und dem Maß auch die
thematisch geforderte und formal betonte Askese Kafkas und Brechts
hinter sich gelassen hat. Die Nüchternheit moderner Dichtersprache
verträgt sich nicht mehr mit dem Begriff der Ekstase. Der V erzieht auf
Sicherheit des Standorts und auf Geschlossenheit des Erfahrungs-
horizonts läßt sich mit dem Begriff des Maßes nicht mehr vereinen.
Die Skepsis gegenüber einer religiös verantworteten oder moralisch
er prüften Wertung der Welt verbietet es, den Begriff der Askese zu
verwenden. Diese Trinität setzt stets absolute Bezugspunkte voraus,
denen in jedem der drei Fälle eine ausgeprägte Entscheidung verpflich-
tet bleiben müßte. Diese Entscheidung verlangt aber eine Sicherheit,

99
deren kein moderner Dichter gewiß ist. Darum muß für die neueste
Literatur eine Einteilung nach solchen Kriterien unterbleiben. Weder
die Transzendenz, die Ekstase und Askese erst ermöglicht, noch deren
Leugnung, aus der einst eine Verehrung des Maßes denkbar war, ent-
sprechen der Fragwürdigkeit, die der moderne Dichter erfährt. Ek-
stase, Maß und Askese sind klare Antworten. Aber worauf könnten
solche jetzt gegeben werden? Darum haftet diesen Begriffen die Aura
des Fremdgewordenen an.

Wenn ich nun aber zu behaupten wage, von den behandelten Beispie-
len seien sowohl die ekstatischen als auch die asketischen heute beson-
ders zugänglich, weit mehr als die dem Maß unterstehenden, so wäre
zu fragen, wie der Glaube der barocken sowie der säkularisierten Ek-
statiker, noch der Jahrhundertwende, und die gläubige Selbstzurück-
weisung solchen Glaubens bei den Vätern der heutigen Modeme ein
unsicher gewordenes Geschlechtnoch anzusprechen vermögen. Offen-
bar kann dies gelingen, weil ihnen allen eine Grenzerfahrung zugrunde
liegt. Diese Dichter haben sich nie in ihrer Kunst eingerichtet. Sie
haben sie über oder unter ihre Möglichkeit geführt, bis zu einer äußer-
sten, zerreißenden Gespanntheit, die ihr Weiterleben sichert. Texte,
denen solche Unbedingtheit abgeht, haben es sehr schwer, vor der un-
bequemen und aufgebrochenen Gegenwart noch zu bestehen. Abso-
lute Spannung als Gegensatz zum nüchternen Orientierungsversuch
ergibt eine dialektische Beziehung, die alle dazwischenliegende Har-
monie als unwirksam in den Hintergrund treten läßt. Diese Konstel-
lation erklärt, warum heute in anderen Teilen der Welt eine Bewegung
zugunsten der deutschen Literatur angebrochen ist, die Hölderlin,Jean
Paul, Kafka, Brecht zu notwendigen Gegenständen gegenwärtiger
Bedürfnisse erhebt.
Aber sollten die Zweifelangesichts der Gültigkeit unserer drei Be-
griffe sich nicht rückwärts bis zu der Epoche erstrecken, bei der die
Untersuchung ihren Ausgang nahm? Gäbe es da nicht aus jedem Jahr-
zehnt eine größere Anzahl von Werken, die mit Ekstase, Maß und
Askese im beschriebenen Sinn nichts zu tun haben? Liegt nicht eine
unerlaubte subjektive Willkür in der hier vorgelegten Zusammen-
stellung der Gegenstände?
W e1m anfangs gezeigt wurde, wie ekstatische Dichtung zun~chst,
im Barock, sich aus religiöser Notwendigkeit ableitet, könnte da nicht
auf ganz diesseitige Beispiele verwiesen werden, die außerhalb unseres
Zirkels verbleiben? Und gäbe es nicht beispielsweise im Zeitalter der

IOO
Aufklärung, der Heidelberger Romantik oder des Realismus manche
Zeugnisse, die unserem Spannungsfeld fremd sind? Die Frage nach
einer Dichtung, die nichts mit ihm zu tun hat, ist nicht gestellt, noch
weniger erörtert worden. So wäre die deskriptive, die idyllische, die
humoristische, die ironische, die philosophische Poesie jedesmal eine
ganz andere Möglichkeit als alle hier evozierten. Was verbindet diese
nicht ekstatischen, nicht asketischen, nicht dem Maß gehorchenden
Produkte?
Ein Zweifel an absoluter Haltung, sei es aus Beschränktheit, sei es
aus der Furcht, gerade die Absolutheit könnte eine eigene Form der
Beschränkung zeitigen. Diese nicht behandelten Autoren und Werke
scheuen die Festlegung, und zwar im Namen einer relativierten Auf-
fassung vom Menschen, der unheroisch, unprogrammatisch, uneigent-
lich erscheint, um seine Beweglichkeit zu bewahren. Wer sind diese
Autoren? Sie heißen beispielsweise Wieland, Lessing, Beine, Fontane,
Thomas Mann, sie heißen Kleist und Büchner, zu ihnen gehört vor
allem auch der späte Goethe. Sie sind in einem allgemeineren Sinn
Realisten; sie stehen sowohl der klassischen als auch der romantischen
Deutung der Welt fremd gegenüber. Es sieht so aus, als ob ihnen die
Gegenwart besonders gewogen sei, nach dem Schiffbruch, den die ge-
spanntere, titanischere Form der Kunst oder ihre allzu sicher bewahrte
Gegenposition erlitten haben. Diese Autoren glauben weder wie die
Familie der Ekstatiker und selbst die der Asketiker an eine unbedingte
Instanz noch, wie ihre Gegner, die Vertreter des Maßes, an die Ge-
diegenheit ihrer Kunst. Skepsis gegenüber aller menschlichen Hervor-
bringung ist ihr gemeinsames, bald lächelnd, bald schrill ertragenes
Schicksal, das ebenso wie das der dargestellten Gruppen Weise und
Märtyrer kennt, nur diesseitigere, zweifelndere.
Der Zweifel ist die Gegenmacht zum Geist aller in dieser Unter-
suchung genannten Werke. Er ruft heute allenthalben ein gleich ernst-
haftes Streben hervor wie einst Ekstase, Maß und Askese. Er ist die
Hoffnung des Betrachters bisheriger Literatur, da er allein eine neue
Offenheit begründen kann. In deren Namen läßt sich eine Wahrheit
entdecken, welche die Frage: <<Wozu Dichter in dürftiger Zeit?» zum
Verstummen bringen sollte.

101
MÖRIKES GEDICHT
«AUF EINE CHRISTBLUME»

Am 29. Oktober 1841 teilt Mörike seinem nächsten Freund Wilhelm


Hartlaub die Geschichte der Entdeckung einer seltenen Blume mit:

... Auf einem andem, mir gleichfalls bekannten Grabe aber fand ich mit gro-
ßer Überraschung etwas Lebendiges, frisch Blühendes, wonach ich viele Jahre
vergeblich getrachtet hatte. Eine mir völlig neue Blume mit fünf ganz auf-
geschlagenen, ziemlich breiten Blättern, an Weiße und Derbheit wie die der
Lilie; an den Enden herum lichtgrün angehaucht und fast ebenso, nur etwas
satter grün, im Kelche unten. In dessen Mitte bildeten die blaßgelben Be-
fruchtungsteile einen ziemlich dicken Kegel, oben mit vier bis fünf kurzen
Purpurfäden büschelartig geziert. Der runde, schmutzig-grüne, rotgespren-
kelte Stengel nicht gar kurz, jedoch gekrümmt, so daß die Blume niedrig saß.
Die Blätter gleichfalls schmutziggrün. Die Pflanze hat einige Ähnlichkeit mit
der Wasserrose. Ihr Duft ist äußerst fein, kaum bemerklich, aber angenehm.
So reizend fremd sah sie mich an, sehnsuchterregend! Klärehen hatte sich
kaum hinabgebückt, sie genau zu betrachten, so sagte sie auch schon: Die
Christblume ist es. Ich war entzückt und glaubte es ihr auf der Stelle, wiewohl
es eigentlich geraten war. Ohne sie näher anzusehen - als wenn ich fürchtete,
sie nicht zu eigen zu bekommen -, verriet ich mein unruhiges V erlangen dem
Klärehen dennoch unwillkürlich, welche den holden Raub auch ungesäumt
glücklich für mich vollbrachte, es ging sogar noch eine geschlossene Knospe
mit. Zu Haus, um mich vollkommen zu überzeugen, las ich in meinem alten
lieb und schmackhaften Gartenbüchlein von Pastor Müllern, S. n6: «Elle-
borus, Nießwurz, ist weiß und grün, wird unter die Blumen gesetzt, wegen
ihres sehr frühen Flors (schön, daß es frühen heißt, nicht späten, so duftet sie
schon wie von dem anderen Jahr herüber, was einer so mystischen Blume
wohl zuzutrauen ist), welche sich zeiget gleich im November, Dezember Lmd
Jenner, dahero sie auch Christblume genennet wird, wie man dann viel darauf
hält, so sie schön um Weihnachten florieren, soll ein gutes Jahr bedeuten, wird
von der Wurzelteilung propagiert, mag im Lande gelassen oder aus Fürwitz
wegen der frühen Flor in Keller gesetzt werden, sonsten kann sie die größte
Kälte erdulden (dies ist der besonders schöne Zug an ihr!). Hat gern sandigen
Grund und liebet sehr den Schatten und wintrichte Stelle, kommt deswegen
an warm- und sonnichten Orten gar nicht fort, sondern verdirbt gemeinig-
lich. Die weiße ist die schönste und rarste, so eine ansehnliche Blume präsen-
tiert, und wenn sie abgebrochen ins Wasser gestellt wird, in der Stube gleich
verdirbt, in der Kälte aber etliche Tage sich halten läßt.» Auf Miillers letztere
Anmerkung stellte ich sie im Glase, worein ich sie schon gebracht, alsbald vors
Fenster, und zwar in dem schönsten Mondenschein, in dem es ihr besonders

102
wohl und leicht zu atmen schien. Sie freute mich unbeschreiblich und schon
dachte ich daran, meine Empfindungen bei guter Zeit in einigen Strophen
auszudrücken - kann wohl auch noch geschehen -, doch unrecht Gut soll
nicht gedeihn. Heut vormittag, nachdem ich sie den Morgen noch begrüßt,
warf sie der Wind unvermerkterweise aus dem Glas auf die Straße und war
nicht mehr zu finden. (Wenn sie jetzt wieder auf dem Grab stünde! In der Tat
gedenk ich ihrer jetzt nur wie eines lieblichen Geistes.)
Nun aber ist zu meinem Trost bereits dem Waldschütz aufgegeben, nach
dieser Pflanze hier herum zu fahnden und sie mit der Wurzel zu bringen. Laß
auch bei Dir nachsuchen. Wer dann von beiden glücklich ist, teile dem andern
mit. Sonst sag von dieser Liebschaft, die wir gemeinschaftlich pflegen wollen,
niemand als etwa dem Freunde J. ... >>

Die Strophen, in denen Mörike seine Empfindungen ausgedrückt hat,


sind bekannt unter dem Titel

Auf eine Christblume


I
Tochter des Walds, du Lilienverwandte,
So lang' von mir gesuchte, unbekannte,
Im fremden Kirchhof, öd' und winterlich,
Zum erstenmal, o schöne, fmd' ich dich!
Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,
Ich weiß es nicht, noch wessen Grab du hütest;
Ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,
Ist' s eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.
Im nächt' gen Hain, von Schneelicht über breitet,
Wo fromm das Reh an dir vorüberweidet,
Bei der Kapelle, am krystallnen Teich,
Dort sucht' ich deiner Heimat Zauberreich.
Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne;
Dir wäre tödlich andrer Blumen Wonne,
Dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
Himmlischer Kälte balsamsüße Luft.
In deines Busens goldner Fülle gründet
Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet;
So duftete, berührt von Engelshand,
Der benedeiten Mutter Brautgewand.
Dich würden, mahnend an das heil' ge Leiden,
Fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden:
Doch kindlich zierst du, um die W eihnachtzeit,
Lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.

!03
Der Elfe, der in mittemächt' ger Stunde
Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu
Neugierig still von fern und huscht vorbei.

li

Im Winterboden schläft, ein Blumenk:eim,


Der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
In Frühlingsnächten wiegt den samtnen Flügel;
Nie soll er kosten deinen Honigseim.

Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist,


Wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,
Mir unsichtbar, dich blühende umkreist? 1

Der Titel stellt eine Verbindung her zu ältester lyrischer Tradition, so


zu den A11akreontischen Liedern, von denen Mörike zahlreiche übersetzt
hat. Dort finden sich häufig Überschriften wie Auf die Rose 2 (El~ To
e6oov) oder Auf ein Gemälde der Europa 3 (El~ Evedmryv). Die helleni-
stische Neigung, einen Gegenstand zum Bezugspunkt einer Variatio-
nenfolge zu erwählen, ist nicht allein dem Übersetzer vertraut, sondern
auch dem V erfasscr anmutig begrenzter inschriftartiger Verse, deren
Antrieb in widmendem. Gedenken liegt. Einige Gedichte Mörikes nun
erinnern in ihrer Gegenstandsbezogenheit an diese Gattung, wachsen
aber durch den Ernst der deutenden und in selbständigerem Vorgang
sich entfaltenden Ausführung über sie hinaus. Das gilt im Bereich der
Natur von der kurz nach Auf eine Christbl11111e entstandenen Schö11 e11
Buche, 4 während das verwandte Gedicht All ei11e Lieblingsbuche 111ei11es
Gartens, in deren Stamm iclt Höltys Namen sclmitt s die bescheideneren
Proportionen der antiken Beispiele wahrt. Entsprechend erweckt A11
ei11e Äolsharfe6 den künstlicheren Gegenstand aus den antikischen Um-
rissen zu verwandelnder, darum auch verzehrender Gegenwart, wäh-
rend Auf eine Lampe 7 aus der Abgeschiedenheit der im «vergeßnen
Lustgemach» sich selber genügenden Form die antiken Züge des Be-
barrens, Verweilens und der Abgemessenheit, welche den hellcnisti-

1
Mörikes Werke. Hrsg. von Harry Maync. Neue kritisch durchgesehene und erläu-
terte Ausgabe. 3 Bde. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1914 2 , Bd.1 , u8f.
(M.it Ausnahme der Briefe, die in keiner Ausgabe gesa mmelt vorliegen, werden die
Zitate M örikes nach Mayncs «kritischer» Ausgabe angeführt , ohne Bandangabe, wo es
sich um den ersten Band handelt.)
z J, 484. 3 J, 482. 4 75f. s 77f. 6 37f. 7 8sf.

104
sehen Entsprechungen eignen, vertieft und übertrifft. In der Schwebe
zwischen schildernder und deutender, zwischen abgelöster und auf den
Sprecher bezogener Darstellung verharren die Kunstbeschreibungen
Auf ein altes Bild 8 und Schlaje11des Jesuskind9 und die Distichen Auf das
Grab vozz Schillers Mutter. 10
Alle genannten Beispiele gliedern sich zeitlich um die Christblume,
deren eigenen Raum sie abstecken durch die deutende Schilderung des
einen Gegenstandes, den sie im Gedenken bewahren. Der Titel kenn-
zeichnet sie alle als eine Art W eihgesche11k. (Mörike stellt sich mit dem
gleichnamigen Gedicht ausdrücklich in die antike Tradition:<< Und den
Chariten fromm bringet ein Sänger euch dar». 11 ) Solche Stiftung erhält
in der Christblume durch den christlichen Bezug noch besonders den
Charakter ehrfürchtiger, frommer Huldigung. Sie gilt zunächst der
Blume, mit ihr zugleich aber dem Gottessohn, der sich in ihr verbirgt.
Ein Bezirk der Scheu umgibt am Anfang die Blume inderWeise un-
eigentlicher, formelhafter, scheinbar konventioneller Redeweise.
«Tochter des Walds>> ist eine allgen1eine Kennzeiclmung, unmittel-
barer Vergegenwärtigung abgeneigt. Der Ausdruck steht sehr ver-
schiedenen Sphären zur Verfügung, er bezeichnet im Maler Nolten die
Zigeunerin Elisabeth,Iz im Gedicht Versuch~tng, in der Form «Kinder
des Walds >>, Erdbeeren. 13 Die Formel deutet aber auch auf das V erhält-
nis zwischen dem Raum der Herkunft und dem daraus stanun_enden
Einzelnen und hält so schon in der Anfangszeile eine für den weiteren
Verlauf charakteristische Hinsicht fest.
Auch die sprachliche Fügung «Lilienverwandte» bezeugt eine der
Evokation entgegenarbeitende Distanz. Die Christblume wird zu den
Hahnenfußgewächsen gerechnet. Die Verwandtschaft zur Lilie fügt
sie einem überlieferten Zusammenhang von Verweisungen ein (wozu
die Jungfrau Maria und die vom. Engel an sie ergehende Verkündigung
gehören), innerhalb dessen die Blume dem Dichter ihr Wesen Zeichen-
haft offenbart.
Mit dem Bericht, wie Mörike die Blume gefunden hat, stimmt die
Fortsetzung genau überein: er habe «viele Jahre vergeblich getrachtet»
nach ihr, die er «mit großer Überraschung>> als eine ihm «völlig neue
Blume>> gefunden habe. Die Idee der Christblume schwebte ihm also
seit langem vor, das erste Finden wird zum Wiederfinden, und der
Vergleich zwischen ihrem wirklichen Aussehen und ihrem im Geist
vorhergeschauten Wesen, zwischen dem Ort, wo sie wächst, und der
Heimat, der sie eigentlich zugehörig wäre, verleiht dem Gedicht einen
s n8. 9 n8. Io 77· II 8s. 12 2, I99, Z.2of. 13 8I, V.2.

105
zwiefältigen, zwischen Beschreibung und Deutung schwebenden
Charakter.
Der Kirchhof, auf dem die Blume wächst, heißt im Gedicht
<<fremd», im Brief wird dagegen die Bekanntheit der Gräber hervor-
gehoben. Die Fremdheit der Blume («So reizend fremd sah sie mich an,
sehnsuchterregend! »)verlangt auch einen fremden Ort; dessen Fremd-
heit kann sich auf die Sphäre des Todes, aber auch auf das Verhältnis
zwischen dieser und der Christblume -beziehen. Es ist sowohl aufEnt-
sprechung wie auf Entgegensetzung gegründet, da die Blume in
paradoxer Weise das schöne Leben mit dem Tod vereint. Sie blüht im
Winter, das sondert sie von allen übrigen Blumen ab. Als blühende
weist sie aber auch zugleich über den Winter und damit über die Gren-
zen unmittelbar erfahrener Realität hinaus. Das Paradox des Schönen
in öder Umgebung tritt hervor im Zuge der Entdeckung, die der
Dichter als einzigen Vorgang des Gedichts einleitend erwähnt, ehe er
sich in die Betrachtung des Gegenstands zurückzieht. Die Neuheit des
Entdeckten trifft denDichter mitder Umnittelbarkeitjener prägnanten
Momente, wo, durch die Epiphanie einer dämonischen Gewalt, der
Schleier, in den er sich einzuspinnen liebt, 14 jäh zerreißt 1 s und er seines
eigensten Wesens inne wird. 16
Was ihn so jäh ergreift, heißt ihm «schön». Schön ist ihm zuerst der
wohlgeformte, in sich ruhende Gegenstand: die Lampe als «Kunst-
gebild' der echten Art», 17 wo die geglückte Form durch eine geistige
Sphäre, die sie umgibt, ein höheres Leben gewinnt. Schön ist die Buche,
«man sieht schöner im Bilde sie nicht. Rein und glatt, in gediegenem
Wuchs erhebt sie sich einzeln» 18 : die Schönheit des Naturgegenstands
erhält ihr Maß vom_ Kunstgegenstand her. Schön ist mithin das schön
Gestaltete. Schon der junge Dichter erkennt sich die Aufgabe zu, die
<<Natur ... alles Erdenlebens liebe Fülle ... schön gestaltet, Unter gold-
nen Lei erklängen, Fest, auf ewig festzuhalten! >> 19 So wäre das Schöne
das Ergebnis der Verwandllmg von Natur in Kunst, die niem.als be-
schwichtigte Spa1mung zwischen ursprünglichem_ Leben und begren-
zender Erscheinung. Wer einer jungen Sängerirr zuhört, «fühlt, in des
Schönen Gestalt, ewige Mächte sich nah'». 20 So könnte vernmtet wer-
1
4An Wilhelm Waiblinger, nach Mitte Februar 1822.
15 An Luise Rau, 7· 8.1831.
16
"Von z~hlreichen Beispielen seien aufgeführt: Besuch in Uraclz (34ff., V. 77ff.), An
eine Aolsharje (37f., V. 19ff.), Die schöne Buche (75 f., V. 17ff.), Götterwirzk (82f., V. 25 ff.),
Neue Liebe (123, V.6ff.), An Wilhelm Hartlaub (147f., V. 19ff.). Vgl. dazu den grund-
legenden Aufsatz von Adolf Beck, Euph.46 (1952), S. 378, Anm.9.
17 8sf. 18 75f.
1
9 Der junge Dichter (r7ff.). 20 An eitte Siingerin (85).

106
den, die Schönheit der Christblume berge auch die Sphäre, der sie ent-
stammt, den Wald, den Kirchhof und weiterhin, wenn wir in ihr das
lilienhafte Wesen erblicken, in dem sich Christus ankündigt, den Lei-
densgrund, dem die Geburt des Herrn entwächst. Das Paradox der
Inkarnation, daß ein Ewiges sich in ein Zeitliches faßt, spiegelt sich im
Verhältnis der ewigen Sphäre der Toten zum zeitlichen Blühen dieser
einen Blume. Daher wendet sich eine weitere Strophe ihrer Beziehung
zu den Toten zu.
Die Blume war dem Finder unbekannt, der Kirchhofist ihm fremd,
den Hüter kennt er nicht, das Grab ist namenlos. Allem irdischen Kon-
text ist die Blume entrückt, sie darf nicht in menschliche Verhältnisse
einbezogen werden. Der Dichter, der sie mit irdischen Worten be-
schreibt, ist genötigt, eine Methode negativer, entfremdender, minde-
stens offenlassender Bezeichnung anzuwenden, um ihr jenseitiges We-
sen auszusprechen. Die feierlich unpersönliche Formel, die geistlichen
Wortschatz («so geschah ihm Heil») und griechischen Ausdruck («fiel
ihr Teil»: -rvyx&.vt:t) erinnernd verwendet, nimmt teil an dieser Ent-
rückung. Die Unbestimmtheit des Grabes ist um so ernster zu nehmen,
als der Brief davon spricht, daß es dem Dichter vertraut war. Jüngling
oder Jungfrau -, die Unentschiedenheit des Geschlechts unterstreicht
den schwebenden Charakter einer auf ungewisse Zukunft hin offen-
bleibenden Altersstufe, die noch nicht mit den Spuren erlittenen
Schicksals gezeichnet ist. Ihre Reinheit, ihr frühes, beginnliches W escn
deutet auf die Blume, deren <<frühen Flor» Mörike im Brief als eine
mystische Eigenschaft hervorhebt.
Ein heiliges Band verbindet Mörike mit seinem früh verstorbenen
Bruder August, dem er in An eine Äolsharfe ein Denkmal setzt: «Ihr
kommet, Winde, fern herüber, Ach! von des Knaben, Der mir so lieb
war, Frisch grünendem Hügel.» 21 Und dem frühvollendeten Lieb-
lingsdichter Hölty sind die Verse An eine Lieblingsbuche meines GartenS 22
zur Erinnerung gewidmet. In diesen beiden Gedichten gilt der wid-
mende Ton zugleich dem Gegenstand und dem Frühvollendeten, des-
sen er gedenkt: die Widmung ist als «wiederholte Spiegelung» ge-
dacht. In der Christblume gilt das Gedenken nicht allein den unbekann-
ten Toten. Der Name der Blume bezieht sich auf das Christfest, an dem
sie blüht. Dieses fällt in die tote Zeit des Jahres, und winterlich ist der
Empfang, den die Erdensöhne dem Heiland bereiten. Die Ankunft des
Himmlischen in der Öde des Irdischen nimmt das Paradox vorweg,
das im_Tod des Lebendigsten für das Leben der mitten im Leben Ge-
22
zr An eine Aolshmfe (37f.). 77f.

107
storbenen wirklich wird. Die Christblume ist dieses himmlisch Blü-
hende im irdischen Winter, aber sie trägt zugleich die Zeichen des
Todes an sich, der in solcher Geburt beschlossen liegt: sie schmückt ein
Grab und gehört mit ihrer weißen Farbe dem Winter.
In einem wenige Jahre zuvor verfaßten Geburtstagsgedicht für die
Mutter, Na!l/1)'5 Traum, wird ein Kirchhof beschrieben, ein Engel hütet
dort ein frisches Grab. «Er winkt, und aus des Grabes Schoße Steigt
blühend, wie der Schnee so rein, Hervor die weiße Totenrose Und
neiget sich im Mondenschein.» 23 Diese ersonnene Rose stellt sich als
traditionelle Allegorie des Jenseits dar, Reinheit, Todesfarbe, Affinität
zum Monde bleiben hier einzelne Attribute, deren Vereinigung nie-
mals die Intention der Erfindung vergessen läßt. In Auf eine Christ-
blume bieten sich dieselben Attribute als real erfahrene an: die Blume
wächst wirklich auf dem Kirchhof, sie ist weiß und rein wie der Schnee,
im Mondschein schien «es ihr besonders wohl und leicht zu atmen».
Obwohl nun diese Eigenschaften als wirkliche verbürgt sind, reichen
sie dennoch nicht aus, die Blume in ihrer sinnlichen Präsenz zu evozie-
ren. Die Nähe zur Allegorie gefährdet die elementare, sinnlich-
magische Wirkung der Blume. So ist der Dichter genötigt, um dieser
Wirkung willen eine zusätzliche Sphäre zu konstituieren, die, auf
Imagination beruhend, dazu dient, die Betroffenheit bei der ersten
Begegnung wachzuhalten. Die Blume wird der Übereinkunft mit
einem Bezugssystem einzelner, auf eine traditionelle Jenseitsvorstel-
lung hin deutbarer Zeichen entrückt. Mörike versetzt sie in der dritten
Strophe in einen neuen Zusammenhang, den die Unauflöslichkeit
bannender Bilder kennzeichnet, in ein ihr heimatlich zugehöriges
«Zauberreich». Zu ihm gehört der geweihte Bezirk, der ein natürliches
Heiligtum, den «nächt' gen Hain», mit der christlichen Kapelle ver-
einigt. Das weidende Reh bezeugt eine zeitlose Unschuld, als frommes
ist es auch der Kapelle verbunden.
Wie im Schattengrund des Tales von Urach die Natur mit sich selber
zu reden scheint, 24 wie im «Zaubergürtel» um die schöne Buche «des
Hains auflauschende Gottheit)> vernehmbar wird,zs so spricht sich hier
in «dämonischer Stille» ein unauflösliches Geheimnis aus durch Bilder,
die keinen aufschließbaren Sinn enthüllen. Mehr noch als das Reh, das
auch in der Wald-Idylle plötzlich, «bezaubert», aus dem Laub hervor-
2 3 233f. Vgl. den Hinweis bei J. C. Middleton, M ö"rike's Moonchild. In : Publ. ofthe

Engl. Goethe Soc. 28 (1959) , S.IIJ. Diese Arbeit, eine Interpretation der Christblume,
zeiclmet si<:= h durch die präzise Erfassung der besonderen Art von Bildlichkeit aus, die
hier erschemt, ferner durch eine minuziöse Beschreibung klanglicher Entsprechungen.
24 35, V. JJff. 2 5 76, I 7ff.

ro8
zukommen verspricht und dort in die märchenhafte Nachbarschaft
Sneewittchens versetzt wird, deuten das Schneelicht und der kristallne
Teich auf eine magische Sphäre. Der Schnee erscheint in Mörikes Ge-
dichten selten, 26 und in prägnanter Weise kaum je als sinnlich greifbare
Wirklichkeit, vielmehr als stofflose, überirdische, kostbare, un berühr-
bare Wesenheit, die bezeichnenderweise öfters aufBlumenübertragen
wird. 27 Die «großen, wundervoll duftenden Blüten» einer« südameri-
kanischen Stechapfelart», der Datura suaveolens,Z8 berauschen mit
dem «Hauch göttlicher Schöne» ein liebendes Paar, das <<den unnenn-
baren Duft aus dem weiten, Schneeigen Becher» schlürft. Das Schnee-
ige verdeutlicht hier den Zauber irdisch erscheinender Himmelslust,
wie im Maler Nolten, wo Theobald an einer offenen Calla «einen Teil
von Konstanzens eigenem Wesen» erkennt: <<dieser herrliche Kelch,
der aus seiner schneeigen Tiefe die mildesten Geister entläßt, diese
dunkeln Blätter, die sich schützend und geschützt unter das stille
Heiligtum der Blume breiten, wie schön wird durch das alles die Ge-
liebte bezeichnet und was sie umgibt! wie vertritt die Pflanze mir durch
ihre ahnungsvolle Gegen wart die himmlische Gestalt!» 2 9 Das Schneeige
deutet also weit eher einen Zustand als eine Substanz an, die Vereini-
gung übersinnlicher Verklärung mit sinnlicher Verführung. Die Ver-
bindung des Himmlischen mit demJungfräulichen und Mondhaften
im Bilde des Schnees dient im Maler Nolten der Beschreibung eines der
Christblume zutiefst verwandten Wesens, des <<Hirschs mit milchwei-
ßem Felle >>, den der RäuberhauptmannJung Volker, «an einem Mor-
gen vor Sonnenaufgang», im Walde freventlich erlegt. In einer nahen
Kapelle weiht er der Mutter Gottes eine Tafel, auf der er reumütig seine
Missetat erzählt. Nach dem tödlichen Schuß <<trauret ringsmnbher der
ganz wald mich an und ist als wie ein ring daraus ein dieb die perl hat
brochen. ein seiden bette so noch warm vom süeßen leib der erst ge-
stolenen braut. zu meinen füeßen sank das lieblich wunderwerk. ver-
hauchend sank es ein als wie ein flocken schnee am bodenhinschmilzt
und lag als wie ein mägdlin so vomliechten mond gefallen.» 30 Auf dem
Rücken trägt es ein Kreuzlein von schwarzem Haar. Dieses Eigentum
der Mutter Gottes erscheint, wie die Christblume, in einer Gestalt, die
die himmlische Herkunft offenbart und doch irdisch faßbar wird.
26 Der Gärtner (49, V.2); Mä'rcben vom sichern Mann (65, V.21); Götterwink (82, V.4);
Datura sttaveolens (84, V.4); Zur Eröffmmg eines Albums (u3, V . 1); Der alte Turmhahn
(141, V.107 und 143, V.157); Dem Herm Prior der K artause]. (170, V.23); Hermippus
(188, V.33); Erwiderung an Fernande Grä.fw voll Pappenheim (252, V. 5o); A11 Emma von
Niwdorj(303 , V.4); Idylle vom Bodmsee (373, V. 505 und 385, V. 845).
21 Z.B. in Götcerwink (82 , V.4).
2 8 84. 29 2, 76. 30 2,308.

