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BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 Norwegen NOK 82,– Polen (ISSN00387452) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien

rwegen NOK 82,– Polen (ISSN00387452) ZL 33,– Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Printed in
Dänemark dkr 57,95 Frankreich € 6,80 Italien € 6,80 Österreich € 6,00 Portugal (cont) € 6,80 Slowenien € 6,50 Spanien/Kanaren € 7,00 Ungarn Ft 2490,- Germany

Lebensmittel

ums vegane Essen


Der Milliarden-Hype
Rechtspopulisten

die AfD auf Facebook


Unheimlich erfolgreich:
US-Präsidentschaft

Trump gefährlich werden


Diese Demokraten könnten
Verstörend, revolutionär, genial: wie Leonardo die Moderne erfand
Nr. 18 / 27.4.2019
Deutschland € 5,30
kfw.de

hhaltigen
Mehr zum nac
der KfW:
Engagement
es/plastik
kfw.de/stori

Weiterdenker bekämpfen künstliche


Feinde: Tüten, Becher, Folien.
Die KfW fördert nachhaltige Projekte zur Reduzierung von Plastikmüll. Durch die Finanzierung
von Meeresschutzzonen und innovativem Abfallmanagement leistet die KfW einen wichtigen Beitrag gegen
die Verschmutzung der Meere. Schließlich bieten sie Nahrung für zwei Milliarden Menschen und sind von
elementarer Bedeutung für unser Klima und die Artenvielfalt. Plastik gefährdet dieses sensible Ökosystem –
und damit uns alle. Als nachhaltige und moderne Förderbank unterstützt die KfW Weiterdenker, die
zukunsweisende Lösungen zur Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung in die Tat umsetzen.
Weitere Informationen unter kfw.de/stories/plastik
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Einfachere
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Singlemutter, Sri Lanka, Naturretter
Abläufe?
Dank digitaler Vernetzung
Vor 500 Jahren starb ein Mann, der – unter anderem –
Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Inge- mit Kunden, Behörden
nieur, Naturphilosoph war. Ein Mann der vielen Talente
CHRISTIAN O. BRUCH / DER SPIEGEL

also: Leonardo da Vinci. Redakteurin Ulrike Knöfel,


selbst Kunsthistorikerin, begab sich auf die Spuren sei- und meinem Steuerberater.
nes Lebens, seines Werkes, saß in Hinterzimmern des
Louvre, der Uffizien, sprach mit Restauratoren, Muse-
umsdirektoren; und sie sieht Leonardo als einen Mann
der Obsessionen, mit vielen Facetten, der Eigenschaften
in sich vereinte, die auch heutzutage wichtig sind, wenn
vom Fortschritt die Rede ist. Leonardo war innovativ
Knöfel wie kaum ein anderer, grenzenlos neugierig, kreativ
sowieso, er war ökologisch und auch einen Hauch grö-
ßenwahnsinnig. Vor allem aber war er immer auf der Suche nach der Wahrheit.
Knöfel: »All das macht ihn zu jemandem, für den der Begriff Jahrtausendfigur gerade
so eben reicht.« Seite 100

Als Redakteurin Laura Backes begann, in Deutschland nach Frauen zu suchen, die
ohne Partner schwanger werden wollen und deshalb die Dienste von Samenbanken
in Anspruch nehmen, fand sie monatelang keine Frau, die bereit war, mit ihr zu spre-
chen. Backes vermutet, dass die gesellschaftliche Isolation der Frauen ein Grund
dafür ist: »Viele sind mit ihrer Entscheidung ziemlich allein und sehen das Fehlen
eines männlichen Partners womöglich als einen Mangel an, für den sie selbst verant-
wortlich sind.« In einem Internetforum fand sie schließlich Gesprächspartnerinnen.
»Die Frauen bestärken sich gegenseitig«, sagt Backes, »sie wollen, dass ihr Lebens-
modell akzeptiert wird.« Seite 26

Kattankudy liegt an der Ostküste Sri Lankas, nur wenige


Kilometer entfernt von der Zionskirche, in der am Sonn-
tag eine Bombe explodierte. In dem Küstenort trafen
SPIEGEL-Mitarbeiter Fritz Schaap und Fotograf Christian
Werner eine Schwester des Mannes, der die Terroranschlä-
HAFEEL FARISZ / DER SPIEGEL

ge wahrscheinlich mitorganisiert hat. »Madaniya glaubt,


ihr Bruder sei einer Gehirnwäsche unterzogen worden«,
sagt Schaap. Und möglicherweise ist nicht nur der Bruder
in die Attentate verwickelt. »Auch ihre Eltern und weitere
Geschwister sind verschwunden.« Wie die Attentate Sri
Lanka verändert haben, was in Zukunft geschehen mag,
beschreibt Schaap ab Seite 68. Werner, Schaap

Eine Milliarde US-Dollar will der Schweizer Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-
Philanthrop Hansjörg Wyss für den Natur-
SEBASTIEN AGNETTI / DER SPIEGEL

schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen


schutz spenden. Fasziniert reiste Redakteur Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
Philip Bethge an den Genfer See, um mit dem Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
83-Jährigen über dessen Pläne und auch über im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
seinen märchenhaften Reichtum zu sprechen.
Bethge begegnete einem Mann, der in zwei
Welten lebt. »Wyss brachte Croissants vom
Digital-schafft-Perspektive.de
Bäcker mit und kann selbst nicht ganz begrei-
Bethge, Wyss fen, wie viel Geld er hat.« Später gingen die
beiden essen, in ein Haus mit Geschichte: den
Golf Club du Domaine Impérial, direkt am Genfer See. Bethge wollte die Rechnung
bezahlen, aber der Milliardär ließ ihn wissen: »Das können Sie nicht, das hier ist
ein Privatklub.« Seite 88

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 3


Inhalt
73. Jahrgang | Heft 18 | 27. April 2019

Titel Familie Schwanger werden


ohne Partner? Eine Frau suchte
Genies Vor 500 Jahren starb Hilfe bei Kinderwunschzen-
Leonardo da Vinci, er war tren – und ließ sich monatelang
Maler, Anatom, Erfinder und vom SPIEGEL begleiten . . . . 26
eine Jahrtausendfigur – ein
moderner Mensch am Beginn Sozialdemokratie Karin Fahren-
der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 100 kamp war das millionste
Mitglied der SPD – heute
Wem gehört Leonardos verzweifelt sie an der Partei 32
»Salvator Mundi«, das teuerste
Gemälde der Welt? Interview #MeToo Sexueller
mit dem Kunstgeschichts- Missbrauch bringt Musik-
professor Frank Zöllner . . . 115 und Kunsthochschulen
in Verruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Deutschland Verbrechen NRW-Innen-


minister Herbert Reul erklärt,

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


Leitartikel Im Umgang mit wie Behörden im Pädophilen-
Parteispenden hilft Fall von Lügde versagten . . . 37
nur totale Transparenz . . . . . . 6

Meinung Der schwarze Kanal / Gesellschaft


So gesehen: Boris Palmer und
die Deutsche Bahn . . . . . . . . . . . 8 Früher war alles schlechter:
Kopfhörer / Warum gibt es
RWE-Chef sorgt sich um Schutzmacht der Klimaleugner noch Volkshochschulen? . . . . 38
Energiewende / US-Museum
wehrt sich gegen AfD-Plakat / Weil Angstmache vor Migranten ein Thema von Ein Strafbefehl und seine
Wirtschaftsverbände gestern ist, hat die AfD ein neues Feld betreten. Geschichte Wie ein Mann um
trommeln für »Blue Cards« 10 seinen Führerschein kämpft 39
Sie steht jetzt an der Seite derer, die die Schuld
Parteien Mit Klimaskepsis des Menschen am Klimawandel infrage stellen. Karrieren SPIEGEL-Gespräch
und Diesel-Euphorie geht Auch über Dieselfahrer hält sie ihre Hand. Seite 14 mit dem Schauspieler
die AfD auf Wählerfang . . . . 14 Mario Adorf über das Alter
und die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 40
Auf Facebook bewegen die
Rechten mehr als alle anderen Homestory 100 Tage ohne
Parteien – wie geht das? . . . . 18 Onlineshopping . . . . . . . . . . . . 45

Karrieren Bildungsministerin
Anja Karliczek führt eines der Wirtschaft
wichtigsten Zukunftsressorts,
SONJA OCH / DER SPIEGEL

doch sie kommt damit nicht Schenker trübt die Klimabilanz


zurecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 der Bahn / Anklage gegen
Ex-Deutsch-Banker / Leica-
Demokratie Die Europawahl Werbung sorgt grundlos für
läuft ohne Prozenthürde – in Ärger in China . . . . . . . . . . . . . . 46
Deutschland hoffen daher
Dutzende Kleinparteien auf Ernährung Konzerne und
lukrative Mandate . . . . . . . . . . 22 Ein Baby ohne Mann, bitte Finanzinvestoren hoffen
auf das große Geschäft mit
Religion Journalist Constantin Sie nennen sich »Solomütter« – Frauen, die ohne veganen Lebensmitteln . . . . . 48
Schreiber hat Schulbücher Partner bleiben und dennoch ein Kind
islamischer Länder analysiert – Finanzindustrie Nach der
und kritisiert das Weltbild, mit
bekommen möchten. Oft liegen sie über Kreuz mit gescheiterten Fusion
dem viele Flüchtlingskinder den Konventionen. Eine von ihnen hat sich auf steht Deutsche-Bank-Chef
nach Deutschland kommen 24 ihrem Weg vom SPIEGEL begleiten lassen. Seite 26 Sewing als Sieger da . . . . . . . . 54

4 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Weltwirtschaft Die Globa- Wissenschaft
lisierung verliert an Tempo,
viele Firmen kehren Musik macht gesund / Wett-
nach Deutschland zurück . . . 56 rennen der Bio-Roboter / Gast-
kommentar: Jörg Kachelmann
Wohnungsnot Immer öfter über verfrühte Warnungen
wehren sich Anwohner vor einem Dürresommer . . . . 86
alter Villenviertel gegen
den Bau von Mehrfamilien- Umwelt Der Weltretter –
häusern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 warum der Milliardär
Hansjörg Wyss eine Milliarde
US-Dollar für den
Ausland Naturschutz ausgeben will 88

BARBARA DAVIDSON / REDUX / LAIF


Washington attackiert Luftfahrt Wird die Boeing 737
Atomwaffensperrvertrag / Max durch ein Software-
Saudi-Arabien richtet Update wirklich sicher? . . . . 94
37 Menschen hin . . . . . . . . . . . . 60
Akustik Was gegen Hörschäden
USA 20 Demokraten wollen bei Orchestermusikern hilft 95
im kommenden Jahr gegen
Donald Trump antreten – Psychologie Schütteln,
wer hat Chancen? . . . . . . . . . . 62 20 gegen Trump schlagen, hungern lassen –
überforderte Angehörige
Analyse Russland provoziert Fast zwei Dutzend Demokraten ringen um in der häuslichen Pflege . . . . 96
den designierten ukrainischen die Präsidentschaftskandidatur. Zu den Favoriten
Präsidenten Wolodymyr
Selenskyj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
zählen der Texaner Beto O’Rourke (o.) und
Kultur
Ex-Vizepräsident Joe Biden. Wer kann Amerika
Sri Lanka Die islamistischen begeistern und Donald Trump besiegen? Seite 62 Ein Reiseführer von Erika
Anschläge gefährden und Klaus Mann / Netflix-
den Frieden zwischen den Dokumentation über
Volksgruppen . . . . . . . . . . . . . . . 68 die amerikanischen Kongress-
wahlen / Kolumne: Besser
Polen Ein schwuler Ex- Angriff der Tofus weiß ich es nicht . . . . . . . . . . . . 98
Bürgermeister ist der
Shootingstar der Liberalen Wonach schmeckt veganes Essen? Nach Verzicht Serien Sie könnten die Töchter
im Kampf gegen die und Sägespänen, das jedenfalls ist sein Ruf. Mit der Frauen aus »Sex and
Nationalkonservativen . . . . . 72 the City« sein – »The Bold
neuen Produkten will sich die Branche nun aus Type« handelt von den
Diplomatie Wie soll der der Bio-Nische befreien. Investoren und Konzerne Problemen dreier junger
Westen auf Pekings hoffen auf einen Milliardenmarkt. Seite 48 New Yorkerinnen . . . . . . . . . . 116
Machtdemonstrationen
reagieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Familien Was ist eine gute
Mutter? Was ist ein guter
Vater? Ein SPIEGEL-Gespräch
Sport mit der Philosophin Svenja
Flaßpöhler und dem Autor
Wie spannend sind die Florian Werner . . . . . . . . . . . . 118
europäischen Fußballligen? /
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

Magische Momente: Literaturkritik Michiko


Steffen Fetzner über sein Kakutani war die einfluss-
traumhaftes Finale zum reichste Kritikerin der
Tischtennisweltmeister . . . . . 79 USA, ihr neues Buch handelt
von Donald Trump und
Fußball SPIEGEL-Gespräch der Macht des Erzählens 122
mit dem Arzt Hans-Wilhelm
Müller-Wohlfahrt und
dem Physiotherapeuten Klaus Die letzte Zugabe
Eder über die Malaisen
der Nationalspieler und die Seit sechs Jahrzehnten ist Mario Adorf Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Irrungen ihrer Branche . . . . . 80 einer der wenigen echten Stars des deutschen Impressum, Leserservice . . . 124
Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Stars Wie Fußballprofis von
Kinos. Bald wird er 89. Ein Gespräch über Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Social Media profitieren – das Alter, die Ehe und das Glück – und über die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
oder sich im Netz verlieren 84 Frage, was bleibt. Seite 40 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelbild: [M] Getty Images (5) 5


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Totale Transparenz
Leitartikel Für den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik muss es strenge Regeln geben.

D
as Unwort der deutschen Politik heißt Partei- Die Wirtschaft kann ihre Interessen nicht nur über Par-
spende. Einige der großen Skandale der Republik teispenden durchsetzen, sondern auch über Lobbyarbeit
spielen auf diesem Feld. Die Flick-Affäre, über gegenüber Politikern, über die fachliche Beratung von
die ein Wirtschaftsminister der FDP stürzte, Otto Ministerien. Zudem wechseln Manager in die Politik oder
Graf Lambsdorff. Die schwarzen Kassen der CDU, die Politiker in die Wirtschaft. Auch da wurde Schindluder
dem Ansehen des Altkanzlers Helmut Kohl schadeten getrieben, gab es dreisten Missbrauch. Trotzdem gilt auch
und seiner Partei Strafzahlungen in Millionenhöhe eintru- hier: Eine Abschottung hilft der Politik nicht, sie braucht
gen. Die dubiosen 100 000 Mark in bar, die Wolfgang die Expertise der Unternehmen und Verbände.
Schäuble den CDU-Vorsitz kosteten. Seine Nachfolgerin Es kommt auf die Regeln an und auf die Haltung.
wurde Angela Merkel, die damit letzten Endes fast Wer die Wirtschaft als Akteur der Politik verdammt, macht
14 Jahre Kanzlerschaft auch einem Spendenskandal ver- sie zu einem Außenseiter. Aber die Unternehmen werden für
dankt. Das ist die Dimen- die liberale Demokratie ge-
sion dieses Themas. braucht, sie dürfen nicht ab-
Auch die AfD, die ver- driften in eine Sehnsucht
sprochen hat, alles anders nach chinesischen Verhältnis-
zu machen, versinkt sen, nach dem autoritären
schon im Spendensumpf. Staat, der rasend schnell neue
Die SPD hatte ihre re- Fabriken baut oder Produkte
gionalen Skandale. Meist genehmigt, weil die Politik
sollten oder wollten die nicht erst um Kompromisse
Geldgeber unbekannt blei- ringen muss oder demokrati-
ben, damit die Parteien sche Werte zu verteidigen hat.
nicht in den Ruch der Käuf- Und den Unternehmen
lichkeit kommen. Doch sollte klar sein, dass sie von
werden sie erwischt, ver- der Rechtssicherheit in
stärkt das den fatalen Demokratien profitieren,
ARND WIEGMANN / REUTERS

Eindruck vieler Bürger, die dass es sich manchmal lohnt,


Politik sei vor allem für die nicht nur ein eigenes Interes-
großen Unternehmen da. se zu vertreten, sondern
Da scheint es eine gute auch ein höheres. Und dass
Nachricht zu sein, dass Daim- man deshalb, zum Beispiel
ler in diesem Jahr nicht mehr als Autokonzern, Parteien
an Parteien spenden will. Daimler-Chef Dieter Zetsche, Kanzlerin Merkel unterstützt, obwohl sie nicht
Doch in Wahrheit ist es eine mehr jede angebliche Zumu-
schlechte Nachricht. tung aus Brüssel abwenden.
Wie wünscht man sich den Raum, in dem Politik ent- Bei Daimler könnten sie darüber mal nachdenken.
steht in einer Demokratie? Doch nicht als eigene Welt der Die Politik sollte dafür sorgen, totale Transparenz her-
Parteien, der Berufspolitiker, die vom Rest abgeschottet zustellen. Auch kleine Beträge müssen zeitnah ans Licht
Entscheidungen treffen, auf einem Raumschiff, in einem der Öffentlichkeit. Und wer genau ist der Empfänger von
Treibhaus. Nein, Politik muss aus der Gesellschaft kom- Zuwendungen, welcher Ortsverband? Die Parteien sollten
men, und selbstverständlich gehören Unternehmen zur zu ihren Gönnern stehen. Auch das Sponsoring von Ver-
Gesellschaft, als Arbeitgeber, als Akteure mit ökonomi- anstaltungen gehört in den Rechenschaftsbericht.
schen Interessen. Es ist gerade eine Stärke der Demokratie, Für die anderen Bereiche müssen die Grenzen klar defi-
dass sie sich um einen Ausgleich der Interessen bemüht, niert sein: Politikberatung ist erwünscht, aber an einem
dass im Prinzip jeder gehört wird, jeder Einfluss nehmen Gesetz mitzuschreiben, das einen selbst betrifft, ist ver-
kann. Am Ende steht der Kompromiss, der möglichst vie- werflich. Wechsel sind erwünscht, aber umso peinlich ge-
len gerecht werden soll. nauer muss man darauf achten, den ehemaligen Arbeit-
Allerdings darf es nicht so sein, dass manche Akteure geber nicht zu begünstigen. Ein Register sollte ausweisen,
übermäßig viel Einfluss haben und ihre Interessen besonders welcher Politiker welchen Lobbyisten wann getroffen hat.
gut durchsetzen können. Das ist bei mächtigen Unterneh- Bislang bleibt zu viel in der Grauzone, weil Politik
men oft so, gerade aus der Autoindustrie, die es früher und Wirtschaft dort so schön mauscheln können. Ein Kodex
geschafft hat, schärfere Grenzwerte für Umweltverschmut- der Redlichkeit, verbindlich und umfassend, würde der
zungen zu verhindern, zum Schaden der Allgemeinheit. Demokratie helfen. Dirk Kurbjuweit

6 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Exklusives Anbaugebiet Holsthum bei Bitburg im Naturpark Südeifel

So gut kann
Bier schmecken.

Andreas Dick,
Hopfenbauer für Bitburger

Kennen Sie das Geheimnis des Bitburger Siegelhopfens?


Heimischer Hopfen aus Holsthum bei Bitburg!
Bei Bitburger verpflichten wir uns seit über 200 nur die für uns besten Hopfensorten. Ganz
Jahren zu bester Qualität. Das Einlösen die- besonders stolz sind wir auf den Bitbur-
ses Qualitätsversprechens macht unser Bier ger Siegelhopfen, der nur wenige Kilometer
unverwechselbar und seinen Geschmack von der Brauerei entfernt von der
einzigartig. Deshalb kaufen wir Hopfenbauerfamilie Dick mit großer
ausschließlich Rohhopfen aus der Sorgfalt und jahrzehntelanger
Hallertau in Bayern, eines der Erfahrung angepflanzt wird
größten zusammenhängenden und ausschließlich von uns
Hopfenanbaugebiete der Welt für unsere Biere verwendet
und aus Holsthum bei Bitburg wird. Die besondere Kom-
im Naturpark Südeifel. Diese position aus Hallertauer und
Siegelhopfen wählen wir nach Bitburger Siegelhopfen, unserer
unseren Qualitätsanforderungen aus Naturhefe und unserem Tiefenwasser
und unterziehen sie einer anspruchsvollen verleiht Bitburger seinen feinherben
Güteprüfung vor Ort. Denn für unsere Charakter und seinen einzigartigen
Bitburger Hopfenrezeptur verwenden wir Geschmack. Und deshalb: Bitte ein Bit.

Erfahren Sie, was den Bitburger Geschmack so einzigartig macht: www.bitburger.de


Meinung So gesehen

Schwarzfahrer
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Wie Boris Palmer die Deutsche
Bahn entlarvt
Die Macht der Biologie G Fällt aus, kommt später, geänderte
Wagenreihung – und jetzt auch noch
Wie viel Zeit sollten kleine ist in dem Artikel an keiner Stelle die das: Mit einer fragwürdigen Werbe-
Kinder in der Kita verbrin- Rede davon, dass Frauen länger zu kampagne hat die Deutsche Bahn
gen? In der »Frankfurter Hause bleiben sollten. Wenn über- AG Kritik auf sich gezogen. Zunächst
Allgemeinen« habe ich haupt, dann wird dafür plädiert, dass wirkt die Werbung mit sechs Bahn-
den Bericht von Erziehe- beide berufstätige Eltern ihre Arbeits- reisenden harmlos: Ein Bärtiger ver-
rinnen gelesen, die klagen, zeit kürzen. zehrt das beliebte Schinken-Käse-
dass selbst Einjährige immer Offenbar geht die Kollegin davon Baguette aus dem Bordbistro. Ein
öfter einen Achtstundentag hätten. Wir aus, dass Mütter in Bezug auf die eige- Glatzkopf scheint einen Geschäfts-
würden ständig über die Vereinbarkeit nen Kinder ein schlechteres Gewissen bericht zu lesen. Eine Frau trägt
von Familie und Beruf sprechen, statt haben als Männer. Das bestätigt meine Ohrhörer. Eine Mutter herzt ihr
zu fragen, was Kinder brauchen. Beobachtung, dass Frauen nicht in Kleinkind. Ein Mann mit Kaffeetasse
Ich fühlte mich ertappt. Meine Frau allen Belangen so emanzipiert sind, erfreut sich am Blick aus dem Zug.
und ich arbeiten beide Vollzeit. Wir wie sie es gern wären. Immer kommt Wer kann etwas dagegen haben?
bringen unsere Kinder um acht Uhr einem die Biologie in die Quere. Man
zur Kita und holen sie gegen 17 Uhr kann das auch in Sorgerechtsstreitig-
ab. In der »FAZ« stand, dass Kinder, keiten beobachten. Wenn es darum
die zu lange in der Kita seien, mehr geht, bei wem der Nachwuchs bleiben
Zuwendung brauchten. Einige hätten soll, argumentieren selbst in der Wolle
nach acht Stunden einen starren, gefärbte Feministinnen so, als wäre
ins Leere gerichteten Blick. Ich versu- das Band zwischen Mutter und Kind
che, mich damit zu beruhigen, dass etwas Heiliges.
unsere Kita doppelt so viele Erzieher Die Familienministerin Franziska
beschäftigt, wie das normalerweise Giffey hat vorgeschlagen, bei Trennun-
üblich ist. gen die Unterhaltszahlungen anzupas-
Eine Kollegin will wegen des Arti- sen. Bislang sind Männer voll unterhalts- Boris Palmer kann. Sensibel für
kels künftig die »FAZ« meiden, wie sie pflichtig, auch wenn ihre Kinder viel das erhitzte Diskussionsklima des
auf Twitter bekannt gab. Sie sei die Zeit bei ihnen verbringen. Wer weniger Landes hat der grüne Tübinger Ober-
Plädoyers fürs Hausfrauenleben leid. als 50 Prozent der Zeit die Kinder bürgermeister auf Facebook kritisch
Außerdem habe sie keine Lust auf das betreut, der zahlt. Das sei nicht mehr nachgefragt: »Ich finde es nicht nach-
»ganze schlechte Gewissen«, das ihr zeitgemäß, erklärte Frau Giffey, worauf- vollziehbar, nach welchen Kriterien
die Zeitung mache. Das fand ich aus hin ihr Protest entgegenbrandete. die ›Deutsche Bahn‹ die Personen …
zwei Gründen bemerkenswert. Erstens Von der Biologie zum Geld ist ausgewählt hat. Welche Gesellschaft
funktioniert nach meiner Erfahrung es manchmal nur ein kleiner Schritt. soll das abbilden?«
die Verbesserung des Familienlebens Und tatsächlich: Der Baguetteesser
durch Ausblendung unangenehmer An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und ist ein schwäbischer Fernsehkoch,
Wahrheiten nur bedingt. Zum anderen Markus Feldenkirchen im Wechsel. dessen Konterfei auch auf Tüten mit
klimaschädlicher Grillkohle prangt.
Die Musikhörerin ist bekannt gewor-
Kittihawk den als Moderatorin im Umfeld von
Autorennen. Und der Herr mit dem
Kaffee ist ein leibhaftiger Formel-1-
Weltmeister. Die Bahn geriert sich als
Öko-Unternehmen, wirbt dabei aber
mit prominenten Feinstaubikonen.
Die Aufdeckung dieses Wider-
spruchs muss der grüne Vordenker
nun bitter bezahlen. Weil die abge-
bildeten Werbeträger mehrheitlich
dunkelhäutig sind, wird Palmer
unterstellt, er störe sich daran, dass
die Bahn Menschen zeige, die nicht
so aussähen wie er selbst. Aber mal
im Ernst: ein grüner OB, der mitten
im Europawahlkampf mit plumpem
Rassismus provoziert? Der wäre
doch irre. Stefan Kuzmany

8 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Einfach wählen!
Am 26. Mai 2019 ist Europawahl.
110.000 Briefkästen stehen
für Ihren Wahlbrief bereit.

Briefwahl – so einfach geht Wählen heute.

en bei
r ie f w a h lunterlag
Jet z t B rn!
G e m e in d e anforde
Ihrer

deutschepost.de/briefwahl
Deutschland
»Es macht mich wahnsinnig, dass wir Missbrauch über Jahrzehnte nicht ernst genug genommen haben.« ‣ S. 37

NIBOR / ACTION PRESS


Offshore-Windkraftanlage bei Helgoland

Energiewende

RWE-Chef macht Wind


Genehmigungsverfahren dauern angeblich deutlich länger als in den USA.

 Der Vorstandsvorsitzende von RWE, Rolf Schmitz, fordert oft doppelt so lange. Er fürchte, so der RWE-Chef, dass der
von der Bundesregierung mehr Einsatz für den Ausbau der Kohleausstieg ins Stocken gerate, wenn das Ziel verfehlt
erneuerbaren Energien. »Mehr noch als eine Kohlekommis- werde, bis zum Jahr 2030 bis zu 65 Prozent Strom aus rege-
sion brauchten wir eine Kommission, die sich um die Strom- nerativen Quellen zu gewinnen. Dazu müssten mindestens
netze und den Ausbau der erneuerbaren Energien kümmert«, 7000 Megawatt neuer Windleistung jährlich entstehen. Von
sagt Schmitz, dessen Unternehmen bislang vor allem für diesem Ziel sei man weit entfernt.
Kohlekraftwerke und Braunkohletagebau bekannt war. Der Sein Konzern, dessen Tochter Innogy vor einer Fusion
RWE-Chef sorgt sich vor allem um die lange Genehmigungs- mit der Erneuerbaren-Sparte von E.on steht, investiert in
zeit von Windanlagen – auch wegen der Klagen von Umwelt- Windenergie – allerdings immer stärker im Ausland. In
verbänden. »Es funktioniert einfach nicht, wenn man gleich- Japan etwa wolle RWE ins Geschäft einsteigen, sagt Schmitz.
zeitig gegen Kohle ist, gegen Windräder, gegen neue Netze, Der Energiemanager fordert, die Genehmigungsverfahren
eigentlich gegen alles«, wettert Schmitz in Richtung Bürger- hierzulande ähnlich zu beschleunigen, wie das derzeit mit
initiativen. In den USA brauche die Genehmigung einer neuen der Novelle des Gesetzes für den Ausbau von Stromnetzen
Windanlage im Schnitt zwei bis drei Jahre, in Deutschland (Netzausbaubeschleunigungsgesetz) geschehe. GT

10 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Rathausaffäre Hannover von dieser Einschätzung erfahren zu Drittes Geschlecht
Belastende WhatsApp haben. Von April 2015 bis Mai 2018 zahl-
te die Stadt Schostoks Büroleiter insge-
Transsexuelle nutzen
 Im Ermittlungsverfahren wegen dubio- samt knapp 50 000 Euro extra. Hat der Gesetzeslücke
ser Gehaltszulagen im Rathaus von Han- Oberbürgermeister also die Unwahrheit
nover ist die Polizei auf zwei Fotos gesto- gesagt? Die Staatsanwaltschaft hat gegen  Das Gesetz zum sogenannten
ßen, die Oberbürgermeister Stefan Schos- Schostok und dessen früheren Personal- dritten Geschlecht wird offenbar gegen
tok (SPD) in Erklärungsnot bringen. dezernenten wegen »schwerer Untreue« die Absicht des Gesetzgebers von
Schostok hatte die Bilder Anklage erhoben, Herbert transsexuellen Personen genutzt, um
am 24. Oktober 2017 um ist wegen Anstiftung zur ihre Geschlechtsangabe zu ändern. Seit
21.08 Uhr per WhatsApp Untreue angeklagt. Anfang des Jahres haben 114 Personen
an seinen damaligen Büro- Schostok und Herbert in 14 Bundesländern eine Änderung
leiter Frank Herbert bestreiten die Vorwürfe. ihres Personenstands von »männlich«
geschickt. Es handelt sich Inzwischen führt die Staats- zu »weiblich« und 106 Personen von
um die abfotografierten Sei- anwaltschaft ein zusätz- »weiblich« zu »männlich« beantragt.

JULIAN STRATENSCHULTE / DPA


ten einer Rechtsauskunft liches Ermittlungsverfahren Das geht aus der Antwort der Bundes-
aus dem Rathaus. Für die in der Rathausaffäre. Dabei regierung auf eine schriftliche Frage des
Zuschläge an Herbert gebe geht es um eine Reihe weite- Grünenabgeordneten Sven Lehmann
es »keine gesetzliche rer mutmaßlich zu Unrecht hervor. Aus Schleswig-Holstein und Nie-
Grundlage«, heißt es darin. gezahlter Überstundenpau- dersachsen lagen keine Daten vor. Wie
Die Fotos sind brisant, da schalen. Die genaue Zahl viele Anträge positiv beschieden wur-
Schostok gegenüber der der Fälle sei noch unklar, den, konnte die Bundesregierung nicht
Staatsanwaltschaft bestritt, Schostok erklärte ein Sprecher. GUD beantworten. Das Gesetz wurde geschaf-
fen, um intersexuellen Menschen, die
biologisch weder als Mann noch als Frau
einzustufen sind, die Möglichkeit zu
Europawahl Arbeitnehmer mahnen sie mehr Flexibi- geben, das Geschlecht »divers« im Per-
Mehr »Blue Cards« lität an. »Arbeitnehmerfreizügigkeit sonenstandsrecht anzugeben und ihren
ist das Gegenteil von Zuwanderung in die Vornamen zu ändern. Dazu ist ein
 Die deutsche Wirtschaft drängt die Sozialsysteme«, heißt es im Papier. Attest eines Arztes nötig. Das Bundes-
Europäische Union dazu, sich verstärkt Bei der Vermittlung freier Arbeitsplät-
der Digitalisierung zu widmen. Bis 2030 ze in der EU sehen BDI und BDA Verbes-
drohten in der EU 900 000 IT-Fachkräfte serungsbedarf. Offen zeigen sie sich für
zu fehlen, heißt es in einem Positions- Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern.
papier des Bundesverbands der Deut- Europa brauche qualifizierte Fachkräfte
schen Industrie (BDI) und der Bundesver- aus Drittstaaten. »Die ›Greencard‹ der
einigung der Deutschen Arbeitgeber- USA ist weltweit bekannt. Die ›Blue
verbände (BDA) zur Europawahl. Die Card‹ der EU muss ähnlich attraktiv wer-

JAN WOITAS / DPA


boomende Datenwirtschaft könne sogar den.« Mit dem Positionspapier will die
ohne Großbritannien 5,4 Prozent der Wirtschaft auch ein Zeichen gegen rechts
europäischen Wirtschaftsleistung bis setzen. »Wir sind stolze Europäer«,
2025 erbringen; doch bisher habe die EU schreiben die Verbandspräsidenten Die-
keinen funktionierenden Digitalbinnen- ter Kempf und Ingo Kramer. »Dem wider-
markt. Die öffentliche Hand müsse digita- spricht es nicht, auch auf Schwächen innenministerium hat betont, die neue
le Schlüsseltechnologien unterstützen, und Fehlentwicklungen hinzuweisen: Die Regelung, die auf ein Verfassungs-
fordern BDI und BDA. Für Europas EU braucht eine Reformagenda.« MP gerichtsurteil zurückgeht, gelte nicht
für transsexuelle Personen, deren
Geschlecht biologisch feststehe. Für
transsexuelle Personen sei nach wie vor
das Transsexuellengesetz maßgeblich.
Ärzte begingen unter Umständen eine
Straftat, wenn sie entsprechende Atteste
ausstellten. »Wer ein handwerklich
schlechtes Gesetz macht, muss mit den
Konsequenzen leben«, sagt Lehmann.
Das Bundesinnenministerium solle seine
»Drohkampagne« gegen Ärzte sofort
einstellen. Die Grünen hatten seinerzeit
ALLOVER / VSL / IMAGO / BLICKWINKEL

statt eines Gesetzes zum dritten Ge-


schlecht ein Gesetz zur Anerkennung
der Geschlechtervielfalt gefordert.
»Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht
hängt nicht allein von angeborenen
Geschlechtsmerkmalen ab«, sagt Leh-
mann, »sondern im Wesentlichen
davon, welchem Geschlecht sich eine
Europaparlament in Straßburg Person als zugehörig empfindet.« HÖH

11
Parteienwerbung
Museum wehrt sich
gegen AfD-Plakat
 Der Berliner Landesverband der
AfD sorgt für Ärger in Williamstown
im US-Bundesstaat Massachusetts.
Das Kunstmuseum Clark Art Institute
fordert die Partei auf, ein Gemälde,
das ihm gehört, nicht weiter auf Werbe-
plakate zur Europawahl zu drucken.
»Wir haben der AfD geschrieben und
verlangen, dass sie die Nutzung des
Gemäldes unterlässt«, sagt Museums-
direktor Olivier Meslay. Es geht um das
Gemälde »Sklavenmarkt« des franzö-

ARNULF HETTRICH / IMAGO


sischen Malers Jean-Léon Gérôme von
1866, auf dem mehrere dunkelhäutige
Männer um eine nackte Frau stehen
und ihre Zähne prüfen. Der Schriftstel-
ler Thor Kunkel, der auch die Bundes-
tagswahlkampagne für die AfD entwor-
Mädchen beim Frühjahrsfest in Stuttgart

Jungwähler datinnen zur Wahl empfohlen, die zuvor


Per Onlinematch zur ähnliche Präferenzen angegeben haben.
Die Personalisierung soll dem außerge-
Stimmabgabe wöhnlich komplexen Wahlsystem gerecht
werden, das es erlaubt, einzelnen Perso-
 Mit einem neuen digitalen Tool sollen nen auf den Stimmzetteln mehr Gewicht
in Baden-Württemberg junge Wählerin- zu geben. »Es geht darum, eine passive
nen und Wähler zur Stimmabgabe ani- Motzhaltung zu vermeiden und stattdes-
miert werden. Der »Komunat«, ein Pilot- sen zu einer Wahlentscheidung zu verhel-

THE ARTCHIVES / ALAMY / MAURITIUS IMAGES


projekt für die anstehende Gemeinderats- fen«, erklärt Steffen Schuldis vom Verein
wahl in Stuttgart, funktioniert nach dem »Unsere Zukunft«. Der Verein hat das
Prinzip des Matchings, wie es aus Dating- Tool mit Unterstützung der Landeszentra-
Apps wie Tinder bekannt ist. Wer per le für politische Bildung entwickelt.
Fingerklick jeweils ein Dutzend politische Bei der Kommunalwahl in Baden-Würt-
Ziele (»Sicherheit«, »Gerechtigkeit«) und temberg Ende Mai dürfen zum zweiten
Aufgaben (»Subkultur fördern«, »Schulen Mal auch Jugendliche ab 16 Jahren mit-
sanieren«) nach persönlicher Wichtigkeit stimmen. 2014 hatten junge Wähler von
sortiert, bekommt Kandidaten und Kandi- ihrem Recht wenig Gebrauch gemacht. FRI

Gérôme-Gemälde »Sklavenmarkt«, 1866

Fahndung paweiten Fahndung nach Schwerstkrimi- fen hat, textete für das Plakat den Slo-
Fingerabdruck wirkt nellen wie bei der Suche nach jugend- gan »Damit aus Europa kein ›Eurabien‹
lichen Ausreißern. Zugriffsberechtigt sind wird«. Laut einem Infoheft des Muse-
 Eine Neuerung im Schengener Informa- Sicherheitsbehörden in Schengenländern ums ist es »unwahrscheinlich, dass der
tionssystem (SIS) – eine europaweite sowie die europäischen Behörden Europol Künstler eine solche Szene je gesehen
Fahndungsdatenbank der Sicherheitsbe- und Eurojust. AUL hat, da es kaum eine bis keine zuverläs-
hörden – zeigt Erfolge. Seitdem im ver- sige Dokumentation solcher Sklaven-
gangenen Jahr sieben EU-Staaten Finger- märkte gibt«. Direktor Meslay betont,
abdrücke in dem System recherchierbar man habe der AfD das Bild nicht zur
gemacht haben, gingen Polizeibeamten Verfügung gestellt. »Das Gemälde
bei Kontrollen mehr als 80 Personen ins gehört uns, und wir sind strikt dagegen,
Netz, »die wir sonst nicht bekommen hät- dass dieses Werk weiter genutzt wird,
ten«, wie ein hoher Beamter des Bundes- um eine politische Agenda zu ver-
JOCHEN ECKEL / SZ PHOTO / LAIF

kriminalamts sagt. Die Datenbank dient breiten.« Rechtlich hat das Museum
der Personen- und Sachfahndung in der allerdings keine Handhabe. Es gebe
EU. Sie enthält rund 80 Millionen Daten- keine urheberrechtlichen Abwehr-
sätze über unerwünschte, vermisste und rechte, erklärt Meslay, »deswegen kön-
gesuchte Personen sowie zur Fahndung nen wir nur an die Zuvorkommenheit
ausgeschriebene Kraftfahrzeuge, Bank- der AfD appellieren«. Der Berliner
noten, Dokumente und Schusswaffen. Landesverband war für eine Stellung-
SIS spielt ebenso eine Rolle bei der euro- Erkennungsdienstliche Behandlung nahme nicht zu erreichen. AKM

12 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


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Die Angstmacher
Parteien Die AfD entdeckt ein neues Thema für sich – die Umweltpolitik. Sie leugnet,
dass der Mensch für die Klimakrise mitverantwortlich ist, schürt
Furcht vor dem Ende der Autoindustrie und will damit neue Wähler gewinnen.