109
Schwebend zwischen beiden Sphären sind die sinnlichen Zeichen, die
ein solches Wesen zur Anschauung bringen. Die Bilder, die es aus-
sprechen, sind durchsichtig, sie lassen den Himmel schauen, dem_es ent-
stammt, aber sie schließen sich zugleich zu einem magischen Raum zu-
sammen, den die Stunde vor Sonnenaufgang, die Einsamkeit des Wal-
des, die Abgeschiedenheit bilden, in der die unberührbare Braut sich
verbirgt. Auch Mörike fühlte ein Unrecht, als er die Blume durch seine
Schwester pflücken ließ, selber wagte er es nicht.
Unkörperlicher noch als der Schnee breitet sich das << Schneelicht >>
über den Hain. Im verwandten, zart unterschiedenen Bild des «krystall-
nen Teichs>> ist wiederum die Vergegenwärtigung dessen, was sich der
Erscheinung entzieht, gegeben. Der Kristall ist zugleich durchsichtig
und ein kompaktes Gestein, er erinnert an das Wasser, das sich in ihm
zusammenschließt, er hat die Farbe der Nichtfarbe, Mörike denkt ihn
oft dem Licht entzogen, vor unkeuschen Händen geschützt. 31 Derart
die Grenzen der Materialität überschreitend, eignet sich der Kristall
zur Andeutung des Geisterreichs ebenso wie der bei sich selber weilen-
den, von der Außenwelt abgeschiedenen Seele. Aus Kristall ist das
Glöcklein der Wasser- und Berggeister: «zum Spiel krystallner Glok-
ken, Drehn die Schwestern sich im Tanz», singt der Magier Drakone
vom Sieben-Nixen-Chor. 32 <<Rührt vielleicht der Geist im Berge Sein
krystallnes Glockenspiel?» 33 Die Feenfürstin Thereile im Schattenspiel
D er letzte König von Orplidhat ihr<<unterirdisch Schlafgemach Im küh-
len Bergkrystalle». 34 Der Kristall ist auch hier ein Zeichen für das
«Zauberreich», dessen Bann von der sinnlichen Konkretion einer den
Menschen entfremdeten Sphäre ausgeht. Den Geistern ist sie natürlich,
die Menschen sind in ihr lebendig begraben. Während Thereile im
Kristall wohnt, ist König Ulmon, von der Inselgöttin W eyla «in das
klare Wasser Des härt' sten Diamants >> eingeschlossen, 3s der Erlösung
bedürftig aus den Fesseln der in die Ewigkeit verkehrten Zeit. Dieselbe
Verkehrung bringt der Wachtraum des Königs beim Anblick des
Scheinbegräbnisses am Mummelsee zum Ausdruck. Dort trägt ein
Zug von nebelhaften Leichen einen leeren Sarg aus Kristall, der Ulmon
zu enthalten scheint, doch bezeichnenderweise leer bleibt. Ulmon aber,
der in ein abgeschiedenes Leben eingesargt ist, träumt, in diesem Sarge
zu liegen: <<Leb' ich denn noch? Wach' ich denn stets? Mir deucht, ich

31 Z. D. Maler Noltetz 2, 234.


32 130, V. 33 f.
33 Erwiderung an Femmzde Gräfin von Pappe11heim (251, V. 2of.).
34 2, 124, Z.25f. r.
3s 2, IIo, z. 33

I 10
lag in dem krystallnen Sarge, Mein Weib, die göttliche Gestalt, sie
beugte Sich über mich mit Lächeln; wohl erkannt' ich Sie wieder und
ihr liebes Angesicht.» 36 Der Kristallsarg scheint ihm den Wiedereintritt
in den menschlichen Bezug zu Leben und Tod zu versprechen. Aber er
bleibt ein leeres Traumzeichen und bildet so Ulmons tödliche Verzau-
berung ab. Für Ulmon ist der kristallene Zustand die Verweigerung
des lebendigen Todes durch das tote Leben.
Eine andere Scheintote ist Sneewittchen; von ihr erzählt die Wald-
Idylle: «Ein krystallener Sarg schließet die Ärmste nun ein, Frei gestellt
auf den Berg, ein Anblick allen Gestirnen; Unverwelklich ruht innen
die süße Gestalt.>> 37 Der Kristall bezeichnet auch hier den schwebenden
Zustand zwischen leben und Tod, dessen Reinheit und Unberührbar-
keit in der Jungfrau eine menschliche, in den Sternen eine himmlische
Gestalt annimmt. Der kristallene Sarg scheidet Sneewittchen von den
Lebenden, ohne sie darum den Toten zu gönnen. Sie bleibt beiden
verbunden, indem sie beiden entzogen bleibt.
Die Grenze von Leben und Tod wird so aufrechterhalten über den
Fluß der Zeit hinweg. Ein Dichter, der die entschiedene Begrenzung
scheut, die der Eintritt in lebendige Wirklichkeit mit sich bringt, wird
einen Zustand auszudehnen suchen, der ihn vor den Unbilden zeit-
lichen Fortgangs schützt. Wie Ulmon durch Thereiles Bann nicht
mehr der Zeit angehört, so Mörike noch nicht, wenn er in der Frühe
des Tages im abgeschiedenen Raum der Seele weilt. «Einem Krystall
gleicht meine Seele nun, Den noch kein falscher Strahl des Lichts ge-
troffen». 38 Der erwachenden Zeit bleibt der Dichter entrückt, den Ent-
rückten aber umgibt sie von allen Seiten. Der Kristall versinnlicht hier
die Gleichzeitigkeit des Inner- und Außerhalbseins, der Abgeschieden-
heit und der Diaphanie, der Ruhe des Zeitlosen und der Flutung der
Zeit. Der Versuch, eine Geschichte von Mörikes Lyrik nachzuzeich-
nen, müßte vor allem auf den fortschreitenden Rückzug aus der Zeit
achten, der sich im Halt an gegebenen Gegenständen äußert, in der Ab-
wehr sich ereignender Realität. Die dem Werden des Tags offene Seele
in An einem Wintermorgen, vor SoHnenau.fiang läßt es schließlich zu, daß
ihr abgeschirmtes Reich traumhafter Erinnerung vor der Macht des
Sonnenaufgangs verweht. Der Kristall bezeichnet das Zögern zwischen
solcher Bereitschaft und dem Verweilen im abgezirkten, scheu behüte-
ten inneren Raum. In der Christblume tritt dieser innere Raum im
kristallenen Zauberreich nach außen und behält den Charakter des
36 2, 135, Z.33ff. 37 104, V.32ff.
38 An einem Wintermorgett, vor Sonnenarifgang (r3, V.sf.).

III
Zeitentrückten, Lebenentfremdeten bei. Die Blume selber taut nicht
ins Leben auf, ihre winterliche Hülle spiegelt die Jungfräulichkeit der
dem Tag abholden Seele. Sie ist ein «Kind des Mondes, nicht der
Sonne>>. Die Sonne, die die anderen Blumen ernährt, bringt ihr den
Tod, die Kälte, die die anderen tötet, bringt ihr das Leben. Auf dieser
Umkehrung gründet sich die Zugehörigkeit zu den bisher wahr-
genommenen Sphären.
Die Christblume erschien in vielfältiger Weise dem natürlichen
Leben einer irdischen Blume entfremdet. Sie blüht im Winter, sie ist,
als Grabesschmuck, ein Zeichen des Todes, sie läßt, als «Lilienver-
wandte», als «Christblume», den Himmel ahnen, ihre eigentliche Hei-
mat ist das Zauberreich, dem die Geister nahen, ihre Erscheinung ge-
mahnt an die Bilder, die den Raum der bei sich weilenden Seele be-
zeichnen. Winter, Tod, christlicher Himmel, Geisterreicb, Innerlich-
keit vereinigen sich in einem Wesen, das, solchermaßen dem Bereich
des Natürlichen entzogen, dennoch gerade aus dem Lebensfremden
sein Leben schöpft. Die Christblume ist bei aller Nähe zu einem künst-
lichen Gegenstand doch eine in der Natur wachsende, lebendige
Blume. Ihr gelingt es danun, das Fremde zur Erscheinung zu bringen,
das Jenseitige in die Wirklichkeit zu bannen. Ihr schwebender Charak-
ter vermittelt einerseits zwischen den Sphären, die den Bereich der
empirischen Realität transzendieren, anderseits zwischen diesen und
der empirischen Realität selber. Diese Vermittlung fordert ein eigenes
dichterisches V erfahren.
Die Durchdringung von sprechendem Ich und natürlichem Gegen-
stand, die die Lyrik des jugendlichen Mörike auszeichnet, weicht hier
dem Abstand, aus dem der Betrachter sich zur Blume wendet. Er redet
sie an, um sie zu beschreiben und zugleich zu deuten. Indem er sich nur
am Rande in die Darstellung einbezieht, läßt er sie als eigenen, abge-
schiedenen Gegenstand bestehen. Einmal gefunden, wird sie nicht
mehr in ein Geschehen einbegriffen. Als einer abgelösten werden ihr
vom Dichter die Bestimmungen zuteil, die sie konstituieren. In der
Äolsharfe wiederholt, wie der Schrei der Harfe, auch die Rose die plötz-
liche Regung der Seele und «streut, geschüttelt, All ihre Blätter vor
meine Füße!» 39 Im Friihling vergleicht das Gemüt sich der Sonnen-
blume und spricht ibre Bewegungen als seine eigenen aus, «Sehnend,
Sich dehnend In Lieben und Hoffen». 40 Im Gegensatz dazu spiegelt
sich in der Christblume nirgendwo unmittelbar eine Bewegung der
Seele. Die Blume, nicht ihr Verhältnis zum Ich, ist der alleinige Gegen-
39 38, V. 21 ff. 4o 32, V. 7ff.

!12
stand, der aber nicht von sich selbst her erscheint, sondern als vom_
Dichter betrachteter. In solcher Getrenntheit vom Gegenstand liegt
eine Freiheit beschlossen, die mehrere Wege der Darstellung eröffnet.
Beschreibung des Gesehenen wird von weiterführender Deutung
ergänzt, die ebensowohl an die Beschreibung anknüpfen wie von ihr
sich lösen kann. Die Deutung kann der Beschreibung eine neue Sphäre
erschließen, die, gekennzeichnet durch ihren Widerspruch zur empi-
rischen Realität, deren Relevanz einschränkt. Die dritte Strophe über-
nimmt diese Funktion. Indem sie eine im Geist geschaute Realität er-
baut, cutwirklicht sie die empirisch erfahrenen Gegebenheiten und
bereitet damit die Brücke zwischen ihnen und den christlichen Bedeu-
tungen vor, die aus ihnen hergeleitet werden. Vermittelt wird aber
nicht nur zwischen empirischer und gedeuteter Realität wie anderseits
zwischen den deutenden Bereichen selber, sondern ebenso zwischen
symbolischer und allegorischer Erkenntnisweise. Wo die Blume an
ihrem Fundort in ihren einzelnen Eigenschaften festgehalten wird, ent-
hüllt sie Wesenhaftes symbolisch, insoweit ihre besondere Erscheinung
wirklich bleibt, allegorisch, insofern der Sinn in seiner Übermacht den
sinnlichen Daten ihre Unabsichtlichkeit raubt, sie nur als Zeichen seiner
selbst entdecken läßt. Wie schon beim Übergang vom Fundort, dem
Kirchhof, zum visionär zugeteilten eigentlicheren Ort am kristallneu
Teich vermerkt wurde, tritt das Korrektiv symbolischer Komposition
dort auf, wo die deutende Beschreibung allegorischer Abstraktion den
Weg erleichtert. Ein zweites Mal wird ein solcher Wechsel der Sphäre
notwendig, wo die Interpretation des «weißen Kleides» die Blume ihrer
unauflöslichen Verbundenheit mit der ihr ursprünglich zugehörigen
geisterhaften Natur entfremden könnte. Darum weicht dort der christ-
liche Bereich dem Umkreis der Elfen. Ein anderer Weg, die Selbstän-
digkeit der Allegorie aufzuheben, ist durch die Verknüpfung sinn-
licher Erfahrung mit dem Übersinnlichen gegeben, wenn das Gewand
der Gottesmutter duftet, wie schon die Winterluft von Balsam erfüllt
war.
Die Freiheit von der Empirie, die Freiheit weiterhin in der Verbin-
dung von Beschreibung, Deutung und der Deutung entwachsender
hypothetischer Setzung könnte auf ein neues Verhältnis zur Kunst
schließen lassen. Die Kunst scheint sich in solcher Freiheit von den
realen Gegebenheiten ihres Gegenstandes der Möglichkeit zu versi-
chern, ihre eigenen Setzungen von der Einheit her zu rechtfertigen, die
sie in der Einstimmigkeit ihres neu erbauten Gegenstands gründen läßt.
Mörike wäre es indessen fremd, einen Gegenstand zu konstruieren, in

IIJ
dem solche Einstimmigkeit angelegt wäre. Er wählt aus den empirisch
vorkommenden Gegenständen einen aus, der gleichsam von Natur her
schon Kunstcharakter besitzt. Dies gilt von der Erscheinung der Christ-
blume, deren Eigenschaften abstrahierender Deutung entgegenzu-
kommen scheinen. Die Emanzipation der Kunst vom Lebendigen
spiegelt sich indes nicht allein darin, daß die Kunst einen Gegenstand
ergreift, der als deutbarer sich aufdrängt, sondern in der Lebensferne
des Gegenstandes selbst, dessen dem_Tode verwandte Erscheinungs-
weise das Tote einer solchermaßen fortgeschrittenen Kunstmäßigkeit
spiegelt. Wo der Reichtum blühenden Lebens nicht mehr mit einer
sich vor der Welt in ihre Abgeschiedenheit zurückziehenden Seele über-
einstimmt, fordert diese als Bild ihres Eigenreichs die Abgezogenheit
vom Lebendigen, die winterliche Sanftheit verhüllten Lebens, wofür
jede einzelne Bestimmung der Blume steht. Der unirdischen Welt des
Todes, des Himmlischen, der Geister, des Winters, die sich als keusche,
weiße, schneeige, kristallene, mondhafte zu erkennen gibt, wird aber
immer wieder der Übergang in das Blühende, Duftende, Grüne be-
reitet.
Die Blume, die an der Sonne sterben müßte, ist aus winterlichem
Stoff gemacht, dem sich aber ein Duft vermischt, der eine andere Jah-
reszeit anzukündigen scheint. Ebenso belebt die Kälte ein Balsam, der
auch eine andere als winterliche Herkunft verrät. Gerade aus solchen
sinnlichen Vergegenwärtigungen scheint ein Jenseitiges zu sprechen,
eine Gnadengabe paradiesischen Ursprungs. Der Duft der Blume
weist auf himmlische Wesenheiten, deren Duft umgekehrt auf die
Blume zurück. Eines findet hier am anderen den in der Realität nicht
sicher verbürgten Halt. Zwischen dem Duft der Blume und dem um
die Gottesmutter vermittelt der Balsam der<<himmlischen Kälte>>. Auf-
fallend an dieser Strophe ist der Rhythmus der Anfangs- und Endzeile.
Choriambisch wölben sich die Einsätze und heben sich so vom alternie-
renden Gleichmaß ab, wie der Balsam die himmlische Kälte durchsüßt.
Die einfache, gesammelte Gegenwart, die im Anruf entsteht, fordert
gleichfalls solche rhythmische Rundung:« Schön bist du, Kind >>, nach
dem tonangebenden Beginn: <<Tochter des Walds ».
In der Metapher des Busens deutet sich vielleicht schon der Gedanke
an die Jungfrau Maria an. Dann stiege, im Fortgang der Übertragung,
der Wohlgeruch aus der goldnen Fülle auf, die der erwartete Heiland
birgt. Das geistliche << verkündet » bestätigt diesen Zusammenhang, und
die Dämpfung des Duftes - << nur kaum»- bringt, außer demjenseitigen
Ursprung, das Frühe der beginnenden Gottesankunft zum Ausdruck.

II 4
Die Christblume erfüllt hier als Lilie ihre geistliche Funktion, den Be-
such des Engels bei Maria sinnbildlich zu bezeiclmen.
Einmal mehr ist es der Geist der Frühe, dem Mörike sich beim Be-
trachten der Christblume zuwendet, den er auch sonst am reinsten als
eigenen auszusprechen vermag. Wie der Sohn in der jungfräulichen
Blume sich verkündet, so der Vater in der Blume des Sohnes. Francesco
Albanis Schlafendes Jesuskind redet der Dichter an: «Blume du, noch in
der Knospe dämmernd Eingehüllt die Herrlichkeit des Vaters! »4 1 Der
Engel steht da wie die Vergegenwärtigung dieser frühen dämmernden
Stunde, in der der Geist sich noch nicht inkarniert hat. An einem frühen
Wintermorgen beschreibt Mörike, in einem Brief an Luise Rau, <<jene
stille Frühstimmung des Herzens, wo man sich bewegt fühlt, man weiß
nicht, von was ... Es ist (wie das Sprichwort in anderer Beziehung sagt),
als wäre ein Engel durchs Zimmer gegangen; die Seele fängt gleich-
sam von sich selber zu tönen an, wie jene Harfen, auf denen die Luft
spielt.»« ... das Innere, noch unbewegt von der Außenwelt», 42 der Kri-
stall der Seele, «Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen»,
erkennt an der winterlichen Frühe den eigenen präexistenten Zustand,
wie der verkündete Heiland in der Winterblume sichtbar wird. Der
Duft steigt aus dem verborgenen Grunde der Blume auf. Es ist der
Duft, der vom Engel zu Maria dringt. Der Engel wohnt selber in der
stillen Verborgenheit des Geistes, der noch nicht aus sich herausgetreten
ist. In ihm kann sich die frühe Zeit verdichten, da Mörike noch bei sich
selber weilte, «jene stille Abgeschiedenheit des Geistes, wo der Engel
unserer Kinderjahre uns wieder begegnet und mit uns weint». 43
Mörikes Erregbarkeit beim Gedanken an die sinnliche Gegenwart
der Sphäre der Engel bezeugt ein Brief an Wilhelm Hartlaub vom
14.März 1839. Dort ist die Rede von einer «weißen Rose», die an ein
Kleid denken läßt und als nächste Assoziation einen Brief, wahrschein-
lich von Luther, in Erinnerung ruft, von dem Mörike bekennt: «doch
hat mich bei der Stelle: <denn weiße Farbe ist der Geister und aller
Engel Farbe> aufs neu ein süßer Schauer überlaufen».
Weiße Rose, Engel, Kleid, weiße Farbe treten in der Christblume
mit dem Bräutlichen in einen Raum zusammen. Eine leise Gebärde
bezeichnet den Ursprung eines Geheimnisses, das jener Raum verbirgt,
den Eintritt des Himmlischen in irdische Hülle. Die Zartheit dieser Ge-
bärde, wie der Duft <mur kaum», am verhüllenden Gewand, wahrge-
nommen, besaß für den Dichter vielleicht eine ähnliche Intensität wie
jene Berührung, die er seiner Braut beschreibt: <<Es konnte zuweilen
41 n8, V.sf. 42 4.1.I830. 43 An Luise Rau, 20.2.1831.

II5
geschehen, wenn Du auf dem Gang, im Zimmer oder wo sonst gleich-
gültig an mir vorüberstreiftest, mich mit dem Kleid berührtest, daß
michs dann schaudrig überflog, daß all meine Seele sich sehnsüchtig
Dir nachbeugte.»44
Wenn die einzelnen Elemente der Verkündigung in die Nähe ihrer
weltlichen Verwendung in M örikes Dichtung gerückt werden, so be-
rechtigt vielleicht zu solcher Grenzüberschreitung die Ambivalenz, in
der bis hierher j ede Bestimmung der Christblume und ihres Umkreises
stand, die einen geistlichen Gehalt in sich birgt. Die Kapelle zum Bei-
spiel und das fromm weidende Reh scheinen der M agie des <<nächt' gen
Hains» nicht nur nicht zu widersprechen, sondern sie noch zu verdich-
ten. Oder, dem «keuschen Leib voll Reif und Duft>> entsprechend,
welcher der Blume Eigenschaften der Luft verleiht, verrät die Luft
ihrerseits, «balsamsüß», ihre W esensgleichheit sowohl mit der Blume
wie mit der Sphäre der Verkündigung und nimmt so einen Zusam-
menhang vorweg, den der Vergleich rein ausspricht. Die Eindeutig-
keit der geistlichen Zuordnung wird gemildert durch die ihn begrün-
dende sinnliche Wahrnehmung des Wohlgeruchs, welche die Realität
der Blume und ihrer winterlichen Umgebung unversehrt erhält. Den-
noch setzt mit dem Vergleich eine neue Stufe des Gedichts ein: die
Deutung der Blum.e transzendiert zum ersten Mal eine aus realen Bil-
dern gefügte Welt. Von hier ist es nur noch ein Schritt zu einer allego-
rischen Auffassung der Blume, die in der sinnlichen Erscheinung eine
nachträgliche Bestätigung zuvor gegebenen Gehalts sähe. Indem Mö-
rike die Möglichkeit zu solcher Allegorie eröffnet, fünf imaginäre
Purpurtropfen als Zeichen für das Leiden des Erlösers malend, löst er
einen Assoziationsstrang aus dem Verbande der übrigen heraus. Diese
Entblößung einer bis hierher verhüllten D eutungsweise dient aber
deren Vernichtung: die Blume zeichnet sich gerade dadurch aus, daß
sie solcher evidenter Allegorie nicht entgegenkommt, sie vielmehr als
unwirklich zurückweist. Ein zweites Mal wendet M örike das Verfah-
ren hypothetischer Konstruktion an, welches die Emanzipation der
Kunst von der Realität ihres Gegenstandes anzeigt. Doch hat die Hypo-
these hier einen der Funktion der dritten Strophe entgegengesetzten
Sinn. Dort ging der Dichter von der unangefochtenen Erscheinung der
Blume aus, zu der der Ort ihres Blühens, scheinbar ein sprechender
Hinweis aufihr Wesen, im \Viderspruch stand, so daß ein ande rer, der
Erscheinung angemessenerer Ort hypothetisch an die Stelle gesetzt
wurde. Hier wird die Erscheinung der Blume in ihrer Sinnfälligkeit
44 An Luise Rau, 19. 5· 1830.

II6
angezweifelt zugunsten eines hypothetischen Aussehens, das im Ein-
klang mit dem Gehalt stünde, den die Blume zum Ausdruck bringen
müßte. In beiden Fällen bringt die hinzugesetzte Konstruktion eine
Spannung zur Realität zustande, die zu vermitteln, das W esen der
Blume erweitert. D enn dabei zeigt sich, daß die Blume eine Diskrepanz
von Sinn und Erscheinung vorweist, w elche einen eigenen, neuen Sinn
erkennen läßt.
\Venn Corona Christi, <~eine bekannte Kleeart, welche Maria unter
dem Kreuze blühend gefunden haben soll», sich mit der Dornenkrone
des Heilands schmückt und bezeichnenderw eise auf j ede Farbe ver-
zichtet, um das «heil'ge Leiden » rein zum Ausdruck zu bringen,4s so
läß t sich an ihr die Passion ebenso unmittelbar ablesen wie am licht-
grünen Hauch der Christblume das erfrischte Leben der Weihnacht.
Ab er jene geht in dieser Übereinstimmung zwischen Erscheinung und
Sinn auf, während die Christblume, indem sie aufWeihnachten zeigt,
die Uneigentlichkeit ihrer Erscheinungsweise zu erkennen gibt. Nicht
daß sie den Bezug zur Geburt Christi verleugnen sollte; aber sie müßte
die Totalität Christi umfassen, die sich in der Spannung zwischen seiner
Geburt und seinem Tod manifestiert. Die Verleugnung des Leidens ist
eine von Mörikes sonstigem V erhalten aus durchschaubare Weige-
rung, die ursprüngliche Not, auf die das Leben sich gründet, sich zu
eigen zu machen. 46 Er hüllt, schleiert, spinnt sich in einen abgeschirm-
ten Raum der Innerlichkeit ein, 47 oder er faßt in eine verharmlosende
schöne Gestalt, w as er als verstörend ahnt.
Der lichtgrüne Hauch auf dem w eißen Kleid der Christblume er-
scheint als Maske, die die Wahrheit über Christi Leiden an der Welt
verdeckt. Doch verbleibt die Blume im Einklang mit dem Stande der
Unschuld, dessen Zeichen sie trägt. Von außen, vom Betrachter her
w erden die Zweifel an der Authentizität ihrer Erscheinung geäußert. Sie
selber scheint ihrer Hülle einverleibt zu sein, so, als ob Wesen und Er-
scheinung sich als eines empfänden. Die Maske ist Natur geworden.
Mörike ist von früh auf in den Z w iespalt zwischen wahrem Lebens-
grund und maskenhafter Verdeckung einbezogen. Die frühen Zeug-
nisse des W erks wie des Briefschreibers lassen aber die Spannung zwi-
schen beiden erkennen und scheuen oft nicht vor den tödlichsten Kon-
sequenzen solcher Erkenntnis zurück. Der Maler Nolten ist auf dieser
Spannung aufgebaut und läßt die desillusionierten Hauptpersonen in
45 252.
46 V gl. Adolf Becks Deutung von Mörikes Verhalten gegenüber Peregrina, in Eu-
phorion 47 (1 953), S.215ff.
47 Z. B . an Waiblinger, nach Mitte Febr. 1822.

II7
Tod und Wahnsinn enden. Das Verhältnis zu den Freunden Waiblin-
ger und Hartlaub kennt Augenblicke der Einsicht in eine gefährdende
Diskrepanz zwischen wahrem und verhülltem, ja verstelltem Ver-
halten.48 Die Gedichte sprechen die Gefangenschaft in lieblich belügen-
dem, 49 schützendem, trennendem so Schleier aus. Aber meist zerreißt
der Flor,sr und das Unmittelbare erklärt sich, sei dieses nun das durch
den Vorhang blickende «Zaubermädchen» Peregrina,sz das vom Ge-
witter erweckte ursprüngliche Wesen des Urach-Besuchers, den kein
«fremd und hold Gesichte» mehr verwirrt,s 3 der unverstellte Herbst-
himmel,s4 die Knabengestalt des ersehntesten Freundes, die «den kin-
dischen Bann, den luftgewebten», durchbricht,ss oder «die nacht-
schaurige Kluft>>, in die die Todesahnung den eben noch sicher in
lebendigen Verhältnissen hausenden Geist führt.s 6
Für die späteren Gedichte kennzeichnend ist der häufige Verzicht auf
das Ereignis, das die schützende Hülle aufreißt. Klagend spricht Ver-
borgenheit diesen Zustand aus: «<mmerdar durch Tränen sehe Ich der
Sonne liebes Licht.»s 7 Klaglos, nicht mehr an der Lebensferne der Ab-
geschiedenheit leidend, Auf eine Lampe. Zur Vergessenheit des Lust-
gemachs stimmt der aus einer einzigen Hülle bestehende Gegenstand,
auf dem, der Christblume verwandt, in lieblich verdeckender Un-
schuld <<fröhlich eine Kinderschar den Ringelreih'n» schlingt.s 8 Ebenso
gelassen scheint die Christblume in ihre liebliche Unschuld eingefroren
zu sein, doch begnügt sich Mörike nicht, sie, wie die Lampe, für sich
sprechen zu lassen. Als ein fehlendes fügt er das Leiden hinzu und er-
reicht damit sowohl die Betonung der Besonderheit der Blume wie die
Andeutung der Totalität der Existenz Christi. Beginn und Ende seiner
irdischen Bahn werden hier gegeneinandergesetzt, unversöhnter als in
den beiden christlichen Bildbeschreibungen, wo die sündelose Sphäre
des Kindes den Tod nichtahnend birgt.
Aber offenbart sich das Paradoxon der Geburt und Tod vereinigen-
den Inkarnation Christi nicht allein schon in der Gleichzeitigkeit kind-
lich blühenden Lebens mit der es umgebenden winterlichenNaturund
gar der Fremdheit des öden Kirchhofs? In dieser Umkehrung liegt
48 Anm.47 und an Wilhelm Hartlaub, 20. 3· 1826.
49 Besuch in Urach (34, V.sJf.).
so Verborgerdteil (95 , V. 7f.) und An Hermann (79, V. II).
sr An Luise Rau, 7.8.1831.
52
Peregrina , frühe Fassung des 3. Gedichts (467f.).
SJ 36f., V.77Jf.
54 September-Morgen (94).
ss An Herm atm (79, V. 13 ff.).
s6 Erinna an Sapplto (87, V.23ff.) .
57 95, V. 7f. 58 85 f.

II8
schon die Totalität beschlossen, die mit Christus in die Welt tritt. Eine
Bestätigung für diese Auffassung bringt die Umkehrung dieser Um-
kehrung, das Gedicht Karwoche. Hier wird eine Frühlingslandschaft
geschildert, mit Sonne, Veilchen, Blütenbäumen, jubelnden Vöglein.
Aber der Sonnenstrahl zeichnet den Schatten des Kreuzes auf die Erde,
und die Veilchen vereinigen sich «zum dunkeln Strauße», der auf dem
Altar des Herrn welken soll. Vor den« dumpfen Glockenklängen», vor
den Grabgesängen der Engel sollen die Vögel schweigen. Und den
Veilchenduft ertränken die«schweren Weihrauchdüfte», die die Seele
in eine Todestrunkenheit versetzen: sie kehrt sich von der«Frühlings-
wonne» ab und sucht «den Bräutigam in Todesgrüften».s9
Das Gedicht ist so deutlich auf den Gegensatz von blühender Natur
und gestorbenem Gott hin komponiert, daß von daher ein Licht fällt
auf die christlicher Thematik inhärente Möglichkeit zur Allegorie: ihr
ist aufgetragen, die Transzendierung der Realwelt durch die Gottes-
welt zu versinnlichen derart, daß die Entgegensetzung zugleich als Ein-
heit sich faßt, wenn der Transzendenz im Tode die Immanenz im
Leben zugesellt wird und so beide vereinigt dasWesender Inkarnation
Christi aussprechen.
Dazu stellt das Gedicht Aufeine Christblume die in allen Teilen kontra-
punktische Entsprechung dar. Aus dem Rahmen des öden Kirchhofs
fällt die schöne Blume, sie transzendiert ihre Umgebung wie Christus
als Neugeborener die Menschenwelt, in der er weilt. Wie dort die
Frühlingslandschaft sich in Todeszeichen verwandelte, so weicht hier
die Öde des Kirchhofs paradiesischer Verklärung in der Landschaft am
kristallenen Teich und in der balsamsüßen Luft des Himmels. Indem
die winterliche Natur sich so teils dem Moment der Geburt angleicht,
teils in ihrer Öde erhalten bleibt, spricht auch sie die gegenstrebige Ein-
heit der Ankunft des Himmlischen aufErden aus. Aber Karwoche zielt
eindeutiger auf christliche Erläuterung ihrer Situation als Auf eine
Christblume. Der Titel zeigt bereits den Unterschied an, und der Gang
der Gedichte macht ihn vollends evident. In Karwoche wird Schritt für
Schritt die Realwelt auf die Gotteswelt bezogen und in diesem Bezug
vernichtet. In Auf eine Christblume gleicht der Dichter die Sphären
gegeneinander aus: wo in der zweiten Strophe allegorische Deutung
sich aufdrängt, tritt in der dritten ergänzend eine Bilderwelt auf, die
sich als undurchlässig allegorischer Zeichenhaftigkeit erweist.
Diese Zurücknahme wiederholt sich an dem Punkte, wo die Mög-
lichkeit zu allegorischer Deutung der Blume am unverhülltesten zu-
59 96.

II9
tage tritt, in der vorletzten Strophe. Hier wendet sich die Bewegung
des Gedichts wieder nach der entgegengesetzten Richtung: die Blume
wird ihrer Erscheinung zurückgegeben, allegorischer Auflösung wirkt
erneut die magisch e Verklärung entgegen: der Elfe pflanzt die Blume
wieder in ihr Zauberreich ein und läßt sie zuletzt in ihrer Undeutbar-
keit stehen.
Ein neues Mal wird als die bezeichnendste Eigenschaft des Gedichts
faßbar die schwebende Vermittlung geistlicher und geisterhafter
Sphäre. Der Elfe gehört und gehört nicht zur Christblume. Er tritt in
ihre Nähe, hält aber in verehrendem Abstand an. Seine mitternächtige
Stunde ist auch die Stunde der Gottesgeburt. Der lichterhelle Grund,
in dem er beheimatet ist, erinnert an die goldne Fülle, die im Grunde
der Blume sich verbirgt. Einer Lichtwelt zugehörig, die im Dunkel
erscheint, deutet er auf die Helligkeit um das neugeborene Kind mitten
in der Finsternis des Stalles, auch auf den Lichtkreis, den die Engel in die
Nacht der Hirten herabbringen.
Der Elf ist selber ein schweb endes Wesen, das verschiedene Aus-
prägungen eines zentralen Bereichs verschmilzt. Von der sinnlichen
Seite schildert ihn ein Brief an Hermann Kurz, der seine Verwirk-
lichung unter den Menschen darstellt. Ein kränkliches, einfältiges Mäd-
chen und ein Bauernkind, dessen kindlich geformte N ase, schwim-
mende trübe Augen und liebliches Lachen ihn vorzüglich berühren,
gehören für Mörike zur Gattung der elfenartigen «Vanillegesichter>>, zu
denen die Neutralität griechischer Mädchennamen auf -ov paßt. «Sie
müssen nicht schön sein, hingegen haben sie sinnliche Reize ... Es gibt
jedoch auch Kuabe11 von dem echten Elfencharakter ... Die Rührung,
wovon man allemal dabei beschlichen wird, ist in der Tat zum Teil in
der Idee des Vergänglich en gegründet ... »6°
Von der seelischen Seite zeigen sich die Elfen, wo sie das tote Rot-
käppchen im Mondenschein, in der Stille des Waldes, begraben und
ihm ein Elfendasein verheißen:
<<Bald aber - liebe Schwestern , freuet euch! -
Wird dieses Kind uns allen gleich.
Es windet sich aus feuchtem M oos
Mit frischen Elfengliedern los,
Dann wiegt es sich im schwanken M ondenstrahl
Auf Blumen und auf Halmen
Und tanzt durch Wald und Wiesental.»6I

6o J0.6.I8J7.
61 [Rotkäppchen ut1d Wolf}zSI, V.24ff.

120
Die Verwandtschaft zur mond- und waldhaften Sphäre der Christ-
blume ist so greifbar, daß der Elfe selber wie eine Verwandlung der
Blume in ihren eigenen Geist erscheint (als einen «lieblichen Geist » be-
zeichnet sie der Brief). Er bringt damit nochmals das engelhafte Wesen
in Erinnerung, aber zugleich die mit dem Geist Gottes in Christus
niedergekommene himmlische Wesenheit, und nimmt den Schmet-
terling des zweiten Gedichts vorweg, 62 der - griechisch 'lfJVX~ - sich als
unsterbliches Teil von ihr lösen wird, ähnlich der elfenhaften Seele
Rotkäppchens.
Die zwei Strophen, die als ein eigenes Gedicht folgen, sind von den
anderen abgetrennt, weil von der Blume jetzt nur mehr über den
Schmetterling die Rede ist und der Augenblick des Raums und der
Zeit, der sich aus der Situation der Entdeckung im Kirchhof ergab,
nun überschritten wird. Die Blume wies durch ihre Erscheinung, den
Ort und die Zeit ihresBlühensauf ein Jenseitiges, sei dieses nun als Tod,
als christlicher Himmel, als Geisterreich, als Sphäre der abgeschiedenen
Seele näher bestilnmt. Der Schmetterling, der an Engel und Elf ge-
mahnt, ist die Verkörperung dieses Jenseitigen, er ist das, woraufhin
die Blume deutete, und er wird es deshalb erst, wenn die Blume selber
nicht mehr ist. Er ist die an ihr immer schon geahnte Metamorphose
ihrer selbst zu ihrem geistigsten Teil. Während sie blüht, ist er ein
«Blumenkeim>>. Die kühne Metapher sieht Blume und Schmetterling
als eines, sie vollendet die Vermittlung einander zugehöriger Bereiche,
die im «Leib voll Reif und Duft», im Balsam der himmlischen Kälte
sich ankündigte. Wenn die Blume, die dem Dichter als frühe galt und
so «schon wie von dem anderen Jahr herüber» duftet, verblüht ist,
bleibt ihr Geist der Frühe erhalten im Schmetterling, der« In Frühlings-
nächten wiegt den samtnen Flügel». Die Nächte lassen seine Ferne vom
sommerlichen Tag ahnen und verlängern so die Zugehörigkeit der
Christblume zum Mond und zum Winter. Der Sommervogel wird
hier der Frühlingsnacht zugesellt, um das Wesen der winterlichen
Blume bruchlos in die ihr fremde Jahreszeit hinüberzuretten. Als ihre
Seele erinnert er an sie und bringt sie im Stande der himmlischen Ver-
klärung zur Erscheinung, indem er mitten in der Gegenwart sommer-
lichen Lebens ihren Tod verkörpert. Hier wird ein Weg der Verwand-
lung zur reineren Wesenheit beschritten, der seine Fortsetzung im Tod
des Schmetterlings fmdet. Als« Geist>> überlebt er den Sommer, in dem
er die als Seele überlebende Blume vertrat. Und nun erst kann er ihr,
6z Vgl. den Hinweis der behutsam nachzeichnenden Interpretation der Christblume
von Gerhard Storz. In: Die dt.Lyrik. Hrsg. von B. v. Wiese. Bd. 2 (1958), S. 87.

I2I
die im neuen Winter neu blüht, in der ihm als Schmetterling bestimm-
ten Funktion nahen. Den Gestorbenen, der als Geist fortlebt, zieht die
Blume an, die selber das vergeistigte Leben des Todes zur Anschauung
bringt. Nur auf den ersten Blick mag dieser Schmetterling von jenem
im Weinberg sich unterscheiden, den<< himmlische Kräfte ... des leben-
digen Worts» in das Neue Testament herniederziehen, welches dem
Dichter halboffen zwischen den Fingern im Schoße ruhte. Auch jener
ist trunken, zwar vom_ heiligen Wort, aber war nicht gleichfalls die
Nähe eines himmlischen Geistes am Ursprung des Dufts, der die
Christblume für den Schmetterling des andern Gedichts anziehend
macht? Erst als toter kreist er um die Blume, wie der Schmetterling
im Weinberg erst als verklärter, «unverletzlich», die Lilie besucht und
göttlich befruchtet, ein neuer Engel einer neuen, himmlisch-irdischen
Verkündigung. 63
Die Frage, die solchen Ausblick auf den künftigen Winter offen läßt,
erinnert an den Sprecher des Gedichts, der nach langem Schweigen
wieder vernehmlich wird, indem er das letzte Bild von seiner Betrach-
tung wegrückt («mir unsichtbar»). Damit wird der schwebende Cha-
rakter des Gedichts und seines Gegenstands vollends verwirklicht: es
bleibt offen, ob die verwandten Geister sich verbinden. Der Entrük-
kung der Blume und des Schmetterlings in ein geahntes Bild entspricht
ihrer beider Wesenheit. Hatte nicht schon einen Tag nach dem Fund
der Blume Mörike seinem Freunde geschrieben: «In der Tat gedenk
ich ihrer jetzt nur wie eines lieblichen Geistes»?

Die beiden letzten Strophen enthüllen in sich steigernder Entwirk-


lichung den jenseitigen, geisterhaften Charakter der Blume, der sich in
den Bildern und Vergleichen des ersten Teils verborgener kundtat.
Daß die Blume am Ende, nachdem der Zeitkreis sich geschlossen hat,
wie zu Beginn als blühende dasteht, darf nicht darüber hinwegtäu-
schen, daß lauter Zeichen der Entfremdung von Lebendigem sie um-
geben und erbauen. Es scheint, als erzeuge Mörike aus dem Gefrorenen
ein Leben, das sich in der Fülle blüten-und fruchtreicher Natur unan-
gemessen dünkte. Die Abgeschiedenheit, in der der Gefangene seiner
eigenen Seele weilt, spiegelt und bestätigt sich in einem Kunstgebilde,
das seine Reinheit und Entrücktheit der Äußerung fruchtbaren Lebens
vorzieht. Das Leben der Kunst entspringt hier der Todesnähe des
Gegenstands. Aus dessen Winter dringt allein der Duft, der ihn als
lebenden ausweist.
63 105 f.

122
Diese sich andeutende Mortifikation wirft die Frage auf, ob Mörike
nicht von ferne auf die Kunst Mallarmes und Valerys weise. In Mal-
larmes Gedichten wird dem Reinen, Jungfräulichen, Weißen, Winter-
lichen, Abgeschiedenen in kultischer Feier gehuldigt. Nur vermag die
Verwandtschaft zu den Bildern in Auf eine Christblume den bedeut-
samen Gegensatz nicht zu verwischen, der in der polemischen und
programmatischen Abkehr vom natürlich Lebendigen liegt. Das Un-
fruchtbare allein besitzt für Mallarme die Dignität, im Kunstwerk
herrschen zu dürfen. So könnte am berühmten Sonett über den unter
der Eisfläche eines Sees gefangenen Schwan Gemeinsames u_nd Tren-
nendes dargelegt werden. 64
Nach einer ersten, noch sehr fragmentarischen, aber durchaus ent-
scheidenden Bekanntschaft des jungen Valery mit einigen Versen aus
Mallarmes Herodiade schreibt jener mehrere Gedichte, deren Bilder-
welt öfters an die Christblume erinnert. Unter dem Titel Fleur mystique
wird eine Jungfrau angesprochen, deren mondene Farbe ein Schleier
verhüllt. Die <<mystische Lilie» trägt ein Gewand, das von Weihrauch
duftet. Blasphemisch wünscht sich der Dichter, «der Christus dieses
göttlichen Traums» zu sein.6s Splendor, 66 Vierge incertaine,67 Le cygne, 68
L' enchemisee 69 sind lauter Beispiele für eine ähnliche Vermischung
sakraler und erotischer Hingabe an ein erträumtes jungfräuliches Idol,
das Lilien, Kristall, Schnee umschreiben. Und in einem Gedicht Feerie
(Zauberreich!) entblättert ein Kind mit einem Perlenleib unter feier-
lichem Mondlicht Lilien und Schneerosen über einer Wasserfläche. 70
Daß hier keine Beglaubigung an einem betrachteten Gegenstand er-
strebt wird, liegt zutage. Die variierende Zusammenstellung einzeln
verfügbarer Elemente zu Kompositionen, denen die Hervorbringung
errechneter sinnlicher Reize genügt, rückt diese epigonalen Produkte
weg von Mörikes Versen Auf eine Christblume. Aber die Dominanz
derselben Bildsphären, des Verzauberten, Winterlichen, Nächtlichen,
Entrückten, Jungfräulichen, Sakralen, unfruchtbar Reinen, verbindet
beide Dichter und läßt Mörike in ungewohnter Perspektive erscheinen.

Indem bei Mörike von fernher die Ankündigung «absoluter» Kunst


erkennbar wird, drängt sich angesichts der Kluft zwischen den ver-

64 Le vierge, le vivace et le bei aujourd'hui . .. (Pleiade 1956, S.67f.). Vgl. auch die An-
fangsstrophe von Evmtail: «De frigides roses ... » (Pleiade S.58).
6s Pleiade I (1957), 1579f.
68 Ebd. 1585f. 69
66 Ebd. 1580. 67 Ebd. 158of. Ebd. 1587.
10 Die hier besprochene früheste Version trägt den Titel Blanc (ebd. 1543). V gl. die
späteren Fassungen S. I 543 f., 77f. und 78.

123
glicheneu Werken eine zusammenfassende Würdigung derjenigen
Züge auf, die solcher Einordnung widerstreben. Am Anfang wurde
der Bezirk der Scheu erwähnt, mit dem der Sprecher formelhaft die
Blume umgibt. Zuletzt blieb der Hinweis auf seine Frage stehen, ob
der Geist des vorjährigen Falters die künftige Christblume umkreisen
werde. Die Behutsamkeit solcher Näherung entspringt der zarten
Geistigkeit, die die Blume und den ihr zugehörigen Schmetterling aus-
zeichnet. Als Erinnerungszeichen für. einen Frühverstorbenen weist sie
auf die Ahnung eines Lebensbeginns. Ein scheues Reh nähert sich ihr.
Die Luft, die sie nährt, ist von einem himmlischen Arom gemildert.
Der Duft, der aus ihr dringt, ist kaum vernehmbar. Ein Hauch grünen
Lebens zeigt sich auf ihrem Kleid. Der Elf wagt nicht, in ihre Nähe zu
treten. Die Blume ist ein geheiligtes Wesen, eine mystische Glorie um-
gibt sie; sie verrät zartestes Leben in schützender Verhüllung. D er
Dichter huldigt ihr als einem Geist. Vielleicht hilft sie verstehen, war-
um Mörike kaum Götter, wohl aber Geister kennt: Engel , Elfen, Feen,
Nixen, Nymphen, Hexen, auch Musen, dazu viele Elementargeister,
des Windes, des Wassers, des Feuers, und Geister der Toten. Die Gei-
ster verschwinden in der natürlichen Sphäre, die ihnen gehört, sie ent-
ziehen sich dem Zugriff des Menschen, sie sind so flüchti g und beweg-
lich und so wenig umrissen wie die Elemente selber, sie verweigern die
sinnfällige Gestalt, die einer Gottheit zugesprochen wird. Die Christ-
blume ist wohl den betrachtenden Blicken ausgesetzt, doch verbirgt
ihr Aussehen eine andere, nur angedeutete Wesensart. Zwischen ver-
schiedenen Sphären schwebend, zieht sie sich in Vieldeutigkeit zurück.
Wie deutlich auch die einzelnen Bezirke hervortraten, denen sie an-
gehört, zuletzt steht sie als ein Rätsel abseits und duldet vielleicht noch
die Nähe eines abgeschiedenen Falters. Was sich als Aussage kundtat,
wird in der Frage des Schlusses zurückgenommen. D er Gegenstand
löst sich in seine M öglichkeit auf, unsichtbar bleibt er einer offenen Zu-
kunft vorbehalten.

124
III
WIRKUNGEN DES FRANZÖSISCHEN
SYMBOLISMUS AUF DIE DEUTSCHE LYRIK
DER JAHRHUNDERTWENDEr

Aus der Vielfalt der Wirkungen des französischen Symbolismus auf


die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende werden hier zwei Beispiele
vorgeführt. Ihre notwendige Begrenztheit korrigiert sich dadurch, daß
an ihnen weit auseinander liegende Stationen dieser Rezeption sichtbar
werden. Beide stimmen in einem scheinbaren Paradox überein. In
ihnen zeigen sich die Dichter unter dem unbezweifelbaren Einfluß
französischer Vorbilder und sind zugleich der unverwechselbar zu
ihnen gehörenden Möglichkeiten Herr. Dieses Paradox hört auf, eines
zu sein, wenn die besonderen Bedingungen der Rezeption und die
Eigenart der rezipierten Kunst begreiflich geworden sind. Beide Unter-
suchungen verdanken viel dem Zweifel, ob der Einfluß Baudelaires
und Mallarmes auf George oder Rimbauds aufTrakl im einzelnen, bei
genauerer Beachtung des Tons, der Syntax, der Bildkombinationen, so
vielfältig nachweisbar sei, wie die Forschung oft annimmt. Hat nicht
George selbst diese literarhistorische Tradition in programmatischen
Äußerungen, Vor- und Lobreden maßgebend befestigt, nicht zuletzt
dadurch, daß er kaum auf die Wirkungen der ungefähr gleichaltrigen
französischen Dichter auf sein Werk hingewiesen hat? Hier ist zumin-
dest eine Ergänzung anzubringen, zu der sich unter den vielen Nach-
fahren Mallarmes, denen George in Paris begegnet ist, Viele-Griffin,
auch weil sein Einfluß gänzlich unerforscht geblieben ist, besonders zu
eignen scheint.

I. Stefan George und Francis Viele-Griffin


Die Erforschung der Beziehungen Georges zum französischen Symbo-
lismus stützt sich mit Recht auf seine frühen Pariser Aufenthalte in
den Jahren I 889 und I 890. 2 Eine glückliche Fügung vermittelte dem
Ankömmling gleich am ersten Tag die Freundschaft Albert Saint-
Panis, der an Mallarmes berühmten Dienstagabenden teilzunehmen
pflegte und mit den meisten jüngeren und älteren Symbolisten, mit
Henri de Regnier, Jean Moreas, Stuart Merrill, Francis Vielc-Griffm,
Gustave Kahn, auch mit dem vereinsamten V erlaine bekannt war.
r Der vorliegende Text wurde mehrmals als Vortrag gehalten, zum ersten Mal am
r6. I. 1963 in der Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur in Zürich.
2 Ausführlich berichten darüber in der Revue d'Allemagne Nr.13/14 (Nov./Dez.

1928) Albert Saint-Paul {Stefan George et le symbolisme franfais, p. 397-405) und Albert
Mockel (Quelques souvenirs sur Stefan George, p.385-396).

I27
George lernte durch ihn diese Dichter persönlich kennen, er wohnte in
der Rue de Rome den leidenschaftlichen Gesprächen über die neue
Ästhetik bei, vor allem der Auseinandersetzung um den vers libre.
Damals begann er Baudelaires Fleurs du Mal zu übertragen; damals
schrieb er die Hymnen, deren Sprache und Motive durch eine Kluft
von seinen Jugendgedichten geschieden sind. Von den Hym nen bis zum
Buch der hängenden Gärten läßt sich an zahlreichen Gedichten die Wir-
kung Baudelaires, Mallarmes, auch Verlaines, der Parnassiens und
jüngerer Symbolisten erschließen oder zumindest vermuten, wobei
vor allem die Neuerungen im Versbau und in der ihm unterworfenen
Fügung der Worte ins Gewicht fallen. 3 Getragene Verse, deren Worte
sich zu Klangmustern verschwistern, oft zu einer «partition de syl-
labes», um Mauclairs Ausspruch über Baudelaire zu zitieren, stützen
sich auf eine Syntax, die, ihrer verbalen Kraft beraubt, den Satz ellip-
tisch verkürzt. Die Aussage tritt in den Hymnen hinter der feiernden
Selbstbestätigung des Gedichts zurück. Diese Gebärde vererbt sich im
Algabal auf den Priesterkönig, der einen milderen Bruder im verbann-
ten Herrscher des Buchs der hängenden Gärtell besitzt. Statt Baudelaires
quälender Spannung zwischen «Spleen» und «Ideal», statt Mallarmes
n1.ethodisch inszenierter Aufhebung der Dinge im Dienst an der «Idee»
begegnet hier die Errichtung eines imaginären Königtums, das sich in
seinen starren Grenzen als Sieger über das Leben versteht. An die Stelle
des verbannten Lebens treten Verkleidungen. George entnimmt sie der
Spätantike, dem Orient, dem Mittelalter, Epochen, die der franzö-
sische und der belgisehe Symbolismus, als Nachfolger Victor Hugos,
Theophile Gautiers und der Parnassiens, in erlesenen Gegenständen,
Kostümen und Sitten vergegenwärtigt haben. Erst im Jahr der Seele
verzichtet der Dichter auf diese Kulissen. Bei den Gedichten vom Jahr
der Seele bis zum Neue~~ Reich ist es kaum je einem Forscher eingefallen,
an eine Fortwirkung französischer Dichtung zu denken. Gäbe es sie
dennoch, so käme ihr ein besonderes Gewicht zu. Es müßten da1m an
den französischen Vorbildern Züge hervortreten, die George auch

3 Die überlegenste, in der Z uordnung angemessenste Darstellung der Bedeutung


französischer Vorbilder für das Frühwerk Georges findet sich bei Claude David, Steja11
George. Paris 1952, insbesondere p.23-25, 42-52, 62, 68-71, 93 f. Eine breit angelegte
M aterialsammlung bietet Enid Lowry Duthie, L'it!fiuence du symbolisme franrais dans Je
renouveau poftique de l'Allemagne. Paris 1933 = Bibliotheque de la revue de litterature
comparee, tome 91. Unter den zahlreichen kürzeren Arbeiten zu diesem Gegenstand seien
hervorgehoben: Werner Vordtriede, Direct Echoes of Fre11ch Poetry in Stefan George's
Works. In: Modern Langnage Notes 6o (1945), p.461-468. - H.J.Meessen, Stefan
Georges Algabal t111d diefranzösische Decadence. In: Monatshefte für den dt. Unterricht 39
(1947), s. 304-321.