E
s ist heiß an diesem Dienstag- weniger Flüchtlinge ins Land kommen als zanke um Nord Stream 2, die Gaspipeline
abend im April in Velten, einer in jenen Jahren. Also muss ein anderes aus Russland, und zuletzt der Vorstoß von
kleinen Stadt in Brandenburg. Tü- Thema her. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD)
ren und Fenster müssen geöffnet Die Umweltpolitik ist derzeit dauerprä- für die Einführung einer CO -Steuer. Von
²
werden, nur Durchzug hilft. Die Redner sent, in den von Thunberg angestoßenen den Bildern schmelzender Gletscher und
schwitzen, die Zuhörer auch. »Fridays for Future«-Demonstrationen, in im Meer schwimmender Plastikteile sowie
Gut 200 sind gekommen, um AfD-Chef den Diskussionen rund um Diesel und den Erinnerungen an den Dürresommer
Jörg Meuthen und andere Parteigrößen Fahrverbote, hinzu kommt das ewige Ge- ganz zu schweigen.
reden zu hören. Dass es die Menschen
sind, die den Raum so erhitzen, würde
hier vermutlich keiner leugnen. Wenn es
aber darum ginge, dass die Menschen die
Erde erwärmen, sähe die Sache wohl an-
ders aus.
Meuthen erzählt von einem »Erwe-
ckungserlebnis« im Europaparlament ver-
gangene Woche. Ein Gast sei gekommen:
»Halten Sie sich fest, ganz, ganz hoher
Staatsbesuch, die heilige Greta von Schwe-
den.« Das Publikum lacht. »Allen Ernstes«
habe der Parlamentspräsident »diese 16-
jährige Schülerin« begrüßt, echauffiert
sich Meuthen. Und dann habe Greta Thun-
berg auch noch »tosenden Applaus« be-
kommen.
»Unfassbar«, grummelt ein Mann im Pu-
blikum. Meuthen sagt: »Von dem gesam-
ten Parlament Standing Ovations, für was,
fragt man sich, für was?« Und schiebt ei-
nen Witz hinterher: »Am nächsten Tag
war sie dann beim Papst, dem gab sie eine
kleine Audienz.« Wieder Gelächter.
Die Ikone der Schülerdemonstranten
als Ziel rechtspopulistischer Häme? Eine
16-jährige Schülerin als politische Gegne-
rin der AfD? Durchaus.
Die Rechtspartei hat ein neues Thema
für sich entdeckt: die Umweltpolitik. Sie
setzt es im Bundestag ein. Sie nutzt es im
außerparlamentarischen Raum, sie pflegt
Verbindungen zu Klimaleugnern im Um-
feld von US-Präsident Donald Trump. Vor
allem aber versucht sie, bei der Europa-
wahl und den ab Spätsommer anstehen-
den Wahlen in drei ostdeutschen Ländern
so zu punkten.
Es ist nach dem Euro und der Flücht-
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

lingskrise das dritte große Thema, mit dem


die Partei die Menschen auf ihre Seite zie-
hen will. Der inhaltliche Tapetenwechsel
erfolgte nicht ohne Not: Längst hat man
in der Partei erkannt, dass Migranten-
schelte und Islamverschwörung nicht mehr
so ziehen wie noch vor zwei, drei Jah-
ren. Was vor allem daran liegt, dass weit »Fridays for Future«-Initiatorin Thunberg: »Die heilige Greta«

14
»Wir wären ja bescheuert, wenn wir fernab jeder wissenschaftlichen Erkennt- an. Sie geriert sich als Partei, die den »Die-
das Thema liegen lassen würden«, sagt nislage. sel retten« will, wie es auf dem Wahl-
Meuthen. Es sei eines der wichtigen, gera- Beim Wahlkampfauftakt zur Europa- plakat heißt, das die Kreisverbände gera-
de für seine Partei. »Als Politiker muss wahl in Offenburg vor drei Wochen be- de am meisten bei der Geschäftsstelle
man Themen aufgreifen, die die Leute hauptete Fraktions- und Parteichef Ale- ordern. Laut Europawahlprogramm wur-
umtreiben.« xander Gauland vollmundig, es sei »völlig den »faktisch Millionen Dieselfahrer ent-
Wahlforscher geben Meuthen recht: ungeklärt«, welche Rolle der Mensch beim eignet«, weil die Regierung, die anderen
Laut »Politbarometer« der Forschungs- Klimawandel spiele. Gauland sprach von Parteien und die EU verkündet hätten,
gruppe Wahlen von Mitte April wird »Um- »entarteter Angstmache« bei den Grünen. dass Verbrennungsmotoren schlecht und
welt/Energiewende« als zweitwichtigstes Und entwarf dann selbst ein Horrorszena- unzeitgemäß seien. In Velten behauptet
»Problem in Deutschland« genannt, direkt rio: Bald kämen die »Vereinigten Staaten Meuthen gar, dass die »Dieselgrenzwerte«
nach »Ausländer/Integration/Flüchtlin- von Europa als deindustrialisiertes, von aus Brüssel »unsere Automobilindustrie
ge«. Dann folgen »Mieten/Wohnungs- Windrädern übersätes Siedlungsgebiet« kaputt« machten, die gesamte Branche
markt« und »Renten«. Und laut Infratest daher, in dem nicht nur die nationalen werde verschwinden. Er bekommt lauten
dimap spielten »Umwelt- und Klima- Identitäten abgeschafft seien, sondern Applaus, er ist der Kämpfer, der den Ver-
schutz« bei der Bundestagswahl 2017 für auch nur noch Elektroautos verkehrten, brennungsmotor vor seiner Vernichtung
89 Prozent der Wahlberechtigten eine sehr »und zwar im Carsharing«. bewahrt.
wichtige oder wichtige Rolle. Gerade im Ländlichen, wo viele Men- Mit ihrer Position hat die AfD auch eu-
Die AfD nimmt dabei eine von ande- schen auf ihr Auto angewiesen sind, ropaweit eine Sonderstellung: »In Bezug
ren Parteien nicht besetzte Position ein – kommt die AfD mit ihrem Retroblick gut auf den Klimawandel zählt die AfD zu den
Hardlinern der europäischen Rechtspopu-
listen«, sagt Stella Schaller, Klimaexpertin
bei der Berliner Denkfabrik adelphi. Ge-
meinsam mit einem Kollegen analysierte
Schaller 21 rechtspopulistische Parteien in
Europa anhand ihrer Wahlprogramme,
Statements und ihres Abstimmungsverhal-
tens im Europäischen Parlament. Das Er-
gebnis: »Keine andere Partei, mit Ausnah-
me der britischen Ukip, leugnet den von
Menschen verursachten Klimawandel so
vehement wie die AfD.«
Besonders eng arbeitet die AfD mit
»Eike« zusammen, dem »Europäischen In-
stitut für Klima & Energie«. Dahinter ver-
birgt sich keine wissenschaftliche Einrich-
tung, sondern ein schlichter Verein, denn
der Begriff »Institut« ist nicht geschützt.
Auf der Website schreibt der Verein, Kli-
mapolitik sei ein »Vorwand«, um »Wirt-
schaft und Bevölkerung zu bevormunden«
und »das Volk durch Abgaben zu belas-
ten«. Fast täglich gibt es dort und auf der
Twitterseite Neues, ab und an ein paar
Zahlen, ansonsten viele Fotomontagen
und knallige Überschriften. Es wird ge-
hetzt gegen die »Fridays for Future«-
Demos und gegen Greta Thunberg. Die
Vereinsleute bezeichnen sie als »Greta
Thunfisch«, die »Klimaschutz-Göre«. Es
ist ein Institut, in dem recht schlichte Pro-
paganda entsteht.
Wer versucht, Eike in Jena zu besu-
chen, wird erst mal abgewimmelt. Ein
Pressesprecher lässt sich mehrmals ent-
schuldigen, später ist er nicht für die Fra-
gen zuständig, die man stellt. Der Präsi-
dent stellt einen Besuch erst für kommen-
de Woche in Aussicht, nimmt dann den
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

Hörer nicht mehr ab. Sein Vize Michael


Limburg erbarmt sich irgendwann und
sagt am Telefon: »Eike ist parteipolitisch
unabhängig.«
Limburg selbst allerdings hat bei der
Bundestagswahl für die AfD kandidiert
und ein Papier für den AfD-Bundesfach-
AfD-Chef Meuthen: »Wir wären ja bescheuert« ausschuss Energiepolitik mitverfasst. Es

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 15


Deutschland

dient heute als Grundlage für die Klima-


politik der Partei. Eike-Pressesprecher
Horst-Joachim Lüdecke, ein Physiker, wur-
de mehrfach von der AfD als Sachverstän-
diger geladen.
Der Verein selbst ist gut vernetzt, bis in
die Klimaleugnerszene in den USA. Das
ARD-Politmagazin »Monitor« hat vergan-
genen Sommer recherchiert, dass Eike-
Chef Holger Thuss auch Vorstand des eu-
ropäischen Ablegers von CFACT ist, einer
Lobbyorganisation. An CFACT wiederum
hat unter anderem der amerikanische Öl-
konzern ExxonMobil große Summen ge-
spendet.
Dann gibt es noch das »Heartland Insti-

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


tute«, das Eike bei Kongressen unterstützt.
Es erhält Spenden von der Stiftung eines
Milliardärs, der als einer der größten Geld-
geber des US-Präsidenten Donald Trump
gilt. Die Gelder fließen immer wieder an
Organisationen, die Front machen gegen
den Klimaschutz. Limburg bestätigt auf Wahlplakat der AfD in Berlin: Emotionen auslösen
Anfrage, dass Eike mit Heartland und
CFACT »lose verbunden« sei. Unterdes-
sen versuchen AfD-Politiker, auch ohne für den Diesel und gegen die Entscheidun- bilindustrie eine Schlüsselindustrie für
die Hilfe ihres Instituts, die Öffentlichkeit gen des grün geführten Landesverkehrs- Deutschland. Und gerade auf dem Land
auf ihre Seite zu ziehen. ministeriums. Während Demo-Initiator löse die Diskussion um Fahrverbote Emo-
Mitte März in Berlin-Mitte: Karsten Hil- Ioannis Sakkaros betont, dass die Veran- tionen aus.
se, AfD-Bundestagsabgeordneter und Ob- staltung unparteiisch sein solle, war auf Wie viele Emotionen auch bei Spaniel
mann im Ausschuss für Umwelt, Natur- vielen Demo-Schildern unten rechts das mitschwingen, merkt man, wenn man ge-
schutz und nukleare Sicherheit, läuft zur AfD-Logo zu sehen, meist nur dürftig gen seine Thesen Argumente vorbringt.
Spitze der »Fridays for Future«-Demo. überklebt. Außerdem mischten sich schon Vergangenen Dienstag stimmt der AfD-
Während die Jugendlichen ein Transpa- von Beginn an AfD-Politiker wie Dirk Abgeordnete, eigentlich im Osterurlaub,
rent mit den Worten »Verkehrswende statt Spaniel unter die Protestierenden. einem Treffen in seinem Bundestagsbüro
Klimakrise« hochhalten, drückt der Abge- Spaniel ist verkehrspolitischer Sprecher zu. Zu Beginn plaudert er gut gelaunt, in
ordnete einigen einen Zettel mit einem der AfD-Bundestagsfraktion und sagt, es Jeans und blauem Polohemd, über die
»Quiz« in die Hand – und lässt sich dabei sei kein Zufall, dass seine Partei das The- Lage der AfD und seinen Weg in die Partei.
filmen. Danach postet er das Video bei ma nun entdeckt habe: »Das ist auch Als es um den Diesel oder um Klima-
Facebook. Das »Quiz« besteht aus acht meine Arbeit.« Schon seit Längerem ist prognosemodelle geht, ändert sich seine
Fragen mit jeweils drei Antwortmöglich- er der Überzeugung, dass die Gesellschaft Tonlage, er unterbricht mit erhobenem
keiten. Es solle den Jugendlichen dazu die- unter dem Vorwand des Klimaschutzes Zeigefinger. »Dass 90 Prozent der Wissen-
nen, »ihr eigenes Wissen in Naturwissen- umgekrempelt werden solle. Spaniel ver- schaftler die heutigen Klimamodelle für
schaften zu überprüfen«, schreibt Hilse mutet, dass es einen großen Plan der richtig halten, ist noch kein wissenschaft-
auf Facebook (siehe auch Seite 18). Regierung gibt: »Das Privatauto soll ab- licher Beweis, dass diese richtig sind«, sagt
Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf geschafft werden.« Die AfD wolle das er. Und: »Entschuldigung, aber da rege ich
hat sich das »Quiz« genauer angeschaut. verhindern. Schließlich sei die Automo- mich einfach auf, wenn man was anderes
Auf seinem Blog schreibt er, es könnte behauptet.«
»Grundlage einer Unterrichtsstunde über Für die Inszenierung ihres neuen The-
politische Propaganda« sein. Das »Quiz« Problembewusstsein mas nutzt die AfD auch die Bühne des Bun-
ist geschickt angelegt. So wird etwa nach Anteil der Deutschen, die die genannten Probleme destags. Spaniel hat bereits sechs Referen-
der Anzahl der Moleküle pro zehntausend für wichtig halten ten für den Bereich Verkehr eingestellt.
gefragt, um die der Anteil des CO in der Januar 2019 Entsprechend viele Kleine Anfragen und
²
Atmosphäre seit der Kleinen Eiszeit mit Gesetzesanträge hat die Partei vorgelegt.
Beginn der Industrialisierung gestiegen
39% Ausländer, Integration, Und folgt man Cem Özdemir, dem Vorsit-
Flüchtlinge
sei. Wie bei fast allen Antworten, ist die zenden des Verkehrsausschusses und ehe-
niedrigste Zahl (»1«) annähernd richtig. April maligen Grünenchef, dann kann sich die
Rahmstorfs Fazit: Das Quiz solle kein Wis- 27% AfD »auf bestelltem Boden« breitmachen.
sen abfragen, sondern in die Irre führen Bestellt wurde der Boden, sagt Özde-
und so politische Standpunkte unterstrei- 26% mir, von der FDP und Teilen der CDU,
chen. Einige der Antworten seien kom- die in jüngerer Vergangenheit über die
plett falsch. Deutsche Umwelthilfe (DUH) herzögen,
In Stuttgart haben AfD-Politiker unter- jene Einrichtung also, die für saubere Luft
dessen versucht, die »Dieseldemos« für Umwelt, Energiewende in den Städten kämpft. Tatsächlich wollen
sich zu vereinnahmen. Seit Mitte Januar 10% Teile der Liberalen und der Union das Kla-
demonstrieren dort wöchentlich ein paar Quelle: Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-»Politbarometer«;
jeweils rund 1250 Befragte; Schwankungsbreite zwischen 2 und 3 Prozent;
gerecht der DUH beschneiden. Sie werfen
Hundert Menschen in gelben Warnwesten Mehrfachnennungen möglich ihren Verantwortlichen vor, korrupt und

16 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


von der japanischen Autoindustrie fernge-
steuert zu sein, mit dem Ziel, den deut-
Mit SPIEGEL+ nutzen
schen Firmen zu schaden. Eine Verschwö-
rungstheorie vom Feinsten also, wie maß-
geschneidert für die AfD.
Sie die ganze digitale
Die Partei greife sie natürlich dankbar
auf, sagt Özdemir. »Sie stimmt bei An-
trägen, die etwa von der FDP gegen die
DUH oder Fahrverbote eingebracht wer-
Welt des SPIEGEL.
den, gern mit.« Damit wolle sie sich ein
bürgerliches Mäntelchen umhängen. Und
zugleich ihren größten Gegnern Schaden
zufügen.
DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch
ist einer davon. Er wird von der AfD öf-
fentlich diffamiert. »Ein Vielflieger« sei er,
dessen Verein alle »drangsaliert«, schimpf-
te AfD-Chef Meuthen etwa über die For-
derung Reschs, ein Tempolimit einzu-
führen.
Dabei stützt sich die Rechtspartei auf
höchst zweifelhafte Experten, etwa auf
den Physiker Nir Shaviv, der im Novem-
ber im Umweltausschuss als Sachver-
ständiger auftrat. Vor den Abgeordneten
behauptete er, es gebe keine Beweise für
den vom Menschen verursachten Klima-
wandel. Und wischte damit zur Seite, was
Tausende Forscher im Weltklimarat IPCC
bereits deutlich gemacht haben. Shavivs
Theorie dagegen lautet: Eine spezielle
Wirkung der Sonne sorge dafür, dass
diese einen stärkeren Einfluss auf die 1 Monat
Temperaturen der Erde habe als bislang
angenommen. SPIEGEL+
Die Ausführungen wurden live vom Par-
lamentsfernsehen übertragen, Ausschnitte gratis
fanden sich wenig später auf YouTube, cle-
ver präsentiert mit der apodiktischen An-
kündigung: »Wissenschaftler entlarvt Kli-
maschwindel im Bundestag!« Eine perfek-
te Choreografie, die damit aber noch nicht
zu Ende war.
In der nächsten Anhörung zum Klima-
schutz echauffierte sich ein anderer AfD-

DRID, Hamburg
Sachverständiger darüber, dass die Thesen
Shavivs in der vorherigen Sitzung von ei-
nem Experten des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung als »Quatsch« be-
zeichnet worden waren. Die Ausschuss-
vorsitzende, Grünenpolitikerin Sylvia Kot-
ting-Uhl, widersprach: Er habe das sehr
wohl begründet. Und so sprach man in der
Sitzung »nicht nur über das Wie und Wann
beim Klimaschutz, sondern über das Ob«,
so Kotting-Uhl.
Es war eine Debatte ganz nach dem Ge- Sie erhalten vollen Zugriff auf alle Inhalte von SPIEGEL+ auf
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»Keiner Partei im Deutschen
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Bundestag würdig«
spiegel.de/sp182019afd
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17
AfD-Facebook-Posts
»Wer macht diese ganze Arbeit?«

1500 Seiten betreibt die Partei auf Face-

Die rechte Welle surfen book, rund 1400 die SPD, gut 1000 die
Union.
Trevor Davis fürchtet, dass die AfD in
den Umfragen zur Europawahl massiv un-
Social Media Eine umfassende Datenanalyse zeigt, terschätzt sein könnte, auch weil die Wahl-
dass die AfD alle anderen Parteien auf Facebook bei Weitem hinter beteiligung traditionell eher niedrig ist.
sich lässt. Experten wittern dubiose Hilfe. Der Social-Media-Experte Martin Fuchs,
der sich seit Jahren mit den Internetmetho-
den der AfD befasst, teilt diese Sorge nicht:

T revor Davis ist beunruhigt, wenn er


auf seinen Bildschirm schaut. Der
US-Amerikaner, unter anderem
Forschungsprofessor an der George-Wa-
und offene Grenzen sind toll. Wir ertragen
diese Lügen nicht mehr.«
Davis’ Daten, die der SPIEGEL ausge-
wertet hat, geben erstmals eine Übersicht
»Nach meiner Einschätzung ist die Reich-
weite der Partei im Netz stabil und über-
setzt sich nicht zwangsläufig in einen Wahl-
erfolg.«
shington-Universität, analysiert seit Jahren über Tausende Facebook-Accounts politi- Trotzdem habe Davis mit seiner Analy-
politische Kampagnen in sozialen Netz- scher Parteien in Deutschland. Denn diese se grundsätzlich recht, sagt Fuchs. Er
werken als Wissenschaftler und politischer pflegen nicht nur jeweils eine Seite in dem nennt die AfD die »erste Facebook-Partei
Aktivist. Doch ein Phänomen wie die AfD sozialen Netzwerk, sondern Hunderte – des Landes«. Sie habe ihre gesamte Struk-
hat er noch nicht gesehen: »Das ist gigan- von der Bundespartei über die Landesver- tur mithilfe des sozialen Netzwerks aufge-
tisch und macht mir wirklich Angst«, sagt bände bis hin zu Ortsgruppen und Kreis- baut. »Die Logik und die Funktionsweise
Davis. verbänden. Hinzu kommen die persön- der AfD orientiert sich an Facebook. Da-
In einer umfangreichen Analyse hat der lichen Accounts von Politikern. Sie alle mit unterscheidet sie sich elementar von
Forscher untersucht, wie aktiv deutsche hat Davis zusammengetragen und in einer anderen politischen Akteuren.«
Parteien auf Facebook sind. Die AfD Datenbank gespeichert. Schon hier zeigt Doch was ist das Geheimnis des AfD-
sticht dabei in einem Maße heraus, wie sich ein leichter Vorsprung der AfD: Rund Erfolgs auf Facebook? Einige Faktoren lie-
es Davis sich nicht hätte vorstellen kön- gen nahe: Emotional besetzte AfD-Lieb-
nen. Während die Partei in Umfragen der- lingsthemen wie Migration oder Krimina-
zeit zwischen 11 und 15 Prozent liegt, be- Echo im Netz lität erzeugen deutlich mehr Reaktionen
stellt sie das Feld auf Facebook fast allein: Von Nutzern geteilte Beiträge der Parteien als Posts zur Finanz- oder Kulturpolitik.
Dort entfallen seit Oktober rund 85 Pro- auf Facebook im März 2019 Auf politische Ereignisse reagiert die AfD
zent aller weiterverbreiteten Beiträge oft schneller als andere Parteien. Und sie
deutscher Parteien auf die AfD. Die ver- Linke 75 000 fordert mehr Engagement ihrer Anhänger,
bleibenden 15 Prozent dieser »Shares« indem sie mehr Fragen stellt, dazu aufruft
teilen sich SPD, Grüne, Linke, FDP und zu kommentieren, zu teilen.
Union, davon gehen nur jeweils 2 bis Davis’ Datenanalyse liefert noch weite-
3 Prozent an die Volksparteien SPD und Grüne 67 000 re Erklärungen für den Erfolg der AfD.
CDU/CSU. Über ihre Nutzerkonten setzt die Partei
Ein Share auf Facebook bedeutet, dass eine gigantische Zahl von Foto-Posts ab.
ein Nutzer einen Post, etwa ein Foto, mit
seinen Freunden teilt. Shares gelten in der
AfD Durchschnittlich mehr als 4000 pro Wo-
che waren es seit Oktober. Zum Vergleich:
SPD 63 000
Welt der sozialen Netzwerke als harte 1,8 Mio. Andere Oppositionsparteien wie die Lin-
Währung, denn sie bedeuten im Regelfall, ke oder die FDP schaffen meist nur meh-
dass einem Nutzer eine Aussage nicht bloß rere Hundert Foto-Posts in der Woche,
gefällt, sondern dass er sich damit identifi- CDU/ 61 000 nur in Ausnahmefällen über 1000. Aber
ziert und sich hinter sie stellt, indem er sie CSU 4000? »Das hat das Niveau einer US-Prä-
verbreitet. Es sind typische AfD-Botschaf- sidentschaftskampagne im Endspurt«,
ten, die sich so den Weg in die Köpfe sehr sagt Davis.
vieler Menschen bahnen: »Syrer dürfen FDP 29 000 »Die Hyperaktivität der AfD-Seiten al-
ihre Zweitfrauen nachholen!« oder »Ter- Quelle:
Trevor Davis,
lein würde ausreichen, um den Online-
rorzelle aufgedeckt – Islam ist friedlich G. Washington University diskurs und das Meinungsbild zu beein-

18 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Deutschland

flussen«, warnt die Extremismusforscherin »weniger den Mainstream wollen, den die
Julia Ebner vom Londoner Institute for Medien immer veröffentlichen«. Bei seiner
Strategic Dialogue. »In Kombination mit Partei finde man »Material ohne redaktio-
der besonders starken Verwendung von nelle Bearbeitung«, die AfD sei die »Stim-
Bildern, die Wut erzeugen, und Schmutz- me des Volkes«.
kampagnen gegen politische Gegner ge- Plausibler ist eine andere Erklärung für
lingt es der Partei, beinahe ein Monopol den AfD-Erfolg. Ein Abgeordneter berich-
auf Online-Stimmungsmache aufzubau- tet, dass einige Mitarbeiter bis zu einem
en.« Das sei gefährlich, denn Negativkam- Dutzend Seiten gleichzeitig betreuten,
pagnen könnten insbesondere unentschlos- auch die von Kreisverbänden. »Wir wis-
sene Wähler beeinflussen, so Ebner. sen, dass die AfD auf eine große Zahl von
Medienwissenschaftler Davis hat auch Menschen zurückgreifen kann, die sich
analysiert, wie sich die Flut der Facebook- und ihren Ansichten Gehör verschaffen
Bilder der AfD zusammensetzt. Dafür hat wollen, auf diese Gelegenheit regelrecht
er rund 10 000 Foto-Posts aus dem März gewartet haben«, sagt auch Experte Fuchs.
und April 2019 untersucht. In etwa 90 Pro- Die AfD nutze dieses »Heer von Helfern«
zent der Fälle teilt die Partei einfache und unterstütze es mit Anleitungen, Text-
Fotos, etwa solche, die Zeitungsartikeln bausteinen und Bilddatenbanken.
anhängen. Beim Rest nutzt sie speziell er- Die Hilfe scheint nicht nur aus Deutsch-
stellte Fotocollagen, in AfD-Blau gehalten, land zu kommen. Davis hat in den AfD-
mit dem Parteilogo versehen und meist Posts zahlreiche Bilder gefunden, die aus
mit ebenso kurzen wie eingängigen Bot- russischen Fotodatenbanken stammen. Er
schaften: »Zu viele Flüchtlinge: Deutsch fragt sich daher, ob die Partei Hilfe aus
ist nicht mehr das Sprachvorbild!«, heißt Moskau erhält. Der AfD-Pressesprecher
es. Oder: »Deutsche Steuerzahler finan- weist das zurück, zumindest was die Seiten
zieren ihre eigene Enteignung«. angehe, die die Geschäftsstelle betreut.
Ihre Reichweite steigert die AfD auch, Über andere könne er nichts wissen.
indem sie Fotocollagen mehrfach postet. In Sicherheitskreisen hält man das Sze-
nario für denkbar. Eine Unterstützung der
AfD passt nach Ansicht von Fachleuten in
»Das hat das Niveau Moskaus strategische Erwägungen, die
einer US-Präsident- westlichen Demokratien zu destabilisieren,
indem extreme Kräfte gestärkt würden.
schaftskampagne im Erst vor einigen Wochen hat der SPIEGEL
Endspurt.« enthüllt, wie eng die Beziehung Russlands
MODELL ELPASO
zu manchen AfD-Politikern sind (15/2019).
Der Wissenschaftlerin Ebner fällt an
Ein Bild zu einer angeblichen Schulhof- den von Davis gesammelten Daten auf,
schlägerei setzte die Partei zum Beispiel dass AfD-Inhalte künstlich verstärkt wür-
auf mehr als 16 Facebook-Seiten ab, ein den von Accounts, die entweder falsch
anderes über Muslime in der Bundeswehr oder gar halb automatisiert aussehen. An-
auf mindestens 9 Seiten. Insgesamt domi- ders sei das unrealistisch starke Pro-AfD-
niert das Thema Flüchtlinge, aber auch zu Engagement von angeblichen Facebook-
den »Fridays for Future«-Demos und den Nutzern aus Ländern wie der Türkei und
Dieselfahrverboten postet die Partei jetzt Ägypten nicht erklärlich. Solche Social-
ständig. »Die AfD produziert Hunderte Media-Strategien, die sich »am Rande des
Foto-Posts am Tag«, sagt Davis. »Wer Zulässigen« bewegten, sind laut Ebner
macht diese ganze Arbeit?« »ein Phänomen, das wir auch bei rechts-
Die AfD will diese Frage nicht beant- populistischen Parteien im Ausland ver-
worten. Ein lange angefragter Besuch im stärkt beobachten«.
Newsroom der Bundestagsfraktion wird Eine Facebook-Sprecherin sagt, dass es
erst zugesagt, findet dann aber doch nicht ein Team von Spezialisten gebe, um Hin-
statt. Der Parteipressesprecher verspricht, weisen nachzugehen, »die auf missbräuch- • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
sich um einen Termin mit einem der Social- liche Verhaltensweisen hindeuten«. Hier- • SUPERBEQUEM-FUSSBETT
Media-Experten zu kümmern. Bis Redak- zu zähle zum Beispiel koordinierte Wahl- • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
tionsschluss klappte auch das nicht. beeinflussung aus dem In- und Ausland.
Dafür gibt sich der AfD-Sprecher über- »Wenn wir Verstöße gegen unsere Regeln • GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
rascht: »Machen wir denn da so viel mehr feststellen, gehen wir konsequent dagegen
als die anderen?« In der Parteizentrale sä- vor«, so die Sprecherin.
ßen nur drei Personen, die sich um die so-
zialen Netzwerke kümmerten. Dazu gebe
Am Ende könnte es eine Mischung von
lebendigen Anhängern und digitalen Au-
DER SCHUH ZUM
es noch »ein paar Freelancer«, etwa Leute,
die Grafiken bauten, und einen, der ani-
tomaten sein, die der AfD die Lufthoheit
auf Facebook sichern. Eines wäre sie damit
WOHLFÜHLEN
mierte Kurzfilme produziere. sicher nicht: die »Stimme des Volkes«.
Den Erfolg der Partei im Internet erklärt Jörg Diehl, Roman Lehberger, FinnComfort Postfach
der AfD-Sprecher damit, dass die Men- Ann-Katrin Müller, Philipp Seibt 97433 Haßfurt/Main
schen in den sozialen Netzwerken eben
Katalog/Händler:
19 www.finncomfort.de
Deutschland

Ministerin mit Restlaufzeit


Karrieren Bildungsministerin Anja Karliczek hat es nach einem Jahr im Amt noch nicht geschafft,
sich in ihre Themen einzuarbeiten. Sie gilt vielen als Fehlbesetzung.

A
nja Karliczek, Bundesministerin 16 Landesministern. Karliczek erhielt die machte sie eine Banklehre und dann die
für Bildung und Forschung, steigt Note 4,03. Es ist normal, dass die Opposi- Ausbildung zur Hotelfachfrau. Sie kommt
aus ihrem Dienstwagen und be- tion sich über die Arbeit einer Regieren- aus Ibbenbüren, einem 50 000-Seelen-
ginnt Hände zu schütteln. Es ist den vernichtend äußert. Dass sich in den Städtchen in Nordrhein-Westfalen, wo sie
ein kalter, sonniger Tag im März. Soeben eigenen Reihen kaum einer findet, der die- als Jugendliche in die Junge Union eintrat,
ist die Ministerin in Potsdam angekom- se Arbeit verteidigt, ist nicht normal. weil es viele dort so gemacht hätten, sagt
men, im Wissenschaftspark »Albert Ein- Karliczek, so scheint es, ist nur deshalb sie. Jahrelang führte sie das familieneigene
stein«. Eine Traube aus Menschen umringt noch im Amt, weil derzeit kein ernsthaftes Viersternehotel Teutoburger Wald. Später
sie; die Forscher blicken Karliczek erwar- Interesse besteht, das Kabinett umzubil- absolvierte sie ein Studium an der Fern-
tungsvoll an. »Die Erde ist auch nur einer den – und weil ohnehin keiner weiß, wie uni Hagen. Ihre Diplomarbeit schrieb sie
von vielen Planeten«, sagt Reinhard Hüttl, lange es mit dieser Koalition weitergeht. über die »steuerliche Vorteilhaftigkeits-
Chef des Helmholtz-Zentrums für Geofor- Nach nur einem Jahr ist sie eine Ministerin analyse zur Auslagerung von Pensionsver-
schung, um irgendwie Konversation zu be- mit Restlaufzeit. pflichtungen aus Arbeitgebersicht«.
treiben. Karliczek lächelt, nickt. Sie weiß Einen Ausfall an dieser Stelle kann sich Karliczek ist Mutter von drei Kindern.
offenbar nicht, was sie tun oder sagen soll. Deutschland aber kaum leisten, da das Mi- Ihr Mann Lothar ist Pilot und derzeit ar-
»Wo geht es denn jetzt hin?«, fragt sie nisterium für Bildung, Wissenschaft und beitslos. Das alles klingt ziemlich lebens-
und blickt in die Runde. Keiner sagt etwas. Forschung (BMBF) den viertgrößten Etat nah. Karliczek kennt mehr als die Berliner
»Wer führt uns?«, fragt sie weiter. in der Bundesregierung verwaltet. Es ist Politikblase. Sie kann anpacken.
»Na, die Ministerin«, sagt Hüttl und zuständig für die Zukunft, also für For- Vielleicht war das ein Grund, sie in die-
schiebt sie nach vorn Richtung Eingang. schung und Wissenschaft und damit auch ses Amt zu hieven, als Gegenpol zu manch-
Es ist eine dieser Szenen, die für Kar- für die brennenden Fragen unserer Zeit: mal abgehobenen Akademikern. Eine we-
liczeks Begleiter, für Sprecher und Fach- Klimawandel, Digitalisierung und künst- sentlich größere Rolle allerdings dürfte der
referenten, augenscheinlich schwer zu er- Proporz gespielt haben. Karliczek erfüllt
tragen sind. Sie blicken zu Boden. drei Quoten: Sie ist Frau, katholisch und
Die Christdemokratin ist seit gut einem Karliczek erfüllt drei kommt aus Nordrhein-Westfalen.
Jahr im Amt. Den meisten Deutschen dürf- Quoten: Sie ist Frau, Karliczek wich Diskussionen mit Hoch-
te sie unbekannt sein. In der Fachwelt hin- schuldirektoren aus mit dem Hinweis, sie
gegen hat sie Kopfschütteln, Unmut und katholisch und aus Nord- müsse sich noch einarbeiten. Sie baute ihr
Wut provoziert. Die Ministerin gilt mit rhein-Westfalen. Haus um: Kaum vier Monate im Amt,
47 Jahren in der Politik als »jung«, wirkt schickte sie die erfahrene Staatssekretärin
aber oft so deplatziert, als wäre sie aus den Cornelia Quennet-Thielen in den einstwei-
Fünfzigerjahren per Zeitmaschine ins poli- liche Intelligenz. Seit einer kürzlich be- ligen Ruhestand. Quennet-Thielen gilt als
tische Berlin 2019 gebeamt worden. schlossenen Änderung des Grundgesetzes bestens vernetzt, als exzellente Verhand-
Gleich nach ihrer Berufung spotteten könnte es seinen Einfluss sogar noch auf lerin – kurz: als eine Person, die Karliczek
Medien und Wissenschaft über die fach- die Schulpolitik, die Ausbildung der jun- derzeit gut gebrauchen könnte.
fremde Ministerin – das war nicht immer gen Generationen, ausweiten. »Der Rauswurf dieser Staatssekretärin
fair. Allerdings machte Karliczek es ihren Ein Empfang im Ministerium, einem war ein kapitaler Fehler«, sagt Thomas
Kritikern leicht. Häufig leistete sie sich Pat- Bau aus Glas und Stahl, der futuristisch Sattelberger, Bildungspolitiker der FDP.
zer. Zu den bekanntesten zählt ihre Aus- anmutet. Serviert wird blutroter Gazpacho »Eine solch gewiefte, mit allen Facetten
sage, es müsse nicht »an jeder Milchkan- in Reagenzgläsern. Nur die Ministerin, die, des Ressorts vertraute Frau nach kurzer
ne« superschnelles mobiles Internet geben. zum Entsetzen ihrer Mitarbeiter, ihre Zeit zu feuern ist ein Ausdruck eigener
In einem Interview erzählte sie freimü- Redemanuskripte gern umschreibt und da- Schwäche.« Karliczek sagt: »Zu Personal-
tig, sie habe in einer Fernsehzeitschrift eine bei Fachliches in sonntägliche Plattitüden angelegenheiten nehme ich öffentlich kei-
hilfreiche Erklärung darüber gefunden, umwandelt, verhält sich mal wieder un- ne Stellung.«
was ein Algorithmus sei. »Viele Forscher passend. Karliczek steht hinter dem Red- In diesen Tagen verhandelt Karliczek
und Akademiker gebrauchen ständig Be- nerpult; sie liest ab. Sie spricht von Werten, über drei milliardenschwere Pakte, die den
grifflichkeiten, von denen sie sich nicht von Menschenwürde, davon, den Leuten Standort Deutschland in der Hochschul-
vorstellen können, dass sie für andere die Angst vor der Technologie zu nehmen. und Forschungspolitik für die kommenden
eben nicht Alltag sind.« »Maschinen können nicht entscheiden, Jahren maßgeblich prägen werden: den
Und sie sorgt sich öffentlich, welche Fol- was Gesellschaften wollen«, sagt sie. Hochschulpakt, den Pakt für Forschung
gen es für Kinder habe, in Regenbogen- Schon bei ihrer Rede zur künstlichen In- und Innovation und den Qualitätspakt
familien aufzuwachsen. telligenz im Bundestag hatte sie betont, Lehre. Anfang Mai wollen Bund und Län-
Inzwischen wird Karliczek von vielen man lasse sich vom christlichen Menschen- der die künftige Architektur des deutschen
als Fehlbesetzung eingeschätzt. Die Mit- bild leiten. Fortschritt müsse sich dahinter Wissenschaftssystems vorstellen. Karli-
glieder des deutschen Hochschulverban- einreihen. czeks Bilanz lässt wenig Gutes erhoffen.
des wählten sie zur drittschlechtesten Bil- Anja Karliczek kennt den universitären Eines der wenigen Glanzlichter ihres
dungsministerin, in einer Gruppe mit allen Betrieb nicht von innen. Nach dem Abitur ersten Amtsjahres ist der Digitalpakt. Fünf

20 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Milliarden Euro spendiert der Bund für
drahtloses Internet, Software und interak-
tive Tafeln an deutschen Schulen. Der Weg
dahin verlief aber alles andere als gerade:
Die Bundeshaushälter diktierten munter
neue Finanzierungsregeln in den Entwurf
von Karliczeks Ministerium, Grüne und
FDP fügten ebenfalls kurzfristig Wünsche
hinzu. Das erzürnte die Länder, die sich
in ihrem Zuständigkeitsbereich bedroht
sahen. Das BMBF hatte da längst die Kon-
trolle über die Lage verloren. Der Vermitt-
lungsausschuss musste eingreifen.
Auch wenn Karliczek nach zähen Ver-
handlungsstunden als Erste vor die Fern-
sehkameras stürmte und den Erfolg ver-
kündete – das Lob strichen andere ein:
Zeitungen schrieben vor allem vom klugen
Kompromiss, den die Arbeitsgruppe aus-
gehandelt hatte.
Wie wenig sich die Ministerin durchset-
zen kann, zeigt sich auch an den geplanten
Etatkürzungen für ihr Ressort. 2020 soll
der Etat des BMBF um 534 Millionen Euro
schrumpfen. »Eine solch erhebliche Redu-
zierung der Finanzmittel gefährdet den
Wissenschaftsstandort Deutschlands, ge-
rade angesichts der bevorstehenden be-
deutenden Veränderungen in den Schlüs-
selindustrien«, sagt Matthias Kleiner, Prä-
sident der Leibniz-Gemeinschaft.
Bei ihrem Besuch in Potsdam bringt es
die Ministerin nicht fertig, das Wort »Klima-
ursachenforschung« auszusprechen, ohne
sich zu verhaspeln. Sie gibt, wie so oft, bib-
lische Phrasen zum Besten, spricht von der
»Bewahrung der Schöpfung«.
Dennoch scheinen sich die Wissen-
schaftler über Karliczeks Besuch zu freuen.
Die Ministerin hört ihnen zu, ihre Begeis-
terung ist echt. Sie sagt: »sehr schön« oder
»fasziniiieeeerend«, mit langem i. Sie sagt
das zum Beispiel, als sie durch ein riesiges
Linsenfernrohr aus dem 19. Jahrhundert
blickt – den »großen Refraktor« – oder
per Virtual-Reality-Brille ins Universum
befördert wird.
Sie gilt als sympathisch, hat aber der
Forschung einen Bärendienst erwiesen: in
der Exzellenzstrategie, jenem milliarden-
schweren Förderprogramm für die wissen-
schaftlichen Leuchttürme des Landes.
46 Cluster, exzellente Forschungspro-
jekte, sollten gefördert werden, darauf hat-
te sich das Gremium ursprünglich geeinigt.
Weitere 12 galten als Wackelkandidaten.
MARTIN LENGEMANN / WELT / ULLSTEIN BILD

Die Ministerin soll sich dafür starkgemacht


haben, auch diese mit Geld zu bedenken –
obwohl die Mittel nur für maximal 50 Pro-
jekte ausreichten. Kein Wunder, tönten die
Kritiker, schließlich seien die zusätzlichen
11 Cluster, die am Ende noch den Zuschlag
erhielten, überwiegend an Hochschulen
in CDU-geführten Bundesländern ange-
siedelt.
Da die Fördersumme nicht angehoben
Forschungspolitikerin Karliczek: Hinter dem christlichen Menschenbild einreihen wurde, muss jedes geförderte Cluster mit

21
Deutschland

»Absolute
deutlich weniger Geld auskommen als be- messen. »Man muss ja nicht in die teuers-
antragt. Die Forscher müssen sich also ein- ten Städte gehen. Unsere Hochschulland-
schränken, fürchten Kollegen. »Ich gehe schaft ist in der Breite sehr gut aufgestellt,

Frechheit«
davon aus, dass die Kürzungen zulasten wir haben auch hervorragende Standorte
der Schwächsten gehen: der Doktoranden in Gegenden, in denen das Wohnen nicht
und einfachen wissenschaftlichen Mitar- so teuer ist«, sagte Karliczek dazu im In-
beiter«, sagt Günter Roth, assoziierter For- terview mit dem SPIEGEL (7/2019) und
scher am bisherigen Exzellenzcluster des löste damit Proteste aus. Demokratie Kleinstparteien und
Zentrums für biologische Signalstudien Karliczek versucht, ihr Argument nach- skurrile Splittergruppen kandidie-
der Universität Freiburg. Im März verfass- träglich besser zu verkaufen. »Meine Ant-
te er einen Brandbrief unter anderem an wort zielte darauf ab, dass es auch in sehr ren in großer Zahl fürs EU-
die Deutsche Forschungsgemeinschaft und vielen kleineren Städten, in denen die Parlament. Denn mit etwas Glück
an Karliczeks Ministerium. »Mit der Ent- Mieten günstiger sind, sehr gute Universi- gibt es viel Geld zu gewinnen.
scheidung, mehr Cluster zu prämieren, täten gibt.«
macht die Politik exzellente Forschung zu- Auch ihren Satz zum Ausbau der Mo-
nichte«, wettert Roth.
Anja Karliczek sagt dazu: Die Erfah-
rung der laufenden Exzellenzinitiative zei-
ge, dass auch mit einer um 20 bis 25 Pro-
bilfunknetze würde sie heute so nicht sa-
gen. »Das Bild von den Milchkannen wird
offenbar nicht überall sofort verstanden.
Dort, wo ich herkomme, denken wir in
D ie Europäische Partei Liebe hat sich
einiges vorgenommen für ihre aller-
erste Wahl. Am 26. Mai will die
EPL die »Mehrheit an Abgeordnetensit-
zent geringeren Fördersumme exzellente dem Zusammenhang immer an das Häus- zen« im Europäischen Parlament erobern,
Forschung möglich sei. Die Bewilligung chen auf dem Land, vor dem eben früher wirbt sie auf der Homepage. Und danach
von Anträgen sei immer nur mit der klaren die Milchkanne stand.« Ihr sei bewusst, gleich den Posten des EU-Kommissions-
Unterstützung der Wissenschaft möglich dass landwirtschaftliche Großbetriebe sehr präsidenten, am besten mit ihrem eigenen
gewesen. Die Entscheidung, mehr Projek- bald auf 5G angewiesen sein würden und Parteichef, einem Dr. Dmitry Kuzmin.
es für die Privathaushalte ein sta- Im persönlichen Gespräch sind die Ver-
biles 4G-Netz auf modernstem treter der 2017 gegründeten Minipartei aus
Stand geben müsse. Dass ein sol- dem westfälischen Büren etwas kleinmü-
ches Netz für private Kommunika- tiger. Natürlich wolle die EPL für ihre Ziele
tion absolut notwendig sei, habe kämpfen: Liebe statt Hass in Europa. Aber
sie auch damals schon gesagt. viel Geld für den Wahlkampf habe man
Auf die Frage, wie trittsicher sie nicht zur Verfügung, bedauert Valentina
NORBERT FELLECHNER / ACTION PRESS

sich inzwischen fühle, sagt Kar- Niederhaus, eine der Parlamentskandida-


liczek: »Mein Haus und ich arbei- tinnen. Auch die Anhängerbasis sei noch
ten mit Hochdruck daran, dass wir »nicht sehr groß«. Eine genaue Mitglieder-
mit Bildung und Forschung noch zahl könne sie im Moment nicht nennen,
weiter vorankommen. Dass man es seien »einige« Familien mit deutsch-russi-
dazu in den Themen stecken muss, schem Hintergrund und deren Freunde.
ist doch wohl selbstverständlich.« Auf ihrer Liste zur Europawahl haben
Das sieht die Opposition natur- Niederhaus und ihre Parteifreunde aller-
gemäß anders: »Die wirklich wich- dings nur zehn Bewerber stehen – was selbst
Christdemokratin Karliczek mit Virtual-Reality-Brille tigen Themen bleiben unbearbei- beim schönsten Wahlerfolg nicht reichen
»Fasziniiieeerend« tet«, sagt Nicole Gohlke, Bildungs- wird für eine Mehrheit in dem mehr als
politikerin der Linken. Karliczek 700 Mitglieder zählenden EU-Parlament.
te mit Geld zu bedenken, sei gemeinschaft- führe die elitäre Politik ihrer Vorgänger Aber ein Drama muss das nicht sein:
lich gefallen, »nach einem intensiven Ver- weiter, nur mit weniger Fachwissen. »Ihre Viele Klein- und Kleinstparteien sind
handlungsprozess zwischen Wissenschaft, Unsicherheit gleicht sie leider durch eine schon vollauf zufrieden, wenn nur ein ein-
Ländern und dem Bund«. Will heißen: gutsherrenhafte Kaltschnäuzigkeit aus.« ziger ihrer Kandidaten den Einzug ins EU-
Wenn etwas schiefgelaufen sein sollte, An einem verregneten Montagnachmit- Parlament schafft. Denn das sorgt nicht
dann sind alle schuldig. tag ist Karliczek zu Gast in der Fachhoch- nur für Aufmerksamkeit, sondern vor
Nicht viel besser kommt die Ministerin schule für Wirtschaft und Recht in Berlin- allem für Einnahmen. Zu den Abgeordne-
mit ihrem Entwurf zu einer Bafög-Reform Friedrichsfelde. Der Teppich ist mausgrau. tenbezügen von monatlich 8757, 70 Euro
an. Drei Jahre nach der letzten signifikan- Die Studenten studieren die Fachrichtung kommen unter anderem eine steuerfreie
ten Erhöhung soll der Höchstsatz zum »Logistik und Spedition«. Sie kommen Kostenpauschale von 4513 Euro pro Mo-
Herbst von 735 auf 861 Euro im Monat von der Deutschen Post und von Kaufland. nat sowie 320 Euro Sitzungsgeld pro Tag.
steigen. Statt, wie etwa bei Hartz IV, die Bei einer Runde mit mehreren Profes- Außerdem kann jeder Abgeordnete einige
Sätze jährlich an die Lebenshaltungskos- soren hört sich die Ministerin Beschwer- Parteifreunde, Familienangehörige oder
ten anzupassen, will das Bundesbildungs- den an über Universitäten, die keine Dok- Vertraute als Mitarbeiter beschäftigen –
ministerium nach wie vor per Dekret ent- toranden von hier annehmen wollen, die im Gesamtwert von bis zu 24 943 Euro pro
scheiden, wann die Studenten eine Erhö- arrogant seien gegenüber den Absolven- Monat für Gehälter, auf Kosten der EU.
hung verdient haben. ten. Von einem »closed circle« ist die Rede. Das Besondere daran: Es gibt keine
Für eine Wohnung – oder eher: ein Zim- Die Ministerin nickt heftig. Prozenthürde, die übersprungen werden
merchen – sind künftig 325 statt 250 Euro »Vielen Dank für den Einblick«, verab- muss. Das Bundesverfassungsgericht hatte
monatlich vorgesehen. Ein Plus von rund schiedet sie sich, »da ich ja nicht aus die- vor der Europawahl 2014 sowohl eine
30 Prozent sieht nach viel aus, angesichts sem Bereich komme, muss ich mir das Sperrklausel von fünf Prozent, wie sie bei
stark steigender Mieten an beliebten Stu- alles erst mal aneignen.« Bundes- und Landtagswahlen gilt, als auch
dienorten wie Berlin, Münster, Heidelberg Nicola Abé, Miriam Olbrisch eine 3-Prozent-Hürde, die der Bundestag
oder Köln ist die Summe aber knapp be- stattdessen einführen wollte, für unzulässig

22
erklärt. Sperrklauseln verstießen Und noch etwas hilft den
gegen die Chancengleichheit und Minigruppierungen: Deutsche
seien auf europäischer Ebene über- Europamandate werden nach ei-
flüssig, weil das EU-Parlament im nem komplizierten Rundungs-
Unterschied zum Bundestag keine und Zählverfahren verteilt, das klei-
feste Regierungsmehrheit stellen nere Parteien »tendenziell begüns-
müsse, urteilten die Richter. tigt«, erklärt Schönberger. Dieses
Seitdem ist es für deutsche Par- »Sainte-Laguë-Schepers«-Verfahren,
teien bei keiner anderen Wahl so benannt nach einem französischen
einfach, an gut dotierte Mandate Mathematiker und einem deut-
und Geldtöpfe zu kommen. 2014 schen Physiker, sei eigentlich »für
schaffte es selbst die zur Splitter- ein System ohne Sperrklausel nicht
partei abgewirtschaftete rechtsex- geeignet«, so Schönberger. Es führt
treme NPD noch ins EU-Parla- dazu, dass schon etwas mehr als ein
ment, ebenso wie die Familien-Par- halbes Prozent der Stimmen ausrei-
tei oder Die Partei des Satirikers chen kann, um eines der 96 deut-
Martin Sonneborn. Ihm reichten schen Abgeordnetenmandate zu
weniger als 185 000 Stimmen für ergattern.
ein Abgeordnetenmandat, das war Auf jeden Fall genügt dieses
ein Stimmenanteil von gerade mal halbe Prozent, um der Partei auch
0,6 Prozent. unabhängig vom Abgeordneten-
Solche Chancen wollen sich viele mandat Geld zu verschaffen. Ab
nicht entgehen lassen. Vor fünf Jah- dieser Grenze zahlt der Staat jedes

TINKA DIETZ / DER SPIEGEL


ren stellten sich 25 Parteien und Jahr einen Finanzierungszuschuss
sonstige Vereinigungen zur Wahl, von bis zu einem Euro pro Stim-
diesmal werden es 41 sein, inklusive me – sofern die Partei ergänzende
der CSU, die nur in Bayern antritt. Einkünfte nachweisen kann, zum
In Berlin präsentierte die Landes- Beispiel Spenden oder Mitglieds-
wahlleiterin Petra Michaelis den beiträge.
neuen Europawahlzettel mit einer Stimmzettel zur Europawahl 2014 schafften es 14 Parteien
Rekordlänge von 94 Zentimetern. Rekordlänge von 94 Zentimetern über diese 0,5-Prozent-Hürde, die
Eigentlich wollten noch viel den Zugang zur Staatskasse öffnet.
mehr Gruppierungen dabei sein. Ob es in diesem Jahr mehr werden,
Aber Spartenorganisationen wie die Gar- bei der Europawahl mit einer bundeswei- ist allerdings unsicher. Denn der Andrang
tenpartei oder die Deutsche Hundepartei ten Liste und sehr wenigen Bewerbern auf dem Wahlzettel könnte dafür sorgen,
scheiterten an den Zulassungsbedingun- antreten zu können. »Das macht es gera- dass sich die Konkurrenten die Stimmen
gen. Häufig konnten sie die geforderten de bei geringer Mitgliederzahl deutlich gegenseitig wegnehmen.
4000 Unterstützerunterschriften nicht vor- einfacher gegenüber der Situation bei der So treten gleich vier Parteien an, die
legen. Auch die Blaue Partei der früheren Bundestagswahl, wo sie für jedes Bundes- sich explizit um Tierschutz kümmern
AfD-Chefin Frauke Petry zog ihre Bewer- land eine eigene Liste brauchen und dann wollen: Die Tierschutzpartei, die vor fünf
bung kurz vor der Zulassungsentscheidung am besten auch noch Wahlkreisbewerber Jahren mit 1,2 Prozent ein EU-Mandat
wieder zurück. aufstellen sollten«, sagt die Parteienrecht- erhielt, kämpft diesmal noch gegen eine
An Auswahl mangelt es dennoch nicht. lerin Sophie Schönberger von der Univer- Partei für die Tiere, eine Tierschutzallianz
Neben einigen auch von Bundestagswah- sität Düsseldorf. Kleine Parteien bekä- und eine Aktion Partei für Tierschutz –
len bekannten Klassikern wie der altkom- men derart viele Kandidaten oft nicht wobei Letztere sich mit dem Zusatz »Das
munistischen DKP oder der konservativ- zusammen. Original« schmückt.
ökologischen ÖDP gibt es interessante »Eine absolute Frechheit« sei das, sagt
politische Experimente wie die europäi- Ludwig Reiser, der früher bei der Tier-
sche Bewegung DiEM25 – der frühere grie- Ansturm aufs Europaparlament schutzpartei war. Wenn überhaupt, dann
chische Finanzminister Yanis Varoufakis Zahl der Parteien und politischen Vereinigungen habe nur diese die Bezeichnung »Origi-
führt als Spitzenkandidat ihre Deutsch- bei der Europawahl, in Deutschland nal« verdient. Inzwischen ist Reiser dort
landliste an. Eine Partei Menschliche Welt 41 aber auch ausgetreten und leitet nun die
setzt sich »für das Wohl und Glücklichsein Geschäftsstelle der Partei für die Tiere.
aller« ein und preist außer der »0-Prozent- Die Szene sei zerstritten, räumt er ein, es
Hürde« bei der Europawahl auch Yoga- 32 habe viele Abspaltungen gegeben. Das
kurse im Oberschwäbischen an. habe aber nichts mit dem Kampf um
Am äußersten rechten Rand hat der 26 öffentliche Gelder zu tun, sondern mit
NPD-Erfolg von 2014 mehrere Konkur- 24 25 unterschiedlichen Überzeugungen.
renten zur Wahlteilnahme ermutigt, die 22 23 Seine neue Partei habe eine Mitglieder-
von Verfassungsschützern ebenso als un- zahl »im oberen zweistelligen Bereich«,
belehrbare Neonazis eingestuft werden: sagt Reiser. Er sehe die Wahlteilnahme als
Die Rechte oder die Partei Der III. Weg, 14 einen »Versuchsballon«: Wenn das Ergeb-
die schon mit der Namenswahl unverhoh- nis am 26. Mai zu dürftig ausfalle, »dann
len Sympathien mit der NS-Ideologie an- 9 werden wir unser Projekt wahrscheinlich
klingen lässt. wieder aufgeben«. Matthias Bartsch
Solche Splitterparteien mit relativ klei- 1979 1984 1989 1994 1999 2004 2009 2014 2019 Mail: matthias.bartsch@spiegel.de
ner Anhängerschaft profitieren davon, Quelle: Bundeswahlleiter

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 23


Deutschland

»Von Ideologie durchdrungen«


Religion Bestsellerautor Constantin Schreiber hat Schulbücher aus islamischen Ländern analysiert –
und kritisiert das heikle Weltbild, mit dem viele Flüchtlingskinder nach Deutschland kommen.

Mit seinem Buch »Inside Islam. Was in Auf dessen Foto standen die Soldaten aber schen Behörden. Ich konnte am Ende
Deutschlands Moscheen gepredigt wird« auf Schutt und Trümmern und nicht auf zwar keine Überweisungsträger sehen
löste Constantin Schreiber vor zwei Jahren toten Menschen. Als Arbeitsaufgabe sollen oder den einzelnen Euro nachverfolgen.
eine heftige Debatte aus. In seinem neuen die Schüler die Abbildung diskutieren. Allerdings habe ich herausgefunden, dass
Werk beschäftigt er sich damit, welche SPIEGEL: Welche Rolle spielen Frauen in Deutschland im vergangenen Jahr mehr
Werte Schulbücher in islamisch geprägten den Büchern? als 62 Millionen Euro in einen interna-
Ländern vermitteln*. Schreiber, 39, ist Schreiber: In Iran geht es viel um Verhal- tionalen Fonds eingezahlt hat, den Afgha-
Grimme-Preisträger und Moderator der tensregeln. Frauen, die unzureichend ver- nistan Reconstruction Trust Fund. Dieser
»Tagesschau«. Vor seinem Wechsel zur hüllt seien, brächten sich in Gefahr, steht zahlt Geld an das afghanische Finanz-
ARD arbeitete er jahrelang als Journalist in einem Schulbuch. Sie riskierten die Be- ministerium, das wiederum das Bildungs-
im arabischen Raum. lästigung durch lüsterne Männer. Zudem ministerium mit finanziellen Mitteln aus-
sei dies »einer der tiefsten Abgründe«, der stattet, um Unterrichtsmaterialien heraus-
SPIEGEL: Sie haben mehr als hundert »unser Leben, unseren Glauben und unse- zugeben – auch das von mir kritisierte
Schulbücher aus mehrheitlich muslimi- re geistigen Fähigkeiten vernichtet«. Aber Religionsbuch.
schen Ländern gesichtet. Warum? auch in einem ägyptischen Schulbuch bin SPIEGEL: Wie sollten deutsche Behörden
Schreiber: Was in diesen Büchern steht, ich auf Bemerkenswertes gestoßen. Ihrer Meinung nach denn stärker Einfluss
sagt viel über die Gesellschaften dort aus. SPIEGEL: Und zwar? nehmen?
Wie man auf andere Religionen und Kul- Schreiber: Im Fach Haushaltskunde be- Schreiber: Die Bundesrepublik überweist
turkreise schaut, aber auch auf Frauen. kommen »dicke und dünne Mädchen« offenbar quasi blanko hohe Beträge nach
Vieles war nicht gerade ein Lehrstück für Stylingtipps. Die dicken sollten zum Bei- Afghanistan. Das ist natürlich problema-
Toleranz. spiel keine breiten Gürtel tragen, denn es tisch. Es geht mir nicht darum zu sagen,
SPIEGEL: Können Sie Beispiele nennen? sei ein »Irrglaube«, dass dieser sie schlan- dass wir den Leuten nicht helfen sollen.
Schreiber: In einem afghanischen Reli- ker aussehen lasse. Illustriert ist das Gan- Wenn in Schulbüchern jungen Frauen auf-
gionsbuch für die zehnte Klasse hieß es, ze mit Models. Ägyptische Mädchen ler- gezeigt würde, welche Perspektiven und
Juden würden die »Menschen vom rech- nen also in der Schule, dass ihr oberstes Rechte sie haben, dann wäre das eine Un-
ten Weg abhalten«. An anderer Stelle ler- Ziel sein sollte, ihrem Ehemann zu gefal- terstützung wert. Aber nicht, wenn Schü-
nen die Schüler, dass Muslime als »bestes len und ihren Platz zu Hause am Herd ler lernen sollen, dass Juden angeblich min-
Volk« Andersgläubigen überlegen seien. zu suchen. derwertig sind. Da wird Antisemitismus
Oder: Wer »andere Elemente mit Gott SPIEGEL: Sie schreiben, dass Deutschland dann zum Kollateralschaden deutscher
zusammen« anbete, werde »in die Hölle das afghanische Religionsbuch, das gegen Hilfsgelder.
gehen, wo sie Leid und Qual erleiden wer- Andersgläubige hetzt, sogar mitfinanziert SPIEGEL: Der Bund engagiert sich über
den«. Ein Islamwissenschaftler erklärte habe, wenn auch nicht direkt. Wie kom- die Deutsche Gesellschaft für Internatio-
mir, dass damit Christen gemeint seien, men Sie darauf? nale Zusammenarbeit (GIZ) auch konkret
wegen der Dreieinigkeit von Vater, Sohn Schreiber: Das ist das Ergebnis einer Re- in Afghanistan. Was unternehmen die Ent-
und Heiligem Geist. chercheodyssee bei internationalen Orga- wicklungshelfer in Bildungsfragen?
SPIEGEL: Wie sieht es anderswo aus? nisationen und bei afghanischen und deut- Schreiber: Mein Eindruck ist, dass man
Schreiber: Im iranischen Unterrichtsmate- bei der GIZ sehr unkritisch ist, was die
rial kommen zumindest Passagen vor, in Inhalte des Unterrichts betrifft. Für diese
denen es heißt, andere Religionen seien seien andere zuständig, sagte man mir bei
zu respektieren. Allerdings klingt vieles der Recherche. Letztlich vermittele die
nach Verschwörungstheorien. In einem GIZ nur die pädagogischen Fähigkeiten,
Werk zu »Gedanken und Lebensführung« bilde zum Beispiel Lehrer aus. Das halte
CHRISTOPH HARDT/GEISLER-FOTOPRES / PICTURE ALLIANCE

ist von »freizügigen Personen«, »Imperia- ich für falsch. Ein Kind lernt doch nicht
listen« und »Islamfeinden« die Rede, die losgelöst von den Inhalten lesen und
Iran angriffen, um ihre eigenen »finsteren schreiben. Wenn es zum Beispiel 20-mal
Ziele« zu verfolgen. Und es gibt einen aus- »die Ungläubigen schmoren in der Hölle«
geprägten Antiamerikanismus: Eine Ab- schreiben soll, dann hinterlässt das Spu-
bildung zeigt, wie vier Soldaten eine US- ren. Und wenn Menschen mit einem sol-
amerikanische Flagge auf einem Berg von chen Weltbild nach Deutschland kommen,
Skeletten und Leichen hissen, darunter dann wirkt sich das direkt auf unsere
eine Frau mit Kopftuch. Die Darstellung Gesellschaft aus.
ist eine verfälschte Version des berühmten SPIEGEL: Inwiefern?
Kriegsfotos von Joe Rosenthal von 1945. Schreiber: Es gibt einen Zusammenhang
zwischen dem, was in den Herkunftslän-
dern als gesellschaftlicher Mainstream exis-
* Constantin Schreiber: »Kinder des Koran. Was mus-
limische Schüler lernen«. Econ; 304 Seiten; 18 Euro. Journalist Schreiber tiert, und der fehlenden Diskursbereit-
Erscheint am 2. Mai. »Vieles klingt nach Verschwörungstheorien« schaft mancher Migranten hierzulande.