!28
dann noch zu Weiterbildungen anregen mochten, als er sich dem
poetischen Klima des Symbolismus entzogen hatte.
Unter den von George übersetzten Dichtem befindet sich der r864
in Norfolk in den Vereinigten Staaten geborene Francis Viele-Griffin,
beinahe ein Altersgenosse des deutschen Dichters. 4 Von ihm besitzen
wir in der Georges sechzigstem Geburtstag gewidmeten Sondernum-
mer der Revue d'Allemag11e eine Beschreibung des jungen Gefährten.
Darin erwähnt Viele-Griffm seine Vertrautheit mit dem Rheinland
und mit der deutschen Sprache. Als George nach Paris kam, erschien
eben die Gedichtsammlung Joies. George hat sie gekannt.s Für die
Literaturgeschichte ist sie bedeutsam als eines der ersten Zeugnisse des
vers libre, den vor allem Gustave Kahn in seiner Zeitschrift La Vogue
von r886 an gefordert und bereits r88 7 in seinen Palais nomades ver-
wirklicht hat. Ihm ist Viele-Griffirr alsbald gefolgt, mit künstlich ein-
fachen, gelösten Versen, manchen im Volksliedton, deren willentlich
naive Unmittelbarkeit auch ihre Schwäche erweist: eine von wenig
Kunstverstand gesteuerte, allzu sprunghaft forteilende, aus Raffine-
ment der Alltagssprache sich nähemde Diktion bestimmt die Einheit
dieses Bandes, von dem sich der frühere- Cueille d' Avril- durch seine
konventionellere, strengere Rhetorik abhebt. 6 Vielleicht standen deut-
sche Gedichte, auch deutsche Volkslieder und ihre romantischen Nach-
fahren diesem Bändchen Pate. Das Motto, das ihm den Titel gab, ist
nicht zufällig ein Vers aus einem Goetheschen Lied: «Läßt sich kaum_
a
die Wonne fassen ... » <<Lajoie s'etreint peine ... » (Die schöne Nacht).
Dann hätte George hier einen deutschen Ton wiedergefunden, der
ihm an den Epigonen Heines unerträglich geworden war. 7 Jedenfalls

4 In den Blättern fiir die Kunst (I, 4, I 893) erschien eine von George beaufsichtigte
Übertragung von Viele-Griffins Gedicht Sankt Martinian, deren Anfang in den Zeit-
genössischen Dichtern wiederabgedruckt ist (Bd. 16, S. 127 der Gesamtausgabe, Berlin
1929). An Viele-Griffm wird «eine gewisse engländische feinheit>> hervorgehoben
(wiederabgedruckt 16, 122).
s Über Georges Rezeption symbolistischer Lyrik unterrichten die 365 Seiten Gedicht-
abschriften aus der frühen Pariser Zeit, die Rob<:rt Boehringer inzwischen aus dem
Nachlaß mitgeteilt hat. Unter ihnen findet sich als einziges Beispiel von Viele-Griffin das
im Folgenden behandelte Gedicht. In einem Brief an Viele-Griffin bedau.~rt George, daß
«la perfection harmonieuse et les rimes copieuses» dieses Gedichts seiner Ubersetzung im
Wege stehen. (Vgl. Robert Boehringer, Mein Bild von Stifan George. München und
DUsseldorf 19672 , S. 209-216 und 221.)
6 V gl. die strenge Kritik des jungen Hofmannsthai Francis Viele-Griffins Gedichte
(1895). In: Prosa I. Frankfurt a.M. 1950, S.257-259.
7 E. L. Duthie (1. c., p. 352f.) sieht eine, beiden Dichtern unbewußte, Verwandtschaft
Georges mit Viele-Griffin in der um 1897 erkennbaren Abkehr vom kUnstliehen Raum
symbolistischer Poesie zugunsten größerer Naturnähe der Gegenstände ur:d der A~Js­
drucksweise: Viele-Griffins La C/arte de Vie und Georges Jahr der Seele spiegeln be1de
den Lauf der Jahreszeiten in der Seele des Dichters wider.

129
stieß er dabei auf ein Gedicht, das, bei aller Verschiedenheit von seiner
eigenen Sprechweise, sich ihm unauslöschlich eingeprägt haben muß.
Das Gedicht läßt Mannes- und Frauenstrophen miteinander wechseln.
Die Strophen sind ungleich lang. Die letzten vier Zeilen gehören bei-
den Sprechern.
Die ersten beiden Strophen, die erste vom Mann, die zweite von der
Frau gesprochen, lauten:

<' Vous si claire et si blonde et si femme,

Vous tout le reve des nuits printanieres,


Vous gracieuse comme une flamme
Et svelte et frele de corps et d'ame,
Gaie et legere conune les bannieres;
Et ton rire envole comme une gamme,
En echo, par les clairieres - l>

<< Vousma fierte tout enorgueillie,


V ous seul but, seule voie, seule fin,
Vous de qui seul je me revais cueillie,
Vous mon poeme et ma soif et ma faim,
Quel soir est tombe, quelle heure est vieillie? >> 8

An diesem Gedicht ist, wie an den meisten dieses Autors, die Sprache
konventionell. Die Neuheit besteht in der Beweglichkeit des einzelnen
Verses sowie in der fast zufälligen, lockeren Reihung von Zeilen, die
freilich auch als einzelne im Hinblick auf rhetorisch gerundete Wir-
kung geschrieben sind. Ein Verfahren, das an Kompilation grenzen
kann, ist für manche französischen Dichter der achtziger Jahre charak-
teristisch: Die Meister des Symbolismus, vor allem Verlaine, hier auch
Swinburnc, sind allgegenwärtig; die große Zahl der jungen Nach-
folger überläßt sich der sinnlichen, vor allem klanglichen Wirkung
einzelner einprägsamer Verse, die widerstandslos in neue Gruppierun-
gen übernommen werden. Mallarme kennzeichnet die Kunst Viele-
Griffms und seiner Gefährten so: «un jeu, seduisant, se mene avec les
fragments de 1' ancien Vers reconnaissables, a }' cluder Oll le decouvrir,
plutot qu'une subite trouvaille, du tout au tout, etrangere». 9 In den
beiden Strophen wird aus der Not solchen Epigonentums eine Tugend
gemacht: Der hynmisch feiernde Anruf, der kein notwendiges Fort-
schreiten kennt, nur die immer neu anhebende Bestätigung der Schön-
8 Poemeset Poesies. Paris 19074, p. 128. Alle Zitate aus Viele-Griffin beziehen sich auf
diesen Band.
9 Crise de Vers. Pleiade 1956, p. 364.
heit und Einzigkeit eines idolhaftverehrten Wesens, rechtfertigt eini-
germaßen das Prinzip der lockeren Reihung. Bedeutsam ist hier der
Verzicht auf ein V erb um, also auf den Fortgang in der Zeit, die Wie-
derholung des «vous» zu Beginn der ersten Zeilen beider Strophen,
schließlich auffallende Wortverbindungen, etwa <<V ous gracieuse
comme uneflamme Et svelte et frele ... »
Eben diese Elemente haben George den Anstoß zu seinem Gedicht
Du schla11k und rein wie eine flamme gegeben. Das Gedicht steht auf der
letzten Seite des letzten Gedichtbandes, des Netten Reichs. Mit ihm
endet das Gesamtwerk.' 0 Bekanntlich hat kein anderer Dichter durch
alle Epochen seines Schaffens so genau die Stelle festgesetzt, an der
jedes Gedicht innerhalb eines Zyklus und weiterhin eines Bandes zu
stehen hat. So bedeutet der Ort dieses Gedichts, daß es wie eine Summe
Geergesehen Dichtem gewürdigt werden soll. Es lautet:
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht
Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie einquellgeheim und schlicht

Begleitest mich auf sonnigen matten


Umschauerst mich im abendrauch
Erleuchtest meinen weg im schatten
Du kühler wind du heisser hauch

Du bist mein wunsch und mein gedanke


Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft

Du blühend reis vom edlen stamme


Du wie ein quell geheim und schlicht
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht. 11

Mehr noch als bei Viele-Griffm erzeugt hier die Form den Inhalt. Alle
banalen Wendungen des Vorbilds sind ausgemerzt. Der Zufall der
Reihenfolge weicht einem strengen Zusammenhang. Der freie Vers
wird regelmäßig, die Strophe von gleichmäßiger Länge. Der rhyth-
misch bedingte Aufschwung wird zu beinahe ebenmäßiger Folge der
10 Das Gedicht erschien zunächst in der 11./ 12.Folge der Blätter für die Kunst (1919).
Es ist nach Morwitzens Zeugnis (Kommentar Zll dem Werk Stefan Georges. München und
Düsseldorf 1960, S.482) 1918 entstanden.
11 Bd. 9, S. 138 der Gesamtausgabe, Berlin 1928. Alle Georgezitate richten sich nach
dieser Ausgabe, wobei die erste Zahl den Band, die zweite Zahl die Seite bezeichnen.

131
beschwerten Silben gedämpft. Bei Viele-Griffm verlassen die folgen-
den Strophen das Schema der parallelen Attribute und Appositionen.
Wechselnd schildern dann die Partner ihre einsamen Wanderungen,
ehe sie sich fanden. George setzt die letzte Strophe aus den umgestellten
Versen der ersten zusammen. So wird deutlich, daß kein Vorgang statt-
gefunden hat, das besungene Wesen ist in seiner Entrücktheit wandel-
los.
Mit der Wiederholung des«Du» und dem Verzicht auf ein Verbum
in der ersten Strophe sowie der Nachbarschaft von «flamme» und
«svelte», die allerdings erst bei George einander zugeordnet werden,
sind noch nicht alle entliehenen Züge genannt. In der zweiten Strophe
der französischen Vorlage stehen die Zeilen «V ous seul but, seule voie,
seule fin» und «Vous mon poeme et ma soif et ma faim», aus denen die
dritte Strophe erwuchs:

Du bist mein wunsch und mein gedanke


Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft

Diese Worte spricht bei Viele-Griffm die Frau, bei George bleiben der
Sprecher und der Angeredete in allen Strophen dieselben. Wir haben
es hier mit einem Beispiel schöpferischer Verwandlung zu tun. George
fand ein Vorbild, dessen lockere, oft zufällige Form sein Bedürfnis nach
Straffung und Festigung erweckte. Dazu war die literaturgeschicht-
liche Situation bei seiner Ankunft in Paris besonders geeignet. Deutsch-
land bedurfte einer erneuerten, strengen Prosodie, die in Frankreich in
den Versuchen mit dem vers libre eben abgestreift wurde. George
lernte sowohl die nunmehr abgelehnten Muster von Leconte de Lisle
und Hen~dia wie die allerneuesten Befreiungsversuche kennen. So
konnte er, von parnassischen Vorstellungen geleitet, die jüngsten Pro-
ben zurückverwandeln in eine Versart, deren Ablehnung jene hatte
entstehen lassen. 12 Die Neuerungen macht er hier rückgängig, indem
12
In mancher Beziehung stand George den Parnassiens näher als den Symbolisten.
Dies tritt noch in der Stufe des Siebe11ten Rings hervor: In seiner polemisch richterlichen
Haltung gegenüber dem Zeitalter, das ein monumentaler Bannspruch trifft, sogar in den
Einzelheiten der Anklage erinnert der Schöpfer der Zeitgedichte, des ersten Buchs des
Stems des BuHdes und der großen Gesänge des Netten Reiclzs an das Haupt der Parnassiens,
Leconte de Lisle, wenn dieser den Zeitgenossen zuruft:
Vous vivez l:khement, sans reve, sans dessein,
Plus vieux, plus decrepits que la terre infeconde,
Chatn~s des le berceau par le siede assassin
De taute passion vigoureuse et profonde.

132
er, unter der Hülle symbolistischer Reize, ein konventionelles rheto-
risches Schema entdeckt, das ältester hymnischer Tradition angehört.
Goethe hat es dem Divangedicht In tausend Formen magst du dich ver-
stecken ... , Baudelaire der Hymne A la tres-chere, ala tres-belle ... I3 zu-
grunde gelegt.
Diese literarhistorische Konstellation äußert sich in einem Ge-
spräch mit Albert Mockel, dem beinahe gleichaltrigen belgiseben Ge-
fährten der frühen Pariser Zeit, Herausgeber der Zeitschrift La Wal-
lollie, das er 1928 aufgezeichnet hat:
Ah! les helles heures des ces echanges d'idees! Je lni proposais une formule:
<d'art pour la poesie», et il consentait volontiers a l'admettre en principe. Mais
il ne la jugeait pas applicable a la litterature actuelle en Allemagne.
-Je le reconnais, disait-il, pour vous le dang er est que 1' art devienne arti-
fice. Vous avez raison de combattre le Parnasse: il steriliserait votre poesie.
Mais nous, nous devons instaurer en Allemagne certaines de ses methodes,
momentanement au moins. C' est un commencement necessaire. Plus tard,
nous pourrons dire comme vous: «I'art pour la poesie», et peut-etre serai-je
alors le premier a entonner ce chant. Mais il nous faut developper d' abord la
plastique du Iangage; nous devons creer nos instruments de travail, enseigner
aux poetes leur metier d' artisan, - leur rappder que le mot est musique, leur
apprendre qu'il a un contour, un volume, une masse, une couleur, une sa-
veur ... Notre role, pour l'instant, est de pratiquer <da poesie pour 1' art». La
poesie elle-meme ne sera pas negligee, et elle ne perdra rien a ce jeu: elle
paraitra plus enivrante et plus belle sous une forme plus noble. 1 4

Votre cervelle est vide autant que votre sein,


Et vous avez souille ce miserable monde
D'un sang si corrompu, d'un souffle si malsain,
Que la mort germe seule en cette boue immonde .. . .
(Aux modernes, Poemes barbares, Paris 1881, p.356)
Nachdem er sich von der symbolistischen Verzauberung befreit hat, tritt George mit
einer direkten, rhetorisch befestigten Belehrung hervor, die, wie hier Leconte de Lisle,
inhaltlich faßt, was die Pamassiens sonst in ihrer Hingabe an handwerkliche Perfektion
formal bekunden: daß das stolze Bewußtsein, über die unreine und schwächliche Welt,
die dem Untergang entgegentreibt, erhaben zu sein, einen Halt gegen diese bietet. (V gl.
Curt von Faber du Fa ur, Stefan George et le symbolisme Jranrais. In: Comparative Litera-
ture 5 [1953], p. 162.)
13 In Les Epaves. Pleiade 1956, p . 222.
14 Diese Selbstdarstellung Gcorges als eines Lehrmeisters der zeitgenössischen deut-
schen Dichter findet ihre Entsprechung in Karl Gustav Vollmoellers Brief vom 30. 10.
1903 an Albert Mocke!, worin Vollmoeller Georges Bücher «Grammatik und Lesebuch
der kommenden Dichter» nennt. (Der Briefsteht auszugsweise bei Bachringer, 1. c. ,S. 244,
und, ins Französische iibersetzt, S.394f. der erwähnten Revue d'Allemagne, wo aber,
wohl aus einem Versehen des Übersetzers, die entscheidende Stelle George selber zu-
gesprochen wird.) Daß George «durch jahrein unsrem schriftturn eine sehr heilsame
diktatur» mit Hofmannsthai zusammen ausüben wollte, steht in einem Brief an diesen
vom Mai 1902. (Briefwechsel zwisc/1et1 George ttnd Hofmmmsthal. München und Düsseldorf
1953 2 , s. 150).

133
Daß diese Umkehrung noch bis ins Spätwerk notwendig blieb, mag
erstaunen. Das Beispiel verdient eine nähere Betrachtung, weil hier
George frei über seine Diktion verfügt. Das Erbe des Symbolismus
konnte er sich bruchlos anverwandeln dank der epigonalen Schwäche
des Vermittlers. Die Kluft, die ihn von Baudelaire, Mallarme, auch von
V erlaine trennte, war hier von vornherein überbrückt, woran die
Nähe zu nachromantischer deutscher Lyrik vielleicht beteiligt war.
Der Wechsel von Mannes- und -Frauenstrophen paßt zu Viele-
Griffins häufiger Nachbildung mittelalterlicher Motive. George hat
sich im Buch der Sagen und Sänge dieser Form in einem Tagelied bedient.
Der Wechselgesang tritt wieder in den an Gundolf gerichteten Ge-
zeiten auf, in Sa~zg und Gegensang und in Triibe seele-so fragtest du -was
trägst du trauer? Das Jahr der Seele ereignet sich als monologisches Zwie-
gespräch. Die eine Seele verteilt sich auf zwei Gestalten, die sich wie auf
einer Bühne zueinander verhalten. Das Gefühl wird vergegenständ-
licht, es wird angeschaut in Versen, die bestimmt sind davon, ihre
eigene Wirkung zu kennen. Der Vers scheint sich selber anzublicken.
Damit hängt zusammen, daß er als geprägter einzeln hervortritt und
sich als klanglich-rhythmische Gebärde artikuliert. Nicht zufällig ist
ihm ein Hang zur Formelhaftigkeit, ein Zug zur Allegorie eigen.
Im Gedicht des Neue11 Reichs sind überdies die evozierten Dinge, für
sich genommen, von traditioneller Allgemeinheit. Erst die Fügung der
Worte entrückt sie in eine, durch den gleichmäßigen Ton begründete,
notwendige Einheit, die sie feiernd erhöht. Abend, Quell, Wind sind
Elemente, die in den darauffolgendenStrophendes Vorbilds vorkom-
men. Auch das Schweben zwischen erotischer und religiöser Andacht
ist bei Viele-Griffm vorbereitet, wenngleich dort der, weit geringere,
Anteil des Sakralen an der Diktion durchaus einer traditionellen Rhe-
torik verpflichtet ist.

Die Wirkung des französischen Gedichts auf das deutsche setzt die
von Gcorge formulierte Intention seiner Verse voraus: «oft dienen
worte gedanken ja bildcr nur zur körperlichen darstellungder sanges-
weise.»15
Wie bei Vicle-Griffm, so kann auch bei ihm ein Vers als einzelner,
zur Sentenz gefügter hervortreten und mehr aus sich selbst als aus der
Stelle im Gedicht leben. Daß sich von da aus eine Brücke zu einer nicht
selten aus eingelegten Fragmenten bestehenden Poesie ergibt, illustrie-
ren einige Verse aus der Fortsetzung des französischen Beispiels.
zs Blätter für die Kumt III, 2.

134
Die dritte Strophe begilmt:
«Moi je m' en fus vers des fleuves dores,
Roulant du Sudvers les plaines hyperborees;
Queteur des sources ignorees
]' ai suivi la rive des fleuves dores ...
Der Vers «Queteur des sources ignonSes» prägt sich als einzelne, ge-
schlossene Formel ein. George verwendet sie in negativer Aussage-
weise im Gedicht Lämmer aus dem Teppich des Lebens. Die Lämmer
redet er an:
Thr keiner ferngeahnten schätze spürer! (5,45)
Die vierte Strophe beginnt:
«Je m' en suis allee en le rire des brises
Parleverger de Juin tout gemmedes cerises ...
Der zweite Vers, auch er zmn Kleinod präpariert, gab den Anstoß zu
der, freilich anders geordneten, Folge der Bilder im Schlußvers des
Gedichts An Apollonia aus dem Buch der Preisgedichte:
Gemmen dein aug, kirscheu dein mund, reifehalmedein haar.
(3, 43)
Die fünfte Strophe lautet:
«Voici le carrefour - toutes routes s'y joignent -
Le sentier des hasards mene en fatals circuits:
Pour la supreme fois avant qu'ils ne s' eloignent
Nos ccrurs battent d' accord sous le reve des nuits.»
Der Anfang kehrt wieder in einem Lied des Siebenten Rings:
Kreuz der strasse ..
Wir sind am end.
Abend sank schon ..
Dies ist das end.
Kurzes wallen
Wen macht es n1.üd?
Mir zu lang schon ..
Der schmerz macht müd.
Hände lockten:
Was nahmst du nicht?
Seufzer stockten:
V ernahmst du nicht?
Meine strasse
Du ziehst sie nicht.
Tränen fallen
Du siehst sie nicht. (6/ 7, r62)

135
Die ohne Bindeglied aneinander gereihten Kurzverse «Voici le carre-
four- toutes routes s'y joignent -»haben das Georgesche Gedicht aus-
gelöst. Bei Viele-Griffirr ist die Fassade des Alexandriners indessen da-
durch noch bewahrt, daß die beiden Verse als Hälften nebeneinander
stehen und nur durch einen Gedankenstrich voneinander getrennt sind.
George hört sie als einzelne und steigert die damit gegeb ene Verkür-
zung, indem er den Sechssilbler in einen Zweiheber zusammendrängt,
dessen Monotonie er durch verschiedene Verteilung der Betonungen
auf die ungeraden und geraden Zeilen differenziert. Die Sprech-
gebärde, die sich durch das ganze Gedicht erhält, ist ohne das franzö-
sische Vorbild undenkbar, doch von ihm durch größere Kargheit und
Sprödigkeit deutlich abgehoben. In beiden T exten bringt das Kreuz der
Straße den Abschied der Liebenden. In beiden bricht die Nacht ein.
Der Vers «Abend sank schon» üb ersetzt die Worte aus der zweiten
Strophe«Quel soir est tombe ... ?». Ghaselartig bestätigt der Refrain die
unausweichliche Einsamkeit des Sprechenden. Wieder verharrt das
Gedicht im anfangs angeschlagenen Ton. Die Worte geben zu erken-
nen, daß sie nur insofern Bedeutung besitzen, als sie den Typus der
siruwollleeren Wiederholung verwirklichen.
Für diesen parallel reihenden Stil, den George bei Viele-Griffm und
nicht m.inder bei dem von beiden übersetzten Swinburne vorfand, gilt
der Satz Kassr1ers über den Engländer in seinem unübertroffenen Buch
Englische Dichter: «Er bildet nur einfache (Sätze), wirft sie gleichsam
nebeneinander hin. Ein äußerst raffiniertes Verfahren zur Wahrung des
simtiichen Eindrucks, denn sowie man einen Satz dem andem durch
eine Partikel über- oder unterordnet, hat man ihm schon etwas von
seiner Süml.ichkeit genommen und dem Gedanken übergeben.»r6
Das Widmungsgedicht zum ersten Gedichtzyklus aus dem Jahr
r886, Cueille d'Avril, beginnt:

Voici les vieux doux vers, notre orgueil cnfantin,


Toute ta joie alerte et credule et la mienne ...

Die eigenen Lieder werden so vorgestellt:

Celles-ci, je ne sais, malgrc que 1' Art hantain


Accueillit d' un sourire indecis nos prcmices,
Valent comme un baiser, comme une odeur de thym
Et comme un jeu de flute ou vont des doigts novices ... (S. 9)

I6 Leipzig 192 0 , S.126.


Dieser Text gab den Anstoß zu den Geleitversen, die George als Ein-
leitung zu seinen 1901 unter dem Titel Die Fibel veröffentlichten
Jugendgedichten verfaßt hat:

Das sind die langen stunden


Wo jede fast ein jahr begreift
Von efeuhub umwunden
Von reinem demanttau bereift.

Das ist des kindes lallen


Das seine flöte prüft im rohr,
Dem dumpf entgegenschallen
Gebüsch und strom und wind im chor.

Das ist das erste klagen


Weil hellster traum als wart nur trügt
Und weites stolzes jagen
So wirr und schwach wird wenn gefügt.

Das ist das frühe gähren


Und dunkler sehnsucht harte fron
Mit des Verwünschten zähren
In weisen dürftig und gewohn.

Das ist noch die Kamöne


Die blass und zagend sich empört
Durch viele fremde töne
Bang vor sich selbst die eignen hört ...

Wie in die herbe traube


Erst mählich duft und farbe dringt,
Wie aus dem nächtigen laube
Die lerche scheu ins frühlicht schwingt. ( r, 8 f)

Hier hat nicht eigentlich der Wortlaut weitergewirkt. Nur die Zeile
<<Et comme unjeu de flute ou vont des doigts novices» findet sich wie-
der in der Strophe mit dem seine Flöte prüfenden Kind. Aber einmal
mehr entscheidet die französische Anfangszeile über ein streng durch-
gehaltenes rhetorisches Bauprinzip in der deutschen Fassung, das
wiederum der immer neuen Setzung des Gleichen dient. Wieder gibt
es in diesen sechs Strophen kein eigentliches Verb in einem Hauptsatz.
Die zahlreichen Verben erscheinen nur in Nebensätzen, abhängig von
Substantiven oder substantivierten Infinitiven, deren bloße Nennung
an die Stelle eines Vorgangs tritt. Wieder sind die Parallelen des Satz-
baus, zugleich solche der Versordnung, bestimmend für die jeweiligen

137
Worte, die sich der Identität mit der ersten Aussage asketisch unter-
werfen.17
Die Ausführlichkeit der Darlegung rechtfertigt sich, weil auch hier
George den Ton seiner reiferen Schöpfungen erklingen läßt. Es wäre
freilich unverständlich, wenn nicht schon die erste Begegnung mit
Viele-Griffms Versen, I 889 und I 890, sich in den damals verfaßten
Hym11en niedergeschlagen hätte. Das deutlichste Beispiel findet sich in
dem Albert Saint-Paul, dem Pariser Initiator, zugeeigneten Gedicht
Eilz Angelico. Die zweite Strophe prägt sich ein dank einem bedeut-
samen Einfall, der die Wahl des Gegenstands verstehen hilft:

Er nahm das gold von heiligen pokalen,


Zu hellem haar das reife weizenstroh,
Das rosa kindem die mit schiefer malen,
Der wäscherirr am bachden indigo. (2,47)

Angelico zerreibt die lebendigen Dinge zu Malfarben, die Natur dient


der Kunst. Der Maler bestätigt den suchenden Dichter in seiner aske-
tischen Werkstattarbeit. Diesen Einfall verdankt George dem Beginn
des siebenten Gedichts aus dem Zyklus Un Poeme de Ia Mer im ersten
Gedichtband Viele-Griffms, Cueille d' Avril:
Les verts et 1' indigo brillant et 1' azur pale
Que roule dans ce faste impertinent ton flot,
Et les etoiles d' or et la lune d' opale
Que tu balances dans la nuit comme un falot,

Tu les as pris aux ciels mervei.lleux des aurores,


Aux reves des minuits, aux gloires des couchants
Po ur en farder 1' eclat de tes houles sonores
Et tu cherches l'echo des roches pour leurs chants! (S.27)

Hier ist das Meer die Malerin, die ihre eigenen Farben von den Morgen-
und Abendhimmeln leiht, eine konventionellere Anwendung dessel-
ben Gedankens, da die Spiegelung dazu den realen Vorwurfliefert.
1 7 Auch andere Verse Viele-Griffins kommen Georges Ton, seiner rhetorischen Ge-

bärde nahe, wobei die Übereinstimmung in der Syntax und in der Gehobenheit der An-
rede sogleich einleuchtet, olme daß doch eine wörtliche Parallele sie durchweg hinläng-
lich stützen könnte: «Tu gardes le secret des riantes prairies Et des vierges cueillant les
lauriers et les thyms ... » (p. 19). -«Donne-moi la brise enles feuilles rieuses ... Et l'arome
sain des flores pieuses, Tous les hiers et les demains; Donnez-moi le poemedes fleuves
graves ... » (p.126). Dazu: «Gib mir den grossen feierlichen hauch Gib jeneglutmir
wieder die verjünge ... » (5, 12). - «Vois, ma fierte faiblit et je suis lache en l'ombre ... »
(p. 130). Die Verwandtschaft beruht auf dem m etrisch-syntaktischen Gleichmaß, das die
Schlichtheit liedhaften Tones ins Feierliche verwandelt.