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DANITA DELIMONT / INTERFOTO
Schülerinnen in Afghanistan: Sie lernen, dass Muslime Andersgläubigen überlegen sein sollen

SPIEGEL: Können Sie das genauer erklä- in den jeweiligen Ländern eigentlich er- Ägypten einen »Heiligen Krieg« gegen
ren? schienen? Israel geführt.
Schreiber: Ich hatte drei Journalistenkol- Schreiber: Das ließ sich nicht eruieren. SPIEGEL: Ihr Buch heißt aber »Kinder des
legen aus Iran, Afghanistan und der Türkei, SPIEGEL: Von Repräsentativität kann Koran«. Nehmen Sie hier nicht selbst eine
die heute in Deutschland leben, gebeten, dann aber keine Rede sein. Vermischung von Religion und Politik vor?
sich einmal einige der Bücher anzuschau- Schreiber: Nein, ich habe ja auch keine Schreiber: Man kann das so sehen. Letzt-
en – und erwartet, sie würden mich auf wissenschaftliche Studie verfasst, sondern lich verstehe ich mein Buch auch als Dis-
Auffälliges hinweisen. Sie konnten darin mich journalistisch damit auseinander- kussionsgrundlage. Man kann und soll
aber nichts finden. Ihnen kam alles normal gesetzt. Trotzdem bin ich mir sicher, dass dann kritisch hinterfragen, was daran
vor, sogar die Darstellung der US-Solda- wir hier nicht über Einzelfälle sprechen. eigentlich religiös, was ideologisch und
ten, die auf toten Muslimen ihre Fahne Insgesamt habe ich ja mehr als hundert was nationalistisch ist.
hissten, oder die Passagen über Frauen. Bücher durchgesehen. Ich bin auf kein SPIEGEL: Für Ihr Vorgängerwerk »Inside
Das hat mich lange beschäftigt. Denn ich Buch gestoßen, das ich umfassend positiv Islam« sind Sie massiv kritisiert worden.
habe die drei als sehr modern, tolerant bewerten würde. Sie hätten eine antimuslimische Agenda,
und reflektiert erlebt. Offenbar fehlt die SPIEGEL: Das Werk, das Sie aus Ägypten hieß es etwa. Uns würde wundern, wenn
Vorstellung, dass man gegen solche Inhalte zitieren, liest sich weniger religiös gefärbt dieser Vorwurf nicht wiederkäme.
auch aufbegehren kann und sogar muss. als vielmehr politisch motiviert. Hier geht Schreiber: Mich auch.
SPIEGEL: Was bedeutet das alles für das es doch darum, dass der autokratische Prä- SPIEGEL: Trifft Sie das nicht?
deutsche Bildungssystem? sident Abdel Fattah el-Sisi mit seinen Geg- Schreiber: Wenn jemand behauptet, ich
Schreiber: Ich habe in Gesprächen mit nern, den Muslimbrüdern, abrechnet. Sie sei rassistisch, empört mich das viel mehr.
Lehrern immer wieder festgestellt, wie tun aber so, als hätten diese Inhalte etwas Es ist fahrlässig, wie inflationär mit diesem
überfordert diese teilweise sind, wenn sie mit dem Koran oder dem Islam zu tun. Begriff, der etwas so Fürchterliches aus-
etwa Klassen mit vielen Flüchtlingskindern Schreiber: Die Türkei und Ägypten spie- drückt, inzwischen umgegangen wird.
aus islamisch geprägten Ländern unterrich- len gewissermaßen eine Sonderrolle. Die Wenn plötzlich alles rassistisch ist, ist es
ten. Antisemitismus ist dort natürlich auch Schulbücher sind stark von politischer am Ende irgendwann egal. Das ist die
ein Thema. Oder die Frage, wie man den Ideologie durchdrungen. Allerdings finden Gefahr. Was den Begriff »antimuslimisch«
Sexualkundeunterricht überhaupt noch ge- sich auch religiöse Begriffe, so habe etwa betrifft, ist diese Entwicklung schon sehr
stalten soll, wenn eine Mehrzahl der Schü- weit fortgeschritten. Auch Seyran Ateş
ler ihn verweigert. Um einen Zugang zu oder Ahmad Mansour gelten als antimusli-
finden, könnte es hilfreich sein, mehr über »Wenn plötzlich misch. Ich glaube, dieser Vorwurf scho-
die Schulsysteme der Herkunftsländer zu alles rassistisch ist, ckiert heute kaum mehr jemanden.
wissen.
SPIEGEL: In welcher Auflage sind die
ist es am Ende Interview: Nicola Abé, Katrin Elger
Mail: katrin.elger@spiegel.de
Bücher, die Sie sich vorgenommen haben, irgendwann egal.«
DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 25
Deutschland

»Baby, bitte bleib bei mir«


Familie Ein Mann, ein Haus und drei Kinder, so lautete der Plan. Doch mit 39 Jahren ist
Katja K. wieder allein – und immer noch nicht Mutter. Sie versucht, mithilfe
künstlicher Befruchtung Nachwuchs zu bekommen. Eine Langzeitbeobachtung. Von Laura Backes

E
twa alle vier Wochen fährt Katja Über die Sorgen, Wünsche, Hoffnungen Arbeit. Ihre Kunden sollen nicht als Erstes
K. zwei- bis dreimal zur Behand- kinderloser Paare wurde oft berichtet. von ihrem Kinderwunsch erfahren, wenn
lung ins Kinderwunschzentrum Singlefrauen, die sich ihren Babywunsch sie sie googeln.
nach München. Sie wohnt in ohne Partner erfüllen, sind dagegen ein
Frankfurt am Main, arbeitet unter der Wo- weniger bekanntes Phänomen, ihre Lebens- Die Vorgeschichte
che aber häufig in anderen Städten und planung passte früher nicht zu gesellschaft- »Soll ich auch von meinen Männer-
schläft dort in Fünfsternehotels. lichen Konventionen. Es ist selten, dass geschichten erzählen?«, fragt Katja K. an
Für ihre Ausflüge nach München gelten Solomütter, wie sie sich nennen, offen über diesem Abend. »Nur deshalb bin ich ja
andere Standards. Abends nimmt sie den ihre Träume sprechen, über die Ängste, jetzt in dieser Situation.«
letzten Zug, die Nacht verbringt sie im Rückschläge, Erfolge auf dem Weg zum ei- Sie war immer wieder in Beziehungen.
Mehrbettzimmer eines Hostels. Am nächs- genen Kind. Einmal, 1999, heiratete sie einen Mann,
ten Morgen hat sie, so wie an diesem Mitt- Katja K. ist eine von ihnen. Sie hat zu- doch die Ehe hielt nur wenige Jahre. Als
woch im Januar 2018, einen frühen Termin gestimmt, sich vom SPIEGEL begleiten zu ihr Frauenarzt sie zum ersten Mal darauf
im Kinderwunschzentrum, zum Ultra- lassen, monatelang. Das erste Treffen hinwies, dass ihre Fruchtbarkeit »endlich«
schall und zur Blutabnahme. Um 8.30 Uhr findet einen Tag vor einem Trip nach sei, sei sie aus allen Wolken gefallen, Mitte
steigt sie in den ICE und sitzt um 14 Uhr München in einem kleinen koreanischen dreißig war sie damals. »Auch wenn mir
wieder im Büro. Restaurant in Köln statt. Sie kommt direkt das heute niemand glaubt: Ich hatte keine
Wenn ihr einige Tage später unter Nar- von der Arbeit. Ahnung!«
kose Eizellen zur Befruchtung aus den Das Gespräch eröffnet Katja K. gleich Ihren letzten Freund lernte sie übers
Eierstöcken entnommen werden, muss sie mit einer Frage: »Wieso müssen wir Internet kennen. Es funkte sofort. Schon
den ganzen Tag freinehmen. Den Kolle- Singlefrauen unseren Kinderwunsch un- beim zweiten Treffen sprachen sie von
ginnen und Kollegen erzählt sie jedes Mal, terdrücken?« Sie will, dass Solomütter von gemeinsamen Kindern. »Ich dachte, das
sie müsse zum Arzt. Sie weiß, dass einige der Gesellschaft akzeptiert werden, sie ist ein Sechser im Lotto.« Dass er, wenn
besorgt sind, weil sie denken, sie habe eine uneingeschränkten Zugang zu Kinder- er von seiner Wohngemeinschaft sprach,
schwerwiegende Krankheit. wunschbehandlungen bekommen. Eine seine Ehefrau und sein Kind im Saarland
Dabei will sie doch nur ein Kind. Familie wollen, das sei schließlich ganz meinte, erfuhr sie erst später.
Katja K. arbeitet bei einer internatio- natürlich. Dass sie dennoch lieber anonym Sie war fast vierzig, als sie sich trennte.
nalen Unternehmensberatung. Eine Ver- ihre Geschichte erzählt, liegt an ihrer Beim Frauenarzt weinte sie bei dem Ge-
setzung in die Schweiz hat sie vor einigen danken daran, kinderlos zu bleiben.
Monaten abgelehnt. Dort hätte sie mehr Ende 2014 war das. Genau in diese Zeit
Geld verdient, es wäre ein wichtiger Kar- Unerfüllter Wunsch fiel die Nachricht, dass Facebook und
riereschritt gewesen, erzählt sie. »Ich wer- Partnersituation bei ungewollter Kinderlosigkeit Apple ihren Mitarbeiterinnen anböten,
de allein ein Kind bekommen«, habe sie das Einfrieren ihrer Eizellen zu bezahlen,
ihrem Chef ganz offen gesagt. In der bei Frauen verheiratet bei Männern Social Freezing genannt. Für Katja K.
Schweiz seien die Betreuungskosten viel 22 17 klang es nach der Lösung für ihr Problem:
höher als in Deutschland, das sei finanziell So könnte sie sich Zeit nehmen, um einen
nicht machbar. neuen Partner, einen Familienvater zu
in fester Partnerschaft, unverheiratet
Allerdings stehen ihre Chancen, jemals finden.
Mutter zu werden, ziemlich schlecht. Denn 43 34 Ab März 2015 ließ sie sich in sieben
sie ist inzwischen 42 Jahre alt. Die Wahr- Zyklen insgesamt 70 Eizellen entnehmen.
scheinlichkeit, dass Frauen in diesem Alter ledig Ärzte raten Frauen über 37 Jahren eigent-
mithilfe künstlicher Befruchtung ein Kind 32 46 lich davon ab, die Kosten sind hoch und
bekommen, liegt bei etwa zehn Prozent. die Chancen gering. Aber wer zahlt, wird
14 Versuche hat Katja K. bereits hinter behandelt.
geschieden, entpartnert
sich – alle waren mehr oder weniger er- Gleichzeitig meldete sie sich bei neun
folglos. Die meisten Patientinnen und Pa- 2 2 Partnerbörsen an, bei Parship, ElitePart-
tienten in Kinderwunschzentren geben ner, OkCupid. Sie ging zum Speeddating
nach wenigen Versuchen auf. Aus Frust. in eingetragener Lebenspartnerschaft und hielt überall Ausschau nach poten-
Oder weil sie es sich nicht leisten kön- 1 0 ziellen Partnern, im Fitnessstudio, auf
nen. Kinderkriegen kann teuer sein. Die Reisen und bei der Arbeit. So schwierig
gesetzlichen Krankenversicherungen über- konnte das doch nicht sein. Sie war nicht
in Trennung lebend
nehmen für verheiratete Paare bei drei dumm, nicht hässlich, nicht unsozial.
Versuchen die Hälfte der Kosten. Allein- 0 1 Doch nach einigen misslungenen Dates
stehende Frauen bekommen keine finan- Umfrage: Delta-Institut, 2013; 1002 Fälle: ungewollt kinderlose Frauen
gestand sie sich ein, dass sie noch gar
zielle Unterstützung. und Männer im Alter von 20 bis 50 Jahren; Angaben in Prozent nicht bereit für eine neue Partnerschaft

26 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Single K. in Frankfurt am Main: Es war die biologische Uhr, die so laut tickte

Fotos: SONJA OCH / DER SPIEGEL 27


war. Es war nur die biologische Uhr, die ein Pferd. Dann erzählt er, dass sie ihn als bis drei Singlefrauen nach ihren Mög-
so laut tickte. Kind immer um den Block geschickt habe, lichkeiten. Der Gynäkologe Hans-Ulrich
Was kann eine Frau in Deutschland tun, wenn er behauptet habe, krank zu sein. Pauer glaubt, dass viele Ärzte, die allein-
die unbedingt ein Kind will, aber keinen Frische Luft helfe. Diese »Lässigkeit« ge- stehende Frauen abweisen, »überkomme-
Partner hat? Katja K. googelte »Kind ohne fiel Katja K. ne moralische Vorstellungen von Familie«
Mann bekommen« und stieß auf Internet- Sie hat insgesamt 29 »Straws« des haben.
portale, die private Samenspender vermit- Dänen, Halme voller Samen, gekauft und Ärzte, die Singlefrauen behandeln,
teln, und sie fand jede Menge Werbung einlagern lassen. Wer unbedingt einen stellen besondere Anforderungen. Mal
dänischer und spanischer Kinderwunsch- bestimmten Spender für leibliche Ge- müssen sich die Patientinnen psycho-
zentren, die sich an deutsche alleinstehen- schwisterkinder will, muss dessen Sperma logisch oder rechtlich beraten lassen, mal
de Frauen richten. bunkern. eine Sorgerechtsverfügung vorlegen, die
Es schien mehrere Optionen zu geben. regelt, wer für das Kind im Todesfall
Sie könnte während der fruchtbaren Phase Die Behandlung der Mutter sorgt. Einige Ärzte lassen sich
auf der Suche nach One-Night-Stands um Alleinstehende Frauen, die ein Baby wol- von den Frauen notariell bescheinigen,
die Häuser ziehen und behaupten, mit der len, fahren häufig zu Kinderwunschzen- dass sie über ein Vermögen von mindes-
Pille zu verhüten. tren in Dänemark, wo die Rechtslage ein- tens 100 000 Euro verfügen. Oder sie
Sie könnte ein Kind adoptieren, in deutig ist. Laut der dänischen Samenbank bestehen auf einem Garantiepersonen-
einem anderen Land, wo das für allein-
stehende Frauen möglich ist. Haiti zum
Beispiel.
Sie könnte ein Kind mit einem Bekann-
ten zeugen, ohne Liebesbeziehung. Oder
mit einem Fremden. Katja K. chattete auf
Internetportalen mit einigen potenziellen
Vätern, traf aber niemanden. Das Problem
an einem Mann, den sie nicht liebte, wäre,
dass er bei allen Entscheidungen ein Mit-
spracherecht einfordern könnte.
Blieb die kommerzielle Samenspende.
Aber war das moralisch okay? Sie sprach
mit ihrer Familie, mit Freunden und Frem-
den darüber. Zu ihrer Überraschung fand
niemand ihre Überlegungen verwerflich.
»Ich konnte mir lange nicht vorstellen,
Kinderkriegen und Partnerschaft zu ent-
koppeln«, sagt sie. Es dauerte mehr als ein
Jahr, bis sie sich mit dem Gedanken
anfreundete.
Aus Plan B wurde Plan A.
Über das SFMK-Forum, ein Forum für
Singlefrauen mit Kinderwunsch, suchte sie
Kontakt zu Müttern, die allein Kinder be-
kommen hatten. Einige davon traf sie per-
sönlich, den Kindern schien es gut zu ge- Aufgebrauchte Hormonpräparate: 105 000 Euro für 14 Versuche
hen. Schließlich überlegte sie sich, dass es
ihr ungeborenes Kind wahrscheinlich bes-
ser finden würde, ohne Vater aufzuwach- Cryos International ist aktuell jede zweite vertrag, in dem eine Person erklärt, im
sen, als gar nicht zu existieren. Kundin Single, Tendenz steigend. Ernstfall den Unterhalt für das Kind zu
Katja K. klickte sich bei zwei dänischen Auch hierzulande steigt die Nachfrage, übernehmen.
Samenbanken durch die Spenderprofile. allerdings ist die Lage komplizierter. Al- Katja K. startete ihren ersten Versuch
Sie suchte nur nach sogenannten offenen leinstehende Frauen zu behandeln ist in Anfang 2016. Dabei wurden Samen in
Spendern mit besonders ausführlichen Deutschland weder explizit verboten noch ihren Uterus eingeführt, doch es kam
Profilen. So könnte sie ihrem Kind später ausdrücklich genehmigt. In einer Muster- nicht zur Schwangerschaft. Nach vier fehl-
viel von seinem genetischen Vater erzäh- richtlinie der Bundesärztekammer von geschlagenen Versuchen gingen die Ärzte
len. Und es hätte eines Tages die Möglich- 2006 wurden Singlefrauen von der Kin- dazu über, durch eine Hormonbehandlung
keit, seinen Erzeuger zu kontaktieren. derwunschbehandlung ausgeschlossen. mehrere Eizellen gleichzeitig heranreifen
Die Entscheidung fiel auf einen ange- Die Landesärztekammern in Bayern, Ber- zu lassen, diese unter Narkose zu entneh-
henden Studenten, 19 Jahre alt, blauäugig lin und Brandenburg haben die alte Richt- men und die Spermien außerhalb des
und blond wie sie selbst, damit ihr Kind linie allerdings nie übernommen. Deshalb Körpers in einer Petrischale direkt in die
ihr ähnlich sähe. Sie mochte sein Kinder- gibt es dort Kinderwunschzentren und Eizellen einzuspritzen. Kommt es zu einer
foto und das Interview mit ihm, das sie einige niedergelassene Ärzte, die nicht nur Befruchtung, werden ihr zwei bis fünf
sich im Internet anhören konnte. Darin Paare behandeln. 2018 hat die Bundesärz- Tage später ein oder zwei Embryonen in
spricht er Englisch mit leichtem skandina- tekammer eine neue Musterrichtlinie ver- die Gebärmutter eingesetzt. Intrazytoplas-
vischem Akzent. Vor Beginn seines Studi- öffentlicht, in der das Verbot, Singlefrauen matische Spermieninjektion oder ICSI
ums wolle er noch etwas arbeiten und rei- zu behandeln, nicht mehr enthalten ist. heißt die Methode.
sen, um Lebenserfahrung zu sammeln, Beim Kinderwunschzentrum an der Zweimal wurde Katja K. so schwanger,
sagt er. Seine Mutter sei Tierärztin, besitze Oper in München fragen wöchentlich zwei einmal dauerte es fünf, einmal acht Wo-

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Deutschland

chen bis zur Fehlgeburt. Sie hatte schon könnte, dass sie gar nicht seine richtige Eine Frau in Frankfurt hat vor einiger Zeit
nach Hebammen gesucht, schließlich las Mutter sei. ein Kind mit dem Sperma des Dänen ge-
man überall vom Hebammenmangel. Als Kein Arzt habe ihr jemals geraten auf- zeugt, das auch Katja K. verwendet. Ein
sie im Januar 2018 darüber spricht, klingt zuhören, sagt sie. »Sofern noch geringe »Halbbruder sozusagen«. Katja K. war
sie überraschend gefasst. »Das hat mich Chancen bestehen, kann die Patientin ent- ganz fasziniert von dem hübschen Kind.
drei Monate meines Lebens gekostet. Für scheiden, und die Ärzte verdienen ja gut Inzwischen weiß sie von vier Halb-
nichts«, sagt sie. Sie will, dass es bald an mir.« geschwistern in Deutschland, Dänemark
klappt, findet ihr Alter »grenzwertig«, um Um Geld zu sparen, schränkt sie sich und den USA.
Mutter zu werden. überall ein. Sie, die doch schon mehr als Zur Wahrheit gehöre aber auch: Wer
Künstliche Befruchtungen, vor allem 140 Länder bereist hat, war seit mehr als aufgibt und kinderlos bleibt, schreibe
mit der ICSI-Methode, sind teuer. Für das zwölf Monaten nicht mehr im Urlaub. »In meist keine großen Abschiedsmails im
Social Freezing und ihre 14 Versuche bei gewisser Weise sind das verlorene Jahre«, Forum, sondern sei einfach irgendwann
verschiedenen Ärzten hat sie ungefähr sagt Katja K. »Ich verzichte auf meine Kar- nicht mehr da, so Katja K. Am Ende blie-
105 000 Euro investiert. riere, einen Partner und gönne mir fast ben viele mit ihrem Leid allein.
Kommt nicht irgendwann der Zeitpunkt, nichts. Ich gebe alles aus für den Kinder-
an dem man keine Lust mehr hat, so fremd- wunsch, muss Angst haben, dass ich durch Die Schwangerschaft
bestimmt zu sein? An dem man sein Schick- die vielen Hormonbehandlungen womög- Katja K. geht ihren Kinderwunsch so an
wie ihre Karriere: Sie investiert Zeit, Ener-
gie und Geld, weil sie aus beruflicher Er-
fahrung weiß, dass sich ihre Beharrlichkeit
auszahlt. Als Außenstehende denkt man
lange, dieses Mal wird sie wohl scheitern.
Weil Kinderkriegen doch Schicksal ist.
Aber das stimmt heutzutage wohl nicht
mehr.
Am 25. Februar 2018, einen Monat nach
dem ersten Treffen mit dem SPIEGEL, ver-
fasst Katja K. einen Beitrag im Forum.
Überschrieben ist er mit »Fata Morgana?«.
Sie schreibt: »Wie sehr muss man sich
ein Kind wünschen, dass man einen ne-
gativen Test als positiv auslegt?« Dazu
schickt sie ein Bild eines Schwangerschafts-
tests, sie glaubt, »den Hauch einer zweiten
Linie zu erahnen«. Am Dienstag, den
27. Februar, schreibt sie: »Baby … Du hast
mir ein Zeichen gesendet. Ich freue mich
unendlich und liebe Dich jetzt schon
sooo sehr. So lange schon sehne ich Dich
herbei. Bitte, bitte, bitte bleib dieses Mal
für immer bei mir.« Dazu ein weiteres Bild
eines Tests. Darauf ist die zweite Linie
deutlich zu erkennen, die zeigt, dass das
3-D-Ultraschall: »Kinderkriegen und Partnerschaft entkoppeln« Schwangerschaftshormon im Urin nach-
weisbar ist.
Sollte es dieses Mal wirklich klappen?
sal akzeptiert, anstatt einem Traum nach- lich Krebs bekomme und weiß nicht mal, Katja K. nimmt Medikamente, die die
zulaufen, der womöglich nie in Erfüllung ob es jemals klappt.« Ihre Stimme ist jetzt Frühschwangerschaft unterstützen sollen.
geht? »Er wird in Erfüllung gehen«, ant- zum ersten Mal leiser, brüchiger. »Das ist Sie macht einen Bluttest und diverse
wortet Katja K. mit festem Blick. Man müs- schon eine ziemliche Belastung und fühlt Ultraschalluntersuchungen, um herauszu-
se wissen, wann Schluss ist, klar, aber damit sich manchmal so sinnlos an.« finden, ob ihr Baby gesund ist. Die Ergeb-
meint sie nur die künstliche Befruchtung Hilfe und Trost findet sie im Internet, nisse sind unverdächtig. Auf die Frucht-
mit ihren frisch entnommenen Eizellen. im SFMK-Internetforum. Da gibt es wasserpunktion verzichtet sie, um dem
Im Kopf ist sie bereits weiter. Wenn es Frauen Anfang vierzig, die kurz vor den Ungeborenen nicht zu schaden.
beim nächsten Mal nicht klappt, so der Wechseljahren stehen und unbedingt »Es sieht so aus, als würde ich das Baby
Plan, versucht sie es mit ihren 70 einge- noch ein Kind wollen. Es gibt die Hebam- wirklich bekommen«, sagt Katja K. in
frorenen Eizellen, die ihr entnommen wur- me Mitte zwanzig, die einfach nicht mehr einem Telefongespräch. Nur verhaltene
den, als sie 39 und 40 Jahre alt war – und warten will, bis sie zufällig einen Mann Freude ist dabei aus ihrer Stimme zu
die, so hofft sie, fruchtbarer sind. Und so- kennenlernt. Und da ist die dreifache hören. Sie fürchtet jeden Termin beim
gar eine Eizellspende zieht sie in Betracht. Mutter Anfang dreißig, die Kinder liebt Gynäkologen, hat Angst, ihr Baby wieder
Der Samen von einem fremden Mann, die und deshalb gerade zum vierten Mal zu verlieren.
Eizelle von einer fremden Frau, ausgetra- schwanger ist. Es sind »intelligente« Frau- Das nächste Treffen Ende Juni findet
gen in ihrem Bauch. In Deutschland ist das en, viele Ärztinnen, Lehrerinnen, Heb- am Frankfurter Hauptbahnhof statt, mor-
verboten, sie müsste nach Großbritannien ammen, Erzieherinnen, »und so hübsch«, gens um sieben bei Coffee Fellows. Es war
oder in die USA zur Behandlung. K. will erzählt Katja K. der einzige freie Termin in ihrem Kalender.
es »zu 90 Prozent« tun, sagt sie, befürchtet Die meisten Frauen bleiben im Forum Heute ist genau Halbzeit, die 20. Schwan-
jedoch, dass ihr Kind ihr später vorwerfen aktiv, nachdem die Kinder geboren sind. gerschaftswoche ist geschafft. Am Vortag

29
Deutschland

will sie mit ihrer Tochter nach Asien.


Kein Mensch, auch nicht die Nachbarn,
fragte nach dem Vater ihrer Tochter,
erzählt sie. Nur eine Verkäuferin habe
beim Kinderwagenkauf immerzu von
»ihr« und »eurem Kind« gesprochen. Kat-
ja K. sagte daraufhin schnell, sie bekom-
me das Kind allein. Die Frau habe nicht
nachgefragt.
Als Mutter beschäftigt sie eine ganz an-
dere Sache: Das Stillen klappt nicht. Wo-
chenlang hat sie es versucht, eine Stillbe-
raterin kommen lassen, alles war verge-
bens. Und jetzt werde sie ständig gefragt,
ob sie ihre Tochter stille. Von Freunden,
Kollegen, sogar von einer ehemaligen Af-
färe. Sie fühlt sich verurteilt, als tue sie
nicht das Beste für ihr Kind.
Gleich nach der Geburt hat sie ihre
Tochter bei 34 Kindertageseinrichtungen
angemeldet, es gab nur eine einzige posi-
tive Rückmeldung, ab September 2019,
wenn ihre Tochter zwölf Monate alt ist.
Dann will Katja K. gleich wieder voll in
Baby, Mutter K.: Nach all den Jahren konnte sie ihr Glück noch nicht fassen die Arbeit einsteigen. Mit ihrem Chef hat
sie verabredet, dass sie nur in Ausnahme-
fällen auf Dienstreisen geht und öfter von
ist sie erst um 22 Uhr aus London zurück- die Kinderwunschbehandlung sei sie nur zu Hause arbeitet. Außerdem soll ein
gekommen, um 7.58 Uhr nimmt sie die noch Niederlagen gewohnt gewesen. Au-pair bei ihr einziehen und sie unter-
S-Bahn zu ihrem Büro. Vor Kurzem wurde stützen, damit sie nicht an die strengen
sie befördert, in ihrem Bereich gibt es in Die Geburt Kita-Öffnungszeiten gebunden ist.
ganz Europa nur sehr wenige Frauen auf Knapp sechs Wochen vor dem errech- Eigentlich wäre sie lieber schon nach
dieser Führungsebene. Viel weniger zu neten Geburtstermin, Ende September sechs Monaten wieder arbeiten gegan-
arbeiten, nur weil sie jetzt schwanger ist, 2018, kommt ihre Tochter auf die Welt, gen. Es belastet sie, dass es jetzt länger
geht nicht. Ist das nicht fahrlässig nach all gesund und ohne größere Komplika- dauert. Wieso? Ist ihr größter Wunsch
den Strapazen? »Es macht keinen großen tionen. Sie trägt einen dänischen Namen, denn nicht endlich in Erfüllung ge -
Unterschied, ob ich zu Hause vor dem der an den Samenspender erinnern soll. gangen?
Fernseher oder im Büro am Computer sit- Als Geburtsbegleitung hat Katja K. »Ich liebe meine Tochter und verbringe
ze«, sagt Katja K. Gestresst sei sie nicht. eine Doula engagiert, eine Frau, die gern Zeit mit ihr, aber mir macht mein
Genießt sie die Schwangerschaft über- werdende Mütter im Kreißsaal betreut. Job großen Spaß.« Sie sei in der DDR
haupt? Ja, sagt sie, das sei eine »krasse Er- Ihre Mutter sei zu alt als Begleitung, fand groß geworden, auch ihre Eltern hätten
fahrung«, aber wichtiger als die Schwan- sie. Und Freunden wolle sie das nicht bald nach ihrer Geburt wieder gearbeitet.
gerschaft sei doch das Kind. zumuten. »Außerdem muss ich auch finanziell für
Selbst an den Wochenenden kauft sie nur Ihre Doula ist außerdem Fotografin, sie uns sorgen.«
wenig für ihr Baby ein. Sie bestellt einen hat während der Geburt Fotos gemacht. Da sind der Immobilienkredit, den sie
Kinderwagen, eine Babyschale und ein Ba- Und sie ist die Ehefrau ihres Chefs. Der abbezahlen muss, die hohen Kosten der
bybett, klärt mit den Geschäften aber ab, war dann auch der erste Besucher im Kran- privaten Krankenversicherung. Es gibt kei-
dass sie die Sachen erst nach der Geburt ab- kenhaus. Seltsam habe sie das nicht gefun- nen Partner, der dazuverdient oder Unter-
holt. Strampler und Windeln kauft sie nicht. den, sagt sie. Er unterstütze sie ja bei ihren halt zahlen könnte.
Aus Angst, dass es am Ende doch nicht gut Lebensentscheidungen. Die Wahrheit ist auch: Katja K. hat noch
ausgeht? »Kann sein«, sagt sie, aber sie sei Beim Treffen fünf Wochen nach der Ge- andere Pläne. Sie will unbedingt ein zwei-
am Wochenende auch einfach zu müde von burt erzählt Katja K. von der ersten Nacht tes Kind. 18 Straws des Samenspenders
der Arbeitswoche und der Schwangerschaft. mit ihrer Tochter. Damals habe sie gedacht: und 70 eingefrorene Eizellen lagern in der
Da erhole sie sich lieber. Im Mutterschutz Die sieht genauso aus wie ich in klein! Samenbank und im Kinderwunschzen-
vor der Geburt sei noch genug Zeit. Nach all den Jahren konnte sie ihr Glück trum. Neun bis zwölf Monate nach der Ge-
Man hätte sich eine Frau mit Torschluss- noch nicht fassen, dass da wirklich ihre burt könne es weitergehen, hat der Arzt
panik, die doch noch Mutter wird, anders eigene Tochter lag. gesagt. Die Behandlung wird wahrschein-
vorgestellt, euphorischer. Aber das sind Ihr Baby schläft an diesem Mittwoch- lich wieder teuer. Die Zeit rennt. Im Mai
wohl nur Klischees, denen Katja K. nicht nachmittag im November die meiste wird Katja K. 44 Jahre alt.
entspricht. Erst Monate später wird sie offen Zeit in seiner Trage oder auf Katja K.s Mail: laura.backes@spiegel.de
über ihre Gefühle sprechen. Natürlich habe Arm. Endlich, so scheint es, hat sie
sie Angst gehabt. Sie habe sogar das Paket ihre Angst abgelegt. Katja K. wirkt ent-
einer Verwandten, die ihr relativ früh in der spannt, zum ersten Mal seit langer Zeit Video
Drei Fragen zum
Schwangerschaft Babybekleidung geschenkt gibt es keinen engen Terminkalender. »Social Freezing«
hatte, zurückgeschickt. Den Anblick habe Die Elternzeit genießt sie. Sie schläft spiegel.de/sp182019single
sie nicht ertragen. »Das war Selbstschutz.« mehr als zuvor, verbringt zwei Wochen oder in der App DER SPIEGEL
Nach drei Jahren »Mörderbelastung« durch auf dem Land bei ihren Eltern, im Juni

30 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Jährlich gelangen rund 9 Mio.
Tonnen Plastikmüll ins Meer.

Die Lösung für saubere


Meere liegt an Land!
Warum? Plastik ist ein Wertstoff und soll auch so behandelt werden. Doch wie?
Nur wenn Plastik im Kreislauf gehalten wird, landet es nicht als Müll im Meer.

Die Lösung für das Plastik- Machen, was der Umwelt nutzt. Mikroplastik – die unsichtbare
problem existiert längst: Gefahr.
Sie heißt Recycling. Der Gelbe Sack ist eine ergiebige Quelle
für hochwertiges Altplastik. Für die Pro- Man hört es immer wieder, Mikroplastik
Wir finden es seit langem selbstver- dukte der Marke Frosch stellt das nach- wird im arktischen Eis, im Trinkwasser
ständlich, dass aus einer alten eine neue haltige Unternehmen Werner & Mertz der Städte und sogar im menschlichen
Wasserflasche wird und aus der Zeitung aus Mainz seit Jahren Flaschen aus Blut nachgewiesen. Doch woher kommt
von gestern die Zeitung von morgen. 100 % Altplastik mit her – und nutzt da- die unsichtbare Gefahr? Zum einen ent-
Ebenso müssen auch alte Plastikflaschen bei auch Material aus dem Gelben Sack. steht Mikroplastik durch die Zersetzung
immer wieder zu neuen werden. Plastik des Plastikmülls im Meer. Zum anderen
ist ein Wertstoff, der wie Glas, Metall Selbstverständlich? Keineswegs. Leider gibt es das Mikroplastik, das Hersteller
oder Papier im Kreislauf geführt werden folgen viele Verpackungshersteller die- als Peelingkörper in Kosmetik oder als
muss. Denn wo Wertstoffkreisläufe ge- sem Vorbild nicht so entschlossen, wie Trübungsmittel in z. B. Spülmitteln ein-
schlossen werden, entsteht kein Müll. die Umwelt es dringend braucht. Die Re- setzen. Doch das muss nicht sein: Frosch-
cyclat- Initiative, eine „open innovation“ Rezepturen sind frei von Mikroplastik.
von Werner & Mertz, beweist mit der
Marke Frosch, wie echte Öko-Effektivität
geht. Über 260 Millionen Verpackungen
aus Altplastik sind schon im Einsatz.
WAS KAN N ICH TUN?
den
Einwegplastik vermei
Plastik-verpackung
Gemüse und Obst ohne schon eine Schale
n
kauf en – Bananen habe
ik kauf en, di e frei
Putzmi tt el und Kosmet d deren Flaschen
un
von Mikroplast ik sind .
la st ik si nd
aus 10 0% Altp
tsorgen, nu r so können
Müll im mer sort iert en nktionieren.
Rundum in Kreisläufen denken und handeln – zum Gewässerschutz
fu und Meeresschutz! Be part of it! Zusammen, denn #wirbewegenmeer
di e Recycling-Syst eme
 www.initiative-frosch.de  facebook.com/initiative-frosch
Deutschland

lassen. Bürger schrieben Hassbriefe. Ein geln. Als Vorsitzender schaffte er es, über

Brandts Pflasterstein flog in den ersten Stock ihres


Hauses. »Das waren die Menschen, die
heute AfD wählen«, meint Fahrenkamp.
Gefühle Politik zu machen. Heute ver-
sucht die SPD, über Sachpolitik Gefühle
zu erzeugen. Das ist vielleicht eines ihrer

Schatten Für die SPD war sie die Heldin.


Brandts Leute warfen ihretwegen seine
Pläne um. Sie durfte mit ihm im Sonder-
Probleme. Für Fahrenkamp ist Brandt
auch ein Fluch. Seine Größe lässt die SPD
heute noch kleiner erscheinen, als sie ist.
Sozialdemokratie Vor bald zug von Koblenz nach Neuwied reisen. Mehr als die Hälfte der Mitglieder gingen
43 Jahren trat Karin Fahrenkamp Auf dem Abteiltisch Filterkaffee, eine Pa- seit 1976 verloren, das klingt schlimm,
ckung Marlboro, Streichhölzer. Brandt aber es sind noch rund 438 000, keine an-
in die SPD ein – und wurde als schenkte ihr sein Buch, wie mächtige dere Partei hat so viele.
millionstes Mitglied gefeiert. Heute Männer das eben so machen. »Mit einem Es sei ihr, so Fahrenkamp, etwas pein-
verzweifelt sie an ihrer Partei. herzlichen Willkommensgruß als millions- lich, das zu sagen: »Aber ich vergleiche
tes Mitglied der SPD«, schrieb er hinein. immer noch jeden mit Brandt. Und natür-
»Ich war verlegen, auch wenn ich natür- lich reicht niemand an ihn heran.« Hans-

D ie Erinnerungen hat Karin Fahren-


kamp in der obersten Schublade ih-
res Sekretärs verstaut. Die Zeitungs-
ausschnitte liegen da, die Briefe und na-
lich nicht in sein Beuteschema passte«,
sagt sie: »Er übrigens auch nicht in
meins.« Sie schmunzelt.
Brandt ist heute weit weg, aber die Krise
Jochen Vogel? »Keine Lichtgestalt.« Oskar
Lafontaine? »Hat mir gefallen. Aber da-
mals wusste man nicht, wie hinterfotzig
er sein kann.« Matthias Platzeck? »Den
türlich die Fotos: Willy Brandt mit ihr auf der SPD lässt sich durchaus an ihm spie- habe ich so hingenommen.« Gerhard
Zugfahrt. Willy Brandt bei ihr im Schröder mochte sie. »Aber als er
Ort. Willy Brandt am Mikro. Über- weg war, habe ich ihn nicht sehr
all Willy. vermisst.«
Fahrenkamp bewahrt die Unter- Fahrenkamp leidet an ihrer SPD.
lagen in Klarsichtfolien auf. Wenn »Ich möchte immerzu mit dem Fuß
die Kinder da sind oder ein paar aufstampfen und sagen: Mein Gott
gute Freunde, dann holt sie die An- noch mal, kriegt euch endlich sor-
denken schon mal hervor, aber sie tiert!« Sie vermisse die Klarheit.
tut es nicht gern. Die Bilder von »Die Haltung, die wir hatten, gibt es
damals machen sie nachdenklich. heute nicht mehr«, findet sie. »Die
»Heute gibt es so wenig Hoffnung SPD hat damals auch mal widerspro-
für die SPD«, sagt sie. chen, Kämpfe organisiert. Heute
Vor 43 Jahren war alles anders. sind wir so wischiwaschi.« Die SPD,
September 1976. Helmut Schmidt sagt Fahrenkamp, sei »wie Teig«:
war Kanzler, Brandt SPD-Vorsitzen- »Man hat ihn in der Hand. Und dann
der, fast jeder Zweite wählte die So- ist hier eine Rosine, dort eine Man-
zialdemokraten. Sicherer, moderner, del. Aber man weiß einfach nicht,
gerechter, dafür stand die Partei. was für ein Kuchen daraus wird.«
»Man wollte da unbedingt mitma- Im vergangenen Bundestags-
chen. Es hatte so eine Klarheit«, er- wahlkampf war Andrea Nahles in
innert sich Fahrenkamp. Mendig. Die Parteichefin kennt
Ihr Mann war Genosse, ihr Vater den Ort gut. Sie wurde hier gebo-
auch, Fahrenkamp trat ein. Norma- ren, wohnt heute nur wenige Kilo-
lerweise hätte das niemand mitbe- meter entfernt. »Eigentlich müsste
kommen, aber Fahrenkamp war das ich ja dafür sein, dass endlich eine
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

millionste SPD-Mitglied: Lokalrepor- Frau Chefin ist«, sagt Fahrenkamp.


ter kamen, Parteistrategen riefen an. »Aber ich weiß nicht, ob sie die Fä-
Fahrenkamp war ein Coup für die higkeiten zur Vorsitzenden hat. Sie
SPD: Mutter, katholisch, Buchhalte- sagt immer alles mit viel Verve und
rin in Mendig, einem Ort in der Eifel – viel Kraft, aber es kommt trotzdem
sie war das perfekte Beispiel dafür, nicht rüber. Bei Brandt hatten wir
wie tief die SPD in schwarze Regio- das Vertrauen: Der kriegt das hin.
nen vorgedrungen war. Genossin Fahrenkamp, mit Parteichef Brandt (l.) 1976 Das haben wir bei ihr nicht.«
Fahrenkamp wohnt bis heute in »Heute sind wir so wischiwaschi« Fahrenkamp traf Nahles am
Mendig. Ein Haus am Bahnüber- Rewe-Markt in Mendig. »Sie woll-
gang. Aus den Fenstern sieht man die te mit der Bevölkerung reden. Nur hat sich
Schienen. Wenn ein Zug vorbeirauscht, zit- die Bevölkerung nicht sehr für sie interes-
tert der Boden. »Ich wollte immer weg. siert«, erinnert sich Fahrenkamp. »Sie tat
Aber habe es nie ganz geschafft«, sagt sie. mir leid.«
SCHÖLLKOPF / JUNG / DER SPIEGEL

Die 78-Jährige sitzt am Wohnzimmer- Es ist spät geworden, die Sonne geht
tisch und blättert in ihren Erinnerungs- bald unter. Fahrenkamp sucht ihre Anden-
stücken. »Der Jubiläums-Genosse ist eine ken zusammen, steckt sie zurück in die
Frau und entstammt der Zielgruppe der Klarsichtfolien. Wird sie aus der Partei aus-
buntschillernden Frauenkampagne der treten? »Das kommt für mich nicht infra-
Union«, jubelte die Parteizeitung »Vor- ge«, betont sie. »In der SPD bleibe ich auf
wärts« nach ihrem Eintritt. Es gab auch ewig.« Veit Medick
andere Reaktionen. Ihr Chef wollte sie ent-

32 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Deutschland

Gefährliche Nähe
#MeToo Nach Vorwürfen wegen sexueller Übergriffe gegen Münchner Musikprofessoren
melden sich auch in Düsseldorf und Hamburg mutmaßlich Betroffene.

GESCHE JÄGER / DER SPIEGEL


Hamburger Musikhochschule: Tradierte Machtstrukturen

D
as Hinterzimmer des Musikstu- einigen Wochen in einem Café in der Ham- hochschule ging (Nr. 20/2018). Der ehe-
dios. Ein Sofa. Unvermittelt hatte burger HafenCity. malige Präsident Siegfried Mauser war we-
der Professor die Tür abgesperrt. Die #MeToo-Debatte habe ihr Mut ge- gen sexueller Nötigung verurteilt worden,
Die junge Frau ist wie erstarrt, macht, über den Vorfall an der Hochschule ein Kollege ist angeklagt wegen des Vor-
als er sie auszieht, küsst und ihre Hand in für Musik und Theater Hamburg zu spre- wurfs mehrfacher Vergewaltigung und des
seinen Schritt führt. chen, sagt die 48-Jährige, vor allem darü- Besitzes von Betäubungsmitteln.
Es geschah vor fast 25 Jahren, für sie ber, wie lange das Erlebte in ihr nachwirkt. Als »Sodom und Gomorrha« hatte ei-
aber ist es so, als wäre es gestern gewesen. Es habe ihr Leben verändert, ihr Selbst- ner von Mausers Verteidigern die Zustän-
Sie kann nicht sagen, warum sie ihre bewusstsein, ihren Beruf. Kuroe trat als de an der renommierten Einrichtung be-
Hand zurückzieht und dann doch tut, was Solistin mit Orchestern auf, sie hat Preise schrieben, doch außergewöhnlich war die-
er will. Als sie später der Polizei davon be- gewonnen, sie ist hoch talentiert, doch heu- ses Klima offenbar nicht.
richtet, habe sie Lähmungserscheinungen te arbeitet sie vor allem als Klavierlehrerin Frühere Angehörige aus verschiedenen
in ihrer Hand gespürt, sagt sie. in Hamburg. Sie sei zufrieden, sagt sie. Hochschulen berichten inzwischen von
Dann der Moment, als er versucht habe, Dennoch nagt ein Gedanke an ihr: Wie ähnlichen Erfahrungen, die sie in den ver-
einzudringen, vergebens, sein enttäuschter wäre ihre Karriere wohl verlaufen ohne gangenen Jahrzehnten offenbar machen
Ausruf, »du hast ja tatsächlich keine Lust«, diese Tat? Würde sie in großen Konzert- mussten. Erst jetzt trauen sie sich, darüber
dann sein Ansinnen, sich oral an ihr zu be- häusern auftreten, wie heute ihr damaliger zu sprechen. Andere haben Drangsalierun-
friedigen, gegen 0.30 Uhr der Abschied, Professor? Würde sie ein Musikerleben gen erst jüngst erlebt.
er müsse zu seiner Frau. ohne Angst führen? Künstlerische Hochschulen scheinen an-
So hat es die Pianistin Shoko Kuroe spä- Die Pianistin hat den SPIEGEL auf einen fällig für Übergriffe sexueller Art zu sein.
ter der Polizei erzählt, so hat sie es ihrem Artikel hin kontaktiert, in dem es um se- Das liegt in der Natur des Unterrichts, bei
Therapeuten erzählt, so erzählt sie es vor xuelle Übergriffe an der Münchner Musik- dem oft ein Lehrer und ein Schüler unter

34
sich sind und in dem der körperliche Kon-
takt dazugehört. Das liegt an der beson-
deren Rolle des Professors, der für seine
Schüler auch Mentor und Vorbild ist. Das
liegt auch an tradierten Machtstrukturen
und einem konservativen Rollenverständ-
nis. Freia Hoffmann, Bremer Professorin
für Musikpädagogik, die bereits 2006 das
Buch »Panische Gefühle. Sexuelle Über-
griffe im Instrumentalunterricht« veröf-
fentlicht hat, sieht »systemische Ursachen
an den Musikhochschulen, die sexuelle
und emotionale Übergriffe begünstigen«.
Ein Faktor könne auch die ausländische
Herkunft von Studierenden sein, sagt die

GESCHE JÄGER / DER SPIEGEL


Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia
Burgsmüller, die Opfer sexualisierter Ge-
walt vertritt. Oft hänge deren Aufenthalts-
recht vom Wohlwollen des Dozenten ab.
»Das bietet diesen Lehrern uneinge-
schränkte Möglichkeiten zum Machtmiss-
brauch.« Pianistin Kuroe: »Ich dachte, vielleicht hat er ja recht«
Shoko Kuroe, die mit zehn Jahren we-
gen des Jobs ihres Vaters aus Japan nach
Deutschland gekommen ist, sagt, zu ihrer mals galt ein anderes Sexualstrafrecht, die seine Meisterklasse aufzunehmen und ihr
Zeit an der Musikhochschule sei es das Be- Hürden für eine Anklage können heute den Abschluss zu ermöglichen.
streben der asiatischen Studenten gewe- niedriger sein. Schon das erste Bewerbungsgespräch
sen, so zu werden wie die europäischen. Kuroe sagt, noch immer spüre sie eine verlief seltsam, berichtete sie 2016 in einer
Vermutlich deshalb habe sie ein Argument Beklemmung, wenn sie bestimmte Musik- vertraulichen Anhörung im Wissenschafts-
des Professors getroffen, mit dem er sie sequenzen höre, die sie mit dem Professor ministerium Nordrhein-Westfalens. Statt
zum Sex zu überreden versuchte: Sie dürfe in Verbindung bringe. »In einem solchen sich für ihre Arbeiten zu interessieren,
nicht so schüchtern sein, wenn sie eine er- Moment können Sie auf der Bühne kein habe der Professor sie zum Essen eingela-
folgreiche Musikerin sein wolle. Sie müsse Klavier spielen.« Die Pianistin tritt kaum den, sie über ihr Privatleben ausgefragt
mehr aus sich herausgehen. »Ich dachte: noch öffentlich auf. Bei Bewerbungen und kurz danach ihre Telefonnummer er-
Vielleicht hat er ja recht.« überlegt sie, wie sie die Lücken in ihrem beten.
Irgendwann habe sie die Tat nicht mehr Lebenslauf erklären soll. »Kann ich sagen: Zu ihrer Überraschung ernannte er die
verdrängen können, sagt Kuroe. Die ge- Ich musste leider eine Weile aussetzen, neu aufgenommene Studentin kurze Zeit
sundheitlichen Probleme seien zu groß ge- weil ich vergewaltigt wurde?« später zur Tutorin, sie sollte andere Stu-
worden. Sie wandte sich an eine Professo- Der Professor schreibt in einer E-Mail, dierende betreuen. Von nun an müsse sie
rin der Hochschule, doch die habe abge- er erinnere sich nicht an den angeblichen ihn duzen und ihm außerhalb des Unter-
wiegelt: Der Professor sei eben eine starke Vorfall. Die Hamburger Staatsanwalt- richts für Treffen in Cafés und Restaurants
Persönlichkeit, deshalb sei er ein so guter schaft betonte, an der Glaubwürdigkeit zur Verfügung stehen, soll er ihr erklärt
Musiker. Später rief sie bei der Gleich- der Betroffenen bestehe kein Zweifel. haben. Die verunsicherte Studentin willig-
stellungsbeauftragten der Hochschule an, Es gibt einen Fall, der dem aus Ham- te ein, sie wollte nichts falsch machen und
allerdings ohne Namen zu nennen. Die burg ähnelt. Die Betroffene, sie will ano- ihren Abschluss nicht gefährden.
Hochschule teilt mit, die Professorin habe nym bleiben, ist eine asiatische Studentin, Um die Arbeit an der Akademie sei es
deshalb nichts unternehmen können. Der und der von ihr Beschuldigte arbeitet bei diesen Treffen nur am Rande gegangen,
Vorfall sei der Hochschulleitung daher unbehelligt weiter . Auch hier reagierte erzählt die Frau. Dafür umso häufiger um
nicht bekannt geworden. die Hochschule, die Kunstakademie Düs- Sex. Der Professor habe von seinem Lie-
Erst 15 Jahre nach der Tat konnte sich seldorf, auf die eklatanten Vorwürfe offen- besleben und seinen abenteuerlichen
Kuroe überwinden, den Professor bei kundig lange nicht. sexuellen Erfahrungen im Ausland erzählt.
der Polizei anzuzeigen. Die Hamburger Die koreanische Frau befand sich 2010 Als sie reserviert geantwortet habe, habe
Staatsanwaltschaft aber stellte das Ver- in einer schwierigen Lage. Ihre Aufent- er ihr vorgehalten, sexuell verkrampft zu
fahren bald wieder ein. Der Professor ist, haltserlaubnis drohte nach vier Jahren sein. Deshalb sei sie auch künstlerisch
juristisch gesehen, unschuldig und er- Kunststudium auszulaufen. Um eine Ver- nicht frei, daran müsse sie arbeiten.
scheint in diesem Artikel nicht mit seinem längerung zu bekommen, war sie auf einen Die Arbeiten seiner Studenten habe der
Namen. raschen Hochschulabschluss angewiesen. Professor ausschließlich in Einzelterminen
Die Betroffene habe kaum Gegenwehr Weil ihr damaliger Professor erkrankte, besprochen, ab und zu habe er zu Klas-
geleistet und einen günstigen Zeitpunkt bot sich sein Kollege an, die junge Frau in sentreffen geladen, bei denen Alkohol in
auch nicht zur Flucht genutzt, schrieb Strömen geflossen sei, so bestätigen es
2009 die Staatsanwaltschaft. Der Tat- auch andere Absolventinnen der Akade-
bestand der sexuellen Nötigung sei nicht mie. Er habe so offenbar eine enthemmte,
erfüllt. »Wie hätte ich bei abgeschlossener Er habe so eine ent- sexuell aufgeladene Stimmung erzeugen
Türe fliehen sollen?«, fragt sich die Pianis- hemmte, sexuell wollen, sagen zwei von ihnen. Manche der
tin. »Es lag auch nicht in meiner Natur, Treffen seien in ein »wildes Rumgeknut-
mich schreiend oder mit Schlägen gegen
aufgeladene Stimmung sche« ausgeartet, berichten Zeuginnen.
einen solchen Übergriff zu wehren.« Da- erzeugen wollen. Der Professor habe seine Tutorin aufge-

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 35


fordert, große Mengen Schnaps zu trinken, pen umzuwandeln und die Unterrichtsräu-
SAMSTAG, 27. 4., 21.45 – 22.00 UHR | ARTE obwohl sie normalerweise kaum Alkohol me mit Glas einsehbar zu machen.
zu sich nehme. Zum ersten Mal habe sie Der Präsident der Hochschule, Bernd
Humboldt und die einen »Filmriss« gehabt, so die Studentin. Redmann, teilt nicht alle Vorschläge. Er
Neuentdeckung der Natur Der Düsseldorfer Professor habe sie setzt auf Gespräche zum Thema Körper-
Wie kein anderer Wissenschaftler aufgefordert, nach Berlin zu kommen, sei- kontakt im Unterricht, auf die Möglichkeit,
hat Alexander von Humboldt unser nem Wohnort, erzählt die Studentin. Er einfacher den Lehrer wechseln zu können,
Verständnis von der Natur als ein habe versprochen, sie mit Künstlern und und hat ein Verbot des Unterrichts in Pri-
großes Ganzes geprägt. Anlässlich Galeristen zusammenzubringen. Einge- vaträumen erlassen. Vor allem aber baut
seines 250. Geburtstags nimmt die halten habe er von diesen Versprechen er auf eine neue »Feedbackkultur«. Den
Dokumentation die Zuschauer mit nichts. Studierenden solle es leichter gemacht wer-
auf eine atemberaubende Reise in Stattdessen habe er sie zum Sex ge- den, ihre Erfahrung notfalls anonym der
die Zeit des deutschen Entdeckers. drängt. Obwohl sie mehrfach »Nein« ge- Hochschulleitung mitzuteilen.
sagt und auch geweint habe, sei es einige Auch Freia Hoffmann, die Wissenschaft-
Male zum Geschlechtsverkehr gekommen. lerin und Buchautorin, plädiert für weiter-
SONNTAG, 28. 4., 12.00 – 15.45 UHR | ZDF INFO Das Weinen nerve ihn, habe er sie ange- gehende Maßnahmen. Für sie seien sie erst
schrien. Und er habe von ihr verlangt, sich dann glaubhaft, »wenn die Achtung der
Countdown zum Zweiten sexuell offener zu verhalten. Seine Erwar- psychischen und physischen Integrität der
Weltkrieg tungen seien »reden, trinken, vögeln«. Studierenden in den Arbeitsverträgen ver-
Fünfteilige Doku-Reihe über die letz- Wenn sie diese Rolle nicht annehme, kön- einbart wird.« Sie schlägt die gemeinsame
ten 24 Monate vor dem Überfall der ne sie ihren Abschluss vergessen. Erarbeitung von Richtlinien im Kollegium
Wehrmacht auf Polen am 1. Septem- Nach ihrer Prüfung hat sich die junge vor und mehr Informationen auf den In-
ber 1939. Im Mittelpunkt stehen die Frau entschlossen, das Rektorat der Aka- ternetseiten der Hochschulen. Am Ende
Bemühungen des britischen Premier- demie zu informieren, sie sei dort aber mit gehe es um mehr »zwischenmenschliche
ministers Neville Chamberlain, Hitler Floskeln abgespeist worden. Erst als sie Sensibilität«.
von seinen Kriegsplänen abzubringen. sich Ende 2015 an das Ministerium wandte, Genau diese Sensibilität hätten sich drei
kam Bewegung in den Fall. Der Professor ehemalige Musikstudierende der Robert
wurde angehört und die Düsseldorfer Schumann Hochschule Düsseldorf erhofft.
SPIEGEL GESCHICHTE Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Sie möchten anonym bleiben.
SONNTAG, 28. 4., 18.25 – 19.15 UHR | SKY Das Ermittlungsverfahren verlief aber, In ihrem Studium seien Dozenten über-
ähnlich wie im Hamburger Fall, im Sande. griffig geworden, nicht auf brutale Art, son-
Trumps Amerika – Mehr Es sei nicht möglich, den Beschuldigten dern eher beiläufig. Eine Studentin berich-
Wohlstand für Amerika? »bedenkenfrei zu überführen«, beschied tet von anzüglichen Bemerkungen eines
Donald Trump versprach viel: die Justizbehörde im Juni 2017 und stellte Professors im Unterricht. »Hat einer dei-
Amerika stolz zu machen, Amerika das Verfahren ein. Der Beschuldigte be- ner Nippel auch eine andere Größe als der
reich zu machen, Amerika sicher streite, dass es zwischen ihm und der Stu- andere?« Oder: »Wie sieht deine Vagina
zu machen. Was wurde daraus? Der dentin »zu nicht einvernehmlichen sexu- aus?« Er habe ihr an den Po gefasst, habe
ehemalige britische Politiker Ed ellen Handlungen gekommen ist«. ihre Kleidung und Frisur kritisiert. Der
Balls hat sich auf die Suche gemacht. Der Professor lehrt noch immer an der Professor weist über seinen Anwalt »die
Kunstakademie Düsseldorf. Fragen des behaupteten Grenzüberschreitungen als
SPIEGEL beantwortete er nicht. diffamierend und befremdlich« zurück.
SPIEGEL TV Die damalige Studentin aus Korea hat Ein anderer Dozent, erzählen die drei,
MONTAG, 29. 4., 23.25 – 0.00 UHR | RTL mit dem Kunstbetrieb gebrochen, trotz be- habe eine Studentin unvermittelt geküsst
standener Prüfung und Auszeichnung als und einer anderen an die Brust gefasst. Er
Zwangsräumung statt Enteignung – Meisterschülerin. In einer anderen Stadt, habe Studentinnen bei einer Tanzübung
Warum Mieter den Kampf gegen weit weg von Düsseldorf, versucht sie, eine aufgefordert, ihre Oberteile auszuziehen.
einen Immobilienspekulanten Ausbildung zu machen. Die Frauen im BH habe er auf Video auf-
immer wieder verlieren; Wenn die Langsam begreifen die Verantwortlichen genommen.
Stadt zu teuer wird – Der ganz an den künstlerischen Hochschulen, dass Raimund Wippermann ist entsetzt, als
normale Pendlerwahnsinn; Ende des die sexuellen Übergriffe auch auf struktu- er von den Vorwürfen erfährt. Er ist seit
»Islamischen Staates« – Wie sich relle Probleme hinweisen. In München 2004 Rektor der Hochschule, zweimal
die Kurden um IS-Terroristen und wurde nach dem Skandal auf Wunsch der habe es Vorwürfe wegen sexueller Über-
ihre Kinder kümmern. Musikhochschule eine dreiköpfige Kom- griffe gegeben, ein Fall sei disziplinarisch
mission unter dem Vorsitz der ehemaligen geahndet worden. In Kürze werde die
Präsidentin des Bayerischen Verfassungs- Hochschule eine Richtlinie zum Umgang
SPIEGEL TV REPORTAGE gerichtshofes eingesetzt, um die Vorfälle mit sexueller Belästigung verabschieden.
DIENSTAG, 30. 4., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 aufzuarbeiten. Die Experten sparen in ih- Die drei ehemaligen Studierenden sagen,
rem Bericht nicht mit Kritik. Viel zu lange sie sähen keinen Sinn darin, mit dem Rek-
Notruf Frankfurt – sei strafbewehrtes Verhalten unwiderspro- tor zu reden. Sie hätten das Gespräch mit
Rettungssanitäter am Limit chen geblieben. Die Hochschule müsse anderen Dozenten gesucht. Am Ende hät-
Sie arbeiten auf der Überholspur. deutlich machen, dass das Aufdecken von ten sie das Gefühl gehabt, mit ihrem An-
Christoph Grüne und Fraz Ahmad Sexualdelikten und sexuellen Belästigun- liegen nicht ernst genommen zu werden.
sind Sanitäter in Frankfurt. Es gibt gen kein Verrat sei, sondern »ein Akt der
Tage, an denen sie zwischen Bahn- Befreiung«. Zugleich lobt die Kommission Matthias Bartsch, Martin Knobbe,
unfall, Drogenüberdosis und Messer- »zunehmend mutigere und entschiedenere Jan-Philipp Möller
stecherei nur wenige Augenblicke Maßnahmen«. Sie regt an zu prüfen, Teile Mail: matthias.bartsch@spiegel.de
zum Verschnaufen haben. des Einzelunterrichts in Stunden für Grup-

36 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Deutschland

»Hohe Symbolkraft«
platz ist ein großes Gelände, wir werden
es uns weiter genau ansehen und die Men-
schen dort befragen. Die Arbeit ist noch
nicht beendet.
SPIEGEL: Wonach wollen Sie suchen?
Verbrechen Im Fall Lügde kritisiert Nordrhein-Westfalens Innenminister
Reul: Ich will, dass alles Menschenmög-
Herbert Reul, 66 (CDU), Versäumnisse der Polizei liche getan wird. Es ist nicht ausgeschlos-
und kündigt weitere Untersuchungen auf dem Campingplatz an. sen, dass es da noch einen Fall gibt, ein
Opfer, das sich noch nicht gemeldet hat.
Oder dass der Verdächtige
SPIEGEL: Herr Reul, schützt der Staat sei- dem Beschuldigten be- andere Verstecke hatte.
ne Kinder gut genug? standen. Aber ich habe SPIEGEL: Aufgrund der
Reul: Nein. Es macht mich wahnsinnig, mir abgewöhnt zu sagen: neuesten Funde haben Sie
dass wir als Gesellschaft das Thema Miss- Ich weiß alles zu 100 Pro- Kontrolleure aus dem Mi-
brauch über Jahrzehnte nicht ernst genug zent. nisterium zu den Bielefel-

FEDERICO GAMBARINI / DPA


genommen haben. Auch die Polizei muss SPIEGEL: Als kürzlich die der Ermittlern geschickt.
etwas verändern. Deshalb ist es mir so Behausung von Andreas V. Trauen Sie Ihren Polizis-
wichtig, dass alles, was im Fall Lügde abgerissen wurde, tauch- ten nicht mehr?
schiefgelaufen ist, aufgeklärt wird. ten erneut CDs und VHS- Reul: Das sind keine Kon-
SPIEGEL: Auf einem Campingplatz sollen Kassetten auf, die die Poli- trolleure. Es geht um Un-
der Hauptbeschuldigte Andreas V. und ein zei übersehen hatte. Wie terstützung für die Ermitt-
Komplize mindestens 40 Kinder miss- kann das sein? Politiker Reul ler. Sie kommen bei der
braucht und dabei gefilmt haben. Warum Reul: Die Datenträger be- »Vertrauen zurückgewinnen« Dimension dieses Falls
hat die Polizei nicht gehandelt, als es schon fanden sich an Stellen, wo personell an ihre Grenzen.
vor Jahren Hinweise gab? sie von den Polizisten nicht gesehen und SPIEGEL: Die Opposition im Landtag for-
Reul: Die Beamten hätten die Hinweise vom Spürhund nicht erschnuppert wur- dert Ihren Rücktritt. Haben Sie selbst
an die Staatsanwaltschaft weiterleiten müs- den. Die VHS-Kassetten tauchten plötz- schon darüber nachgedacht?
sen, ein klarer Fehler, der auch Konsequen- lich auf einem Abrisscontainer auf. Reul: Keine Sekunde.
zen hatte. Gegen die Polizisten wird ermit- SPIEGEL: Sie haben versprochen: »Wir SPIEGEL: Haben Sie keine Fehler ge-
telt. Ich bin relativ sicher, dass sie nicht werden auf dem Campingplatz jeden Stein macht?
aus böser Absicht gehandelt haben, denn umdrehen.« Das ist nicht passiert. Reul: Ich kann das nicht ausschließen.
sonst hätten sie die Vorgänge nicht auf- Reul: Die Polizei Bielefeld hat alles getan, SPIEGEL: Hätten Sie der Polizei in Lippe
genommen und abgeheftet. was ihr möglich war. Staatsanwaltschaft etwa den Fall früher wegnehmen müssen?
SPIEGEL: Wie kann man so etwas einfach und Polizei haben dann den Tatort frei- Reul: Das war zum damaligen Zeitpunkt
weglegen? gegeben, damit konnte die Behausung ab- richtig. Aber ich habe darüber nachge-
Reul: Es gab Behördenversagen. Ich frage gerissen werden. dacht. Aus Lippe hieß es, man habe alles
mich auch, wie das Jugendamt in diese ver- SPIEGEL: War das nicht zu früh? im Griff. Selbst die Staatsanwaltschaft sah
müllte Bude auf dem Campingplatz ein Reul: Im Nachhinein ist man immer schlau- das so. Mit dem Wissen von heute würde
Pflegekind geben konnte. er. Da hätte ich mit dem Abriss gewartet man den Fall schneller übergeben.
SPIEGEL: Bei der Polizei Lippe, die zu- und die Arbeiten gern von der Polizei be- SPIEGEL: Warum sollen sich Missbrauchs-
nächst ermittelte, sind 155 CDs und DVDs gleiten lassen. opfer nach all den Versäumnissen noch
verschwunden, die bei Andreas V. gefun- SPIEGEL: Die Firma entdeckte auch einen vertrauensvoll an die Polizei wenden?
den worden waren. Wollten Beamte belas- Schuppen von Andreas V., den die Polizei Reul: Weil die Polizei, auch wenn Fehler
tendes Material aus dem Weg räumen? vorher nie durchsucht hatte. passieren, als Institution verlässlich bleibt.
Reul: Es gibt bislang keine Indizien, dass Reul: Das hat mich geärgert, der hätte den Klar ist aber auch, dass wir Vertrauen zu-
Verbindungen zwischen der Polizei und Beamten auffallen müssen. Der Camping- rückgewinnen müssen. Dafür brauchen
wir einen offenen Umgang mit dem, was
schiefläuft. Es gibt bei der Polizei Nach-
holbedarf in Sachen Fehlerkultur. Und
ich möchte, dass wir das Thema Kinder-
pornografie und Missbrauch in den Griff
bekommen. Der Fall muss Folgen haben:
für Personalausstattung, Technik, Fort-
bildung. Es ist die größte Aufgabe meiner
Amtszeit.
SPIEGEL: Im Juni soll der Prozess begin-
nen, was erwarten Sie?
Reul: Juristisch kann ich das nicht sagen,
das muss das Gericht entscheiden. Aber
ich hoffe, dass die Täter angemessen be-
straft werden, weil es eine hohe Symbol-
GUIDO KIRCHNER / DPA

kraft hat. Es ist wichtig, dass das Signal ge-


geben wird: So etwas lassen wir nicht zu.
Interview: Lukas Eberle,
Annette Großbongardt
Mail: lukas.eberle@spiegel.de
Polizisten am Tatort in Lügde am 28. Februar: »Die Arbeit ist noch nicht beendet«

37
Gesellschaft
»Ich habe immer gesagt: Nach dem ersten Seitensprung fängt eine Beziehung erst an.« ‣ S. 40

Früher war alles schlechter


Nº 173: Bekämpfte Innovationen

6 2

5 3

Für das Neue leben. Die schöne amerikanische Podcast-Serie Kopfhörern in der Öffentlichkeit. Die Empörung half nichts;
»Pessimists Archive« beschäftigt sich mit Innovationen der Ver- in den Achtzigerjahren liefen viele Millionen Menschen mit
gangenheit, die bei ihrer Einführung auf breite Ablehnung, ja dem Walkman herum. Der Walkman selbst mag mittlerweile
auf Panik stießen – darunter der Regenschirm, das Fahrrad, die beinahe ausgestorben sein, aber das Prinzip, eine Audioquelle
U-Bahn, Elektrizität und Impfungen. Ein eindrückliches Beispiel und Kopfhörer mit sich zu tragen, ist nie mehr verschwunden,
ist der Walkman, das tragbare Kassettengerät, von Sony 1979 es wurde bloß digitalisiert. Heute stecken kleine kabellose
auf den Markt gebracht und heute fast vergessen. Als das Gerät Bluetooth-Knöpfe in vielen Gehörgängen, die vielleicht bald
sich zu verbreiten begann, löste es einen Kulturkampf aus. schon alle Sprachen der Welt simultan übersetzen, eine schöne
Damals fürchteten amerikanische Zeitungen, der Apparat werde Hoffnung. Wem solche Entwicklungen ungeheuer sind, halte
»die Kunst der Konversation töten«, werde zur Vereinzelung sich an einen Rat von Theodor Fontane, der schon im 19. Jahr-
führen, sei ein Sicherheitsrisiko auf den Straßen, weil die, die ihn hundert schrieb: »Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat,
tragen, nahende Autos nicht hören. Die Stadt Woodbridge in sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich
New Jersey erließ 1982 gar ein Verbot gegen das Tragen von leben.« guido.mingels@spiegel.de

Bildung dem sollten mehr Menschen Zugang zur Aber natürlich behandeln wir auch
Warum gibt es heute Bildung finden. Darum geht es bis heute.
SPIEGEL: Mittwochs bieten Sie »Leben-
Themen, die Menschen mehr betreffen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
noch Volkshochschulen, diges Mittelalter – Die Frankfurter Alt- Krutsch: Wir haben 17 Fremdsprachen
Frau Krutsch? stadt im Mittelalter« an. Wer kommt da?
Krutsch: Die Wissenschaftsstadt Darm-
im Angebot, Finnisch etwa. Wir nennen
solche Kurse unsere kleinen Orchideen,
Dr. Monika Krutsch, 45, ist Diplom-Pädago- stadt hat ein breit aufgestelltes Bildungs- weil es in Hessen kaum noch Sprach-
gin und Leiterin der Volkshochschule (VHS) bürgertum, es gibt hier viele Akademiker. angebote gibt. Zudem bieten wir Inte-
Darmstadt. Die erwarten anspruchsvolle Vorträge. grationskurse an. Volkshochschulen
sind ein Ort der Integration geworden.
SPIEGEL: Frau Krutsch, die VHS Darm- SPIEGEL: Wen erreichen Sie heute?
stadt feiert in diesem Jahr 100-jähriges Be- Krutsch: Knapp 80 Prozent der Teil-
A. & E. FRANKL / ULLSTEIN BILD

stehen, 1919 wurden so viele Volkshoch- nehmenden sind Frauen, die meisten
schulen gegründet wie in keinem anderen über 50 Jahre alt. Junge Menschen
Jahr. Wieso? kommen seltener zu uns: Sie stecken
Krutsch: In jenem Jahr wurde das Recht selbst noch in Lernprozessen, in der
auf Volksbildung in die Weimarer Verfas- Familiengründung oder sind berufs-
sung aufgenommen. In der jungen Demo- tätig. Wenn die Kinder aus dem Haus
kratie sollten Bürger mündig und aufge- gehen, sagen dann manche: Das kann
klärt sein, um an ihr teilzunehmen. Zu- Kochkurs an der VHS Meiningen 1927 ja nicht alles gewesen sein. RED

38 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Der Psychologe schrieb von »erheblichen Verleugnungs- und
Ein Strafbefehl und seine Geschichte
Bagatellisierungstendenzen«. Durchgefallen.
W. sagt: »Das Wort ›Lappalie‹ habe ich meines Erachtens

2,19 Promille nicht gesagt. Wenn ich es benutzt hätte, wäre es Aufgabe des
Gutachters gewesen nachzufragen, ob ich die Straftat wirklich
für eine Nichtigkeit halte.«
11. Dezember 2018, die dritte MPU. Im Gutachten ist ver-
Wie ein Mann seit drei Jahren versucht, seinen merkt, W. könne »über einen erheblichen Zeitraum hinweg«
Führerschein zurückzubekommen dokumentieren, dass er nicht mehr trinke. W. gab an, er sei
ein »sozialer Trinker« gewesen, der zwei oder drei Gläser
Wein zum Essen getrunken habe; nicht täglich, vielleicht drei-