138
Noch einmal fällt die Reihung paralleler Glieder auf, die wiederum
die Form der deutschen Strophe vorzeichnet. Von Angelico ist in
diesem Gedicht Vieles nicht die Rede, wohl aber im späteren Diptyque
von 1891, das so beginnt:
V oici la plaine aux grands bles roux
Que revait un moine de Ficsole ... (S.274)
Hier findet sich das Bild vom «weizenstroh>> wieder· zuo-leich nimmt
' o
die Prägung «un moine de Fiesole>> den Schluß des viel späteren Ge-
dichts Das Kloster aus dem Teppich des Lebens vorweg:
Wie einst ein mönch aus Fiesoie gelehrt. (5, 55)

Es geht hier keineswegs um den bloßen Anklang. Vor allem Fra Ange-
licos wegen besuchte George in der Zeit der Hymnen oft mit Albert
Saint-Paul den Louvre. Das Gemälde «Die Krönung der Jungfrau>>
berührte ihn mehr als alles, was sonst in Paris zu sehen war. Angelicos
Bild verbindet die Einfalt mittelalterlicher Frömmigkeit mit dem
Zauber, der das Erwachen des Menschen aus strenger Unterwerfung
unter Gottes Gebot zu kreatürlicher Unbefangenheit begleitet. Schwe-
bend zwischen geistlicher Andacht und weltlicher Freude, mußten
seine Figuren in den Dichtern der Jahrhundertwende, denen die Prä-
raffaeliten Meister und Zeitgenossen waren, einen Widerhall finden,
da ihnen umgekehrt die Kunstübung zur Andacht geworden war. 18
Auch die Kostbarkeit und Reinheit der Gewänder, Aureolen und Kro-
nen stimmte zu den schmückenden Requisiten ihrer mittelalterlichen
Verkleidungen. Schließlich spielt sich die Szene auf der obersten Stufe
eines Throns, unter einem Baldachin, ab, alle Blicke richten sich ehr-
fürchtig empor zum Heiland, der unbewegt die Krone über dem
Haupt der jungen Himmelsbraut hält.
Das Schöne entdeckt diese Generation nicht in der Auseinander-
setzung mit der ihr begegnenden Wirklichkeit, sondern durch das vor-
geprägte Medium edler Kunst oder erlesener kulturgeschichtlicher
Konstellation. Man könnte aber auch die Versammlung der Worte in
ihren Gedichten einer Versammlung halb weltlicher, halb geistlicher
Beter vergleichen, die in gleichmäßiger Ordnung zur Feier aufblicken,
welche keinen andern Sinn kennt als den, das eigene Gedicht zu
inthronisieren.
18 Hofmannsthai erwähnt in seiner Wi.irdigtmg Swinburnes << den Zauber unbeholfe-
ner Anmut, der von den gemalten Legenden des Fra Angelico ausgeht» (Prosa I, S. I r8).
Er fmdet den Stil der Präraffaeliten schon bei Dante vorgebildet, der «geschilderte Bil-
der, im Stil des Giotto und Piesole beschriebene allegorische Figuren, Aufzüge, Grup-
pierungem zeige ( Ober moderne englische Malerei. In: Prosa I, S.229).

139
II. Georg Trakl und Arthur Rimbaud

Nicht zufällig hat George Rimbaud, im Gegensatz zu Verlaine und


Mallarme, keine «Lobrede», noch weniger, wie Baudelaire, <<ein deut-
sches denkmal » gestiftet. Die drei kürzeren Proben im zweiten Band
der Zeitgenössischen Dichter gehören alle der früheren oder mittleren
Periode Rimbauds an. Sie sind in regelmäßigen Versen gedichtet und
verraten kaum, außer den Voyelles, die in den späten Prosawerken ge-
übte Methode der diskontinuierlichen-lmagination.
Zwei Jahre nach diesen Beispielen Georges erschien 1907 im Insel-
verlag die Rimbaudübersetzung Karl Klammers, unter dem Pseud-
onym K. L. Ammer, von der auf die Dichtung der frühen Expressio-
nistengeneration eine machtvolle Wirkung ausgegangen ist. Mehr als
die Hälfte dieses Buches ist dem Leben Rimbauds gewidmet. Von den
Gedichten der Jahre 1869-1871 sind etwas mehr als die Hälfte übertra-
gen. Une Saiso11 en Et~{er ist lückenlos wiedergegeben, Les Illumilwtions
nur zu einem Drittel. Von der Lyrik vor 1872 w urden vor allem die
naturalistischen Schilderungen häßlichen oder obszönen Alltags weg-
gelassen. Daraus läßt sich bereits die Perspektive erkennen, aus der
Trakl Rimbaud kennenlernte. Ich glaube nicht, daß er den Dichter im
Original gelesen hat. Reinhold Grimm, dessen Aufsatz Georg Trakls
Verhältnis z u Rimbaud in der Germanisch-Roman ischen Monatsschrift von
1959 19 ich verpflichtet bin, meint dies mit einer Belegsammlung
nachweisen zu können; doch keine einzige der von ihm beigebrachten
Stellen aus Gedichten, die Ammer nicht übersetzt hat, überzeugt rest-
los.20 Trakl hat Rimbaud wahrscheinlich ausschließlich in der Fassung
Ammers gelesen. Welche wichtigen Konsequenzen sich daraus für die
Aneignung des französischen Dichters durch den Österreichischen er-
geben, hat Grimm weitgehend verschwiegen. Um sie darzustellen,
hätte er tiefgreifende Veränderungen und Entstellungen des Originals
einem Ma1me vorrechnen müssen, dessen Andenken er, unmittelbar
nach seinem Tode, mit seinem Aufsatz ehren wollte. 21
1
N.F_ Bd.9, H.3, S.288-315.
9
20 Am ehesten leuchtet noch ein: Trakl: «Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau,
Das letzte Gold verfallener Sterne.» (An dm Knabm Elis, Die Dichtrtngm, Bd. I der
Gesamtausgabe, 8. Auf!. , Salzburg o.J., S. 95). - Rimbaud: « Ou des pleurs d'or astral
tombaient des bleus degres.» (L' Orgie parisimile 011 Paris se repertple. Pleiade 1954, p. 83).
Grimm übernimmt einen Teil seiner Belege von Friedhelm Pamp, Der Eil!fit!ß Rimbar1ds
auf Georg Trakl. In: Revue de Iitterature comparee 32 (1958), p. 396- 406, dessen Samm-
lung von Beispielen direkter Entlehnung ebensowenig i.iber:zeugt. Die meisten Parallelen
Pamps entfallen von vornherein, weil Pamp nichts von Ammers Bedeutung für Trakl
weiß.
21
Grimm ist der C~arakter von Ammers Rimbaudi.ibersetzung nicht entgangen, wie
seine Würdigung des Obersetzers in Neophilologus 44 (1960), S. 20-36 beweist (vgl. vo r
In der dem Freund Erhard Buschheck übergebenen Gedichtsamm-
lung von 1909 findet sich noch keine Spur von Rimbaudentlehnungen.
Wahrscheinlich beginnen diese erst 19II, sie steigern sich 1912 und
klingen danach gänzlich ab. 22 Gehäuft und oft noch nicht nahtlos ein-
bezogen erscheinen überdeutliche Rimbaudanklänge in den letzten
Gedichten der Zusammenstellung Aus goldenem Kelch. In zahlreichen
Gedichten aus der ersten Hälfte der Dichtungell tauchen einzelne Wör-
ter, Wendungen, ganze Verse auf, die ohne Ammer undenkbar wären.
Grimm hat, auf Meschendörfers Entdeckungen in der siebenbürgi-
schen Zeitschrift Klingsor (1925) basierend,Z 3 sämtliche auch nur von
ferne an Ammer anklingenden Belege zusammengestellt und daraus
den Schluß gezogen, Rimbauds Werk habe Trakl mit einem Male die
Zunge gelöst, er habe mit Kunstverstand Rimbaud als Steinbruch be-
nutzt, seine Technik der verabsolutierten Metapher und der Auf-
hebung verstehbarer Zusammenhänge zwischen den einander folgen-
den Vorstellungen nachgeahmt, ja er habe Rimbauds Bild- und Motiv-
teile experimentierend in seine Gedichte einmontiert.
Wie aber könnte bei solcher Montage ein Gedicht entstehen, das,
von einem einheitlichen Geist durchstimmt, bis in jede Einzelheit nur
Trakl zu gehören scheint? Offenbar ergibt sich mit dem Vorgang der
Aneignung eine entschiedene Veränderung der Stellen. Ihr nachzu-
gehen, hat Grimm unterlassen. Dies an einigen Beispielen nachzu-
holen, ist der Gegenstand der folgenden Untersuchung.
Ich gehe von Trakls Psalm aus, weil an ihm die größte Zahl von
Rimbaudanklängen zu erkennen ist. Die erste Strophe lautet:
Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener
verläßt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll
Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
allem S. 2 5). Daß er der hier verfolgten Fährte nicht nachgegangen ist, erst.aunt tro~z den
von mir angegebenen Gründen, da er Anm. 171 des GRM-Aufsatzes Immerhin auf
Ammers Mängel zu sprechen kommen mußte. . .
22 FelixBrunner weist in seiner Arbeit Der Lebenstmif und dte vVerke Georg Trakts. D1ss.

(Masch.) Wien 1932, S. 85ff., eine Entlehnung aus ~imb.aud ?erei~s fü: das Jahr. 1909
nach: Die tote Kirche von Trakl (Bd.II, S.81) setzt ahnlieh em w1e Dte Armen m der
Kirche von Rimbaud (Ammer, S. 173 f.). .
23 Außer Menschendörfer benutzt Grimm vor allem Pamp (l.c.) und Herbert Lm-

denberger, Georg Trakt and Rimbaud: A Study in In.fiuence and Development. In: Com-
parative Literature 10 (1958), p.21-35.

141
Die Männer führen kriegerische Tänze auf
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und
Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. 0 unser verlorenes Paradies. 24

Innerhalb der Dichtungw, deren Anordnung von Karl Röck stammt,


steht der Psalm als das erste Beispiel eines Gedichts in freien Rhythmen.
Daß die Häufung von Entlehnungen aus Rimbaud mit der prosanahen
Form zusammengeht, könnte die Vermutung erhärten, Trakl ver-
danke diese Gedichtform der Saison en Enfer und den Illuminations.
Kaum zu bezweifeln ist die Übereinstimmung im Satzbau mit dem
dritten Stück aus Enfance in den Illumi11atio1ls:
Im Wald ist ein Vogel, sein Gesang hemmt deinen Schritt und
rötet deine Wangen.
Es ist eine Uhr, die nicht schlägt.
Es ist ein Schneeloch mit einem Nest von weißen Tieren.
Es ist eine Kathedrale, die versinkt, und ein See, der über-
schwillt.
Es ist ein kleiner verlassener Wagen im Buschholz. Oder er
kommt den Fußsteig herab, laufend, mit Bändern umwunden.
Es ist eine Truppe kleiner, kostümierter Schauspieler, die man
auf der Straße am Waldrand sieht.
Und endlich, wenn einen hungert und dürstet, ist einer, der
einen davonjagt. 2 5

Rimbaud liefert hier ein Beispiel seines <<raisonne ded:glement de tous


les sens», den er im Brief an Paul Demeny verkündet. Immerhin hän-
gen die einzelnen Vorstellungen nicht allein durch die Parallelen des
Satzbaus zusammen. Daß die Dinge behindert werden, ihre Funktion
zu erfüllen, daß sie ihren natürlichen Ordnungen entfremdet werden,
verleiht der Folge der Bilder einen Zusammenhang. Trakl hat die
Zeilenanfänge <<Es ist ... » übernommen, ebenso die Reihung von Ge-
genständen, denen ein verstörender Eingriff zuteil geworden. Das Bei-
spiel ist vielleicht bedeutsam für eine ganze Epoche in Trakls Dichten,
die den von ihm längst gehandhabten Zeilenstil zur Reihung scheinbar
inkongruenter Vorstellungen steigert. Die Häufung von Rimbaud-
anklängen in diesem und in verwandten Beispielen hängt wohl mit der
24 Die Dichtungen. Bd.I der Gesamtausgabe. S. Aufl., Salzburg o.J., S.6I. Alle Zitate
Trakls werden dieser Ausgabe entnommen. Einfache Seitenzahl ohne Bandangabe be-
zieht sich auf den I. Band. Zitate aus dem II. Band (Aus goldeuem Kelch. Die Jugeud-
dichtungen) richten sich nach der zweiten erweiterten Auflage.
2 5 Arthur Rimbaud, Lebett und Diclwmg, übertragen von K. L. Ammer, Leipzig 19212,
S. 23 I. Sämtliche Zitate aus Ammer richten sich nach dieser Auflage.
Nachahmung der Bauform zusammen. Indem Trakl sich von Rim_-
bauds Kombination des Heterogenen berühren läßt, erweitert sich der
Bereich seiner Imagination. Wie Rimbaud auf halluzinatorischem
Weg oder im Umgang mit entlegensten Zeugnissen menschlicher
Kultur zu seinen kühnen Erfindungen gelangte, fand Trakl in Rim-
bauds Werk, zumal in der Prosa, das Material neuer Bilder und Bild-
felder. Vielleicht ist Rimbauds nachhaltigste Wirkung aufihn nicht so
sehr in den wörtlichen Anklängen als vielmehr in der Begegnung mit
diesem Gedichttypus zu sehen, der mit derselben Syntax wieder in
De Profundis auftritt und die verwandte Reihung in den meisten Ge-
dichten der Zyklen Traum des Bösen und De Profimdis, also auch im
Helian, mitbestimmt hat.
Kein einziges der an Rimbaud erinnernden Bilder in der ersten
Strophe des Psalms entstammt dem zitierten Text aus Kindheit. Da-
gegen gab der erste Teil desselben Gedichts Trakl den Anstoß zu dem
ihm sonst fremden Bereich der Südsee. Da ist von <<Frauen, die auf den
Terrassen am Meere sich ergehen» und von «stolzen Negerinnen in
graugrünen Schlinggewächsen» die Rede (S.229). Und im Gedicht
Mat1vais Sang aus Une Saison e11 Enfer vergegenwärtigt sich Rimbaud
die heidnische Vorzeit und ersinnt die Geschichte der Eroberung eines
Urvolks durch die Weißen. «Schreie, Trommel, Tanz, Tanz, Tanz!»,
heißt es da (S. 198). Das Bild der Schlinggewächse, das vor allem auf
Trakl gewirkt hat, ist aber eine Zutat Ammers. Bei Rimbaud steht da
mousse vert-de-gris », 26 das grünspanene Moos. Die Verdeutschung
entfernt sich von der spröderen Nennung des Gegenstands, sie ver-
leiht diesem einen exotischen, klangvollen Zauber, der das Bild Trakls
weicherem Sprachmedium widerstandslos einzufügen erlaubte. Trakl
verzichtet auf die präzise Farbe und reduziert die Häufung sinnlicher
Vorstellungen bei Rimbaud auf ein stilleres Maß. Rimbauds Schilde-
rung läßt durchaus die Umrisse einer zusammenhängenden Geschichte
erkennen. Bei Trakl verwischen sie sich auf Grund der fragmentari-
schen Auswahl.
Auch den «Heidekrug», den Trakl sonst nirgends nennt, den er in
Österreich auch nicht kennenlernen konnte, verdankt er Ammer. Hier
ist die Veränderung der Vorlage durch den Übersetzer so bezeichnend
für dessen V erfahren, daß sich dieStelle bei Ammer im Zusammenhang
zu betrachten lohnt. Die zweite und die dritte Strophe aus dem in Une
Saisonen Enjer eingelegten Lied lauten:
26 Pleiade 1954, p. 176. Nach dieser Gesamtausgabe werden alle Originalstellen Rim-
bauds angeführt.

143
Was konnte ich trinken fern meiner lieben
Hütte, in dieser jungen Oase
mit den schweigenden Rüstern, dem blumenlosen Gras
und dem bedeckten Himmel darüber?
Etwas, was mir den Schweiß in die Stirne getrieben.

Ich war wie in einem H eidekrug.


Ein Sturmwind jagte den Himmel. Am Ab end begann
das Wasser des H ains im Sand zu versinken.
Gottes Wind füllte mit Eis seine Lachen an.
Weinend sah ich Gold- und konnte nichts mehr trinken. (S.211)

Im Original:

Que pouvais-je boire dans cette jeune Oise,


- Ormeaux sans voix, gazon sans fleurs, ciel couvert! -
Boire a ces gourdes jaunes, loin de m a case
Cherie? Quelque liqueur d' or qui fait suer.

Je faisais une louche enseigne d'auberge.


- Un orage vint chasser le ciel. Au soir
L' eau des bois se perdait sur les sables vierges,
Le vent de Dieu j etait des glac;:ons aux mares;

Pleurant,je voyais de l'or- et ne pus boire. (S.233)

Heidekrug und junge Oase ergeben bei Ammer eine idyllischere


Sphäre als im Original. Bei Rimbaud steht: «Je faisais une louche en-
seigne d' auberge.>> «<ch stellte ein verdächtiges Wirtshausschild vor»,
wohl um den gequälten, dumpfen, durstigen Zustand auszudrücken,
der jeglicher idyllischen Verbrämung enträt. Denn von einer Oase, die
erfrischenden Trank darreicht, ist hier keine Rede. Gemeint ist der Fluß
Oise, den Rimbaud mit gelben Feldflaschen vergleicht - Ammer läßt
den Vergleich weg. Der Fluß liefert die goldene Flüssigkeit, die den
Schweiß in die Stirne des Sprechenden treibt. Ammer mußte deshalb
die Aussage am Schluß «je ... ne pus boire» ändern in «ich ... konnte
nichts mehr trinken », da er den ganzen Zusammenhan g umgestaltet
hatte. Auch diesmallehnt sich Trakl am engsten an Ammer, wo dieser
Rimbauds konkrete, gegenstandsgebundene Vergleiche verallgemei-
nert und poetisiert. Indem er die Oise, die Feldflaschen, die Flüssigkeit
tilgt oder durch poetischere Vorstellungen ersetzt, überbrückt er die
Kluft zwischen Rimbaud und Trakl. Geringfügiges löst bedeutende
Folgen aus. Das Detail, daß der Schweiß i11 die Stime getrieben wird, -
wieder eine Zutat Ammers - fmdet sich in manchen Trakl-Versen:

144
«Auf Ineine Stirne tritt kaltes M etall» (S. 67) -« der Schweiß, der auf die
eisige Stirne tritt>> (S. 128) -<<Blaue Tauben Trinken nachts den eisigen
Schweiß, Der von Elis' kristallener Stirne rinnt» (S. 97) -.
Der Vers Ammers «Am Abend begann / das Wasser des Hains im
Sand zu versinken >>, französisch <<Au soir L' eau des bois se perdait sur
les sables vierges », wird für Trakl erst anziehend dadurch, daß das
Wasser sich nicht über den Sand hin verliert, sondern in ihm versinkt:
Im Helian steht: «Am Abend sinkt das weiße Wasser in Graburnen>>
(S. 84). In derselben Strophe des Helian wird ein«Haim genannt. Auch
dieses Wort dürfte der letzten Strophe aus dem Flußgedicht entstam-
men. Ammer hat den Wald in einen Hain verwandelt.
Oft übernimmt Trakl nicht nur eine einzelne Stelle, sondern wie
hier mehrere, meist nicht miteinander verbundene, Bilder aus dem-
selben Rimbaudgedicht in eine eigene Strophe, in der sie, nun vollends
unverbunden, sich in einen anderen Zusammenhang zu fügen haben.
Charakteristisch ist auch die Veränderung des Tempus. Rimbaud
schildert eine real situierbare Szene im Imperfekt, Trakl spricht in der
entsprechenden Helian-Strophe in zeitenthobenem Präsens.
Bei seiner Veränderung der französischen Verse arbeitet Ammer
gern mit Wörtern, die, unabhängig von ihrem Stellenwert, für sich
genommen bereits eine Atmosphäre des Wohlklangs auslösen. Im
Psalm kommen << Endakkorde eines Quartetts» vor. Das Kleine Konzert
endet Init der Zeile <<Narziß im Endakkord von Flöten» (S. 30). Diese
Prägung geht zurück auf << Endakkorde von Kammerkonzerten» im
Gedicht Les Ponts aus den Illuminations (Ammer S. 241 ), eine Über-
setzung für «des bouts de concerts seigneuriaux>> (S. 187), eigentlich:
Fetzen herrschaftlicher Konzerte. Weil« bout>> oft «Ende» heißt, ergab
sich dieses Mißverständnis. Der <<Akkord>>, ohne den Trakl das Wort
nicht beachtet hätte, ist von Ammer hinzugedichtet. Wieder wurde
das Simplex des Originals zu einem Kompositum erweitert, welches
nicht der präzisen Erfassung eines Gegenstandes, sondern der rheto-
risch-klanglichen Aufwertung und Verschönerung, zugleich der Ver-
schleierung des originalen Wortlauts dient und so erst die Voraus-
setzungen für eine schmiegsame Übernahme in Trakls Gedichte schuf
Ich möchte diese Liste noch um einige Beispiele vermehren.27
Der Vers «Unendliche Liebe gibt das Geleite», aus dem frühen Ge-
dicht An Mauem hin (II, 120), geht zurück auf Ammers Formulierung
«unendliche Liebe gibt mir das Geleite », in Sensatioll (S. 141). Bei Rim-
21 Die bisher untersuchten Beispiele stammen ebenso wie alle folgenden aus Grimms

Zusammenstellung (l. c.).

145
baud steht: << Mais l'amour infini me montera dans l'ame» (S.4r). Das
Wort <<Geleit», das Trakl bezaubert hat, ist eine Erfmdung Ammers,
ein neues Beispiel für seine Neigung zu wohlklingenden W orten,
denen nicht erst die Funktion im Gedicht ihren Glanz verleiht. Ähn-
lich verhält es sich mit dem Vers in Trakls Spaziergang «Aus Apfel-
zweigen fällt ein W eiheklang >> (S.28), dessen Vorbild in Rimbauds
Ophelie -«Ein Weiheklang fällt von den goldnen Sternen nieder»
(S. 148) -im Original lautet: << Un cpant mysterieux tombe des astres
d' or» (S. 52). Wieder beruht das für die Übernahme entscheidende
Wort auf einem Eingriff des Übersetzers, der einmal mehr ein feier-
lich tönendes, gerundetes Kompositum an die Stelle eines schlichteren
analytischen Ausdrucks setzt. Im Kleinen Konzert kommt «Ein D uft
von Milch in Haselzweigen » vor (S. 30), bei Ammer steht «Der
Abend strömt frischen Milchduft aus >> (S. 153), bei Rimbaud, in Les
Reparties de Nina, «Et c;a sentira le laitage Dans l'air du soin> (S. 57).
Ammers «Milchduft» entfremdet die Alltagssprache des französischen
Gedichtes den mit ihr evozierten Dingen, was vollends deutlich wird,
wenn die nächste Strophe dasselbe Wort << sentir » für den Geruch des
Kuhstalls gebraucht. Wenn <<rosee» mit <<Nachttau», <<dechirant» mit
«herzzerreißend» wiedergegeben und von Trakl in dieser Prägung
übernommen werden, so wird damit die Bedeutung der Ammersehen
Vermittlung auf kleinstem Raum nochmals evident. Als letzte Parallele
sei erwähnt: «durch deine blonden Arme zittern Glockenklänge»
(S.228), für «des tintements circulent dans tes bras blonds » (S. r8o).
Neben dem Erklingen des Tones im Körper finden sich in allen Wei-
terbildungen dieses Verses die zur Verdeutlichung gesetzten <<Glok-
ken>>: «Sanfte Glocken durchzittern die Brust » (S. roo) - <<es erschüttert
Ein Glockenton die schmerzzerrissene Brust ihm» (III, 14) - «Ein sanf-
tes Glockenspiel tönt in Elis' Brust» (S. 96). Die Entlehnung stammt aus
dem Prosastück Antique, wo der <<reizende Sohn des Pan» beschrieben
wird, in dessen Antlitz sich Kugeln bewegen, seine Augen. Er wird
mit den Worten verabschiedet: <<Geh hin in der Nacht und bewege
deine herrlichen Beine, das eine und das andere, ganz langsam, Schritt
um Schritt» (S . 228). Im Helian, der auch die Prägung << Sohn des Pan»
aufnimmt, tauchen drei Elemente des Prosastücks wieder auf: die
Nacht, die Bewegung der Beine, die runden Augen:

Schön ist der Mensch und erscheinend im. Dunkel,


Wenn er staunend Arme und Beine bewegt,
Und in purpurnen Höhlen stille die Augen rollen. (S. 85)
An Rimbauds «Sohn des Pan» wird der Körper in Einzelheiten beschrie-
ben, mit leuchtenden Bildern heidnischen Lebens. Der Gott wird in
seiner Besonderheit fixiert. Trakl behält von diesen Bildern nur das
Allgemeinste. Rimbaud wirkt kühn dank der ungewohnten Spezifika-
tion, Trakl wegen der fundamentalen Vereinfachung. Dieses V erhält-
nis waltet meist bei Trakls Entlehmmgen aus Rimbaud. Rimbaud hält
in seinen frühen Gedichten oft mit naturalistischen Mitteln keck er-
griffene sinnliche Impressionen fest. Die Lust an der Zerstörung der
Gegenstände, in vulgärer, oft obszöner Sprache sich äußernd, be-
stimmt vor allem die von Ammer weggelassenen Gedichte und erfährt
in den übrigen eine Milderung, die Härten, Brüche, Aggressionen aus-
gleicht oder zumindest in eine weichere, glattere Fassung überführt.
Unrat, Krankheit, dumpfe und idyllische Ländlichkeit, Vorstadt, Exo-
tisches, antike Mythologie, Kirche, Hölle, kosmische Weite sindlauter
Bezirke, die Trakl an Rimbauds Werk anziehen. Gleichmäßig ent-
nimmt er dem frühen, gegenstandsgebundenen und dem späteren, die
Wirklichkeit verfremdenden Werk einzelne Bausteine, höchstens
Verse, oft nur Worte. Niemals aber heftet er sich, wie Rimbaud, an die
mit vitaler Energie erfaßte Besonderheit der Gegenstände, ob diese
nun, wie in der früheren Schaffenszeit, in ihrer Stofflichkeit sich auf-
drängen oder, wie in den späteren Prosadichtungen, zumal in den
Illuminations, der kühnsten entgrenzenden Kombinatorik ausgesetzt
werden. So ist es beinahe gleichgültig, aus welcher Hälfte von Rirr..-
bauds Werk seine Entlehnungen stammen: die naturalistischen Verse
entrückt er genauso wie die irreal assoziierte Prosa in eine dämmerige
Stille. Sie setzt voraus, daß die entliehene Stelle ihre sinnliche Prä-
gnanz, ihre Zugehörigkeit zu einem Schilderungs- oder gar Hand-
lungskontinuum, ihre progressive Aktivität verloren hat. Ein Rim-
baudvers hat denn auch nicht mehr viel mit seiner alten Umgebung
gemein, wenn er in das Gedicht Trakls eingewandert ist. Gleichgültig,
ob idyllische, natürliche, ja paradiesische Vorstellungen oder heillose,
befleckte übernommen werden, sie besitzen, als Bruchstücke, kaum je
das Gewicht, sich in ihrer Fremdheit durchzusetzen. Daran ist die V er-
einzelung und die Reduktion des Übernommenen schuld. Auch trifft
Trakl eine für ihn charakteristische Auswahl, die beinahe mehr auf die
Tonart als auf den Bildbereich des entliehenen Verses achtet. So erhält
denn die traumhafte, magische, märchenhafte, friedliche, aber auch die
gottverlassene,ja verdammte Sphäre, von der das Entliehene durch-
stimmtist, den Vorzug vor der Sphäre unbarmherziger Konkretheit, in
der die Dinge des niederen, kleinbürgerlichen Alltags belassen werden.