R udolf W., wohnhaft in einer hessischen Kleinstadt, hat


seinen Führerschein 1966 gemacht. 50 Jahre lang ist
er unfallfrei gefahren – bis zum 6. Februar 2016.
An jenem Tag stieß er mit seinem Wagen um 13.20 Uhr ge-
mal in der Woche. Der Gutachter berechnete, dass W. in der
Nacht vor dem Unfall 3,5 Promille gehabt haben muss. Er
meint, W.s persönliche Einschätzung stehe in »deutlichem
Widerspruch« zu den vorliegenden Befunden. Durchgefallen.
gen ein parkendes Auto. Dessen Besitzer rief die Polizei. Ein Zu Hause sitzt W. und versteht nicht, wie ihm geschieht.
Arzt nahm W. um 15.04 Uhr Blut ab, es wies eine Alkohol- »Die leiten aus dem Unfall eine Trinkergeschichte ab. In deren
konzentration von 2,19 Promille auf, so steht es in dem Straf- Logik habe ich jahrelang auf das Ereignis hingesoffen, um
befehl, den W. gut zwei Monate später erhielt. Er musste 2200 die Mengen überhaupt zu vertragen. Das ist Quatsch.«
Euro zahlen und den Führerschein abgeben: »Vor Ablauf von 13. Februar 2019, die vierte MPU. Bei dem Test, das ist im
10 Monat(en) darf keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden.« Gutachten zu lesen, sagte W., er sei »offensichtlich« abhängig
Drei Jahre später sitzt W. in seinem Wohnzimmer und sagt: gewesen. Aber nicht süchtig wie ein Junkie, der nachts auf-
»Mit diesem Urteil fühlte ich mich angemessen bestraft.« Er wache, weil er einen Schuss brauche.
ging damals davon aus, dass er den Führerschein nach Ablauf Heute sagt er: »Aus Verzweiflung habe ich gesagt, ich hätte
der Frist zurückbekäme. Rudolf W. ist 71 Jahre alt und hat als stark getrunken. Ich dachte, die wollen das hören. Dann ver-
Entwicklungshelfer gearbeitet. Be- stehen die, dass ich ein Problem er-
vor er das andere Auto gerammt kannt und bewältigt habe.«
habe, sagt er, sei er nachts bis »circa Die Gutachterin notierte: »Es ist
drei Uhr« bei Bekannten zu einer noch zu erwarten, dass Herr W. er-
Rumprobe gewesen. Und ja, er habe neut ein Fahrzeug unter Alkoholein-
»unangemessen« getrunken. fluss führen wird.« Wieder durchge-

MAIK GROSSEKATHÖFER / DER SPIEGEL


Vor ihm liegen zwei Ordner, da- fallen.
rin abgeheftet kardiologische und In seinem Fall, so sieht Rudolf W.
hausärztliche Atteste, die ihm Fahr- das, werde ein »einmaliges Fehlver-
tüchtigkeit bestätigen. Außerdem halten mit dem Vergrößerungsglas«
forensisch-toxikologische Befunde, betrachtet. Man würdige nicht, dass
die belegen, dass er seit zwei Jah- er sich im Straßenverkehr nie zuvor
ren keinen Alkohol getrunken hat. etwas habe zuschulden kommen
Den Führerschein hat W. trotzdem lassen.
nicht zurückbekommen. Knapp W. in seinem Wohnzimmer Ein Mensch, der keinen Alkohol
10 000 Euro hat er unter anderem gewohnt ist, verliert spätestens bei
an Gebühren und für Bescheinigun- zwei Promille die Kontrolle und die
gen gezahlt, damit er wieder ans Orientierung, bei mehr als drei Pro-
Steuer darf. mille drohen Lähmungen, Koma,
Im Mai 2016 teilte ihm die Ver- Tod. Jeder zweite Autofahrer, den die
kehrs- und Fahrerlaubnisbehörde Polizei mit mehr als 1,6 Promille er-
mit, er müsse sich einer medizinisch- wischt, fällt später erneut alkoholi-
psychologischen Untersuchung un- Strafbefehl vom 15. April 2016 siert im Straßenverkehr auf. In Infor-
terziehen. W. musste zum Idioten- mationen der Bundesanstalt für Stra-
test, wie die MPU umgangssprachlich heißt. Er sollte nach- ßenwesen zur MPU steht: Um den Test bestehen zu können,
weisen, dass er geeignet ist, ein Auto zu fahren. müsse man bei einer »fortgeschrittenen Alkoholproblematik«,
Zur Vorbereitung buchte W. zwölf Sitzungen bei einer Ver- die noch keine Sucht ist, bis zu zwölf Monate abstinent leben.
kehrspsychologin. Die bestätigte ihm am Ende, dass er sich Ist alles »Gutdünken«, wie W. vermutet? Er plädiert dafür,
ausreichend mit seinem Verhalten auseinandergesetzt habe, dass zwei Gutachter eine MPU durchführen, um nicht einem
um »in Zukunft sich und andere nicht mehr zu gefährden«. allein ausgeliefert zu sein. Ist das nötig?
Die MPU fand am 15. März 2017 statt. Im schriftlichen Der Leiter des Medizinisch-Psychologischen Instituts vom
Gutachten heißt es, körperliche Anzeichen für eine Alkohol- TÜV-Nord in Hamburg sagt, der Proband müsse nachvoll-
sucht oder Folgen eines Langzeitkonsums seien bei W. »nicht ziehbar schildern, wie sein Alkoholproblem entstanden sei.
nachweisbar« gewesen. Wann er zuletzt Alkohol getrunken Die Geschichte vom einmaligen Ausrutscher sei bei solchen
habe, wollte der Psychologe wissen. »September 2016.« Ent- Alkoholwerten nicht glaubwürdig. Der Proband müsse re-
zugserscheinungen? »Nein.« Der Gutachter entschied, dass flektieren, warum er sich entschieden habe, sein Verhalten
W. ein »kontrollierter Alkoholkonsum mit überwiegender zu ändern. Ein »Mea culpa«, weil man den Führerschein zu-
Wahrscheinlichkeit nicht möglich« sei. Durchgefallen. rückhaben wolle, reiche nicht.
26. September 2017, die zweite MPU. Laut Protokoll sagte Eine letzte MPU möchte W. noch machen. Klappt es erneut
W., es sei »großer Scheiß« gewesen, dass er betrunken gefah- nicht, will er sich dafür einsetzen, dass der öffentliche Nah-
ren sei, er bezeichnete das Delikt aber auch als »Lappalie«. verkehr in seiner Stadt gefördert wird. Maik Großekathöfer

39
Gesellschaft

»Man wird nicht weiser,


man wird nicht gescheiter,
man wird älter. Aus.«
SPIEGEL-Gespräch Mario Adorf ist seit Jahrzehnten einer der beliebtesten
Schauspieler Deutschlands. In diesem Jahr wird er 89. Er spricht über
sein Handwerk, über die Herausforderung des Alters und über die Liebe.

M
ario Adorf erscheint im Berli- Adorf: Es kommt jetzt immer häufiger vor, SPIEGEL: Es gibt einen neuen Film über
ner Bristol-Hotel in einem dun- dass die anderen mich behandeln wie ei- Sie, eine Biografie. Finden Sie das ange-
kelblauen Sakko, in dunkel- nen alten Mann. Das stört mich schon ein messen?
blauer Hose. Seine Haut ist bisschen. Dass ich eine Stufe nicht sähe Adorf: Ich wäre nie auf die Idee gekom-
leicht gebräunt. Er ist aufgeräumter Stim- und die mir irgendwie helfen wollen. men, einen solchen Film zu machen. Man
mung. Vor Kurzem ist ein Buch über sein SPIEGEL: Was ist Ihr gefühltes Alter? hat mich gefragt.
Leben erschienen (»Zugabe!«), zudem hat- Adorf: Ich würde das jetzt nicht festlegen SPIEGEL: Gibt es Dinge, die im Alter ver-
te ein neuer Dokumentarfilm über ihn Pre- wollen, ob ich mich wie 50 fühle oder wie blassen? Namen, Gesichter, Textzeilen?
miere, mit dem lakonisch-entspannten 60. Ich bin identisch mit mir selber. Man Adorf: Mein Langzeitgedächtnis ist relativ
Titel »Es hätte schlimmer kommen kön- wird alt, aber man merkt es selber nicht. unbeschädigt. Ich mache meine Erinnerun-
nen« (Kinostart: 7. November). SPIEGEL: Haben Sie sich das Alter so vor- gen an meiner Arbeit fest, an meinen Fil-
Adorf ist seit 33 Jahren in zweiter Ehe gestellt? men. 53, 58, 69, 85, ich weiß immer genau,
mit Monique verheiratet, einer Französin. Adorf: Ein bisschen erstaunt bin ich schon, was ich in den Jahren gedreht habe.
Er hat drei Wohnsitze, einen in München, wie es sich anfühlt. Als ich jung war, da SPIEGEL: Sie haben beschrieben, dass Ihre
einen in Paris, einen in Saint-Tropez. Gebo- wollte ich das Jahr 2000 erreichen. Ich bin Mutter gearbeitet hat, während Sie oben
ren wurde er in Zürich, als uneheliches Kind 1930 geboren und dachte, wenn du 70 in der Mansarde auf sie gewartet haben.
einer elsässischen Röntgenassistentin und wirst, das ist schon was. Und dann sind es Adorf: Ich war ja die ersten Jahre mit ihr
eines italienischen Arztes, aufgewachsen ist 80 Jahre geworden und jetzt noch mehr. in einem Zimmer zusammen, wo sie
er in Mayen in der Eifel. Weil seine Mutter SPIEGEL: Gehen Sie noch zu Fuß zum Ein- nachts nähte und wo ich auf der gemein-
als Näherin arbeitete, lebte er mehrere Jahre kaufen? samen Couch schlief; es gab kein Bett.
lang in einem katholischen Waisenhaus. Er Adorf: Ja. Ich nehme dazu diesen Wagen SPIEGEL: Kann man sich mit 88 noch an
spielte am Theater, hat mehr als 200 Film- mit Tasche, da habe ich überhaupt kein seine Kindheit erinnern?
und Fernsehrollen übernommen, die be- Problem. Die Leute wundern sich dann. Adorf: Je weiter sie zurückliegt, desto ge-
kanntesten sind der Vater Matzerath in der SPIEGEL: Schwimmen Sie noch? nauer bleiben die Erinnerungen da. Gera-
»Blechtrommel«, der »große Bellheim« und Adorf: So oft ich kann. Vor allem im Meer. de aus der Kindheit sind das ganz kleine
der Klebstofffabrikant Haffenloher in »Kir Es wird aber weniger. Früher bin ich eine Dinge, die mich beeindruckt haben. Ich
Royal« (»Ich scheiß dich so was von zu mit Stunde geschwommen. Dann eine halbe. weiß ganz genau, was meine erste Erinne-
meinem Geld«). In dem Gespräch soll es da- Dann noch 20 Minuten. Jetzt ist es noch rung ist und was meine zweite.
rum gehen, was bleibt. Im Mai geht Adorf eine Viertelstunde. SPIEGEL: Welches ist die erste?
noch einmal auf Tour, das Programm heißt SPIEGEL: Wird der Körper weniger? Adorf: Ich sitze auf dem Topf, auf dem
»Zugabe« und ist eine Art Abschiedstournee. Adorf: Die Muskelkraft schwindet. Aber Nachttopf, und beobachte die Leute um
die Muskeln sind komischerweise noch da. mich herum. Eine andere Erinnerung: als
SPIEGEL: Herr Adorf, wie sind Sie heute Ich habe nicht das Gefühl, dass meine ich vom Tod Hindenburgs erfuhr. Da wur-
Morgen aufgewacht – mit Vorfreude auf Oberschenkel weniger geworden sind. Die den die Naziflaggen auf Halbmast gesetzt,
den Tag? sind immer noch muskulös, aber sie leisten das hat mich gewundert.
Adorf: Na ja, ich würde sagen, wie immer. nicht mehr dasselbe wie früher. SPIEGEL: Da waren Sie knapp vier.
Ich jubele nicht und sage: Ah, Gott sei Dank, SPIEGEL: Werden die Mitmenschen einem Adorf: Ich glaube, es war im August. Da
ich lebe noch. Ich gehöre nicht zu diesen mit zunehmendem Alter lästig? habe ich gefragt, was ist da los? Warum
Seniorenjublern. Das finde ich meistens Adorf: Also lästig werden mir die Leute sind die Flaggen auf Halbmast? Oder mein
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

lächerlich, aufgesetzt und falsch. Ich stehe nicht. Ich nehme auch das Autogramme- erster Theaterauftritt, wo ich den siebten
auf, ohne ein wirklicher Muffel zu sein. schreiben als schöne Pflicht auf mich. Es gibt Zwerg spielte. Ich trug eine rote Zipfelmüt-
SPIEGEL: Fühlen Sie sich alt? Dinge, die ich immer so gehalten habe: höf- ze und einen aus Verbandswatte geklebten
lich zu sein etwa gegenüber den Menschen, Bart. Ich sollte eigentlich nur dasitzen und
Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos die einen mögen, die ins Kino gehen oder mit einer Kette spielen. Auf einmal kam
und Barbara Hardinghaus. ins Theater und dafür Geld bezahlen. mir dieser Bart in den Mund. Und in die

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 41


Gesellschaft

Nase. Ich habe geweint, weil ich militonin, die dort eine große Rolle
glaubte zu ersticken. spielte. Die verehrte ich. Das war
SPIEGEL: Als die Synagogen brann- der Grund, warum ich mich in die-
ten, waren Sie acht. se Truppe eingeschlichen hatte. Ich
Adorf: Die Synagoge brannte am hatte Bühnenbilder entworfen, Pla-
Abend und in der Nacht. Ich war kate gemalt und sogar die Schau-
damals im Waisenhaus. Ich stand spieler geschminkt.
im Schlafsaal, am Fenster, wir Kin- SPIEGEL: Eine Mischung also aus
der hätten diesen Brand natürlich Alternativlosigkeit und Zufall?
gern gesehen. Wir waren neugierig. Adorf: In der Aufnahmeprüfung
Am nächsten Morgen gingen die zur Schauspielschule wurde natür-
anderen alle zur Schule. Die Saal- lich auch gefragt: Warum wollen

ALLPIX PRESS
schwester, die mich sehr mochte, Sie Schauspieler werden? Ich habe
kam zu mir, legte mir die Hand auf der Kommission gesagt, ich möchte
die Stirn und sagte: Du gehst mir gern möglichst schnell Geld verdie-
heute nicht in die Schule, du hast nen. Ich hatte ja vorher malocht,
Fieber. Dann habe ich mit der am Bau und in den Bimsgruben im
Schwester beobachtet, wie unten, Rheinland. Ich dachte, das könnte
aus dem Gefängnis gegenüber, die noch ein bisschen einfacher gehen.
meist alten Leute auf Lastwagen SPIEGEL: Sie haben viele Rollen ge-
geladen wurden. Die Schwester spielt, die jeder kennt. Auf welche
zog ein Taschentuch aus dem Är- schauspielerische Leistung sind Sie
mel und weinte. Ich habe gefragt: am meisten stolz?
Was sind das für Leute? Sie sagte, Adorf: Stolz? Habe ich nie empfun-
das sind Juden. Und ich fragte: Was den. Es gibt ein paar Rollen, da sage
haben die denn verbrochen? Dass ich: Die sind gelungen. Für mich ist
sie Juden sind, sagte sie. Am Mittag die Schauspielerei erst mal eine lust-
kamen meine Kameraden aus der volle Beschäftigung. Aber sie ist auch

DDP IMAGES
Schule zurück. Sie riefen: Guck Arbeit. Das ist mein Handwerk. Ich
mal hier, wir haben Kamellen und habe nichts anderes gelernt.
Schokolade aus den Judengeschäf- SPIEGEL: Ist das Altern am Ende
ten. Wenn ich in die Schule gegan- auch nur eine Rolle, die man dis-
gen wäre, wäre ich mitgegangen zipliniert und technisch sauber spie-
und hätte das Gleiche gemacht. len muss?
SPIEGEL: Ihren Vater kannten Sie Adorf: Ich denke nicht: Jetzt bist
bis dahin nicht. Hatten Sie Sehn- du alt. Oder jetzt müsstest du diese
sucht nach ihm? oder jene Erfahrung haben. Ich
Adorf: Überhaupt nicht. Er war ab- werde oft gefragt: Sind Sie weise
wesend, es gab ihn nicht. Die meis- geworden? Dann sage ich, ich weiß
ten Väter waren ja weg. Ich hatte gar nicht, was das ist, weise. Man
nicht das Gefühl, dass ich der Ein- wird nicht weiser, man wird nicht
zige ohne Vater war. Ich habe ihn gescheiter, man wird älter. Aus.
dann ja später getroffen, als ich SPIEGEL: Haben Sie jemals im Le-
nach Italien fuhr, weil ich Geld ben um etwas kämpfen müssen?
brauchte. Ich war eingeladen, am Adorf: Das Wort kämpfen habe
Studententheater in Zürich mitzu- ich immer vermieden. Es gibt An-
ARD

spielen, und wollte dort weiterstu- strengungen, die ich unternom-


dieren. Dazu musste ich einen Darsteller Adorf in Paraderollen* men habe. Aber ich musste nie
Scheck vorweisen, um mich imma- Das Überflüssige einfach weglassen kämpfen. Ich bin auch im Sport
trikulieren zu können. Die Schwes- nie einer gewesen, der gesagt hat:
ter meiner Mutter riet mir: Geh schneller, höher, weiter. Diesen
doch mal zu deinem Vater. Der hat doch SPIEGEL: Wieso sind Sie Schauspieler ge- Ehrgeiz hatte ich nicht. Gute Arbeit ma-
bisher nie etwas bezahlt. worden? chen, das wollte ich.
SPIEGEL: Wie lang war die Begegnung? Adorf: Weil ich nichts anderes werden SPIEGEL: Haben Sie ein Ritual, bevor Sie
Adorf: Zehn Minuten. Es lag auch daran, konnte. Man hatte damals nach dem Krieg auf die Bühne gehen?
dass ich damals nicht Italienisch sprach, nur keine Wahl. Ich hätte gern Medizin stu- Adorf: Es gibt natürlich im Schauspieler-
ein paar Brocken. Und er kein Deutsch. diert. Aber es war völlig illusorisch, es gab leben Regeln, an die man sich hält. Man
SPIEGEL: Sie sprachen nur über Geld? den Numerus clausus; also konnte ich ei- nimmt den Hut ab, wenn man über die
Adorf: Meine Tante hatte mir einen Brief gentlich nur Schauspieler werden. Bühne geht. Man pfeift nicht in der Gar-
geschrieben, an ihn gerichtet, in dem sie SPIEGEL: Ein paar andere Berufe hätte es derobe. Es gibt viele Regeln in dem Beruf,
meine Situation erklärte. Er las den und ja schon noch gegeben. die manchmal unsinnig scheinen. Aber
sagte auf Italienisch: »È Lei?« – »Sind Sie Adorf: Um ehrlich zu sein: Der Anlass, wa- man befolgt sie. Weil sie wie ein Korsett
das?« Dann stand er auf, ging raus, zehn rum ich mich überhaupt für die Uni-Stu- sind, eine Hilfe.
Minuten später kam er mit einem Zettel dentenbühne interessierte, war eine Kom- SPIEGEL: Ihr Programm heißt »Zugabe«.
zurück, mit der Adresse seines Schwagers, Worum geht es?
einem Anwalt. Der mache das Geschäft- * In »Die Blechtrommel« (1979), »Der große Bellheim« Adorf: Es ist im Grunde das, was ich immer
liche. Arrivederci! Ich war entlassen. (1993), »Kir Royal« (1986). gemacht habe. Im Musikbereich würde

42 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


man sagen: Best of. Es ist eine Ver- Adorf: Ich war im Grunde immer
beugung vor dem Publikum, dem ein folgsamer Schauspieler. Wenn
letzten, das ich live erlebe. der Regisseur sagt, ich will es zwan-
SPIEGEL: Sie haben gerade den zigmal, dann habe ich es zwanzig-
Fernsehfilm »Alte Bande« gedreht. mal gemacht.
Entdecken Sie beim Spielen noch SPIEGEL: Kann man mit 88 noch
etwas Neues? verliebt sein?
Adorf: Eigentlich nicht. Es ist ein Adorf: Ich glaube, dass das Ver-
bisschen der naive Versuch, eine liebtsein eine sehr jugendliche An-
Altersaktivität zu zelebrieren. Ich gelegenheit ist. Sie verliert sich.
spiele jemanden, der so tut, als SPIEGEL: Wann ungefähr?
könnte er noch boxen. Ich weiß Adorf: Sehr schnell.
auch nicht, wie das ankommen SPIEGEL: Um 50 herum?

HGM-PRESS
wird. Adorf: Viel früher. Verliebtheit gibt
SPIEGEL: Geht es in der Schauspie- es nur in der Jugend. Ein paar
lerei nicht genau darum: jemanden Rückfälle, ja sicher.
zu spielen, der man nicht ist? SPIEGEL: Wie nennen Sie Liebe im
Adorf: Auf jeden Fall. Ich habe nie Alter? Bewunderung? Kontinuität?
mich selber spielen wollen. Es gibt Adorf: Vertrauen. Verlässlichkeit.
ja Leute, die nur sich selber spie- Zuneigung. Zu-Neigung: dass
len können. Manfred Krug hat man jemandem zugeneigt ist.
mir das mal gestanden. Bei mir Und bleibt. Was also heißt, dass
war es immer so, dass ich Rollen man sich nicht entfernt von je-
spielte, um mich von mir zu ent- mandem. Das Gefühl der Zusam-
fernen. Das heißt auch: Ich habe mengehörigkeit. Das Ende des

UNITED ARCHIVES / SZ PHOTO


mich bereichern wollen an den Zwist-Daseins. Des Widerstands.
Rollen. An anderen Persönlich- Wenn man nicht mehr gegen-
keiten. Das ist das Lohnende für einandersteht, sondern merkt,
einen Schauspieler. wie man nebeneinandersteht.
SPIEGEL: Heißt Spielen im Alter: Und Zärtlichkeit. Die muss nicht
Reduktion? abnehmen, vielleicht sogar zu-
Adorf: Oft sagt man: Der große nehmen.
Schauspieler, der macht gar nichts. SPIEGEL: Sie haben Ihre Freundin
Was heißt das? Er macht nicht gar Monique erst nach fast 18 gemein-
nichts, sondern er lässt einfach das samen Jahren geheiratet.
Überflüssige weg. Adorf: Das fand ich auch ganz gut.
SPIEGEL: Die Begründung, mit der Es war unsere Jugend, in der wir
man Sie auf der Schauspielschule noch ausprobierten. Beide.
aufnahm, 1953, lautete: Sie hätten SPIEGEL: Haben Sie gewartet, bis
»Kraft und Naivität«. Fühlen Sie die Verliebtheit weg und die Liebe
GÜNTHER LUDWIG / ACTION PRESS

sich gerecht beurteilt? da ist?


Adorf: Damals schon. Ich bin beim Adorf: Die Verliebtheit war sicher
Vorspielen, kraftvoll, in den Zu- nach ein paar Jahren nicht mehr
schauerraum gestürzt, weil die da. Aber das Gefühl, der Glaube,
Bühne so klein war. Und dass ich dass man zusammengehört – dass
so naiv sein konnte, eine für mich es die Richtige ist; dass man nicht
gar nicht geeignete Rolle zu wäh- mehr suchen muss –, das gibt’s
len – ich sehe es heute eher als iro- Adorf-Familienbilder* dann schon.
nische Bemerkung. »Vertrauen, Verlässlichkeit, Zuneigung« SPIEGEL: Wenn Sie eine Frau wä-
SPIEGEL: Sie sagen auch von sich: ren: Wären Sie gern mit sich selbst
Ich will gar nicht wissen, wie ich verheiratet?
funktioniere, wie ich gemacht bin. Ich bin’s denen man gesagt hat: Jetzt hau mal auf Adorf: Das weiß ich jetzt nicht. (Pause)
einfach. die Pauke. Was ich dann wieder abgelegt Meine Frau ist zufrieden, glaube ich.
Adorf: Ich wollte nie Routine. Der Schau- habe, weil es mir nicht gefiel. SPIEGEL: Macht eine Affäre glücklich?
spieler Rudolf Platte hat mir mal gesagt: SPIEGEL: Einmal haben Sie sich beim Dre- Oder eher traurig?
Bei 400 Vorstellungen fängt’s bei mir über- hen an ein fahrendes Auto geklammert. Adorf: Ich sage nicht, dass die Versuchun-
haupt erst an. Bei 400 Vorstellungen? Ich Dafür mussten Sie doch trainiert sein. gen nicht da waren. Aber dass man sich
langweile mich nach 20. Deswegen habe Adorf: Ich war in einer relativ guten phy- über die Ehe hinwegsetzt? Nein, da hat
ich ohne großes Bedauern mit dem Thea- sischen Kondition, durch verschiedene man schon eine gewisse Verantwortung.
terspielen aufgehört, vor 15 Jahren. Sportarten. Ich habe aber immer gewusst, Auch vor sich selber.
SPIEGEL: Sie waren als junger Mann ein wo meine Grenzen lagen. SPIEGEL: Für Sie heißt Ehe eben: Ehe.
sehr körperlicher Schauspieler. War das SPIEGEL: Ab dem wievielten Take einer Adorf: Ich nehme sie zumindest ernst. Die
auch Kraftmeierei? Szene werden Sie ungehalten? jungen Paare lassen sich heute sehr oft sehr
Adorf: Ich war ja nie ein Schwarzenegger, schnell scheiden. Ich habe immer gesagt:
ich war kein Muskelmann. Aber ich habe * Mit Mutter Alice 1933; erste Ehefrau Lis Verhoeven,
Nach dem ersten Seitensprung fängt eine
die Körperlichkeit schon bedient. Doch Tochter Stella Adorf um 1970; mit Partnerin Monique Beziehung erst an, und man sollte denken:
kraftmeierisch? Es gab ein paar Rollen, bei 1985. Vielleicht habe ich was falsch gemacht.

43
Gesellschaft

SPIEGEL: Gibt es, aus Ihrer Zeit habe ich diesen letzten Aufent-
vor der Ehe, Verführungstricks, halt als besonders empfunden,
die immer funktioniert haben? weil ich alles vormals Erlebte viel
Adorf: Eher nicht. Es passiert bewusster genossen habe.
halt. Was selten war übrigens. SPIEGEL: Wie viel Ihrer Zeit ist
SPIEGEL: Empfinden Sie es als Rückschau?
Erleichterung, dass es mit dem Adorf: Ich hatte immer was
Sex im Alter irgendwann weni- dagegen, zurückzuschauen und
ger wird? nachzudenken und mich zu er-
Adorf: Das ist nun mal so. Ich bin innern. Ich wollte keine alten Fil-
keiner, der sagt, das darf doch me von mir sehen. Ich war nie
nicht wahr sein, und dann zu Via- zurückgewandt. Immer nach
gra greift. Es wird weniger und vorn; weiter. Gut, das Nachvorn-
weniger und hört auf. Das verur- schauen ist jetzt auf eine sehr
sacht bei mir keine Depressionen. kurze Distanz beschränkt.
SPIEGEL: Sie sind mit Ihrer Frau SPIEGEL: Wie viel Zeit verbrin-
seit mehr als drei Jahrzehnten gen Sie damit, Pläne zu machen?
verheiratet. Wer hat im Alter Adorf: Das habe ich noch nie ge-
mehr von wem gelernt? macht. Es gibt Pianisten, die fünf
Adorf: Der gegenseitige Einfluss Jahre vorher wissen, dass sie am
ist gar nicht so groß. 5. April in Buenos Aires die »Ap-
SPIEGEL: Man altert eher allein? passionata« spielen – ich habe
Adorf: Man altert zusammen, nie geplant, auch früher nicht.
aber man kommuniziert nicht Ich habe immer gedacht, dass
laufend über das Alter. Ein biss- wir nicht so viel Einfluss haben
chen vielleicht, wenn meine auf unser Leben, wie wir den-
Frau sagt: Halt dich gerade! ken. Das Leben macht das

PETER RIGAUD / DER SPIEGEL


Aber dass man richtig eingreift schon. Mit uns, nicht umgekehrt.
in das Leben des anderen – nein. SPIEGEL: Gibt es nie Frust?
SPIEGEL: Sie haben ja ein paar Adorf: Was ich nicht mag, davon
Semester Philosophie studiert. habe ich sehr genaue Vorstellun-
Haben Sie herausgefunden, was gen. Aber dass es zum Frust, zur
das Leben von uns will? Belastung wird: nein.
Adorf: Wenn wir uns als Teil der Künstler Adorf nach dem Gespräch in Berlin: »Halt dich gerade!« SPIEGEL: Gibt es einen Ort, an
Schöpfung sehen – dann würde dem Sie beerdigt werden wol-
ich sagen, wir haben einen Schöp- len? Saint-Tropez? Italien?
fungsauftrag: Leben erhalten, Leben weiter- Adorf: Daran denke ich im Moment nicht. Adorf: Mir persönlich ist das egal. Meine
geben. Wenn wir uns aber als Mitglied einer SPIEGEL: Sie denken nicht an den Tod? Mutter wollte eine Seebestattung. Ich selber
Gemeinschaft sehen, dann verlangt das Le- Adorf: Ich denke an den Tod, natürlich. Er fand das immer eine ganz gute Option, ich
ben, das Leben miteinander, dass wir Regeln ist für mich unausweichlich. Aber für mich glaube an nichts nachher. In meiner Heimat-
einhalten. Und dann gibt’s ja noch die ande- ist der Tod eine Tatsache. Worüber man stadt bin ich Ehrenbürger, die würden mir
re Seite: Was wollen wir vom Leben? sich Gedanken macht, ist das Sterben. Wie sicher ein schönes Grab herrichten. In Saint-
SPIEGEL: Was macht Sie glücklich? sterbe ich? Tropez ist ein sehr schöner Friedhof am
Adorf: Was man als Glück bezeichnen SPIEGEL: Wie oft am Tag? Meer, aber der ist so besetzt, dass man da
könnte, wird im Alter weniger. Man ist Adorf: Manchmal oft, manchmal gar nicht. gar keinen Platz findet. Zuletzt wurde mir
dann mit »Glückchen«, also mit kleinen Ich denke an das Sterben meiner Mutter, angedeutet, dass München genau das Rich-
Glücksmomenten, zufrieden. das sehr schwer war. Da denke ich dann: tige für mich wäre – der Bogenhausener
SPIEGEL: Welche sind das? Hoffentlich passiert dir das nicht. Ein Le- Friedhof, wo viele meiner Kollegen liegen.
Adorf: Irgendjemand hat gesagt: guter ben im Rollstuhl, eine schwere Krankheit. SPIEGEL: Für Sie ist der Tod: Licht aus?
Schlaf und gute Verdauung. SPIEGEL: Und im Alltag? Es gibt Dinge, Adorf: Ende.
SPIEGEL: Wie ist das Verhältnis zu Ihrer die tun Sie zum letzten Mal. SPIEGEL: Haben Sie sich bis heute etwas
Tochter? Adorf: Ich habe mal einen kleinen Aufsatz Eifelbauernhaftes bewahrt?
Adorf: Sehr gut. Wir sehen uns oft. Ich geschrieben, »Das letzte Mal«. Das ist der Adorf: Früher, wahrscheinlich von meiner
habe einen Enkel. Anfang meines Programms »Zugabe«. Die- Mutter stammend, gab es den Grundsatz:
SPIEGEL: Sie waren viel unterwegs, auch ser Gedanke, vielleicht wirst du das nicht Auf dem Boden bleiben. Und sich nicht zu
als Sie schon eine Familie hatten. mehr erleben, kommt erst im Alter. Als ich wichtig nehmen. Wichtig schon, aber nicht
Adorf: Ich bin vielleicht auch kein guter vor einem Jahr in Capri war, da dachte ich: zu wichtig. Was meine Herkunft, mein Her-
Vater gewesen. Obwohl Stella das bestrei- Hier wirst du jetzt nicht wieder hinkom- kommen angeht, da spielt Süditalien gar
tet. Ich war ein abwesender Vater. men. Ich habe an ein Buch gedacht, das ich keine Rolle, obwohl ich versucht habe, Ita-
SPIEGEL: Würden Sie Ihr Leben als satt mal sehr mochte, von Italo Svevo: »Zenos liener zu werden. Ich habe 40 Jahre in Ita-
bezeichnen? Gewissen«. Dieser Zeno will sich auf An- lien gelebt. Aber das ist mir nie gelungen.
Adorf: Satt finde ich schrecklich. Ich möchte raten des Arztes das Rauchen abgewöhnen. Für mich ist es immer die Eifel geblieben.
nicht satt sein. Satt kommt ja vom Lateini- Da es ihm offenbar nicht gelingt, schreibt SPIEGEL: Was bleibt?
schen: satis, das heißt genügend. Satis, ja. er immer wieder in sein Tagebuch: »L.Z.«, Adorf: Staub.
Aber satt nicht. Satt ist mir zu vollgefressen. »Letzte Zigarette«. Und er sagt dann: Das SPIEGEL: Herr Adorf, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Geht man leichter, wenn das Gefühl, dass diese letzte Zigarette die letzte für dieses Gespräch.
Leben genügend war? ist, macht sie besonders intensiv. In Capri

44 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Offenbar hatte ich vergessen, wie zeitaufwendig es ist, mit
An der Resterampe dem Bus in die Innenstadt zu fahren, um etwas in einem
Laden zu kaufen. Ich brauchte einen halben freien Tag dafür.
Für alles, was ich besorgen wollte, musste ich zuvor eine
Homestory 100 Tage ohne Onlineshopping – Route planen, musste die Route dann ablaufen, um am Ende
ein Selbstversuch doch nicht alles zu bekommen. Ich sah ein T-Shirt, das mir
gefiel, in der Größe L. Ich brauchte M. Gab es im Laden
nicht. Nur online. Dort gibt es alle Größen, alle Farben, ver-
sandkostenfrei. Das Ladengeschäft erschien mir im Vergleich