147
Daß Rimbauds kulturgeschichtliche Anspielungen bei Trakl fast ganz
fehlen, versteht sich aus dem Übergewicht, welches Trakl dem stilleren
Allgemeinen über das oft grell evozierte Besondere Rimbauds ein-
räumt.
Nun könnte es scheinen, als gäbe es zwischen den Bildern Rimbauds
und Trakls keine tiefere Gemeinsamkeit. Die Schwierigkeit, darüber
ins Reine zu kommen, hängt mit der Unmöglichkeit eines konkreten
Nachweises zusammen. Da Trakl vqn Rimbaud nur Splitter in seine
Werke einfließen läßt, bietet sich keine Handhabe zu einem zusammen-
hängenden Vergleich. Aus zahlreichen mikroskopischen Vergleichen
scheint sich als Synthese zu ergeben, daß beide das Ineinander eines
paradiesischen und eines verworfenen Bereichs kennen, ferner, daß
sich beiden die Souveränität eines die Welt ergreifenden Subjekts auf-
löst, an dessen Stelle ein Fremdes tritt, welches bei Trakl in der Anony-
mität des Sprechenden, wohl auch in den toten und mythischen We-
sen, bei Rimbaud in der Paradoxie «JE est un autre» faßbar wird.
Grimms These einer Montage setzt einen distanziert mit dem fremden
Gegenstand schaltenden, souveränen Kunstverstand voraus. Die Art
von Trakls Auswahl aus Rimbaud und seine Willfährigkeit gegen
Ammers Verschleierungen lassen aber eher den Eindruck einer passi-
ven Aufnahme entstehen, die sich den Wirkungen verwandter Töne
und Bilder ergibt. Die Vereinzelung und Reduktion des Entliehenen,
stereotyper Wiederkehr unterworfen, erklärt sich leichter als Folge
einer zwanghaften Notwendigkeit denn als willentliches technisches
Experiment. Entrückende Erinnerung mochte das von Rimbaud Be-
haltene von der jeweiligen Konstellation eines Gedichts magnetisch
heranrufen lassen. Darum gibt es hier keine Möglichkeit, über Einzel-
beobachtungen hinauszugelangen. Trakl hatte Fragmente von Rim-
bauds Werk so in sich aufgenommen, daß sie ihm in unlösbarer Ver-
quickung mit seinen eigenen Vorstellungen zur Vcrfügung standen. Es
ist schließlich beinahe nicht mehr sinnvoll, diese Fragmente noch mit
Rimbauds Namen zu belehnen.
Von hier aus ergibt sich ein Ausblick auf Trakls Verfahrensweise.
Die Verwendung der aus Rimbaud geschöpften Stellen entspricht der
Art, wieTraklmitseincn eigenen Motiven umgeht. Da dieseeinem Vor-
stellungshereich entstammen, der eine apriorische, nicht erst durch eine
bestimmte Anordnung von Zeilen herzustellende Einheit besitzt, darf
Trakl die Zeilen als geschlossene einzeln nebeneinander bestehen lassen.
Ein Blick auf die Entstehung größerer Gedichtkomplexe aus der
Zeit der größten Nähe zu Rimbaud erweist die Treue zu einmal ge-
fundenen Konfigurationen insofern, als deren Muster durch die kühn-
sten Umgestaltungen hindurch bestehen bleibt. 28 In der Variation von
Gruppierungen jeweils aufeinander bezogener Bilder folgt der Dichter
einem Zwang zu sprachlicher und imaginativer Konjunktion, der die
Möglichkeit ausschließt, daß Trakl nüt einem Mosaik, das er aus einem
fremden Werk herausgebrochen hat, ein überlegenes artistisches Spiel
beginnt.
So verschieden auch die Art der aufgenommenen Dichtung und der
Vorgang der Aneignung bei George und Trakl sich darstellen, beiden
ist gemeinsam, daß sie in der Epoche ihrer Meisterschaft nicht von
originären Texten charakteristischer Prägung, sondern von aufge-
lösten oder aufgeweichten, rhetorisch geglätteten Vermittlungen aus
zweiter Hand fruchtbare Anstöße erhlelten. Dieser Befund gewinnt an
Bedeutung, wenn deutlich geworden ist, wie in der Zeit der Jahrhun-
dertwende die nicht an ein Thema gebundene sinnliche Form der
Rezeption, vom einzelnen Wort, Bild, Klang, Rhythmus, von der
syntaktischen Figur aus, eine ältere Weise der Aneignung verdrängt
hat, die ein Motiv nicht ohne den ihm zugeordneten Gehalt übernahm.
28 Vgl. Walther Killy, Etttwurf des Gedichts. Ober den H elian-Komplex. In: Ober Georg
Trakl. Göttingen 1960, S. 52-83.

149
DIE SPRACHE DER ENTSAGUNG
IN STEFAN GEORGES DICHTUNG

Die Strenge, mit der Stefan George in der ersten Hälfte seines Wirkens
vom Gedicht forderte, daß es nur für sich selber einstehe, ist durch sei-
nen eigenen Widerruf in Vergessenheit geraten. HundertJahre nach
seiner Geburt könnte aber die frühe Einstellung als eine kühnere,
folgenreichere Wendung erscheinen, die es verdiente, einer Betrach-
tung seines Werks leitend vorzustehen. Dabei richtet sich der Blick
heute nicht von ungefähr mit größerer Neigung auf die seltenen Ge-
dichte, die sich, jedesmal in anderer Weise, dem klangreichen, rheto-
rischen Stil Georges entziehen, als auf die Überzahl der stolz gespro-
chenen, gleichmäßig prächtigen Beispiele.
Der Ernst, mit dem der Dichter den selbstgesetzten Auftrag befolgte,
drängte das Bekenntnis zurück, wieviel unbekanntem Leben er sich
versagen mußte, wollte er unangefochten die Meisterschaft über sein
eng umzirktes Reich behalten. Algabal erteilt sich und seinem Freund
Agathon die Weisung: «Es ziemt nicht in irdischer klage zu wanken
Uns die das los für den purpur gebar.» I Der Purpur steht auch für den
Prunk der Verse, mit dem der Dichter oft sein Leiden an sich und an der
Welt verdeckt. Erst als er seine Verse mit solchem Gewand umgibt, be-
ginnt er, ein Dichter zu sein. Die Fibel, eineAuswahljugendlicher Ver-
suche bis zum Jahre I 889, zeigt, daß ihm ohne den Halt an einer sich
nach außen abschließenden Sprache, die sich einem ungestörten
Gleichmaß im Fortgang der flächig ausgelegten Versworte unterwirft,
dichterische Gefüge noch nicht gelingen. Wie bildete sich ihm diese
prächtige Sprache aus?
Die Lingua Romana, eine dem Spanischen angenäherte Sprache, die
er im Jahre r888 erfindet, und das aufSpanisch geführte Gespräch mit
drei jungen Mexikanern in Paris und Berlin bestärken seine schon in
der Kindheit hervortretende Neigung zu strengen, feierlichen Klän-
gen, die ihm in der Begegnung mit den Werken Baudelaires, Mallar-
mes und ihrer Nachfahren den Weg ZU einer eigenen Dichtersprache
vorzeichnet. Es ist auffallend, wie im Frühwerk nicht allein die Gestalt
der Verse, sondern ebenso die Gegenstände der Inszenierung bedürfen.
Das Gedicht Weihe, das die Hymnw, den ersten Gedichtband (r89o),
eröffnet, zeigt, wie beides einander wechselseitig bedingt: Der Dichter
I Die Zitate richten sich nach der Gesamt-Ausgabe von 1927-1934. Der Band wird

mit römischer, die Seite mit arabischer Ziffer angegeben: li 109.

I 50
begibt sich an den Strom, in einen durch Schilfrohr abgeschiedenen
Bezirk, und bereitet sich da in langsamer Betäubung auf die Ankunft
einer mondhaften Herrin vor, die ihn zum Dichter weiht. Er betäubt
sich «an starkem urduft». 2 So sucht der Dichter die wahre Betäubung
am gleichmäßigen Gang reiner, abgestimmter Vokale zu vergegen-
ständlichen. Der Ort am Strom ruft in ihm jene in der Kindheit ge-
schaffene IMRI-Sprache herauf, deren er sich später aus der Rückschau
im Gedicht Ursprünge, im Siebenten Ri11g, erinnert. Damals feierte er
am Fluß mit seinen Gefährten die kindliche Herrschaft über die Welt
in befeuernden Gesängen:
CO BESOSO PASOJE PTOROS
CO ES ON HAMA PASOJE BOAf:l"J

In der Vorbereitung zur Weihe ist er jetzt mit sich allein, und die ein-
stige Herrschaft über die ihm gläubig unterworfenen Genossen seiner
Kindheit bescheidet sich nun mit der Findung einer Sprache, in der
«die lust an fremder pracht und ferner tat»4 nicht über das Gedicht
hinausgreift, das von einem auf sich selber bezogenen Herrschafts-
anspruch lebt. Je zeremonieller sich die Sprache ausbildet, desto rituel-
ler ist der aus ihr erwachsene, ihr hörige Gegenstand. In den Neulän-
dischen Liebesmahlen, in der Nachthymne und in Strand erfüllt sich diese
Gestalt noch ausgeprägter als in den übrigen Hymnen. In diesen Ge-
dichten ist manchmal von ihrem eigenen Charakter die Rede: <<Die
händelegen schweigsam wir zusammen Zu träumen einen melodien-
strom!»s Oder: «Nach deinem preise schlöss ich meinen psalter.» 6
Und: «Dann rauschen alle stauden in akkorden.» 7 Der Gegenstand ist
von den Klängen geformt, deren Träger er wird. Ehe er da war, kün-
digte er sich in einer nur erst klanglich, noch nicht sinnmäßig faßbaren
Konstellation an:
Läg im vergnügen an fasslichen tönen
Die mir seit mondenimmunde dröhnen
Zu neuer erscheinung ein keim?

Kehr ich nun zu wahren auen heim? 8

Auf diese Frage antwortet der Dichter der Pilgerfahrten (1891) in einem
späteren Gedicht:
Die wahren auen wurden mir verboten,
Nun kost ich an verderbnisvoller pracht. 9

z II 12 . J VI/VII 129. 4 III 92. s Il26. 6


1133· 7
1135· 8 Il69. 9
1173·

151
Die Pilgerfahrten sind ein Buch der Unentschiedenheit. Der Autor
schwankt zwischen den verbotenen und den wahren Auen, seine
Sprache kennt den Orgelton und das beinahe kunstlose Eingeständnis
menschlichen und dichterischen Versagens. Die Entscheidung für die
verderbnisvolle Pracht befestigt aber den maskenhaften Charakter des
Gedichts, sie weist voraus auf den Algabal (r892), dessen menschen-
feindlicher Stolz sich aus der Furcht nährt, von den anderen Menschen
nicht in allem unterschieden zu sein. Wie im Algabal, so wird dieser
Dichter auch in den antiken, mittelalterlichen und orientalischen Vor-
würfen seiner Hirten- und Preisgedichte, Sagen und Sänge und Hängendm
Gärten (r895) sich vor der Gegenwart abschirmen und seine Sprache
diesen Verkleidungen anpassen, um die Bewegtheit einer verletzlichen
Seele zu dämpfen und zu verfremden. Die verselbständigte Kunst-
sprache, die sich oft des Tempeltons bedient, gibt er selten preis. Nur
mischt sich in ihre Pracht oft eine Schwermut, die das Leiden, das die
Verse abzuwehren trachteten, ihnen in einer verhaltenen, dauernd un-
erlösten Form zurückgibt. Dadurch gewinnt sich die verabschiedete
Menschlichkeit zurück.
Ihr lernt: das haus des mangels nur kenne die schwermut,
-Nun seht im prunke dersäulendie herbere schwermut _Io

Das Jahr der Seele (r897) kennt beides: die Pracht der Verse, deren Ge-
nese eben zu skizzieren versucht wurde, und ihr unverhülltes Zer-
brechen. Jene erfüllt sich am reinsten in den Zyklen des herbstlichen
und sommerlichen Parks, diese tritt uns am deutlichsten entgegen in
einem Gedicht, das sich aus innerem Gesetz von seiner eigenen Form
löst:
Ihr tratet zu dem herde
Wo alle glut verstarb,
Licht war nur an der erde
Vom monde leichenfarb.
Ihr tauchtet in die aschen
Die bleichen finger ein
Mit suchen tasten haschen-
Wird es noch einmal schein!
Seht was mit trostgebärde
Der mond euch rät:
Tretet weg vom herde,
Es ist worden spät. I I

10 IV 57· II IV II8.

152
Die Vergeblichkeit, die sich in den beiden ersten Strophen ausspricht,
wird vor ihrem Ende abgelöst. Sie erzeugt, was ihr den Abschied gibt:
die Erkenntnis, daß die Zeit, so noch weiterzubestehen, nicht 11:1ehr
gegeben ist. Das Versmaß entzieht sich selber den Grund, auf dem es
stand, und macht so mit der Notwendigkeit eines anderen Zustandes
Ernst. Von hier aus ließe sich ein Weg des Verzichts auf das feste
sprachliche Gefüge denken. George hat ihn nur selten eingeschlagen;
am fernsten steht er ihm_ im Vorspiel zum Teppich des Lebens (1899), das
unvermittelt, jedoch folgerichtig an diesen extremen Ausklang des
Jahrs der Seele anknüpft: ist es doch in Ton und Versbau strenger
durchgehalten als je ein früheres und späteres Buch Georges. Es steht
an einem Wendepunkt, bringt als Ernte das Leid der vorangehenden
Dichtungen ein und kennt schon die neue, gesetzgebende Gebärde, im
Verwerfen und Erhöhen einen eigenen Bezirk zu bestimmen, den eine
«wahlgemeinde» bewohnt. Die Geste der Weisung weiß klarer, wo-
von sie sich trennt, als wozu sie sich bekennt. Das Buch ist ein Tempel
um einen Altar, den noch kein Götterbild schmückt. So kann der mitt-
lere Teil, der eigentliche Teppich des Lebens, aus stilisierender Distanz
ein Inventar von Typen, Gesinnungen, Schicksalen, Wahrzeichen in
Gegensatz und Entsprechung komponieren, als ob es sich um einen
einzigen, gleichmäßig gestickten Teppich handelte, dem sich jedes Bild
an seiner Stelle ornamental einweben läßt. Die Kunst hat noch mehr
Raum als bisher, der Stil ist noch selbständiger, herrischer, bewußter.
In die Zukunft deutet «das wortvon neuerlustund pein>>. 12 Der «neue
Gott>>, der hier schon genannt wird, obwohl es ihn noch nicht wirklich
gibt, läßt seine Diener «verzehrender und weniger verzichtend>> 13
fühlen. Solche Ausblicke, die eine ehrwürdige Tradition von demüti-
ger Ergebung in hiesiges Leid und von Erwartung künftiger Erlösung
umbiegen in eine gesammelte, jetzt und hier zu erfüllende Gegenwart,
stehen aber in den Liedem von Traum und Tod (I 899) unmittelbar neben
dem Verzicht auf die Bändigung unabwendbaren Geschicks, wie in
den drei Liedern an den Komponisten Cyril Scott. Auch hier setzt sich
so die Entsagung am Ende des Jahrs der Seele fort und läßt «von er-
träumter pracht» und «edelsteinen>> nur <<Halbwelke wunder meiner
grames-hand>> 14 übrig. Wie im Jahr der Seele tönt auch hier die<< bre-
chend leise stimme». Sie ist es, die das unmittelbar folgende Lied singt:
ju Ii-Schwermut.
Der Dichter weist ihm durch diese Nachbarschaft einen Platz an,
der es als Zeugnis der Verlassenheit und der Abdankung seiner
12 V 27. 13 V 7 1. 14 V 72.

153
Herrschaft bestätigt. Auch daß es Ernest Dowson, einem jungen,
damals dem Tode nahen englischen Dichter, gewidmet ist, den
George eben erst als einen Ermatteten kennengelernt hatte, rückt
es aus dem Raum der Zukunftsgedichte. Die Müdigkeit bringt den
Verzicht auf den großen, gründenden Ton. Die Dichtung hat hier
keine Aufgabe zu übernehmen, sie darf sich sich selber überlassen. Ein
Gedicht gelingt so, in dem Nachgiebigkeit und Herrschaft über das
Wort einander die Waage halten. Es ist ein großes Gedicht.

Juli-Schwermut
An Ernest Dowson
Blumen des sommers duftet ihr noch so reich:
Ackerwinde im herben Saatgeruch
Du ziehst mich nach am dorrenden geländer
Mir ward der stolzen gärten sesam fremd.
Aus dem vergessen lockst du träume: das kind
Aufkeuscher schalle rastend des ährengefilds
In ernte-gluten neben nackten schnittem
Bei blanker sichelund versiegtem krug.
Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied
Und ihm träufelten auf die gerötetestim
Durch schwachen schutz der halme-schatten
Des mohnes blätter: breite tropfen blut.
Nichts was mir je war raubt die Vergänglichkeit.
Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur
Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich
Derblumen müd, der schönen blumen müd! rs

Selten genug erlaubt George dem Versmaß, sich so beweglich der Aus-
sage anzuschmiegen. Die Folge der Bilder scheint vom Ton gelenkt,
wie ihn das Versmaß bestimmt. Die Z weischenkligkeit jeder Strophe
(auftaktlos und teilweise daktylisch das erste, auftaktig, jambisch das
zweite Verspaar) scheint einen Gegensatz zu bezeichnen, der äußerlich
mit dem Gegensatz zwischen den blühenden Bildern der mittleren
Strophen und der Seimsucht des n1üden Dichters nach ihnen nicht zu-
sammenfällt. Das Gedicht setzt so von Anfang an, abstrakt, den Kon-
trast, den der Schluß, den Anfang wieder aufnehmend, als unverlierbar
erweist, im Zusammenklang eines zugleich freudigen und schmerz-
lichen Gefühls. DerVerlust der ungebrochenen einfältigen Gegenwart
ruft diese als ersehnte ins Gedicht. Das Gedicht borgt sich von der Mü-
rs V 73·

154
digkeit des Sprechenden den beschattenden Ton, dessen das ländliche
Kindheitsbild bedarf, um sich dichterischer Wahrheit anzuverwan-
deln. Einige Unregehnäßigkeiten im Versbau lassen diesen nicht ohne
weiteres erkennen und verleihen der Fügung der Worte eine halbe
Lässigkeit, die der Gegenstand, in dem Erfülltes und Entbehrendes sich
durchdringen, erheischt. Dieselbe Lässigkeit ist es, die, sparsam einge-
setzt, den Ruhm einiger Lieder aus dem Siebenten Ring (r907) begrün-
den hilft. Sie ist für umso kostbarer zu halten, als vom Siebenten Ring an
der «ruf zum wirken» oft über die Gestalt der Gedichte triumphiert.
War die Kunst bislang meist Herrseherin über die Aussage, wird sie
jetzt meist zu deren Dienerin.
Die Ausschließlichkeit, mit der« in der dichtung-wie in aller kunst-
betätigung- .. jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas <sagen>
etwas <wirken> zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst
einzutreten>> 16 war, verurteilt nun diejenigen, die noch an eine Kunst
für die Kunst glauben.
Der Prunk im Teppich des Lebens weicht jetzt oft einer härteren,
klangärmeren Diktion, die häufig in öffentlicher Gebärde nicht nur
den Kreis der Jünger, sondern die Gesamtheit der Zeitgenossen er-
mahnt. Das Vorbild des Tyrtaios im neunten Gedicht des ersten Buchs
des Sterns des Bundes (r9r4) weist auf eine Dichtung hin, die als Mittel
für den Krieg eingesetzt wurde. Daneben gibt es aber auch in diesen
späteren Büchern viele Gedichte, die die Grenzen eines individuellen
menschlichen Verhältnisses achten und bei denen der neue, spartani-
schere Ton zuweilen das Rhetorische abwirft und seine Entsprechung
in einer bisher nicht vernommenen Kargheit findet. Ein Beispiel dieser
neuen Sprödigkeit gibt, unter den Liedern des Siebenten Rings:
Fenster wo ich einst mit dir
Abends in die landschaft sah
Sind nun hell mit fremdem licht.
Pfad noch läuft vom tor wo du
Standest olme umzuschaun
Dann ins tal hinunterbogst.
Bei der kehr warf nochmals auf
Mond dein bleiches augesieht ..
Doch es war zu spät zum ruf.
Dunkel - schweigen - starre luft
Sinkt wie damals um das haus.
Allefreude nahmst du mit. 1 7
16 XVII s5. '7 VI/VII 172.

ISS
Das Metrum mit nur drei Hebungen, ohne Vor- und Nachklang, die
Reimlosigkeit, die Kürze der Strophen, der weitgehende V erzieht auf
Adjektive, Artikel und verbindende Partikeln, die Verschlossenheit
der einzelnen Strophen gegeneinander stimmen zur Knappheit der
Umrisse, die die Situationen andeuten, und zur unbeschönigten Ge-
trenntheit der einstmals Verbundenen. Die Armut des Sprechenden
gibt seinem Wort eine Verhaltenheit mit, dank der es in das Gefüge
eingeschlossen wird. Im Siebenten Ring verhält sich ein solches Gedicht
zu denen, die eine Lehre verkünden, wie die bisher betrachteten sich zu
den im hohen Kunstton gesprochenen verhielten. Vielleicht löst der
Dichter jetzt erst das Versprechen ein, das er sich früh gegeben, von
dem ihn aber sein in Paris entschiedener Weg so lange abgehalten
hatte? Damals schon wollte er seine Gedichte, wie der Anfang der
Spange es verrät, <<aus kühlem eisen Und wie ein glatter fester streif»,I 8
sie bildeten sich aber im Gegensatz dazu «Wie eine grosse fremde dolde
Geformt aus feuerrotem golde Und reichem blitzendem gestein». 18
Auch in seinem letzten Werk, dem Neuen Reich (1928), stehen Pro-
ben jener neuen, schmuckloseren Liedform, in denen ein Ungesagtes
unaufgelöst bleibt.

Horch was die dumpfe erde spricht:


Du frei wie vogel oder fisch -
Worin du hängst, das weisst du nicht.

Vielleicht entdeckt ein spätrer mund:


Du sassest mit an unsrem tisch
Du zehrtest mit von unsrem pfund.

Dir kam ein schön und neu gesicht


Doch zeit ward alt, heut lebt kein mann
Ob er je kommt das weisst du nicht

Der diesgesichtnoch sehen kann. 1 9

Der Angeredete steht für die Menschen dieser Zeit, die nicht wissen,
was ihnen geschehen ist. Der Dichter spielt auf seine Gotteserfahnmg
an, die hier nicht m ehr, wie in der Mitte des Sicbcntw Rings, nach dem
Tode Maximins, an alle Mitlebenden verkündet wird:

Preist eure stadt die einen gott geboren!


Preis t eure zeit in der ein gott gelebt! zo

18 li 83. 19 IX 129. zo VI / VII 105.


Das Gesetz, wonach ein Bild nur zu Zeiten verstanden wird, zu ande-
ren aber ins Dunkel zurücksinken soll, nimmt, wie schon am Ende des
Vorspiels, die Gegenwart des Höheren wieder zurück und läßt die Un-
entschiedenheit zu seinem Schutze übrig. Der Blick des älteren Dich-
ters richtet sich auf das Fundamentalste: der Mensch wird so elementar
betrachtet wie andere Gattungen von Lebewesen. Wie dem Vogel die
Luft, dem Fisch das Wasser not tun, so prägt den Menschen seine Be-
dürftigkeit nach dem «gesicht ». Damit ist das Gottesbild gemeint, dem
er sich angleichen muß. Wenn eine Zeit die Antwort auf das ihr zuge-
dachte Bild nicht mehr fmdet, ist sie vom Selbstverlust bedroht. Diese
illusionslosen Aussichten eröffnet der Dichter freilich, ohne eine er-
kennbare Einstellung dazu kundzutun. Er, der ein neues Reich zu grün-
den unternimmt, hüllt zugleich seine Botschaft in die Sprache ungreif-
barer Allgemeinheit. Es scheint oft, als ob er sich in seinen letzten Ge-
dichten in ein Schweigen zurückziehe, das sich über die Texte hinaus
verlängert und diesen etwas von ihrer Gegenwart raubt. In ihnen ver-
stärkt sich der Zug seiner späteren Dichtung, sich nicht ganz mitzu-
teilen, auf einen Rest zu deuten, der ihrem Urheber weiterhin gehört,
nicht in sie eingegangen ist. Das Beste ist immer das, was nur einer
weiß, pflegte George aus der Edda zu zitieren.
«Wer ganz sich verschenkt wie er wenig empfängt» 21 : Die oft
stoische Gefaßtheit, die diesen Dichter nicht allein von seinen Zeit-
genossen, auch von seinen Freunden und immer wieder von sich selber
Abstand nehmen hieß, die seinen Gedichten oft das Aussehen gibt, als
wären sie von ihm abgelöst, wären in eine festgelegte kunstmäßige
Konvention eingelassen wie in einen kostbaren Schrein, sie legt Zeug-
nis ab von einer Unabhängigkeit und Konsequenz der Gesinnung, die
als Reinheit künstlerischen Willens auch dort aus den Gedichten
spricht, wo die Gnade der Befreiung vom vorgegebenen Gesetz aus-
blieb.
0 lass mich ungerühmt und ungehasst
Und frei in den bedingten balmen wandeln. 22

Diese Losung Algabals war zuletzt wiederum die seine. An sie blieb er
als Dichter gebunden.
21 V so. 22 II ro2.

I 57
ÜBER VALERYS PROSASTIL

Est prose 1' ecrit qui a un but exprimable par un autre ecrit. I
... l'interet des ecrits en prose est comme hors d' eux-memes et nait de la
consommation du texte ... 2
L' idee habite la prose; mais assiste, sur':"eille, guide la poesie. 3

Diese Merksätze V alerys könnten den Interpreten seines Prosastils ent-


mutigen. Wenn nämlich in der Prosa nur das Auszusagende zählt,
wenn die Form der Aussage beliebig, austauschbar ist, wenn es in der
Prosa sogar auf die Vertilgungjeder Spur ihrer Form ankommt, dann
scheint dem Interpreten der Gegenstand seiner Betrachtung entzogen
zu sein. Die Interpreten Valerys haben zur Bestätigung dieser Aporie
öfters auf einen weiteren, noch bedeutsameren Text hingewiesen, auf
Propos sur Ia poesie. Dort lesen wir:
La nurehe comme la prose a toujours un objet precis. Elle est un acte dirige
vers quelque objet que notre but est de joindre. Ce sont des circonstances
actuelles, la nature de 1' objet, le besoin que j' en ai, l'impulsion de mon desir,
1' etat de mon corps, celui du terrain, qui ordonnent ala marche son allure, lui
prescrivent sa direction, sa vitesse, et son terme fini. Toutes les proprietes de
la marche se deduisent de ces conditions instantanees et qui se combinent
singulierement dans chaque occasion, tellement qu'il n'y a pas deux deplace-
ments de cette espece qui soient identiques, qu'il y a chaque fois creation
speciale, mais, chaque fois, abolie et comme absorbee dans 1' acte accompli. 4

Wohl findet sich hier nochmals der Gedanke, die Prosa müsse ganz
ihrem Objekt dienen, für sich selber sei sie bedeutungslos. Und noch
entschiedener werden wir vonjeder möglichen Betrachtung Valery-
scher Prosa abgehalten, wenn es keine einheitliche Prosa, sondern nur
deren unendlich viele, jedesmal ganz von der ausgesprochenen Sache
abhängige Realisationen geben soll.
Aber bei näherem Zusehen läßt sich in diesem Text eine Grundauf-
fassung entdecken, die mehrmals wiederkehrt: die Prosa ist<<un acte»,
sie gehorcht der «impulsion», ihre Bedingungen sind «actuelles»,
«instantanees», sie erschöpft sich ganz in der Erfüllung ihres eigenen
Vorgangs.
1
Tel quel, Litterature. Bibliotheque de la Pleiade 1957 und 1960, II 555.
2
Tel quel, Litteratr~re. li 548.
3 Tel quel, Aufres Rhumbs. II 681.
4 Varihe. I 1371.
Damit wäre bereits eine Konstante von Valerys Prosa angedeutet,
die nur daran leidet, daß sie sich je an verschiedenen Objekten ver-
schieden zu betätigen scheint.
Diese Schwierigkeit leitet über zur Frage, welches denn die «Ob-
jekte>> seien, denen sich Valerys Prosa zuwendet; die ihn als Prosaisten
bestimmen.

J' ai une etrange repugnance - un fastidium a ecrire ce que j' ai vu.


Cela me rebute, m'ennwe.s

Und weiter:

... je ne vois pas ce qui est autour de moi ...


und
Le roman est un genre naY( 6

Die verwirrende Fülle der Außenwelt interessiert ihn nicht, ja stößt ihn
ab, wenn es um seine schriftstellerische Tätigkeit geht.
Was bestimmt aber seine Prosa, wenn es nicht dieWeltder gegebe-
nen Objekte ist? Die Antwort auf diese Frage hat sich dem entschei-
dendsten Moment seines Lebens zuzuwenden, man könnte ihn den
Moment der Geburt seiner Prosa nennen: es ist die Nacht vom 4. auf
den 5· Oktober 1892, «nuit effroyable», wie den Notes personnelies
(inedites) zu entnehmen ist, «passee sur mon lit - orage partout- ma
chambre eblouissante par chaque eclair - Et tout mon sort se jouait
dans ma tete.Je suis entre moi et moi ... »7 Später äußert er sich so: «Je
m'etais fait un regard.» 7 Und an Gustave Fourment: «Les deux morts
valables de ces jours derniers, le Poete et l'indefinissable celebrite ... »7
In dieser Nacht liegt der Keim zu Monsieur Teste, der ja nichts ande-
res ist als der Blick des Geistes auf den Geist, was Valery als Rückzug
auf die «proprietes reelles>> 8 bezeichnet. «Teste fut engendre ... parmi
d' etranges exces de conscience de soi.»9 «11 s' observe, il manreuvre, il ne
veut pas se laisser manreuvrer.» ro

Der Prosaist Valery entstand zunächst als M. Teste. Deshalb nimmt


unsere Untersuchung hier ihren Anfang.
Zuerst soll M. Teste in seinem Sein betrachtet werden: nicht wie sein
Geist wirkt, sondern wie er als Wesen im Alltag erscheint.

s Berne-Joffroy: Pdsence de Valery, precede de Propos rne concernant par Paul Valery,
Paris 1944, S.21.
6 a.a.O. S.49.
7 Introduction biographique. I 20.
8 Priface. II 12. 9 Priface. II 11. 10 Pdface. II 14·

159
I1 me dit en souriant: «Je fais la planche. Je flotte! ... Je sens un roulis imper-
ceptible dessous, - un mouvement immense? J e dors une heure ou deux tout
au plus, moi qui adore la navigation de la nuit. Souvent je ne distingue plus
ma pensee d' avant le sommeil. Je ne sais pas si j' ai dormi. Autrefois, en m' as-
soupissant, je pensais a tous ceux qui m' avaient fait plaisir, figures, choses,
minutes. Je les faisais venir pour que la pensee fllt aussi douce que possible,
facile comme le lit ... Je suis vieux. Je puis vous montrer que je me sens
vieux ... »11

Die Sätze sind ohne Akzent gesprochen. Sie bieten keinen Widerstand.
Sie verhärten sich nicht zu einem schönen Panzer. Sie wiegen sich
nicht in ebenmäßigen Klangwellen. Sie entbehren jeglicher Farbe,jeg-
lichen Sprühens, jeglicher sinnlichen Qualität. Sie sind - soweit das
möglich ist- ihr Nichtsein. Sie haben die Unbeschwertheit des seinem
Körper Entfremdeten. Sie rühren durch ihre Verhaltenheit und Armut.
Der Satz wird sogleich abgebrochen, wenn er ein Gesicht zu erhalten
droht. Aber auch das Abbrechen darf nicht abrupt sein, nur leise,
schmerzlos, im Zustand zwischen Wachen und Schlaf, das heißt außer-
halb des vitalen Rhythmus, in einer Gräue zwischen Bewußtsein und
Unbewußtem, zwischen Tag und Nacht, im ewigen Dämmer des All-
zumalmöglichen.
«... je pensais atous ceux 12 qui m' avaient fait plaisir, figures, choses,
minutes>>: Er benennt Gefühle, Gesichter, Dinge, Maße im selben
Atemzug, mit einem persönlichen Demonstrativpronomen: die Diffe-
renz zwischen Mensch und Ding ist für ihn aufgehoben, da er alles aus
der unaktuellen Immergegenwart betrachtet: kein Zeitwandel für ihn,
der sich nie entscheidet. Keine gelebte Zeit für den Menschen der blo-
ßen Möglichkeit!
Aber M. Teste ist ein Partner, das Ich des Romans, beigegeben, der
die Funktion des Betrachters von außen übernimmt. Er sieht Teste, er
sieht aber auch die übrige Außenwelt, der er M. Teste vergeblich anzu-
nähern sucht. Sein Blick stößt auf die 0 bjekte: wie nimmt sich die
Prosa aus, die diesen Kontakt verzeichnet?

Une immense fille de cuivre nous separait d'un groupe murmurant au dela de
I' eblouissement. Au fond de la vapeur, brillait tm morceau nu de femme, doux
comme un caillou. Beaucoup d' eventails independants vivaient sur le monde
sombre et clair, ecumant jusqu' aux feux du haut. Mon regard epelait mille
petites ftgures, tombait sur une triste tete, courait sur des bras, sur les g.ens,
et enfin se brUlait.
11
La Soiree avec Monsieur Teste. II 24.
rz Vom Verfasser ausgezeichnet.

r6o
Chacllil etait a sa place, libre d'Wl petit mouvement. Je goutais le systeme
de classification, la simplicite presque theorique de l'assemblee, I'ordre social.
J' avais la sensation delicieuse que tout ce qui respirait dans ce cube, allait suivre
ses lois, flamber de rires par grands cercles, s' emouvoir par plaques, ressentir
par masses des choses iHtimes, - uHiques, - des remuements secrets, s' eiever a
l'inavouable! J' errais sur ces etages d'hommes, de ligne en ligne, par orbites,
avec la fantaisie de joindre idealerneut entre eux tous ceux ayant la meme
maladie, Oll la meme theorie, Oll le meme vice ... Une musique nous touchait
tous, abondait, puis devenait taute petite. 1 J

Zrmächst fällt auf, daß die Eigenständigkeit des Gesehenen nicht be-
achtet wird.« Un morceau ... de femme», mit einem sanft gerrmdeten
Kiesel verglichen, beweist eine eigenmächtige Isolierung und Umge-
staltung des visuellen Eindrucks, welche die Grenze zwischen Mensch
und Ding überschreitet, hier, indem sie den Menschen verdinglicht,
andernorts-« beaucoup d' eventails independants vivaient» -,indem sie
das Ding belebt. Der Blick zählt, nicht das Angeblickte. Er nimmt sich
die Gesichter wie Buchstaben der Reihe nach vor; auf eine Gruppie-
rrmg, eine Reihenbildung, eine sich selbst genügende mathematische
Relation hat er es abgesehen. Dies wird im zweiten Abschnitt beson-
ders deutlich: an der Gesamtheit der Zuschauer wird die Gesetzlich-
keit der Gefühlsreaktionen wie ein Vorgang der Naturwissenschaft
registriert. Das Lachen bringt Figuren hervor, welche den Ringen
gleichen, die ein Stein erzeugt, wenn er ins Wasser fällt. Alle werden
gleichgeschaltet, aber nicht als konfuse Masse, sondern gegliedert nach
abstrakten Figuren, beinahe in Ornamente umgesetzt.
Der Stil der Prosa wird zunächst durch diese Abstraktion des Kon-
kreten bestimmt: die Lichtquelle heißt nur noch «eblouissement», die
Zuschauer heißen in ihrer Gesamtheit «monde», der Saal «cube», das
Lachen vollzieht sichin<<cercles», dieEmpfindrmgsträger sind«masses»,
ihre Empfindrmgen <<choses», «remuements,rz qui s' elevent a 1' in-
avouable». 12 Doch wie schon mit dem Beispiel der zum Kiesel erstarrten
Frau rmd der belebten Fächer angedeutet wurde, fmdet zugleich eine
Gegenbewegrmg der Konkretion des zuvor Abstrahierten statt: das
Stück der Frau glänzt, die Fächer schäumen, der Blick buchstabiert,
fällt, rennt, verbrennt, das Lachen flammt auf.
Was sich hier anzeigt, ist für Valery charakteristisch und findet etwa
in Eupalinos und L' Ame et la Danse eine vollkommene Form: wenn der
im Betrachten seiner eigenen Operationen geübte Geist sich der
Außenwelt zuwendet, empfängt er nichts von ihrem eigenen Wesen.
13 La Soiree avec Monsieur Teste. II 20.

I6I
Als selbstherrlicher Architekt verändert er die Ordnungen der Dinge
nach seinem eigenen Gesetz, indem er sie auf abstrakte Formeln redu-
ziert; aber zugleich verleiht er diesen Abstrakta ein genaues, suggesti-
ves, sinnliches Gepräge, indem er sie nach neuen Normen, jedesmal
überraschend, wiederum konkretisiert.

Wie hängen nun die beiden betrachteten Texte miteinander zusam-


men? Der erste ließ sich nur als Nichtstruktur, als Verzicht auf Begeg-
nung und Formwerdung begreifen. Auch im zweiten geschieht keine
Begegnung. Der Geist prägt der Außenwelt das geometrische Gitter
seiner zu Gesetzen erstarrten Operationen auf. Angesichts der Außen-
welt unterhält er sich doch wieder nur mit sich selbst. Wenn er aber
ganz mit sich allein ist, ohne fremdes Medium, so bietet ihm kein
Objekt den Stoff an, der ihm gestattet, sich zu verfestigen, indem er
von ihm unterworfen wird. Hier erst fassen wir den wirksamen Teste,
wo er sich immer neu Rechenschaft über die Tätigkeit seines Geistes
ablegt. «... avant le jour, au petit jour, entre la lampe et le soleil, heure
pure et profonde, j' ai coutume d' ecrire ce qui s'invente de soi-meme.
L'idee d'un autre, lecteur, est toute absente de ces moments; et cette
piece essentielle d'un mecanisme litteraire raisonne manque. Le
mot saisi s' inscrit sans debats.» r4 So erklärt Valery im Avant-Propos zu
Analeeta die in ihrem Entstehen unmittelbar aufgezeichneten Gedan-
kenblitze. Mit noch mehr Recht lassen sich die Stücke aus dem Log-
Book des M. Teste so umschreiben. Der Dichter braucht hier keine
Rücksicht auf das «artifice» du «temps>>, auf das «menagement de la
dun~e» zu nehmen, worum er als Künstler am zähesten ringt, in allen
seinen «ceuvres <contre nature>», welche er zumal in seiner Academi-
cien-Zeit zu vollenden hat.
Im Log-Book lesen wir:
L'idee, le principe, l'eclair, I le premier moment du premier etat, le saut, le
bond hors de la suite ... I A d'autres, preparations et executions. Jette la le
fJet. Voici le lieu de la mer ou vous trouverez. Adieu. 1 s
Der Leser dieser Sätze wird von immer neuen Anfängen getroffen.
Aber die Blitze der «instants purs>> verlören ihre Wucht, wenn sie in
gleichen Abständen einschlügen: die Aufzählung erweist sich als fein
differenziert. «L' idee» ist starker Anfangston, aufihn folgt die durch den
vorangestellten Artikel gedämpfte Betonung «le principe>>. «L' ~clair»
wiederholt, in Responsion zu «l'idee», das unmittelbare Ereignis.
14 II 700.
15 II 40. Die gliedemden Querstriche wurden vom Verfasser angebracht.

162
Diese erste Dreiergruppe war nur punktuell: schöpferischer Blitz.
Die zweite Dreiergruppe bedenkt schon, wenn auch ganz vorläufig,
den größeren Zusammenhang, dem der erste Anfang gehört: «le
premier moment du premier etat, ... le bond hors de la suite.» Aber zwi-
schen diese respondierenden Glieder schiebt sich, analog der ersten
Gruppe, ein Zwischenglied ein. Nur erhält es hier die umgekehrte Be-
deutung: statt zu dämpfen, antwortet es als Starkton auf das erste und
dritte Glied der ersten Gruppe. So verklammern sich diese scheinbar
nackt aneinandergereihten Glieder in gegensymmetrischer, rhythmi-
scher Notwendigkeit.
Aber wir sind noch nicht zu Ende: der nächste Satz erweist sich als
höflich einladende Geste: «A d' autres, preparations et executions.» Es
geht da um die Kunst, um die von ihr erheischte Zeitfolge. Diese bildet
das Gegenstück zum schöpferischen Moment. Auf sie folgt erneut ein
Starkton, der kurze Imperativsatz, wiederum eine Responsion zu den
früheren Starktönen, darauf nochmals ein umsichtig einladender Satz
(auch er Responsion!), zuletzt schließlich, dem Imperativ antwortend,
«Adieu», womit wieder auf den Anfang verwiesen wird. Dieser Anfang
hat sich also leitmotivisch durch jedesmal weiter ausgebaute Zwischen-
glieder viermal bestätigt als schöpferischer Blitz.
Die beiden Stimmen, die wir nur nach satzrhythmischen Gesichts-
punkten auseinanderzuhalten versucht haben, führen den Dialog zwi-
schen dem Valery der Cahiers, der die Initialzündung des Gedankens
festhalten will, und dem Valery, der in umsichtiger Bemühtmg um die
Herstellung einer notwendigen Kontinuität seine für ein Publikum
berechneten Werke herstellt.
Das Erstaunlichste schien uns in der bis ins feinste Glied ausgewoge-
nen Struktur verwirklicht: einerseits unmittelbare Gegenwart des rei-
nen Moments, anderseits, und dies sogleich in kontrapunktische
Rhythmik gebannt, immer weiter um sich greifender zeitlicher Kon-
text.

Einen Dialog anderer, doch verwandter Art, wiederum zwischen Moi


und Moi, stellt das folgende Beispiel dar:

Homme toujours debout sur le cap Pensee, a s' ecarquiller les yeux sur les
limites ou des choses, ou de la vue ...
n est impossible de recevoir la «Vertte» de soi-meme. Quand Oll la sent Se
former (c'est une impression), Oll forme du meme COUp Ull autre soi inaCCOU-
tume ... dont on est fier,- dont on estjaloux ... (C'est un comble de politique
interne.)
Entre Moi clair et Moi trouble; entre Moi juste et Moi coupable, i1 y a de
vieilles haines et de vieux arrangements, de vieux renoncements et de vieilles
supplications. 16

Den Anfang macht die Evokation der reinen Vertikale des Denkers.
Kein Verb, nicht einmal eine begrenzende Bestimmung wirkt auf den
absoluten, zeitlosen Zustand ein, der sich in einen Ausblick zum Gren-
zenlosen verlängert.
Doch der folgende Satz ist die knappe, unscheinbare Besinnung auf
die eben versuchte Aneignung der Wahrheit. Indem nun die Wahrheit
Gestalt anzunehmen beginnt, steigert sich gleichzeitig, schrittweise,
der Dialog zwischen dem in der Denkbewegung Begriffenen und dem
Beobachter von außen (dieselben beiden Stimmen!), bis in geometri-
scher Verkürzung, unterstützt von symmetrisch angeordneten Glie-
dern, die glänzende Münze einer Maxime geprägt wird.
Die Maxime erscheint hier als der formvollendete Niederschlag des
gesteigerten Antagonismus zwischen geschehendem und betrachten-
dem Denken, als Endpunkt einer dialogischen Bahn.
Die Maxime ist denn auch auf das Ende hin angelegt, sie lebt von
Anfang an nur von ihrem antizipierten Ende. Und Valery, der Dichter,
der immer in der Zeit der Möglichkeit, im Futurum lebt, spielt in der
Maxime mit der Spannung zwischen der Gegenwart des Lesers und der
Zukunft des vorauswissenden Schriftstellers. «L'homme n' est pas d' un
seul morceau. Une partie de lui devance 1' autre.»
Dies führt uns zu einer knappen Würdigung der Valeryschen Maxi-
men:
La sincerite voulue mene a la reflexion, qui mene au doute, qui ne mene a
rien. 1 '

Wir lassen uns von einer folgemden Bewegung einfangen, die uns
ruckartig ins Nichts entläßt. Ähnlich:
Les livres ont les memes ennemis que l'honune: le feu, l'humide, les betes, le
temps; et leur propre contenu. rs

Wir hören zuerst in allem Ernst einen Lehrsatz an, der uns auf seine
Demonstration gespannt macht. Aber die sprunghafte Aufzählung
von Dingen, Lebewesen, Abstrakta, Eigenschaften im selben Atemzug
zeigt uns den Autor von seiner aggressiven Seite. Wieder macht sich
16 li 39·
I7 Tel quel, Choses tues. II 494.
1
8 Tel quel, Litterature. II 546.
die souveräne Verachtung der Lebensordnungen in solcher Kombina-
tion geltend. Und wirklich trifft uns zuletzt, ruckartig, die unerwartete,
boshafte Desillusionierung: «et leur propre contenu».
Die Eigenart von Valerys Maximen tritt in einem Vergleich mit La
Rochefoucauld schärfer hervor. Valerys Beweglichkeit, seine Über-
raschungseffekte, seine Lust am Manövrieren des Satzes-« ... c'est la
mancettvre du langage qui importe ... >>-,die ungestüm durchlaufene
Skala vom wissenschaftlichen Ernst bis hinab zur Bautade hebt sich
deutlich von der konstanten Dignität der ame magnanime aus dem
Grand Siede ab, die uns ihres w1ablässigen Ernstes versichert (im Vor-
wort zu den Maximes). Ein Beispiel:

Ce que les hommes ont nomme amitie n'est qu'une societe, qu'un menage-
ment reciproque d'interets, et qu'm1 echange de bons offices; ce n'est enfin
qu'un commerce ou 1' amour - propre se propose toujours quelque chose a
gagner. 1 9

Die Aussagen liegen alle auf einer Ebene. Lauter parallele Glieder reihen
sich aneinander. Nirgends wird von der zu Anfang eingeschlagenen
syntaktischen Linie abgewichen.
Die Maxime ist für Valery ein aggressiver Dialog, der seinen Part-
ner, den stummen Zuhörer, als Objekt, auf das eingewirkt wird, be-
handelt. Die Angriffskraft ist groß genug, um den stummen Partner
zu beschwören.
Damit reihen sich die Maximen an die zuvor behandelten Gedanken-
blitze auch hinsichtlich ihrer dialogischen Form: stand doch in diesen
Beispielen der aktuelle, dynamische V alery gegen den Valery pre-
voyant («Ecrire, c'est prevoir» 20), den Valery der fixite consciente.

Der Debat entre Moi et Moi vereinfacht sich, wenn sich Valery einem
Gegenstand zuwendet. Er tut dies wiederum aus dem Bedürfills nach
Denkbewegung: «Le philosophe regarde ses objets familiers comme
terriblement muets, - comme mutismes. Ils rec;:oivent ses regards fixes;
et par rapport aces points fixes,- sa pensee s' agite ou oscille.» 21 Er ruft
die Sache als «incident qui cree» herbei. Nun entsteht daraus der zwi-
schen unbewegtem Bewußtsein und aktualisierter Sache hin und her
oszillierende Dialog:

r9 CEuvres completts, Bibliotheque de la Pleiade, Ausgabe 1964, S.414.


20 Tel quel, Rhumbs. II 625.
21 Tel quel, Rhumbs. II 625.

r6s
Cloches, cloches de Genes I Tan I ti: r'in I tantan I ... I Tan I ... I I je demeure,
l'ceil fixe sur la cloche qui acent metres d'ici tinte; detoume et la main arretee
qui tient la plume prete - a quoi? Le vide. Et seuls l'intention, le besoin,
l'instinct, le fantarne d' ecrire. - Ecrire quoi? Le mur rappeile a ses losanges
le regard.

Tan I ti r'in I tantan I- Cela chante, au lieu de les compter, les heures.
Liquidement, avec une liqueur infinie, tintent ces notes. La grave, les greles-
atous les etages de 1'espace, comme si 1' air habite de toutes parts, se grattait ...
s' epuyait, - Se herissait de SOllS qu'il s' est trouves ...
Atmosphere don~e de la musique. Tension de la corde. Mythe de l'ame.
L' ßme n' a lieu qu' au moment de cette tension.
L'ame - evenement? ... 22

Zunächst sind Sache und Bewußtsein unverbunden nebeneinander


aufgeführt. Valery befindet sich in seiner gewöhnlichen Stimmung, er
ist leer, gerichtet auf einen beliebigen, zufälligen äußeren Anlaß, der
die Bewegung seines Geistes auslösen soll.
... je ne suis rien - dans man etat ordinaire.
Le vide cree ... Le silence cree.

Er weiß noch nicht, worüber er schreiben wird. Zunächst widersteht


er dem Eindruck der Glocken. Er möchte sie als meßbare Quantität
überblicken. Gegen seinen Willen muß er nun aber Gesang anhören.
Und nun verflüssigt sich der Ton gar. Die Luft wird in die Bewegung
einbezogen. Der ganze Raum erklingt. Die Seele des Dichters schwingt
mit. Der aktuelle Moment ist geboren. Diese Geburt des evenement ist
bedeutsam, weil Valery sie zugleich erharrt und bekämpft. Er ist der
widerwillig Schöpferische, im Gegensatz zu den Romantikern, die so-
gleich in der Inspiration aufgehen.
Den umgekehrten Gang vollzieht La Toilette:
Au matin, seceuer les songes, les crasses, les choses qui ont profite de 1' absence
et de la negligence pour croltre et encombrer; les produits naturels, saletes,
erreurs, sottises, terreurs, hantises.
Les betes rentrent dans leur trau.
Le Mal:tre rentre du voyage. Le sahbat est deconcerte.
Absence et presence. 2 3

Zunächst strotzen und verdicken sich die Schlacken des Unbewußten.


Konkretes («les crasses», «saletes») und Abstraktes («sottises, terreurs»)
sind, wie schon dargelegt, für den Dichter nicht unterschieden. Die
22 Tel quel, Rlmmbs. II 599f.
23 Tel quel, Rht1mbs. II 6o6.

r66
Aufzählung wird hier zur Häufung. Ein ungegliederter Satz bringt die
Wucherung zum Ausdruck. Dann, mit einem Mal, die elastische Prä-
senz des Bewußtseins: ein Pfiff läßt die Unwesen verschwinden. Die
Herrschaft des Geistes behauptet sich («deconcerte » erhält den eigent-
lichen Sinn: auseinandergewirkt). Zwei Abstrakta amEnde bilden, als
~ußerstes an Desinkarnation, den Gegenpol zur Wucherung des Be-
glnns.
BeideMale ereignet sich am Widerstand des Objekts die Bewegung
des Geistes, das eine Mal zum Objekt hin, das andere Mal von ihm
weg. Der Dialog läßt sich reinlich aufzeichnen, die beiden Stimmen
halten den Abstand ein, die Bewegung springt hin und her(« ... 1' ecart
.. . excite ... »).

Aber die höchste Form der schöpferischen Prosa erreicht Valery dort,
wo das Objekt und die ihm zugewendete Tätigkeit des Geistes nicht
mehr oder noch nicht zu trennen sind, weil diese Tätigkeit in simulta-
ner Einbildungskraft die in der reinen Möglichkeit des Werdens be-
findlichen Dinge zur Verfügung hat, ehe diese sich bereits zum Objekt
a
kristallisieren. Vor allem die Introduction la Methode de Leonard de
Vinci, Eupalinos und L' Ame et la Danse entsprechen diesem Schaffens-
zustand. Aus dem ersten der drei Werke sei zunächst ein Abschnitt
untersucht.
Celui que n' a jamais saisi, fUt-ce en reve! le dessein d' une entreprise qu'il est
maitre d'abandonner, l'aventure d'une construction finie quand les autres
voient qu'elle commence, et qui n'a pas connu l'enthousiasme brUlant une
minute de lui-meme, le poison de la conception, le scrupule, la froideur des
objections interieures et cette lutte des pensees alternatives ou la plus forte
et la plus tmiverselle devrait triompher meme de l'habitude, meme de la
nouveaute, celui qui n'a p as regarde dans la blancheur de son papier une image
troublee par le possible, et par le regret de tous les signes qui ne seront pas
choisis, ni vu dans l'air limpide une batisse qui n'y est pas, celui que n'ont pas
hantele vertige de 1' eloignement d'un but, l'inquietude des moyens, la pre-
vision des lenteurs et des desespoirs, le calcul des phases progressives, le raison-
nement projete sur l'avenir, y designant meme ce qu'il ne faudra pas raisonner
alors, celui-la ne connait pas davantage, quel que soit d'ailleurs son savoir, la
richesse et la ressource et 1' etendue spirituelle qu'illumine le fait conscient de
construire. 2 4
Schon das anfangs und in der Folge immer wieder als gliederndes
Scharnier auftretende «celui que» oder <<celui qui» hat zugleich den
Charakter der feierlichen, erhöhenden Nennung und der für das Ereig-
24 Variete. I n8I f. Die Pronomina wurden vom Verfasser ausgezeichnet.
nis der Verwirklichung offenbleibenden Unbestimmtheit. Zunächst
wird der Schöpfer des Künftigen ergriffen von möglichen Plänen, für
die er sich noch keineswegs entscheiden mag. Der Satz flattert anfangs
im Wind der ersten schöpferischen Bewegung («fut-ce en reve>> wird,
leichthin, dazwischengeworfen). Diese fliegende Bewegung wird
durch «et qui» unterbrochen, etwas Bohrendes, Fixiertes liegt in die-
sem Zurückholen. Nun folgen dicht aufeinander die verzehrenden
Tätigkeiten, die ihm auf den Leib .rücken: «1' enthousiasme brillant
une minute de lui-meme», eine Verengung, eine minuziös messende
Begrenzung der schöpferischen Kraft, darauf das Ätzende, Stechende
der Konzeption, schließlich die Kälte des erwägenden Denkens: durch-
aus die Gegenbewegung zur enthusiastischen Ausfahrt des Beginns:
alles reduziert und konzentriert sich auf die Einsamkeit des sich selber
bekämpfenden Bewußtseins.
Nun ist der Schöpfer Herr seiner M öglichkeiten, nun ergreift er die
Aktivität: <<celui qui». Er sieht die unentschiedene Fülle der unverwirk-
lichten Werke als Zeichen vor sich: Mallarmes <<vide papier que la
blancheur defend», die Durchsichtigkeit der Luft umgeben ihn als
Schauplätze der noch unverkörperten W esenheiten. Diese Vision des
beherrschten Gleichgewichts, regungslos, neutral, verdichtet sich aber
zur drohenden, schwindelerregenden Gefährdung: der Schöpfer ver-
liert wiederum die Macht über sich: «celui que». Ihn beängstigt die
antizipierte Notwendigkeit, eine Totalität zu bauen. Der Schöpfungs-
prozeß rückt bedrohlich in die Nähe tmd mit ihm das Wissen um sein
Versagen. <<Celui-la» führt nun aber die Wendung herbei zum Werk,
das jetzt endgültig in seiner Ganzheit ergriffen wird. Bis zuletzt wird
das Verb «construire» noch aufgespart. Dieses einzige Wort wiegt nun
am Schluß die gesamte dreiteilige Periode auf. Es erhält das ungeheure
Gewicht der endlichen, punktuellen Realisation.
Dieses Beispiel soll Valery als Meister der Syntax erweisen, welche
die Ausfahrt und Rückkehr des Geistes von und zu sich selber vollzieht.
Auch zu dieser Stelle dürfte der Grundsatz über die Prosa, sie vertilge
sich in der Erschaffung ihres Objekts, angeführt werden. Aber dieses
Objekt ist nichts anderes als die Selbstbewegung des Geistes und mithin
geeignet, die «allure de marche>> der Prosa dem Tanz anzunähern, in
dem Valery aber eine Entsprechung nur zur Dichtung zu sehen bereit
ist. Doch wenn er ausführt:
La danse, c' est tout autre chose. Elle est, sans doute, un systeme d' actes, mais
qui ont leur fin en eux-memes. Elleneva nulle part. Que si eile poursuit quel-
que chose, ce n'est qu'un objet ideal, un etat, une volupte, un fantarne de

r68
fleur, ou quelque ravissement de soi-meme, un extreme de vie, une cime, un
point supreme de 1' etre ... 25

beschreibt er da nicht ziemlich genau die zugleich sich genügende und


sich transzendierende Bewegung des Geistes, wie wir sie eben nach-
gezeichnet haben? Sie kommt zustande, wenn Objekt und Conscience,
Moi-actuel und Moi-pensee eine einzige Bewegung von Betrachtung
und Geschehen in einem ausmachen. Dies bedeutet für Valery die
Figur des Tanzes, wie er sie zum Beispiel in L' Ame et laDansegestaltet
hat. Mit dem Höhepunkt der Tanzbewegung in jenem Dialog soll diese
Studie beschlossen werden:
Socrate
0 mes amis, ne vous sentez-vous pas enivres par saccades, et comme par des
coups repetes de plus en plus fort, peu apeu rendus semblables a tous ces con-
vives qui trepignent, et qui ne peuvent plus tenir silencieux et caches leurs
demans? Moi-meme, je me sens envahi de forces extraordinaires ... Ou je
sens qu' elles sortent de moi qui ne savais pas que je contenais ces vertus. Dans
un monde sonore, resonnant et rebondissant, cette fete intense du corps
devant nos ames offre lurniere et joie ... Taut est plus solennel, taut est plus
leger, tautest plus vif, plus fort; tautest possible d'une autre maniere; taut
peut recommencer indefmiment ... Rien ne resiste a1' altemance des fortes et
des faibles ... Battez, battez! ... La matiere frappee et bat tue, et heurtee, en
cadence; la terre bien frappee; les peaux et les cordes bien tendues, bien frap-
pees; les paumes des mains, les talons, bien frappant et battant le temps,
forgeant joie et folie; et toutes choses en delire bien rythme, regnent. 26