M eine Freundin hatte mich im Dezember gefragt, ob


ich mitmachen würde: 100 Tage kein Onlineshop-
ping. Sie habe das nötig, sagte sie. Sie bestelle zu
viel, bestelle wahllos, bestelle einfach, um zu bestellen. Sie
zum Onlineshop wie eine Resterampe. Online gibt es dau-
ernd Aktionen und Rabatte. Da klingt ein Wort wie »Win-
terschlussverkauf« wie aus einer anderen Zeit.
Außerdem wurde das Einkaufen teurer. Meine Freundin
vertreibe sich die Zeit damit, Klamotten, Schuhe, alles Mög- suchte eine spezielle Jacke, im Laden kostete sie 30 Euro
liche ins Haus kommen zu lassen. Allein in Deutschland, las mehr als online. Sie suchte eine Spielfigur für ihr Kind, ging
ich später, werden jeden Tag elf Millionen Pakete verschickt. in den Spielzeugladen um die Ecke, zu Galeria Kaufhof, zu
Wie regelmäßig meine Freundin bestellt, habe ich neulich Karstadt, erst bei MyToys wurde sie fündig: 20 Euro, 4 Euro
begriffen, als der Paketbote sie vor unserem Haus, das drei mehr als im Netz.
Straßenzüge von ihrem entfernt liegt, mit ihrem Namen Gut, kann man jetzt sagen, dafür hat sie im Geschäft Bera-
ansprach. Er sagte, er brauche noch eine Unterschrift. Er tung, kann die Dinge anfassen, unterstützt die Geschäfte und
kannte sie: persönlich. belebt mit ihrem Besuch die Innenstadt. Allerdings erfordert
Sie und ich lachten darüber. Aber dann dachte ich über dieses Gutbürgertum Beweglichkeit, nicht jeder hat die Wahl.
ihren Vorschlag nach. Ich fand: Könnte mir auch nicht scha- Meine Freundin ist Altenpflegerin und alleinerziehend.
den. Ich selbst mäandere am Sieben Tage vor Ende des
Abend gern durch Shop- Experiments fing ich an,
ping-Apps, um abzuschal- Screenshots auf meinem
ten. Statt zu lesen, beispiels- Handy zu machen und sie in
weise, was natürlich besser den neuen Ordner »bestel-
wäre. len« zu legen, das T-Shirt
Trotzdem hatte ich mir zum Beispiel.
damals einen Tag Bedenk- Gestern, am Abend vor
zeit erbeten und auch nur dem letzten Tag, habe ich
mit einer Ausnahme zuge- meine Freundin angerufen,
sagt: meiner Supermarktbe- um sie nach ihrer Erfahrung
stellungen. Ich hatte damit zu fragen. Erst sei es leicht
angefangen, als ich noch in gewesen, sagte sie. Dann
der dritten Etage lebte und habe es genervt.
im achten Monat schwanger Auf »Mamikreisel«, einer
war. Später dann, als berufs- Seite für Secondhandklei-
tätige Mutter, habe ich mich dung, hat sie Pakete gepackt
so an den Service gewöhnt, und dann wieder gelöscht.
dass mir ein Besuch im Darüber kam eine Erkennt-
Supermarkt inzwischen vor- nis: Es geht ihr beim On-
kommt wie Einkaufen in lineshoppen gar nicht so
Zeitlupe. sehr ums Shoppen, sondern
Wir begannen die 100 Ta- mehr ums Stöbern. Sie sag-
ge am 1. Januar. Tag 1 war te: »Das ist auch eine Lange-
nach dem Aufstehen erst weile-Beschäftigung.« Ein
50 Minuten alt, als ich zum ersten Mal an eine Onlinebestel- Freizeitprogramm. Man lässt sich das Zeug kommen, probiert
lung dachte. Ich hielt beim Spülmaschinenausräumen eine Ku- es, ist kurz weg im Kopf. Und schickt es zurück, was meist
chenhaube aus Plastik in den Händen – mit einem Riss. Ich nichts kostet.
dachte: Oh, du musst eine bestellen. Ich dachte: Ach nee, musst Ich habe überlegt. Wenn ich etwas bestelle, behalte ich
du im Geschäft kaufen. Ich überlegte: Aber wo? Da wurde auch meist nur die Hälfte. Sollten das alle so machen, dann
mir klar, wie sehr ich mich vom Einzelhandel entfernt hatte. liefe im Land eine riesiger Apparat, angetrieben von heißer
Im Weiteren verlief es zunächst recht gut. In dem Buch, Luft. Jemand verpackt irgendwo Ware, ein Laster fährt los,
das ich angefangen hatte, kam ich schnell voran. Ich schaute der Bote bringt, der Bote holt, der Laster fährt zurück, je-
Filme auf Arte und 3sat, eine Dokumentation etwa über mand packt irgendwo aus.
Italiens Regierung. Es fühlte sich gut an, auch abends noch Heute ist der letzte Tag. Was es gebracht hat? Zum einen
eine interessierte Bürgerin zu sein, teilzunehmen am Welt- die Erkenntnis, dass analoges Einkaufen tatsächlich an-
geschehen. Alles war nur noch Nährwert – als hätte ich das strengend ist. Zum anderen den Gedanken, dass die Firmen
Weißbrot aus meinem Leben verbannt. Zu meiner Freundin sich das Frei-Haus-Entertainment von ihren Kunden be-
sagte ich: Ist ja ganz einfach! Sie sagte zu mir: Ist ja ganz ein- zahlen lassen sollten. Vielleicht ist es einfach keine gute
fach! Ich entdeckte einen schicken Buchladen. Ich entdeckte, Idee, dass alle jederzeit alles kostenlos zurückgeben kön-
dass Drogeriemärkte auch Badelatschen verkaufen. nen.
Das waren die ersten 30 Tage. Ab dann ging es bergab, Ich jedenfalls klicke morgen auf »Warenkorb« und »Kau-
was sich schon daran zeigte, dass mir die Zeit bis Mitte April, fen«, und in drei Tagen ist das T-Shirt da, in Größe M.
dem Ende unseres Experiments, plötzlich endlos erschien. Barbara Hardinghaus

Illustration: Thilo Rothacker für den SPIEGEL 45


Wirtschaft
Der Mensch ist letztlich Egoist, auch beim Essen. ‣ S. 48

JOCHEN TACK / IMAGO


Deutsche Bahn

Lkw statt Schiene


Klimaschutz-Beteuerungen zum Trotz betreibt die DB-Tochter Schenker Zehntausende Diesellastwagen.
 »Bahnfahren ist Klimaschutz«, behauptet die Bahn in ihren minal der Bahn zurücklegen. Das Unternehmen verweist
Broschüren. Doch wenn es um den Transport von Gütern dagegen auf sein Engagement im Klimaschutz. Im Güterver-
geht, lässt sie vor allem CO -schädliche Diesel-Lkw über die kehr würden überwiegend schadstoffarme Fahrzeuge einge-
²
Straßen rollen. Das geht aus einer Antwort des Bundes- setzt, die Emissionen seien seit 2006 um mehr als ein Viertel
verkehrsministeriums auf eine Anfrage der Grünen im Bun- zurückgegangen.
destag hervor. Danach sind für die Bahn-Tochter Schenker Derzeit wird in der Großen Koalition geprüft, ob Schenker
rund 34 600 Lkw in ganz Europa unterwegs. Über ihre Glei- verkauft werden sollte, um Finanzlücken bei der Bahn zu
se lässt sie dagegen lediglich knapp 2700 Loks fahren, die schließen. Die Grünenvorsitzende Annalena Baerbock for-
Güterwagen ziehen. Im Fernverkehr legen die Laster von DB dert die Regierung auf, bei der Bahn auf einen konsequenten
Schenker jährlich 784 Millionen Kilometer zurück. Hinzu Abbau des Lkw-Verkehrs zu drängen. »Dazu gehört der
kommen weitere 759 Millionen Kilometer, die die Lkw beim Schienenausbau genauso wie der Verkauf der Konzerntoch-
Transport von Waren zwischen Kunden und einem Frachtter- ter Schenker«, sagt die Parlamentarierin. GT

Affären UFO-Vorstandsmitglieder »auf ihre straf- auch ein amtierender Lufthansa-Aufsichts-


Neue Ermittlungen gegen rechtliche Relevanz« zu überprüfen. Ende
März hatte die UFO-Spitze mehrere Co-
rat, bestreiten die Vorwürfe. Die UFO
organisiert einen Großteil der 24 000
UFO-Funktionäre Vorstände bei der Staatsanwaltschaft Kabinenkräfte bei der Lufthansa. Auch die
Darmstadt wegen des Verdachts auf Staatsanwaltschaft Frankfurt ermittelt seit
 Bei der Kabinengewerkschaft UFO geht Betrug und Untreue angezeigt. Sie hätten Anfang Februar wegen des Verdachts der
der juristische Streit in eine neue Runde. sich gegenseitig neue Arbeitsverträge mit Untreue und Selbstbereicherung gegen
Die Staatsanwaltschaft Darmstadt hat ein attraktiven Zusatzleistungen wie Dienst- zwei UFO-Führungskräfte. Dabei geht es
Ermittlungsverfahren eingeleitet, um Vor- wagen und Bahnfahrten erster Klasse unter anderem um Tricksereien bei Reise-
würfe gegen vier aktive oder ehemalige zugeschanzt. Die Beschuldigten, darunter kosten und Bewirtungsspesen. DID

46 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Reisen SPIEGEL: Seit Januar gehört auch die Luft- sie auf der Rückreise sind, weil sie am
hansa zu Ihren Partnern. Warum bieten Freitag von zu Hause arbeiten. Wer sei-
»Ein Snack, ein Airlines nicht selbst Studententickets an? nen Freund im Auslandssemester besucht,
Tomatensaft, das war’s« Höhne: Es wäre zu aufwendig. Ihr Ge- kann ja wann anders fliegen.
schäft ist der Transport, nicht der Vertrieb. SPIEGEL: Machen die Fluggesellschaften
Fabian Höhne, 25, Mitgründer des Portals Außerdem müssen sie signalisieren, dass mit den Billigtickets Gewinn?
Flyla, über Billigflüge für Studenten sie alle Fluggäste gleich behandeln. Höhne: Nein, aber sie legen auch nicht un-
SPIEGEL: Schnäppchenportale für Flug- mäßig drauf. Ein weiterer Passagier verur-
SPIEGEL: Sie bieten Last-Minute-Flug- reisende gibt es zuhauf. Auch das Last- sacht kaum Kosten. Er wiegt vielleicht
tickets an – allerdings nur für Studenten. Minute-Kontingent ist endlich. 80 Kilogramm, hat eine Tasche dabei, be-
Warum? Höhne: Es ist genügend da. Weltweit wer- kommt einen Snack, einen Tomatensaft,
Höhne: Fluggesellschaften haben kein In- den jährlich rund eine Milliarde Tickets das war’s. Im Vergleich zu dem Spritpreis,
teresse daran, ihre Restkontingente der nicht verkauft, das sind 20 Prozent. Es der Start- und Landegebühr und den
Masse zugänglich zu machen. Sie wollen, gibt natürlich Zeiten, da sind die Maschi- Lohnkosten für die Crew ist das nichts.
dass Rabatte bis zu 70 Prozent, wie wir nen ausgebucht. Montagmorgens, wenn Die Hoffnung ist, dass der junge Akademi-
sie anbieten, etwas Besonderes bleiben. die Unternehmensberater zu ihrem Ein- ker der Airline später treu bleibt, wenn er
Deshalb mussten wir uns beschränken. satzort reisen. Donnerstagabends, wenn mehr Geld für Reisen ausgeben kann. AKÜ

Umsatzsteuerbetrug rere Mitarbeiter wurden bereits verur-


teilt. Der frühere Manager F. soll damals
Früherem Deutsch-Banker dafür gesorgt haben, dass der Handel
droht Anklage über die Deutsche Bank in Frankfurt wei-
terlaufen konnte, nachdem die Briten
 Die Staatsanwaltschaft Frankfurt berei- dem Treiben in London durch eine Geset-
tet eine neue Anklage in dem Groß- zesänderung einen Riegel vorgeschoben

JEFF WIDENER / AP
verfahren wegen Umsatzsteuerbetrug mit hatten. Der Anwalt von F. war für eine
CO -Zertifikaten vor. Sie richtet sich Stellungnahme nicht zu erreichen. Die
²
gegen einen früheren Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft arbeitet offenbar auch
Deutschen Bank: Der Österreicher auf eine Anklage gegen den mutmaß-
Hector F. leitete in den Jahren 2009/2010 lichen Kopf der Bande hin, den Briten »Tank Man« in Peking 1989
den Vertrieb von Emissionszertifikaten Peter Virdee Singh. Gegen den Unterneh-
bei dem Geldhaus. In dieser Zeit ver- mer läuft ein Auslieferungsverfahren, Vir- Fotografie
schob eine internationale Bande Emis- dee darf Großbritannien nicht verlassen Falsche Werbung
sionsrechte über Ländergrenzen hinweg und trägt eine elektronische Fußfessel. Er
und hinterzog so Umsatzsteuern in Höhe weist die Vorwürfe zurück und wehrt sich  Ein Werbefilm für den hessischen
von mehr als 125 Millionen Euro. Über massiv gegen eine Auslieferung. Die Kamerahersteller Leica hat die chinesi-
die Deutsche Bank liefen große Teile des Staatsanwaltschaft will sich zu dem Ver- schen Behörden verärgert. Das Video
betrügerischen Zertifikatehandels, meh- fahrenskomplex nicht äußern. MHS, AUL soll die Entstehung eines der berühm-
testen Fotos der Weltgeschichte zeigen:
1989 hatte sich ein unbekannter Mann
am Platz des Himmlischen Friedens
Greser & Lenz den heranrollenden Panzern entgegen-
gestellt. Vier Pressefotografen fingen
den Moment von einem Pekinger Hotel
aus ein, das Bild des »Tank Man« ging
um die Welt. Nur: Keiner der Fotogra-
fen benutzte eine Leica-Kamera, wie
der Film suggeriert. Stattdessen arbeite-
ten Jeff Widener (AP), Charlie Cole
(Newsweek), Stuart Franklin (Magnum)
und Arthur Tsang (Reuters) mit Foto-
apparaten des japanischen Konkurren-
ten Nikon, wie sie auf Anfrage bestätig-
ten. Das Video hatte in China Irritatio-
nen ausgelöst, weil die Niederschla-
gung des Volksaufstands dort ein Tabu
ist. Der Film verschwand aus dem chine-
sischen Internet, Suchen nach »Leica«
oder ähnlichen Begriffen führten zu
Fehlermeldungen. Leica distanzierte
sich von dem Clip: Man habe ihn weder
in Auftrag gegeben noch autorisiert. Für
das Unternehmen ist der Ärger brisant.
Leica baut Kameras für den chinesi-
schen Handyhersteller Huawei. AKN, BZA

47
Wirtschaft

Bratlingtest im Labor
bei Beyond Meat in
Los Angeles

MAX S. GERBER / DER SPIEGEL

Besseresser
Ernährung Burger aus Erbsen, Thunfisch-Imitat aus Hülsenfrüchten – mit einer
neuen Generation pflanzlicher Lebensmittel will die Vegan-Industrie den Massenmarkt
erobern. Konzerne und Finanzinvestoren wittern ein Milliardengeschäft.

48
W
enige Tage nachdem Hurrikan man an diesem Tag nach Hamburg gereist. Wurst und Milchprodukten geht in den In-
»Harvey« im Sommer 2017 in Schon jetzt bieten Restaurants hierzulande dustrieländern langsam, aber sicher zu-
Texas gewütet hatte, ging in den fleischlosen Burger an. Bis Juni soll rück. 2011 verspeisten die Deutschen im
den sozialen Netzwerken ein der Einzelhandel folgen. Schnitt stolze 62,8 Kilogramm Fleisch pro
Foto viral. Es zeigte einen leer gefegten Anfang April brachte der Schweizer Le- Jahr, 2018 waren es fast 3 Kilogramm we-
Supermarkt. Nur ein Regal hatten die Käu- bensmittelkonzern Nestlé ebenfalls einen niger.
fer trotz drohender Versorgungskrise nicht Fleischlos-Burger in die Läden. Ab kom- Der vegane Bereich dagegen wächst. So
angetastet: das mit den Sojawürstchen und mender Woche gibt es ihn sogar bei Mc- schnell, dass manche Unternehmen mit
Tofubratlingen. »Die Leute waren ver- Donald’s. Auch er zielt nicht auf Veganer der Produktion nicht nachkommen. »2019
zweifelt, aber nicht verzweifelt genug«, ab, sondern auf sogenannte Flexitarier. ist das Jahr, in dem Veganismus den Main-
sagt Seth Goldman, ein schlanker Ameri- Verbraucher, die Fleisch, Fisch und Milch stream erreicht«, prophezeite der britische
kaner mit Zahnpastalächeln. zwar nicht grundsätzlich ablehnen, aber »Economist«.
Goldman, 53, ist Vizechef des Die Debatte ums richtige Essen
veganen Burger-Herstellers Beyond hat Fahrt aufgenommen, seitdem
Meat. Das Foto aus Texas ist Teil ei- jeden Freitag Tausende Schüler für
ner Produktpräsentation, die Gold- mehr Klimaschutz demonstrieren.
man Mitte März über den Dächern »Klimakiller Kuh« oder »Greta isst
Hamburgs zeigt. Draußen peitscht vegan«, heißt es auf den Plakaten
der Regen gegen die Fensterschei- der »Fridays for Future«-Aktivis-
ben, drinnen spricht Goldman von ten. Greta Thunberg, die Heldin
»Wachstumschancen«, »Marktantei- der Bewegung, verzichtet der Um-
len« und »Innovationszyklen«. Und welt zuliebe auf Fleisch, Fisch und
er sagt: »Wir wollen die Welt verän- Milch.
dern.« Ökologisch sei die Erzeugung
Das Tofu-Seitan-Zeug aus dem von tierischen Nahrungsmitteln
texanischen Supermarkt, so Gold- eine Katastrophe, argumentieren
mans Botschaft, ist die alte Vega- die Aktivisten um Thunberg. Und
ner-Welt. Eine Welt, die nach Ver- sie haben recht.
zicht und Sägespänen schmeckt Der Umweltwissenschaftler Jo-
und die deshalb zu Recht ein Ni- seph Poore von der britischen

MAX S. GERBER / DER SPIEGEL


schendasein fristet, irgendwo in der Universität Oxford hat für den
hintersten Ecke von Biomärkten SPIEGEL den CO²-Fußabdruck ei-
und Reformhäusern. nes deutschen Veganers berechnet.
Beyond Meat, verspricht Gold- Pro Kopf und Jahr produzieren
man, stehe dagegen für die neue die Deutschen durchschnittlich elf
Welt. Das Unternehmen aus Los Tonnen Treibhausgase. Wer vegan
Angeles, das Anfang Mai an die lebt, reduziert seine Bilanz laut
Börse strebt, streiche den Verzicht Poore um zwei Tonnen jährlich,
aus der Rechnung. Das Wörtchen bei ansonsten gleich bleibendem
»vegan« vermeidet Goldman. Er re- Lebensstil. »Eine vegane Ernäh-
det stattdessen lieber von »alterna- rung ist der wahrscheinlich größte
tiven Proteinen«. In den USA liege Hebel, um den eigenen ökologi-
sein Burger in der Fleischtheke, schen Fußabdruck zu verringern«,
nicht im Veggie-Regal, sagt Gold- sagt Poore.
man. Neun von zehn der Kunden Was aber essen? Die Lebens-
kauften auch Fleisch. mittelindustrie hofft, dass die neue
MAX S. GERBER / DER SPIEGEL

Dann lässt Goldman servieren: Generation von Ersatzprodukten


den angeblich »ersten Pflanzen- für Fisch und Fleisch, Eier und
Burger, der aussieht, schmeckt und Milch den Massengeschmack trifft.
zufrieden macht wie ein Fleischbur- Und ein Riesengeschäft wird, ver-
ger«, wie es in der Werbebroschüre gleichbar mit dem Bio-Boom, der
heißt. auch irgendwann die Discounter
Tatsächlich kommt der Bratling, Vegan-Unternehmer Brown, Produkte eroberte.
der zwischen zwei Brötchenhälften Unterstützung von Bill Gates Nur schneller soll es diesmal ge-
klemmt, erstaunlich nah an das Ori- hen. Deshalb pumpen Staatsfonds
ginal heran. Er riecht wie ein echter aus China und Singapur viele Mil-
Burger. Er schmeckt wie ein echter Burger. aus Sorge ums Klima und die eigene Ge- lionen in den Markt, ebenso wie Wagnis-
Oder fast wie einer. Ein bisschen fad, aber sundheit auch mal zum Pflanzenbratling kapitalgeber aus dem Silicon Valley oder
das liegt vermutlich daran, dass man den greifen. Vorausgesetzt, das Ding schmeckt. globale Konsumgüterriesen. Unilever hat
Klops aus Erbsenprotein, Kokosöl und ei- Es ist eine völlig andere Strategie, eine sich The Vegetarian Butcher einverleibt,
nigen anderen Zutaten nicht mit Gewür- völlig andere Vermarktung als die der her- ein niederländisches Unternehmen für
zen und Zusatzstoffen überfrachtet habe, kömmlichen Tofuproduzenten, die sich in Fleischersatz. Seine Wurstmarke Bifi schlug
wie Goldman betont. ihrer Nische wohlfühlten, dort aber auch der Konzern dagegen schon 2014 los.
Weltweit ist der »Beyond Burger« in feststeckten. Es sind bemerkenswerte Allianzen, die
mehr als 30 000 Imbissen und Supermärk- Für die Lebensmittelbranche ist der gerade geschmiedet werden: Tyson Foods,
ten erhältlich. Nun will das Unternehmen neue, massentaugliche Laissez-faire-Vega- der größte US-Fleischkonzern, hat in Be-
Deutschland erobern, deshalb ist Gold- nismus ein Segen. Der Absatz von Fleisch, yond Meat investiert. Auch der deutsche

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 49


Aber diese Dinge kommen nicht nur in
Klimaschädling Kuh Tieren vor, sondern auch in Pflanzen. Das
Ökobilanz eiweißreicher Nahrungsmittel in Kilogramm Tier verwandelt diese Komponenten in
CO2-Äquivalent pro 100 Gramm Protein* Fleisch, ist dabei aber sehr ineffizient. Tie-
re brauchen sehr viel Energie, sehr viel
Land, sehr viel Wasser. Das können wir
besser, indem wir die Tiere aus dem Pro-
7,6 duktionsprozess heraushalten und das
Schwein Fleisch direkt aus Pflanzen herstellen. Das
ist besser für die Tiere und besser für uns.«
Mit solchen Erzählungen hat Brown ei-
6 nen erlesenen Klub an Unterstützern um
Fisch
(Aquakultur) sich versammelt, darunter Hollywood-
star Leonardo DiCaprio und Microsoft-

50 Gründer Bill Gates. Beim geplanten


Börsengang will Brown 184 Millionen
Mastrind 5,7 Dollar Kapital einsammeln, bei einer
Geflügel Unternehmensbewertung von 1,2 Milliar-
den Dollar. Dabei hat Beyond Meat im
vergangenen Jahr 30 Millionen Dollar
2 Verlust geschrieben.
Das Geld floss vor allem in die Entwick-
4,2 Tofu
lung des Pflanzenburgers. »Die Farbe war
Eier 2,7 0,8 eine der größten Hürden«, erzählt Brown.
Getreide Wie echtes Fleisch sollte der Bratling in
rohem Zustand rosa sein und sich beim
Hülsen-
*Auswahl, Durchschnittswerte früchte Braten braunschwarz verfärben. »Wir ha-
ben Jahre gebraucht, um das hinzubekom-
men«, sagt Brown. Die Lösung, auf die sie
kamen: Rote-Bete-Saft.
Was nützt es, weniger zu Fleisch essen? Das Mundgefühl testen die Firmenfor-
Szenario: Durch eine Senkung des deutschen Nutztierbestands um 20 Prozent je Tierart... scher mit einer Art Beißkonsistenzmaschi-
ne. Die misst, wie das Gemüsefleisch unter
–2,5 Mio. ...würden 20,8 Millionen Tonnen Druck reagiert, wie viel Flüssigkeit austritt,
Rinder weniger Kohlendioxid-Äquivalent ob die Textur stabil bleibt.
in die Atmosphäre Sein Forschungszentrum hat Brown
–5,6 Mio. gelangen, das entspricht »Manhattan Beach Project« genannt, ein
Mastschweine in etwa der Stilllegung Verweis auf das historische Manhattan
des Braunkohlekraft-
–0,4 Mio. werks Jänschwalde, des Project, einen Zusammenschluss von Wis-
Schafe, Ziegen drittgrößten deutschen senschaftlern, die im Zweiten Weltkrieg
CO2-Emittenten*. an der Atombombe forschten. Die Meta-
–31,8 Mio. pher sagt eine Menge über Browns Ego
Hühner und über seine Mission: Er will den ganz
*2018 großen Knall. Im positiven Sinne. Die Ab-
Quellen: BLE, Milchindustrie-Verband, Science, Fleischatlas 2018
kehr von der Tierfleischproduktion soll
die Erde vor dem Kollaps retten.
Hähnchenriese Wiesenhof hat eine Ver- lange ziemlich betonköpfig verhielt? Oder Um die Ziele des Pariser Klimaabkom-
triebspartnerschaft mit den Kaliforniern verrät die vegane Bewegung ihre Ideale? mens einzuhalten, muss die Menschheit
geschlossen. Verkauft sie sich ans große Geld? jedenfalls deutlich weniger Tier vertilgen.
Vor ein paar Jahren noch wäre das alles Wenn man Ethan Brown fragt, den Allein die Europäische Union muss die
undenkbar gewesen. Veganer und Fleisch- Gründer von Beyond Meat, dann bleibt Viehhaltung bis 2030 um ein Fünftel und
esser standen sich mindestens so unver- den Vegan-Unternehmen keine andere bis 2050 um drei Viertel reduzieren, heißt
söhnlich gegenüber wie Radfahrer und Wahl, als neue Bündnisse einzugehen. es in einer Studie der Denkfabrik RISE,
SUV-Besitzer. Der Streit zwischen beiden Nicht mit dem, was er vorhat. die sich für eine nachhaltigere Agrarwirt-
Lagern stand für einen gesellschaftlichen Eine Unterhaltung mit Brown, 47, wird schaft einsetzt.
Riss, der weit über Ernährungsfragen hi- schnell philosophisch. Er empfängt in ei- Das dürfte nicht einfach werden. Noch
nausgeht: hier die vermeintlich aufgeklär- nem fensterlosen Konferenzraum in Los immer essen 18 Prozent der Frauen und
ten Bürger, die sich auf der richtigen Seite Angeles, Kappe auf dem Kopf. Während 39 Prozent der Männer in Deutschland
wähnen. Dort die angeblichen Fortschritts- Seth Goldman durch die Welt tourt, sich täglich Fleisch oder Wurst, so der aktuelle
verweigerer, die sich als Hinterwäldler ver- um Marketing und Vertrieb kümmert, ist Ernährungsreport der Bundesregierung.
unglimpft sehen. Brown zuständig für die Vision. Er sieht Ihnen stehen gerade einmal 8 Millionen
Kaum zu glauben, dass sich diese Fron- aus wie ein Hüne und wirkt wie ein Jun- Vegetarier und 1,3 Millionen Veganer ge-
ten nun aufgelöst haben sollen. ge. genüber, schätzt der Vegetarierbund Pro-
Beginnt gerade ein neues, ideologie- »Was ist Fleisch überhaupt?«, will Veg.
befreites Zeitalter? Die Versöhnung von Brown wissen und setzt zu einem Mono- Zugleich aber ist die Fleischskepsis im
Genuss und Gewissen? Und das auch noch log an. »Fleisch besteht vor allem aus Pro- Mainstream angekommen. Einer Umfrage
mithilfe der Lebensmittelindustrie, die sich tein, Aminosäuren und Wasser, that’s it. der Gesellschaft für Konsumforschung

50 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Wirtschaft

(GfK) zufolge isst mehr als ein Wie passt das zusammen?
Drittel der Befragten bewusst »Natürlich haben wir unter-
weniger Fleisch, in der Alters- schiedliche Ideale, aber des-
gruppe der über 70-Jährigen ist halb können wir trotzdem zu-
es sogar mehr als die Hälfte. Der sammenarbeiten«, sagt Kerr.
Anteil derjenigen, die jeden Tag »Unser Ansatz ist es, das Sys-
zu Schnitzel oder Salami greifen, tem von innen zu verändern.«
hat sich um sechs Prozentpunk- Es wirkt, als wären den Ve-
te verringert. Innerhalb von nur ganern ihre Feinde abhanden-
zwei Jahren wohlgemerkt. gekommen. Selbst die Tier-

ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL


Ernährung ist zur Identitäts- schutzorganisation Peta lobt
frage geworden, zur hoch emo- das Engagement von Wiesen-
tionalen Angelegenheit. Wer hof. Die Aktivisten hatten den
im Café einen Cappuccino mit Konzern einst bitter bekämpft.
Sojamilch bestellt, tut das Nun hat Peta nach eigener
nicht immer, weil er vegan lebt Aussage ein Moratorium mit
oder von Kuhmilch Bauch- Wiesenhof geschlossen: Ihr
schmerzen bekommt, sondern macht in vegan, dafür lassen
häufig aus dem diffusen Ge- wir euch in Ruhe.
fühl, sich etwas Gutes zu tun, Bei Wiesenhof war man
zur Avantgarde zu gehören. über so viel Pragmatismus der
Erst seit schöne junge Men- einstigen Gegner anfangs ver-
schen ihren grünen Lifestyle in wundert. »Man darf eines
den sozialen Netzwerken zele- nicht vergessen: Beyond Meat
brieren, hat das Veganertum ist ein durch und durch vega-
sein Ökolatschen-Image abge- nes Unternehmen. Und wir
streift. Die meisten von ihnen sind ein Fleischunternehmen.
essen vegan, weil es sich gut an- Geflügel ist unser Kernge-
fühlt und auf Instagram gut aus- schäft und wird es auch blei-
schaut. ben«, sagt Marcus Keitzer, Vor-
Umfragen belegen dies. Auf stand für alternative Protein-
Platz eins der Gründe, warum quellen bei PHW (so lautet
junge Konsumenten tierische sein Titel wirklich).
Produkte meiden, liegt die Sor- Doch Keitzer verspricht sich
ge um die eigene Gesundheit, von der Kooperation eine
erst weiter hinten folgt die »Wachstumsstory«. Seine Bran-
Angst um die Umwelt und das che befinde sich in einer ähnli-
Leid der Tiere. Der Mensch ist chen Situation wie die Automo-
letztlich Egoist, auch beim Es- bilindustrie: Junge Start-ups er-
ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL

sen. fänden die Zukunft. Nur, dass


Chris Kerr kennt diese Be- sie statt Tesla eben Beyond
fragungen. Sie überraschen ihn Meat hießen. Oder SuperMeat,
nicht. Er sagt: »Essen ist eine eine israelische Firma, die an
impulsive Entscheidung. Nie- Fleisch aus Zellkulturen forscht
mand will sich Gedanken über und an der PHW ebenfalls be-
globale Zusammenhänge ma- teiligt ist. Den etablierten Play-
chen, wenn er eigentlich nur Jackfrucht, Importeurin Huthmann ern blieben zwei Möglichkeiten,
ein Käsesandwich will.« Wachsen, aber nicht um jeden Preis glaubt Keitzer: zuschauen oder
Kerr, 51, ein kleiner Ameri- mitmachen. Wiesenhof habe
kaner mit lauter Stimme, lebt sich fürs Zweite entschieden.
seit 17 Jahren vegan. Seit drei Jahren ma- erhafte Verhaltensänderung ist schwer.« Nicht alle traditionellen Hersteller
nagt er einen Fonds namens New Crop Ca- Statt die Verbraucher zu missionieren, will sehen das so. Fleischbaron Clemens
pital, der ausschließlich in Veggie-Unter- Kerr ihnen ein Angebot machen, so sieht Tönnies hält die Bewegung für einen
nehmen investiert. Das Geld, rund 70 Mil- er das. Damit der veganen Ernährung der »Hype«. Ihm schmecke das Zeug nicht und
lionen Dollar, stammt von einem Mäzen, Durchbruch gelinge, müssten drei Dinge deshalb möge es auch der Durchschnitts-
der laut Kerr anonym bleiben möchte und stimmen. Erstens: der Geschmack. Zwei- verbraucher nicht, so seine Begründung.
ebenfalls Veganer ist. Bislang ist New Crop tens: der Preis. Drittens: die Verfügbarkeit. Den kurzen Ausflug ins Geschäft mit
Capital an 37 Firmen beteiligt, darunter Am schwierigsten sei die Sache mit der fleischloser Wurst hat Tönnies im vergan-
ein Start-up, das Dosenthunfisch-Imitat Verfügbarkeit. »Essen Sie Pizza?«, fragt genen Jahr beendet.
aus verschiedenen Hülsenfrüchten her- Kerr. »Mein Ziel ist es, dass jede Pizzeria Tatsächlich ist unklar, wie viel Geld
stellt, und eines, das Butter aus dem Koch- irgendwann veganen Mozzarella anbie- sich mit den Ersatzprodukten verdie -
saft von Kichererbsen macht. tet.« So wie fast jeder Coffeeshop mittler- nen lässt – und wie schnell. Beyond
Irgendwann habe er verstanden, dass weile eine Alternative zu Kuhmilch hat. Meat spricht von einem Marktpotenzial
es nichts bringe, die Menschen bekehren Damit das gelingt, hat Kerr für seine Start- von 35 Milliarden Dollar, allein in den
zu wollen, sagt Kerr. »Tierschützer haben ups Partnerschaften eingefädelt, unter an- USA. Das wäre etwa fünfzigmal so
das jahrzehntelang versucht. Vielleicht derem mit der deutschen PHW-Gruppe, viel, wie die Branche dort derzeit um-
klappt das für eine Weile, aber eine dau- bekannt unter der Marke Wiesenhof. setzt.