Mit Bewußtsein wählen wir den Höhepunkt des Dialogs aus. Athikte
wird nicht mehr nur betrachtet, ihre Totalbewegung teilt sich auch
den Gesprächspartnern mit. Dennoch läßt sich nicht allein die Stimme
der Trunkenheit vernehmen. Sokrates fmdet noch Gelegenheit, sich
in einer Frage darüber zu äußern. Er zeichnet die Bewegung der wach-
senden Rhythmisierung seines Innern nach. Die Bewegung ereignet
sich zunächst im stoßend-schlagenden Tanzschritt («saccades»). Nun
treffen die rasch aufeinanderfolgenden Starktöne den Boden -
<<comme pardes coups repetes de plus en plus fort»-, und nun gleichen
sich die Sprechenden den Tänzerinnen an: alles verflüchtigt sich in
ätherische Laute: «ces convives qui trepignent»; zuletzt kommen die
<< demons »aus dem Innern hervor. Sokrates aber befragt die Bewegung,
die er gleichzeitig vollzieht. Er stellt die Simultaneität von conscience
und acte dar, deren Auseinanderbewegung sich im Verlauf dieser
zs Propos sur Ia Poesie, Variete. I 1371.
26 II 173.
Arbeit in den mannigfaltigsten Formen nachweisen ließ, während ihr
Ineinandergehen sich zum erstenmal in der Introduction gezeigt hat. Am
durchsichtigsten wird diese Ineinanderbewegung von Geschehen und
Bewußtsein im Satz<< Ou je sens qu' elles sortent de moi qui ne savais
pas que j e contenais ces vertus.» Das «ou » des Anfangs stellt die ganze
Aussage in den Schatten des Zweifels, der, von der potentiellen Totali-
tät aus, jede festbezeichnete Wahrnehmung begleiten muß. Aber dann
wird der Hervorgang aktualisiert: <0e sens qu' elles sortent de moi». Die
Kräfte sind herausgeschlüpft; Sokrates hat ihnen dabei zugeschaut;
kaum sind sie heraus, muß er, der keinen Stillstand duldet, sich selber
darüber befragen. Er kommentiert, was er selber erfährt, um sich nicht
darin zu verlieren. Die Imperative <<Battez, battez! » sind gleichzeitig
Regieanmerkungen und unmittelbare Bewegung. Nun hören die
aktiven Verben überhaupt auf. Der untemporale Zustand, der keine
Folge, keinen Fortschritt mehr kennt, die sich unendlich wiederho-
lende Bewegung des reinen Kreises, die dun~e als temps circulaire, die
Zeit des Tanzes ist eingetreten. Dies drücken die Partizipien anstelle
der Verben aus, mit ihrem verbalen und gleichzeitig substantivischen
Aspekt. Alles kreist in bewegter Dauer-Figur: «et toutes choses en
delire bien rythme, regnent». Das letzte Wort stellt die Souveränität
des Wissens über das Geschehen fest.
Sokrates, der Sprecher dieses Abschnittes, ist der Erfinder der Ironie.
Ironie ist der Zustand, der jedes je als Zeit- und Raumphase begrenzte
Stück Wirklichkeit sogleich in den Kontext der vor- und nachzeitigen
und -räumlichen Möglichkeit eingliedert. Ironie ist die monologische
Stimme, die nie aus einem Körper spricht.« ... la grande Danse, 6 mes
amis, n' est-elle point cette delivrance de notre corps tout entier pos-
sede de 1' esprit du mensonge ... »,Z 7 so fragt Sokrates. Es ist Valerys
Stimme, eine unheimliche, immerwährende Präsenz, die in jedem Satz
des Dialogs heimlich mitschwingt, als mephistophelisches Lächeln
über jeder Aussage schwebt. Nur wer diese Stimme mithört, etwa im
öfters wiederkehrenden, Versucherischen «o mes amis», versteht den
Charakter von Valerys Prosa, die auch da, wo sie dem reinen Sein der
wissend-geschehenden Ganzheit zustrebt, diese selbe Ganzheit ins
Nichts zurücknimmt.
27 II 171.
IV
JOHANNES BOBROWSKI :
«<MMER ZU BENENNEN»

Immer zu benennen:
den Baum, den Voo-el im Flug
t:> '
den rötlichen Fels, wo der Strom
zieht, grün, m1d den Fisch
im weißen Rauch, wenn es dunkelt
über die Wälder herab.

Zeichen, Farben, es ist


ein Spiel, ich bin bedenklich,
es möchte nicht enden
gerecht.

Und wer lehrt mich,


was ich vergaß: der Steine
Schlaf, den Schlaf
der Vögel im Flug, der Bäume
Schlaf, im Dunkel
geht ihre Rede-?

Wär da ein Gott


und im Fleisch,
und könnte mich rufen, ich würd
umhergehn, ich würd
warten ein wenig. 1

In diesen Versen legt sich Bobrowski Rechenschaft über sein Dichten


ab. Benennung ist dessen wesentlichstes Merkmal. Sie hält sich in seinen
übrigen Gedichten mit Vorliebe an die Elemente der sarmatischen
Landschaft seiner Kindheit. Selten fehlen der Wald, der fischreiche
Strom, der Vogelflug, der Wind, der Schlaf. Die evozierten Gegen-
stände sind demjenigen, der sie aus der Erinnerung hebt, schon
poetisch, ehe er sie in eine sprachliche Ordnung bringt. Diese Ordnung
zielt vor allem darauf, den Akt des Benennens dem Benannten gefügig
zu machen, durch eine bewegliche, weder apodiktisch setzende noch
auch aus bestätigender Wiederholung sich festigende Rhythmik, die
durchaus von Klopstacks zugleich freier und stilisierter rhythmischer
Erfindung mitbestimmt sein mag.
Hier aber wird, im Rück- und Überblick, anders als sonst bei Bo-
r Schattenland Ströme, Stuttgart 19633, S. 86.

!73
browski kein Zusammenhang geboten, der einem Ort, einem Moment
entstammt. Von der versammelnden Auswahl gerrauer Bilder eines
Bereichs sieht der Dichter ab; er begnügt sich mit der Skizzierung eines
Gerüsts zu seinen Gedichten. Deren Elemente werden nur in ihrer All-
gemeinheit aufgezählt, mit Spezifizierungen, die den allgemeinen
Charakter noch unterstreichen: «den Vogel im Flug)), «den rötlichen
Fels)), <<wo der Strom zieht, grüm. Es geht bei diesen Farbbezeichnun-
gen danun, auf die individuelle Wiedergabe der Farbe zu verzichten,
vielleicht, um die Ungerechtigkeit dichterischen Verfahrens bloßzu-
stellen. Aber selbst in allden Gedichten, die einer geschauten Situation
gerecht werden, ist der Farbgebrauch nicht sehr verschieden von dem
in unserem Beispiel. So etwa:
Himmel,
die Bläue, Bogen
alt, der mit uns
geht, den das Grün
bezaubert ...

Da ist ein Streifen Rot,


eine Spur
Rot, wir sind es allein
zwischen Grün und Blau,
Himmel und Erde ... 2

Die Farbe unterstützt bei Bobrowski den Gesamtblick, die Verwand-


lung in Fundamentales. Diese Tendenz ist auch in anderer Weise in
seinen Gedichten erkennbar und steht in schwer faßbarem Gegensatz
zur Evokation unverwechselbarer, im Auge behaltener Erinnerung.
Wenn also in unserem Gedicht der durchgängigen Selbstanklage sich
dem Dichter seine Werke zu Mustern ihrer selbst reduzieren, so kommt
darin eine Seite ihres Wesens zum Ausdruck, an der der Autor zu leiden
scheint. Die Verfügbarkeit der Elemente seiner Gedichte faßt sich ihm
als Spiel zusammen. Wie könnte ein Spiel das Wesen der Dinge be-
stehen lassen?
Dieselbe Frage nach der Gerechtigkeit des Dichtensangesichts seines
Spielcharakters erhebt sich bei einem der großen Vorbilder Bobrows-
kis, bei Georg Trakl. Ihm ist <<gerecht)) ein Leitwort, das er dem trans-
parenten Blick des in seinem Tod wohnenden Elis zuspricht. Was der
letzte Vers des ersten Helian-Gedichts sentenzenhaft zusammenfaßt,
gilt dem Auge, das die Dinge in einer gewaltlosen Reihe von Bildern
2
a.a.O. S.18.

174
aufzählend zur Ruhe bringt: «Doch die Seele erfreut gerechtes An-
schaun.» Solche Vergewisserung der Gerechtigkeit mag auch bei Trakl
der Furcht entspringen, er spiele mit einem immer wiederkehrenden
Schatz vorgeprägter Bilder. Wie bei ihm Einsicht in den Zustand des-
sen, was er anschaut, sich mit der Notwendigkeit einer ästhetisch be-
gründeten Kombination der evozierten Dinge durchdringt, wird nie
auszumachen sein. Dies Ineinandergehen ist spannungsvoller, weil
nach beiden Polen extremer entfaltet, als in der Dichtung der Goethe-
zeit. Bobrowski kennt denselben nie zu beschwichtigenden doppelten
Anspruch der Kunst: die Dinge sich selber zurückzugeben und eine
Ordnung eigener Setzung aufrechtzuerhalten. Die erste Aufgabe wird
durch die zweite gefährdet. Wohl fügen sich die Dinge der Benennung.
Aber ohne das Schattengewicht, ohne die Stummheit, die ihnen erst
ihre Präsenz verschaffen.
Aber vergaß denn der Dichter diese nicht in das sichtbare Zeichen
einzubringende Seite der Dinge? V er dient er seinen Vorwurf zu Recht?
Wenn eine Ansicht der Dinge in seinen Gedichten vorherrscht, so ist es
diejenige wurzelnden Verwachsens mit der finsteren Tiefe. Die
Schwere der Wälder, die Versammlung der Schatten, das Schweigen
desjenigen, dervon Gras, Stein, Wasserund Windden Todlernen will,
um in den Besitz einer anderen Sprache, die näher zu den Dingen hin-
führt, zu kommen, sie zeugen von der nie vernachlässigten Verpflich-
tung gegenüber der Herkunft des Benannten. Diese Herkunft deutet
in einenunergründeten Bezirk nicht allein der Natur, sondern auch der
Geschichte. Vorzeit steht in den vielen Greisen und Greisinnen der
dörflichen Lieder auf Pruzzische Sagenreste retten sich in Sprach-
trümmer und epische Anrufung. Und noch immer wird dem Schlaf
sein Recht nicht?
Hier verbirgt sich Bobrowskis Antrieb zum Dichten, die vergeb-
liche Anstrengung, wahrhaft zu sein. Weil er den Schlaf in den Dingen
zu verkennen meint, fügt er sein Gedicht aus Benennungen. Ihnen
bürdet er die Last des unergriffenen Lebens auf. Aber die Benennung,
wenn sie auch, wie bei Trakl, die gerechteste Weise der Darstellung
verbürgt, steht, gerade weil sie am ehesten der faßbaren Perspektive
entbehrt, zugleich im Verruf gefährlich willkürlicher Freiheit den
Gegenständen gegenüber.
Aus diesem Versagen könnte allein derjenige retten, in dem der Ur-
sprung alles Entstandenen beschlossen liegt. Wäre er vernehmbar
anders als in den Dingen, unmittelbar durch Gegenwart und Anruf, so
wüßte der Dichter, von wem er seine Sprache empfmge, so wäre er

175
nicht mehr genötigt, sich einem Anspruch zu unterwerfen, der die
Grenzen der Menschheit verletzt. Die Schüchternheit, mit der der
Zweifel an zwingender Verbindlichkeit sich anmeldet, steht im Ein-
klang mit der Gelöstheit der Verse. Keine zur Schau gestellte Verzweif-
lung, nicht einmal das Geständnis eines Leidens bedroht den sachten
Bau der der Prosa so willentlich benachbarten Strophen. Selbst dort,
wo Bobrowski die Ballung Klopstackseher Wortfolge übernimmt,
selbst in den hymnischen Anrufen verschollener Völker und Stätten,
weiß sich der Dichter jeglicher Selbstherrlichkeit des Tons zu ent-
halten. Er hat die nachhaltige Kraft glanzloser Sprache entdeckt. Der
spätere Gedichtband, dem das Gedicht entstammt, baut Verse von ge-
ringerer Wucht, aus einer leiseren Teilnahme an der Kahlheit düsterer
Gegend, in der das Licht sich in seltener, sparsamer Reinheit bewahrt.
PAUL CELAN: <<TÜBINGEN, JÄNNER>>

Zur Blindheit über-


redete Augen.
Ihre- <<ein
Rätsel ist Rein-
entsprnngenes» -, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.

Besuche ertrunkener Schreiner bei


diesen
tauchenden Worten:

Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
. .
1mmer-, 1n1n1er-
zuzu.

(«Pallaksch. Pallaksch.») I

Die Augen, die sich überzeugen ließen, daß ihnen Blindheit gezieme,
haben unter der <<Trübung durch Helles >> 2 gelitten. Blindheit ist ihnen
kein Verlust, eher das Gegenteil: <<Wer I sagt, daß uns alles erstarb, I da
uns das Aug brach? I Alles erwachte, alles hob an.>> 3 Der Psalm an Nie-
mand beschreibt die «Niemandsrose », als die wir aufblühen. Ihr ordnet
sich die Blindheit zu. Das Auge spricht in dieser Dichtung oft die
Sprache des Sprachlosen. Diese Sprache hat die Blindheit in sich auf-
genommen. Ihr kann ebensowohl das Auge aus dem Land Verloren 4
wie das blinde Auge entsprechen. Verlorenheit wird Nähe («Große,
graue, I wie alles Verlorene nahe I Schwestergestalt» 5). Aus der Blind-

I Die Niemandsrose, Frankfurt a.M. 1963, S.24-.


z a.a.O. S.12. J a.a.O. S.19. 4 a.a.O. S.22. 5 a.a.O. S.25.

177
heit der Augen steigt die Erinnerung an eine andere Blindheit, die jetzt
über die Zeiten hinweg verwandtschaftlich nahe rückt. Es ist die Blind-
heit dessen, der in einem Turm am Neckar die zweite Hälfte seines
Lebens hindämmern ließ. Dieser Blinde war aber der Sehendste. So ist
jetzt auch der, der ihn aus der Ferne sieht. Beide entsagen dem Licht,
weil sie das Licht reiner erkennen, reiner bestimmen können aus seiner
Abwesenheit. Der Blinde Sänger in Hölderlins Ode bedarf der Nacht,
um wissend die Welt aus dem Geist zu erfahren. Oedipus, dem er sich
angleicht, wurde die Blendung als Geschenk Apolls zuteil, auf daß er
dessen Gottheit verstehe und daran sich selbst ermesse. Nur: die Ver-
klärung des <<umnachteten>> Hölderlin ist, anders als die strahlend um-
armte neue Gegenwart im Blinden Sänger, jeglicher Zeit enthoben. Die
Erkenntnis des heutigen Dichters wagt gar überhaupt nicht mehr,
Licht aus dem Dunkel zu zeugen. Ihm wird das Dunkel noch mehr als
nur Stellvertretung des Lichts. Ihm wird es einziger Raum des Sehens.
Jene Erinnerung an den früheren Dichter der Blindheit steigt aus der
Versunkenheit, steigt aus dem Spiegelbild, das der Neckar zurück-
wirft. Dieses vervielfacht das Gewesene. Der Turm, der Schreiner-
meister, der in ihm wohnte und den Dichter beherbergte, sind nicht
mehr sie selber, sind, kraft ihrer Allgemeinheit, Mehrzahl geworden.
Die Möwen ersetzen die Schwalben um den Kirchturm im späten,
von Waiblinger überlieferten Gesang (In lieblicher Bliiue .. .). Ihr
frühlingshaftes Versprechen wird in Winterlichkeit umgemünzt.
Solche Rückkehr in Vergaugenes führt bis zum Ursprung, der die
damalige Dichtung ins Leben gerufen hat. Ein Rätsel bleibt um das da-
malige wie um das heutige dichterische Wort. Von wem berufen, aus
welcher Kraft, zu welchem Werk kommt Sprache herauf? Die Rhein-
hymne, der das Zitat «Ein Rätsel ist Reinentsprungenes » angehört,
denkt die Geburt des halbgöttlichen Stroms nicht ohne den Vergleich
mit der Geburt des Gesangs. Das Rätsel der Rheingeburt gründet in der
notwendigen Verkennung einer göttlichen Substanz in irdischer Ge-
stalt. So hörte auch Christus erst dann auf, «rätselhaft >>zu sein, als er
seinen Zusammenhang mit dem Vater am Ende der Zeit erwiesen
hatte. 6 Die Verkennung des Hölderlinschen Gesangs wurde von Höl-
derlin gefördert, sie sollte seine Mitwelt vor der Gefahr geistigen Bran-
des schützen. Darum spiegelt seine reife Dichtung immer deutlicher
die«einfältigen Augen», die«Abgründe der Weisheit» bewahren.? Der
heutige Dichter ist dieser Not noch viel strenger ausgesetzt. Er deutet
6 Vgl. Lesart zu Versöhnender . . . , Große Stuttgarter Ausgabe II 706,6ff.
7 Patmos, V.r 17ff. Gr.Stg.A. II r68 .
selber auf diesen unermeßlichen zeitlichen Abstand. Er bezeugt ihn in
einer Sprache, die als eine zerschlagene gelten will. Nur so kann sie
wahr bleiben. Nur so kann sie sich fernhalten von der Versuchung zu
festlegenden, von der jüngsten Geschichte längst miteroberten Bildern
des Sprachgebrauchs. Der Dichter muß mit seiner Sprache «über j die
Menschen-Hürden>> reiten. 8 Und selbst dann wird er vielleicht nicht
verhüten können, daß «sie/logen unser Gewieher/um in eine/ihrer
bebilderten Sprachen.»
Die Worte sind hier ohne Boden, entstammen der Nähe zu dem
Versunkenen, kommen gleichsam aus dem Grabe. Wenn Hölderlin
wiederkehrte, er müßte noch viel verhüllter, noch viel blinder spre-
chen. Sein Kommen wäre wieder ein Einbruch unverstandenen Lichts.
Der Lichtbart der Patriarchen spricht die majestätische Verhüllung
durch die Helle der Sicht aus. Die harrenden Vorbereiter der Gottes-
ankunft, die die Hymne Atn Quell der Donau in den Patriarchen und
Propheten nennt, dieselben, die ahnungsvoll der <<Mutter Erde» ge-
dient haben, 9 werden jetzt in die gegenwärtige Gestalt eines neu er-
scheinenden Hölderlin überführt. Auch er wird nun durch die seit ihm
verstrichene Zeit nicht eingelöster Prophetie zu den Ahnen der Gottes-
erwartung gesellt. Seine Rückkehr wäre nicht mehr an seine historische
Person gebunden: abzusehen wäre von der Sprache seiner Epoche, der
die Teilnahme am Geist in der Gegenwart und in bevorstehender
nächster Zukunft an der Stirne geschrieben stand. Jetzt wird er namen-
los, <<ein Mensch>> sein. Denkt Celan an diese mehrmals in den spätesten
Gedichten begegnende Formel Hölderlins? Dieser Mensch käme zur
Welt als ein von ihr ganz Verschiedener. Seine Verschiedenheit von
der Welt läßt über die Zeiten hinweg den heutigen Dichter sich in
ihm begreifen, in einer geheimnisvollen, überaus konkreten Über-
führung, vergleichbar der Ablösung der Glieder, die Celan dem Na-
men Ossip anheftet (worin der Dichter Mandelstamm wiederkehrt),
um so erst er selber zu werden. 10 (Die Niemandsrose ist dem Andenken
Ossip Mandelstamms gewidmet.) Der so Erschienene faßt den älteren
und den heutigen Dichter in eine Gestalt. Er spricht, wie der Umnach-
tete zuweilen tat, wie der jetzige Dichter im Augenblick seines Ge-
dichts tut: lallend.
Die Niema11dsrose findet ihre Gestalt unter dem Druck eines nie zu
verschweigenden Vorgangs, dem die <<umhurten» Worte nicht zu

s a.a.O. S.rr.
9 Vgl. Lesart Gr.Stg.A.II 683,24.
ro a. a. 0. S. 82.

179
Diensten stehen dürfen. An ihre Stelle tritt das «erschwiegne >>Wort,
dessen Gestalt in Sprachgitter noch der Wiederholung vertrauen durfte,
in der Niemandsrose aber nur aus der Zerschlagung sich gewinnt. Es ist
das Wort des «Partikelgestöbers», das Wort, das tausendfach zerteilt
die Stelle des unteilbaren Worts angetreten hat, vergleichbar der Auf-
teilung des göttlichen Leibs unter die Beter, in Tenebrae (Sprach-
gitter). «Gott, das lasen wir, ist/ ein Teil und ein zweiter, zerstreuter:/
im Tod/all der Gemähten/ wächst er sich zu.» I I Sein Wort heißt
«Nimmer». 12 Dieses Wort hat die Entstaltung mitvollzogen, die der
Zeuge seiner Zeit ihr zu offenbaren hat. «<hr meine mit mir ver-/
krüppelnden Worte». 1 3 Aber in dieser Verkrüppelung bewahrt sich
deren Gegenteil: «ihr/ meine geraden». Das Lallen wird in der Figur
des Paradoxons aus sich selber errettet. So steht es mit dem Wort«Pal-
laksch. Pallaksch>>. Es ist ein «Blindenwort>>. Es kann als bloßes Lallen
wirken. Aber es kann sich auch mit Sinn beladen. Allein darin liegt
schon die Aufhebung aus dem Widerspruch. Der Sinn selber aber ent-
hält diesen Widerspruch:
Christoph Theodor Schwab berichtet I 846 über seine Besuche bei
dem kranken Dichter: «Ein Lieblingsausdruck war das Wort pal-
laksch!, man konnte es das einemal für Ja, das anderemal für Nein
nehmen ... »14 Celan setzt es doppelt hin, um beides gesagt zu haben.
So galt schon dem, der den letzten Spruch sagte, die Weisung:
«Sprich -/Doch scheide das Nein nicht vom Ja ... Beim Tode! Leben-
dig! /Wahr spricht, wer Schatten spricht.>> Is
In der Niemandsrose wird selbst das Wortgestein von solcher Spal-
tung- zwischen Sinn und Gestalt- betroffen, sei es durch die Doppe-
lung in einem Wort- «wannwann» -, sei es durch die Zerteilung, die
sich neu zusammenfügt: «mit den Men, mit den Sehen, mit den Men-
schen.>>
Daß das fremde Wort sich als das letzte des Gedichts einstellt, ereig-
net sich öfters in der Niemandsrose. Auch darin erscheint ein Paradox:
lange zurückgehalten, in Umschreibungen angekündigt, befreit es
sich aus der Sprachlosigkeit und steht nun selber steinern und unbe-
kömmlich da, als das Unauflösliche.
11 a.a.O. S.16.
12
a.a. O. S. 3I.
13 a.a. O. S.35.
14
Hölderlin, Sämtliche Werke, Propyläen-Ausgabe, Bd. VI, S. 444.
1
s Voll Schwelle z u Schwelle, Stuttgart 1955, S. 59.

180
DRUCKNACHWEISE

Die Transfiguration Ro11sseaus in der deutschen Dichtung um 18oo: Hölderlin -


Jean Paul - Kleist. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft I, 1966, IOI-II6.
Französische Fassung: A1males de la Societe Jean-Jacques Rousseau 36, 1966,
153-17!.

Je an Pauls Romankonzeptioll. In: Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer


historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hg. und eingeleitet von
Reinhold Grimm. Frankfurt a.M. und Bonn: Athenäum 1968, III-126.

Leibgeber und die Metapher der Hülle: noch unveröffentlicht.


Antikes im <Titan>. In: Jean Paul, zum 200. Geburtstag. Neue Zürcher Zeitung
Nr. 1044, 17. 3· 1963, Smmtagsausgabe für Literatur und Kunst.

HO'lderlins späteste Gedichte. Hölderlin-Jahrbuch 14, 1965/66, 35-56.


Ekstase, Maß und Askese in der delltschen Dichtung. In: Ekstase, Maß und Askese
als Kulturfaktoren. Akademische Vorträge, gehalten an der Universität
Basel, 5, Basel 1967, 39-57. Auch in: Beiträge zur Ekstase. Hg. von Th.
Spoerri. Bibliotheca Psychiatrica et Neurologica 134. Basel und New York:
S.Karger 1968, 189-207.

Mö'rikes Gedicht <Auf eine Christblume>. Euphorion 56, 1962, 345-364.

Wirkungen des Jranzö'sischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundert-
wende. Euphorion 58, 1964, 375-395·
Die Sprache der Entsagung in Stefan Georges Dichtung. Neue Zürcher Zeitung
Nr. 4974, I. 12. 1963, Sonntagsausgabe für Literatur tmd Kunst.

Über Va!erys Prosastil. Neue Zürcher Zeitung Nr.2897, 6.8.1961, Sonntags-


ausgabe für Literatur und Kunst.

Johannes Bobrowski: Immer zu benennen. In: Doppelinterpretationen. Das zeit-


genössische deutsche Gedicht zwischen Autor tmd Leser. Hg. und einge-
leitet von Hilde Domin. Frankfurt a. M. und Bonn: Athenäum 1966,
103-105.
Paul Celan: Tiibit1ge11, Jätmer. Schweizer Monatshefte 45, 1965, 602-605.

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