51
Wirtschaft

Trotz solch vager Aussich- vermischen oder in Form brin-


ten sind selbst Nischenunter- gen muss, wie es bei den meis-
nehmen plötzlich für Investo- ten Ersatzprodukten der Fall
ren interessant. Julia Huth- ist.
mann kann sich jedenfalls vor Die Menschen erwarten,
Anfragen kaum retten. Im Sep- dass fleischlose Wurst so aus-
tember trat Huthmann bei der sieht wie echte Wurst – oder
TV-Show »Die Höhle der Lö- zumindest glauben das offen-
wen« auf, in der Gründer um bar die Hersteller. »Die Ersatz-
Geld für ihre Ideen werben. produkte sind deshalb meist
Huthmann, 34, präsentierte stark industriell verarbeitet«,
der Jury eine weißgelbe, fase- sagt Janina Willers von der
rige Frucht: die Jackfrucht. Ge- Verbraucherzentrale Nieder-
braten schmeckt sie wie Hühn- sachsen. Bei einer Untersu-
chen. Ein bisschen zumindest, chung der Verbraucherzentra-
wenn man sie gut würzt. Vega- len kam heraus, dass 80 Pro-
ner und solche, die es werden zent der getesteten veganen
wollen, essen Jackfrucht als und vegetarischen Artikel zu
Tofu-Alternative. Huthmann viel Salz enthielten. Zudem
lässt sie in Dosen abfüllen und fanden die Experten rund ein
verkauft sie unter dem Namen Dutzend Zusatzstoffe, deren
Jacky F. häufiger Verzehr bedenklich
Nach der Sendung habe sie ist.
rund ein Dutzend Angebote Mit der ursprünglichen Idee

PETER RIGAUD
von möglichen Geldgebern be- der Vegetarier-Bewegung – ei-
kommen, sagt die Bonner ner natürlichen, möglichst ur-
Gründerin. Die hätten ihr vor- sprünglichen Kost – haben die-
gerechnet, wie sie, die Inves- se Ersatzstoffe nur noch wenig
toren, ihr Kapital vermehren zu tun.
würden. Huthmann war das Und deshalb finden sie auch
nicht recht geheuer. Jacky F. keinen Platz in der Küche von
soll wachsen, das schon, findet Paul Ivić. Der Koch leitet am
sie. »Aber nicht um jeden Münchner Viktualienmarkt
Preis.« das »Tian«, eines von zwei ve-
Huthmann importiert die getarischen Sternerestaurants
tropischen Jackfrüchte aus Sri in Deutschland. Ivić, 40, lehnt
Lanka. Dort werden sie einge- Tier auf dem Teller nicht
kocht und auf Containerfrach- grundsätzlich ab. Er selbst isst
tern nach Deutschland ver- Fleisch, wenn auch wenig.
schifft. Dass das nicht ideal ist, Was ihn stört, ist die Le-
weiß Huthmann. Früher hat bensmittelindustrie, die Nah-
PETER RIGAUD

sie sich beim Bio-Unterneh- rung in »liebloses Futter« ver-


mern Alnatura um Nachhaltig- wandle. Er wisse nicht, sagt
keit gekümmert. Ivić, warum er Konzernen
Auch bei anderen Veggie- Küchenchef Ivić, Kreation wie Nestlé oder Wiesenhof
Produkten stellt sich die Fra- Die Kunst, Pflanzen zu verwandeln plötzlich vertrauen solle, bloß
ge, wie grün sie eigentlich weil sie nun ein paar vegane
sind. Der Soja-Boom bedroht Produkte verkauften.
den Regenwald in Südamerika (wobei 80 Prozent weniger Treibhausgase frei- Dabei beherrscht auch Ivić die Kunst,
80 Prozent der Erträge zu Tierfutter wer- setzen. Pflanzen zu verwandeln. Aber ohne
den). Die große Nachfrage nach der durs- Der Wasserverbrauch würde dagegen daraus eine neue Art Fertigkost zu ma-
tigen Avocado hat manchen Landstrich um ein bis neun Prozent steigen, weil Hül- chen.
in Mexiko und Südafrika austrocknen senfrüchte, Nüsse und einige Gemüse- Aus Topinambur, einem Wurzelgemü-
lassen. sorten vergleichsweise viel Wasser ver- se, modelliert Ivić an diesem Abend im
Bloß weil etwas vegan ist, ist es nicht brauchen. Außerdem prognostizieren die »Tian« Tartar. Grünkohl frittiert er zu
automatisch nachhaltig. Erst recht nicht, Forscher, dass die Landwirtschaft in die- Chips. Rote Bete lässt er als süßes Sorbet
wenn man es um den halben Globus sem Szenario etwa genauso viel Acker- servieren.
schickt. Anders gesagt: Auch Veganer kön- fläche benötigen würde wie heute. Es schmeckt fantastisch.
nen der Umwelt schaden. Bis 2050 sollen zehn Milliarden Men- Guido Mingels, Ann-Kathrin Nezik
Ein Zusammenschluss internationaler schen die Erde bevölkern. Es sei möglich, Mail: ann-kathrin.nezik@spiegel.de
Wissenschaftler, die Lancet-Kommission alle gut zu ernähren, ohne den Planeten
für Ernährung, Umwelt und Gesundheit, zu zerstören, glauben die Lancet-Wissen-
hat ausgerechnet, welche Folgen es hätte, schaftler. Aber nur mit einem »revolutio- Video
Wie schmeckt der
wenn die Menschheit vor allem Pflanzen- nären Wandel« unserer Ernährung, also Ersatzburger?
kost essen würde. Beim Klima ist die mit weniger Tier und mehr Pflanzen. spiegel.de/sp182019vegan
Rechnung eindeutig positiv. Die Land- Die Frage ist nur, ob man diese Pflan- oder in der App DER SPIEGEL
wirtschaft würde in diesem Fall bis zu zen zerkleinern, erhitzen, mit Gewürzen

52 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


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Sascha O. während seines 3-monatigen Sabbaticals in den Dolomiten,


finanziert aus seiner Steuerrückerstattung.

Steuern? Lass ich machen.


Von der VLH.

Wir beraten im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG. www.dankevlh.de


Wirtschaft

die Erträge nicht wie erhofft steigen. Auch

Vorläufiger Sieger deshalb hatte Commerzbank-Chef Martin


Zielke wohl gehofft, die Commerzbank in
eine Fusion mit der Deutschen Bank ein-
Finanzindustrie Nach dem Ende der Fusionsgespräche mit der bringen zu können.
Die Frage nach der Zukunft aber muss
Commerzbank steht der Chef der Deutschen Bank, Christian Sewing, neben Zielke nun vor allem der Bund be-
als Gewinner da. Doch von ihm wird nun rasch ein Plan B erwartet. antworten, der seit der Finanzkrise mit
rund 15 Prozent größter Aktionär des In-
stituts ist. Mit seinem Plan A, der Hochzeit

D as Scheitern einer Fusion ist der


Albtraum jedes Vorstandschefs.
Viel Arbeit und Geld für nichts. Im
schlimmsten Fall kommt noch eine öffent-
ter der Aktionäre im Aufsichtsrat verär-
gert: »Er wird sich nun erklären müssen«,
sagt einer aus ihren Reihen.
Denn die Argumente gegen eine Fusion
mit der Deutschen Bank, ist Scholz kra-
chend gescheitert.
Die Zukunftsfähigkeit der Commerz-
bank wie der Deutschen Bank schätzt der
liche Blamage hinzu. liegen seit Wochen auf dem Tisch: Eine bekennende Industriepolitiker düster ein.
Christian Sewing dagegen, dem Chef »Deutsche Commerz« hätte gegen den Wi- »Wenn die Fusion scheitert, können wir von
der Deutschen Bank, hätte in dieser Wo- derstand der Arbeitnehmer Zigtausende Glück reden, wenn wir nur eine Bank ver-
che wenig Besseres passieren können als Stellen abbauen müssen, damit überhaupt lieren«, prophezeite er kürzlich im kleinen
die abgesungene Fusion mit der Commerz- eine Chance bestanden hätte, dass sich die Kreis, »wenn wir Pech haben, verlieren wir
bank. Sewing ist der Gewinner in einem Sache rechnet. Gleichzeitig drohten Kun- beide.« Und wenn eine Industrienation wie
industriepolitischen Husarenstück, das an- den abzuwandern. Die Deutsche Bank hät- Deutschland keine eigene Großbank mehr
sonsten fast nur Verlierer kennt. te ihre Aktionäre zudem um frisches Kapi- habe, »dann ist das einfach scheiße«.
Der Deutsche-Bank-Chef hatte von An- tal anpumpen müssen. Auch die Aufsichts- Zwar reden Scholz und Staatssekretär
fang an keinen Hehl daraus gemacht, dass Kukies auch oft davon, Europa brauche ei-
er die politisch eingefädelte Zwangshoch- nen europäischen Bankenchampion, um
zeit für wenig sinnvoll hielt. Zu komplex, der Wall Street etwas entgegenzusetzen.
zu riskant sei das Manöver womöglich, Aber selbstverständlich sollte der Cham-
hatte er intern zu bedenken gegeben. Und pion unter deutscher Flagge entstehen.
ganz so lautete denn auch die Begründung Welche Bank solle die deutsche Wirt-
für das Ende der Gespräche, das beide schaft denn in einer Situation wie der Fi-
Banken am Donnerstag verkündeten. nanzkrise von 2008 noch mit Geld versor-
Vor allem Finanzminister Olaf Scholz gen, wenn alle heimischen Institute bloß
(SPD) steht nun blamiert da. Er hatte ge- Filialen ausländischer Großbanken seien?
meinsam mit seinem Staatssekretär Jörg Scholz und Kukies mag dabei das Bei-
Kukies so vehement für die Fusion der bei- spiel der HypoVereinsbank (HVB) umtrei-
den größten deutschen Finanzinstitute ge- ben, die 2005 von der italienischen Groß-
trommelt, dass diesen wenig anderes übrig bank Unicredit geschluckt wurde. Seither
blieb, als miteinander zu reden. Und auch spielt die Musik in Mailand, Macht- und
Paul Achleitner, Aufsichtsratschef der Entscheidungsstrukturen wurden dorthin
Deutschen Bank, hatte sich die Fusion als verlagert.
Krönung seiner Karriere gewünscht – ge- Zwar stricken Scholz und die deutsche
gen alle Zweifel seines Vorstandschefs. Bankenlobby eifrig an der Erzählung, die
MARKUS HINTZEN

Sewing ist der Mann der Stunde. Das Auslandsbanken hätten sich in der Finanz-
Debakel, so sehen es manche in der Bank, krise aus Deutschland zurückgezogen. Die
sei seine große Chance, sich von Achleit- Statistiken zeigen für die Nachkrisenjahre
ner zu emanzipieren – der ihn vor einem tatsächlich einen Rückgang in der Kredit-
Jahr an die Spitze der Bank geholt hatte – Bankchef Sewing vergabe. Der aber wurde vor allem von
und endlich sein eigener Herr zu sein. »Zu komplex, zu riskant« Sparkassen und Genossenschaftsbanken
Zwar begründeten Sewing und Achleit- kompensiert, nicht etwa von deutschen
ner den Abbruch der Fusionsgespräche am behörden standen dem Projekt skeptisch Großbanken. Außerdem sind französische,
Donnerstag wortgleich als richtige Ent- gegenüber. spanische und niederländische Banken in
scheidung, doch von Einigkeit ist hinter Nachdem all das auch Dutzende Fu- Deutschland heute präsenter denn je.
den Kulissen wenig zu spüren. sionsberater durchgerechnet hatten, soll Und auch den Kunden der HVB hat der
Vor allem Betriebsräte und Arbeitneh- Sewing sich dafür starkgemacht haben, die Einstieg der Italiener nicht geschadet. Wa-
mervertreter im Aufsichtsrat fühlen sich Verhandlungen zu beenden. rum auch sollte eine italienische Bank das
von Achleitner schlecht informiert. Über Das Management der Commerzbank hat- Geschäft mit Unternehmen der stärksten
das Scheitern der Gespräche hatte er die te bis zuletzt gehofft, den Deutsche-Bank- Volkswirtschaft Europas vernachlässigen?
Aufseher nur mit einer knappen Mittei- Chef von der Logik des Deals überzeugen Ohnehin haben die Eurostaaten längst
lung in Kenntnis gesetzt – kurz bevor die zu können. Denn für die Commerzbank beschlossen, eine europäische Banken-
Sache ohnehin offiziell wurde. stellt sich drängender denn je die Frage, mit union umzusetzen: Eine gemeinsame Auf-
Achleitner wiederum soll es den Ge- welchem Partner sie in die Zukunft geht. sicht, ein Abwicklungsmechanismus für
werkschaftern und Betriebsräten im Auf- Allein trauen ihr die Aktionäre offenbar den Krisenfall und eine gemeinsame Ein-
sichtsrat übel genommen haben, dass sie nicht mehr viel zu. Die erklärte Strategie lagensicherung sollen her. »Wenn man den
öffentlich Stimmung gegen den Zusam- der Bank, ein großes Filialnetz zu unter- europäischen Binnenmarkt und die Ban-
menschluss gemacht hatten. halten, um möglichst viele Kunden zu ge- kenunion ernst nimmt, ist die ganze natio-
Über Achleitners Kommunikation rund winnen, geht bisher nicht auf. Das liegt nale Logik hinfällig«, sagt Guntram Wolff,
um die Fusion sind allerdings auch Vertre- vor allem daran, dass mit der Kundenzahl Direktor der Brüsseler Denkfabrik Brue-

54 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


MARC-STEFFEN UNGER
Frankfurter Skyline: »Wenn die Fusion scheitert, können wir von Glück reden, wenn wir nur eine Bank verlieren«

gel. Ob deutsche Firmen und Verbraucher mögliche Offerte der ING allerdings in wiss. Bis zu einer Entscheidung dürfte es
von französischen oder deutschen Banken Grenzen halten: Auch die Holländer wür- noch einige Wochen dauern.
bedient würden, sei dann egal. den als neuer Eigentümer drastisch Stellen Sewing wird, zweitens, die Erleichte-
Wenn Scholz es also ernst meint mit den abbauen und dabei in der Chefetage an- rung der Gewerkschaften und Betriebsräte
europäischen Bankenchampions, müsste fangen, heißt es in Bankenkreisen. über das Scheitern der Commerzbank-
er sich nun bald mit den Emissären meh- Und die Deutsche Bank? Fusion nutzen, um die vor zehn Jahren
rerer Großbanken unterhalten: Die nieder- Für den deutschen Marktführer würde übernommene Postbank endlich voll zu
ländische ING und Italiens Unicredit ha- es noch schwerer, wenn die Commerzbank integrieren. Er will das Tempo erhöhen,
ben bereits Interesse an der Commerz- an einen starken europäischen Wettbe- voraussichtlich aber auch mehr Stellen
bank signalisiert, auch französische und werber fiele. »Wir erwarten von Herrn Se- streichen als bisher geplant. Die Gewerk-
spanische Institute sollen ein Auge auf die wing, dass er zügig einen Plan B vorlegt«, schaften hatten zuletzt gedroht, die Ver-
Bank mit ihren rund 18 Millionen Privat- sagt ein Aufsichtsratsmitglied. »Einfach so handlungen darüber auf Eis zu legen.
und vielen mittelständischen Firmenkun- weiterwurschteln kann die Bank nicht.« Drittens prüft die Deutsche Bank, un-
den geworfen haben. Es könnte Sewing helfen, dass er sich in profitable Teile des Investmentbankings in
Unicredit ist eng mit dem hochverschul- der Fusionsfrage gegen Achleitner durch- eine Bad Bank abzuspalten, um sie leichter
deten italienischen Staat verbunden und gesetzt hat. So stark wie er stand schon abwickeln zu können. Der Konzern will
dürfte daher in Berlin als neuer Eigner der lange kein Deutsche-Bank-Chef mehr da. das weder dementieren noch bestätigen.
Commerzbank schwer vermittelbar sein. Doch diese Stärke wird nur anhalten, wenn Schon bei der Hauptversammlung am
Für die ING gilt das nicht. Sie soll sogar an- er bald zeigt, dass er den Konzern auch 23. Mai dürften die Fragen an Sewing lau-
geboten haben, nach einer Übernahme den ohne Fusion aus der Krise führen kann. ter werden. Er muss dann erklären, wie er
eigenen Sitz nach Frankfurt zu verlegen, In groben Zügen zeichnet sich ab, wie es mit dem Investmentbanking hält, das
im Finanzministerium wurde das wohlwol- ein solcher Plan aussehen könnte: Sewings dem Konzern seit Jahren Rechtsstreitig-
lend aufgenommen. Mit ihrer deutschen Leute verhandeln mit der Schweizer Groß- keiten, Ertragsprobleme und politischen
Direktbanktochter ING-Diba hat sie ge- bank UBS darüber, die börsennotierte Ärger in den USA beschert und Milliarden
zeigt, dass man auch im hart umkämpften Fondstochter DWS mit der Vermögens- an Boni verschlingt. Ist Sewing zu tieferen
deutschen Markt Erfolg haben kann. Das verwaltung der UBS zusammenzulegen. Einschnitten bereit?
liegt vor allem daran, dass die ING gemes- Allein sind beide zu schwach, zusammen Vor allem einer war bisher immer da-
sen an ihren Erträgen weit niedrigere Kos- würden sie Vermögen von mehr als 1,3 Bil- gegen: Paul Achleitner.
ten hat als die deutschen Großbanken – lionen Euro verwalten. Die Deutsche Bank Tim Bartz, Martin Hesse,
und eine funktionierende Digitalstrategie. möchte Mehrheitseigner der DWS bleiben, Christian Reiermann
Beim Commerzbank-Management um die UBS wäre dann Juniorpartner. Ob sich Mail: martin.hesse@spiegel.de
Zielke soll sich die Begeisterung für eine die Schweizer darauf einlassen, ist unge-

55
Wirtschaft

Neue Heimatliebe
Weltwirtschaft Niedrige Löhne in Asien haben die Globalisierung befördert.
Doch seitdem die Arbeiter dort besser verdienen,
stockt der Handel. Deutsche Unternehmen müssen sich umstellen.

aber lukrative Nische. Heute liefern die


Halbmond Teppichwerke in 40 Länder.
Die 200 Jobs sind erst einmal gesichert,
und Litzenberg kann sich nicht mehr
vorstellen, ins Ausland umzusiedeln.
Wäre er damals gegangen, hätte die Firma
»das bestimmt nicht überstanden«, sagt
der Manager. Viele Aufträge müssten heu-
te in zwei bis drei Wochen erledigt wer-
den, das gehe »in dieser Zeit nicht aus
China«.
Zurück zu den Wurzeln lautet das Mot-
to, nicht nur in Oelsnitz, sondern in vielen
Teilen der Welt. Jahrzehntelang entwickel-
te sich die Globalisierung nach dem immer
gleichen Muster: Die Schwellenländer
Asiens schickten billig produzierte Spiel-
waren, Textilien oder Elektronikprodukte
in den Westen. Autos, Flugzeuge und klas-
sische Industriejobs nahmen den umge-
kehrten Weg. Millionen Südkoreaner, Chi-
nesen oder Vietnamesen entkamen so der
Armut; in Europa und den USA jedoch
wuchs der Frust einer schrumpfenden Mit-
telschicht.
Lange schien es, als ginge die Globali-
sierung auf ewig so weiter. Doch Unter-
nehmer, Ökonomen und Statistiker ma-
chen seit einiger Zeit eine andere Erfah-
rung: Der Prozess stockt.
Der grenzüberschreitende Warenaus-
tausch wächst langsamer als die globa-
le Produktion. Das weltweite Geschäft
mit Dienstleistungen und Daten blüht,
aber die Auslandsinvestitionen gehen
genauso zurück wie der Anteil internatio-
naler Bankkredite am Welt-Bruttoinlands-
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL

produkt.
Der Internationale Währungsfonds rech-
net damit, dass sich der Welthandel in
diesem Jahr deutlich abschwächt. Von
»Slowbalisation« schreibt der Londoner
»Economist«, und die Unternehmensbera-
Teppichunternehmer Litzenberg: »Die Qualität stimmte einfach nicht« tung McKinsey kommt in einer Studie zu
dem Ergebnis, dass die Globalisierung be-

E
reits zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts
s hätte nicht viel gefehlt, und Ralf Fertigung in Billiglohnländer zu verlagern. »ihren Wendepunkt erreicht« hat.
Litzenberg hätte seine Firma dicht- Er sah sich Betriebe in Rumänien und Mol- Von nun an, so lässt sich der Analyse
machen müssen. Teppichfabrik, dawien an, inspizierte Webereien in Bul- entnehmen, geht es bergab. Und viele Re-
1880 gegründet, hatte fast ein garien und Weißrussland. Und kehrte je- gierungen beschleunigen die Talfahrt mit
Viertel ihres Umsatzes verloren, das Un- des Mal enttäuscht zurück. »Die Qualität Zöllen und Handelsschranken noch. »Die
ternehmen aus dem sächsischen Oelsnitz stimmte einfach nicht.« Zeit der Hyperglobalisierung ist vorbei«,
schrieb Verluste. So blieb Litzenberg am Ort und kon- sagt Gabriel Felbermayr, Präsident des Kie-
2008 war das, kurz nach der Finanzkri- zentrierte sich darauf, Teppichböden für ler Instituts für Weltwirtschaft. »Was wir
se. Litzenberg überlegte, einen Teil der Büros und Hotels zu fertigen. Eine kleine, erleben, ist eine große Entschleunigung.«

56 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Für die deutsche Wirtschaft, die als Ge- 2008 Große Entschleunigung als die Hälfte geschrumpft. Der Anteil der
winner des internationalen Handels gilt, 51,4 Güterhandel in Prozent des Rückkehrer dagegen steigt.
ist das erst einmal eine schlechte Nach- Welt-Bruttoinlandsprodukts Der Haushaltsgeräte-Hersteller Rowen-
richt. Die Exporte werden nicht bloß ta hat Teile seiner China-Produktion wie-
vorübergehend nachlassen; viele deutsche der an den Stammsitz ins hessische Erbach
Unternehmen müssen auch ihr Geschäfts- 2018 geholt. Die frühere Siemens-Tochter Giga-
modell umstellen: weg von der Ausfuhr 45,6 set montiert in Bocholt Smartphones. Und
von Industriegütern, die Länder wie Chi- der Hannoveraner Musikelektronikkon-
na oder Indien ebenso herstellen können. zern Sennheiser produziert seine neueste
Hin zum wachsenden Geschäft mit Daten- Kopfhörergeneration im rumänischen
und Dienstleistungen. Zugleich lohnt es 2018 BraŞow, und nicht in China. »Wir sparen
sich für viele Firmen, ihre Produktion +28 Transportkosten, sind näher an unserem
zurück nach Europa zu verlagern. Und Kernmarkt und sichern unsere Unabhän-
für manche Betriebe aus vermeintlich ster- gigkeit«, sagt Co-Chef Daniel Sennheiser.
benden Branchen eröffnen sich neue 2008 Welt-Brutto- Die Globalisierung hat vielen asiati-
Chancen. 0 inlandsprodukt schen Ländern Wohlstand gebracht. Ge-
Thomas Lindner ist Familienunterneh- Veränderung in Prozent nau deshalb aber verliert sie nun an
mer in der vierten Generation. In seiner Quellen: IWF, WTO gegenüber 2008 Schwung. In Shanghai oder Guangdong
Fabrik im sächsischen Hohenstein-Ernst- sind die Löhne inzwischen ähnlich hoch
thal reihen sich gut hundert Strickauto- Tag geliefert bekommen. Diesen Wunsch wie in Osteuropa. Die Güter auf dem See-
maten aneinander. Früher produzierte die kann nur erfüllen, wer vor Ort produziert weg zu transportieren rechnet sich dann
Firma vor allem Medizintextilien: Diabe- und sich die Ware nicht erst per Schiff aus oft nicht mehr. Nach einer aktuellen Um-
tikersocken, Bandagen, Stützstrümpfe. Fernost anliefern lässt. frage der Deutschen Handelskammer in
Doch dann stieg Lindner in das Ge- Die Statistik belegt, wie sich die Globa- China sind die gestiegenen Löhne inzwi-
schäft mit Sportsocken ein. Er vertreibt lisierung verlangsamt. Um die Jahrtau- schen der Hauptgrund, warum viele deut-
muskelschonende Spezialstrümpfe über sendwende legte der Welthandel laut einer sche Unternehmen dort weniger investie-
den Fachhandel oder Onlineshops. Dort Analyse des Münchner Ifo-Instituts mehr ren wollen.
können die Kunden auch Socken mit dem als doppelt so schnell zu wie das globale Die Regierungen fördern den Trend, in-
Logo ihres Vereins oder ihrer Laufgruppe Inlandsprodukt. Heute haben sich die dem sie ihre Märkte abschotten. Sie ver-
bestellen. »Wir müssen schnell und indivi- Wachstumsraten angeglichen. hängen Zölle und Gegenzölle, erlassen
duell produzieren«, sagt Lindner, »dafür In der deutschen Metall- und Elektro- Quoten für lokale Produktion oder behin-
ist Deutschland der perfekte Standort.« industrie etwa ist die Zahl der Betriebe, dern unliebsame Investoren wie etwa den
Die Textilbranche hatte ihre Jobs jahr- die Teile ihrer Produktion ins Ausland ver- chinesischen Technologiekonzern Huawei.
zehntelang nach Asien verlagert, erst nach lagern, seit den Neunzigerjahren um mehr In der Folge nimmt der Fernhandel ab,
China, später nach Vietnam oder während der regionale Austausch
Bangladesch. Doch inzwischen stärker wird: zwischen Ost- und
kehren auch manche großen Her- Westeuropa, innerhalb Nordame-
steller wieder in die Heimat zurück. rikas, zwischen China und seinen
Der Sportmulti Adidas etwa fertigt asiatischen Nachbarn.
in seiner roboterbestückten Speed- Experten sprechen von einer
factory im fränkischen Ansbach »Regionalisierung der Lieferket-
Turnschuhe. Der Textilriese Hugo ten«, die durch neue Technologien
Boss lässt in München Anzüge noch beschleunigt wird. Lange Zeit
schneidern. sorgte der Fortschritt in Luft- und
Weitere Firmen werden folgen, Schifffahrt dafür, dass sich Waren
glaubt Yves-Simon Gloy, geschäfts- immer schneller um den Erdball
führender Direktor des sächsischen transportieren ließen.
Textilforschungsinstituts in Chem- Die Innovationen von heute wir-
nitz. Vor Kurzem hat der Ingenieur ken der Globalisierung eher entge-
bei einer Pilotproduktion von Adi- gen. Mit dem Einsatz von Robo-
das schon einmal vorgeführt, wie tern und 3-D-Druckern lassen sich
die Textilfertigung der Zukunft aus- Arbeitskräfte einsparen – Lohnkos-
sehen könnte: Eine Kundin wählt ten fallen weniger stark ins Ge-
am Computer Farben und Muster wicht. Der Austausch von Gütern
aus, ein Körperscanner nimmt wird durch digitale Datendienste
Maß. Eine digitale Strickmaschine ersetzt: Streamingportale wie Net-
vollendet das Werk, nur ein paar flix oder Spotify lösen den Handel
Stunden später kann die Kundin mit CDs und DVDs ab. Google
ihren Pullover in Empfang nehmen. Maps macht den Erwerb von Land-
»In wenigen Jahren wird es die karten und Stadtplänen überflüssig.
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL

ersten Textilfabriken geben, die Der internationale Datenaustausch


nach diesem Verfahren arbeiten«, ist im vergangenen Jahrzehnt um
sagt Gloy. ein Vielfaches schneller gewachsen
Viele Kunden wollen ihr Pro- als der Güterhandel.
dukt nicht einfach nur im Internet Selbst klassische Industriekon-
bestellen, sie wollen es mitentwer- zerne wie die Heidelberger Druck-
fen – und möglichst am nächsten Firmenchef Lindner: »Der perfekte Standort« maschinen AG haben erkannt,

57
Wirtschaft

Albtraum in XXL
dass sie zu digitalen Dienstleistern werden
müssen, um langfristig zu überleben. Das
Walldorfer Unternehmen ist Weltmarkt-
führer für Druckmaschinen, doch der
Absatz stockt seit Jahren. Konzernchef
Rainer Hundsdörfer will das Unterneh- Wohnungsnot In vielen Städten setzen Investoren
men deshalb in ein »industrielles Ama- Mehrfamilienhäuser in Baulücken oder zwischen alte Villen –
zon« verwandeln, wie er vollmundig an- zum Unmut der Anwohner, die sich dagegen wehren.
kündigt. »Wir wollen zu einem Vorreiter
für das Internet der Dinge im Maschinen-
bau werden.«
Dazu will er den Datenschatz ausbeu-
ten, den die Sensoren von weltweit Tau-
senden Heidelberg-Anlagen regelmäßig in
J edes Jahr gewinnt Hamburg im
Schnitt rund 20 000 Einwohner hinzu.
Die Stadt wächst – und mit ihr die
Wohnungsnot. Die Lage werde sich erst
einem Jägerzaun, fertig zum Abbruch. Bin-
ner zeigt auf dem Laptop, wie sein geplan-
tes Mehrfamilienhaus aussehen sollte: im
Erdgeschoss drei Apartments für Senioren,
die Zentrale senden. Die Informationen entspannen, wenn mehr gebaut werde, darüber drei Wohnungen für Familien. Es
wird der Konzern künftig nutzen, um Dru- gab der Erste Bürgermeister Peter Tschen- entstünde Platz für etwa 15 Bewohner, wo
ckereien auf der ganzen Welt bei der Pla- tscher (SPD) im vergangenen Jahr auf dem zuletzt eine Person lebte. Zehn bis elf Euro
nung ihrer Produktion und der Auslastung Wohngipfel im Kanzleramt als Devise aus. Kaltmiete wollte Binner pro Quadratme-
ihrer Maschinen zu helfen. Michael Binner nahm ihn beim Wort. ter verlangen, im Mittel des Mietspiegels,
In fünf Jahren, glaubt Hundsdörfer, Binner kaufte ein Grundstück in Ham- dann wäre sein Finanzplan aufgegangen.
wird es weltweit zwar rund 2000 Heidel- burg-Meiendorf, im Nordosten der Stadt. So aber bangt er um sein Projekt – und
berg-Maschinen weniger geben als heute. Dort wollte er ein Mietshaus mit sechs wundert sich über die Meiendorfer. Sein
Dafür aber soll sich das Geschäft mit In- Wohnungen errichten. Doch im Januar er- Eindruck: »Hier will sich ein ganzer Stadt-
formationen und Dienstleistungen verviel- ließ die Bezirkspolitik plötzlich eine soge- teil gegen Menschen abschotten, die sich
fachen. »Heidelberg«, sagt Hundsdörfer, nannte Veränderungssperre, sie fror gewis- kein eigenes Haus leisten können.«
»wird zu einem Big-Data-Konzern.« sermaßen die Bebauung ein. Jetzt dürfen Konflikte wie in Hamburg-Meiendorf
Für die deutsche Wirtschaft ist der ge- vorerst nur die dort üblichen Eigenheime brechen gegenwärtig in vielen Wohngebie-
genwärtige Wandel ein »Schlüsselmo- entstehen, aber keine Mehrfamilienhäuser. ten deutscher Städte auf, unterschiedliche
ment«, sagt McKinsey-Partner Eckart Binner sagt: »Ich erlebe gerade meinen Interessen prallen aufeinander. Die Bau-
Windhagen. »Die deutsche Industrie steht persönlichen Albtraum.« herren wollen Mehrfamilienhäuser errich-
vor einer Transformation, wie sie zuletzt ten, weil die Nachfrage nach Wohnungen
beim Aufstieg Japans in den Achtzigerjah- vor allem in Ballungsräumen immens ist
ren bewältigt werden musste.« und Baugrund knapp. Die Anwohner in-
Doch während Manager allmählich be- des fürchten, dass die Neubauten den Cha-
greifen, welcher Wandel der Weltwirt- rakter ihres Viertels zerstörten.
schaft bevorsteht, scheint die globale Poli- Dort hatte einst die Nachkriegsgene-
PHILIPP SCHMIDT / DER SPIEGEL

tik noch immer in gewohnten Rastern ge- ration ihren Traum vom Eigenheim ver-
fangen. Vor allem die Handelsmächte USA wirklicht. Inzwischen sind die Bewohner
und China fechten immer noch die alten in die Jahre gekommen, die Kinder lange
Kämpfe aus. aus dem Haus. Ein Drittel der Rentner, die
China beispielsweise will weltweit neue hierzulande in Städten leben, wohnt laut
Bahnschienen und Hafenanlagen bauen einer Studie der Instituts der deutschen
(»Neue Seidenstraße«, siehe Seite 74), ob- Wirtschaft allein in vier und mehr Zim-
wohl künftig womöglich weniger Güter Grundstück in Meiendorf mern. Der Generationenwechsel kommt
transportiert werden müssen. US-Präsi- Der Friede zerbricht in Gang, die Kinder verkaufen die An-
dent Trump hofft darauf, mit Zöllen Mil- wesen, der Friede in der Nachbarschaft
lionen Industriearbeitsplätze in die USA Michael Binner, 31, Betriebswirt, ange- zerbricht.
zurückzuholen – und wird am Ende bes- stellt bei einer Internetfirma in München, Solche Konstellationen hat das Bundes-
tenfalls neue Jobs für Roboter bekommen. ist kein Immobilienhai, selbst die Bezeich- institut für Bau-, Stadt- und Raumfor-
Und auch in der Bundesrepublik können nung »Investor« behagt ihm nicht. Er habe schung in Bonn systematisch untersucht.
sich Wirtschaftspolitiker aller Lager noch nur etwas Geld gespart und es nicht »in ir- Die Wissenschaftler werteten Fälle in Städ-
nicht von der Idee lösen, Deutschlands gendeinen Ökofonds« stecken wollen, wie ten wie Bonn, Göttingen oder Kassel aus.
wirtschaftliche Stärke hänge ausschließlich er sagt, sondern verfolgen wollen, was da- Das Ergebnis: Der »hohe Siedlungsdruck«
am Export von Industriegütern. mit passiert. So kam Binner auf die Idee, entfache »eine Nutzungs- und Verteilungs-
Im Zeitalter der entschleunigten Globa- ein Haus zu bauen und die Wohnungen konkurrenz, die in vielerlei Hinsicht kon-
lisierung aber gelte es, »den deutschen zu vermieten, in Meiendorf deshalb, weil fliktreich sein kann und ist«. Die »Akzep-
Binnenmarkt zu stärken«, etwa durch seine Familie früher dort lebte. tanzprobleme aufseiten der Bürgerschaft«
»niedrigere Steuern, mehr öffentliche In- Meiendorf ist ein ruhiger, bürgerlicher würden immer größer.
vestitionen und den Ausbau der digitalen Ortsteil an der Hamburger Peripherie, dort Die Anwohner reagierten oft abweh-
Infrastruktur«, fordert der Kieler Handels- wohnen Steuerberater, Schauspieler, auch rend, die Forscher sprechen vom »Nimby-
ökonom Felbermayr. Deutschland werde Ex-Bürgermeister Ortwin Runde ist hier zu ism«. Das Akronym steht für »not in my
immer eine Exportnation bleiben, müsse Hause. Im Viertel überwiegen die Eigen- backyard« (»Nicht in meinem Hinter-
sich aber »ein Stück weit von seiner Fixie- heime, einige mit Carport, offenem Kamin hof«). Ein prominentes Beispiel dafür ist
rung auf den Außenhandel lösen«. und einem Garten, in dem sich ordentlich das Tempelhofer Feld: 2014 hatten sich
Michael Sauga Fußball spielen lässt. die Berliner in einem Volksentscheid mit
Mail: michael.sauga@spiegel.de Auf Binners 1150-Quadratmeter-Areal Mehrheit dagegen ausgesprochen, den
steht noch ein altes Haus, eingefriedet mit ehemaligen Flugplatz zu bebauen.

58
PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
Besucher auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: »Nicht in meinem Hinterhof«

Das Sankt-Florians-Prinzip? Davon plänen für Wohngebiete findet: die Be- näheren Umgebung einfügt«. Ob dieser
könne keine Rede sein, widerspricht Jan schränkung auf höchstens zwei Wohnungen Anspruch erfüllt wird, sieht naturgemäß
Fockele, ein Hauseigentümer in Meiendorf. pro Gebäude. Die Vorgabe sei angreifbar, jeder anders. Am Ende entscheiden oft die
Er habe nichts gegen Verdichtung, auch sagt Florian Herbst, Fachanwalt für Bau- Gerichte.
in Wohngebieten, sagt er, aber bitte im und Architektenrecht in Hamburg: »Mit die- So ist es im grünen Süden Münchens ge-
rechten Maß. In den vergangenen Jahren sem Problem sind bundesweit Gemeinden schehen, am Schmorellplatz nahe dem Per-
habe es mit den monumentalen Bauten konfrontiert.« lacher Forst. Dort reichte ein Investor vor
überhandgenommen, so sein Eindruck, Der Korrekturbedarf ist bekannt, Juris- fünf Jahren eine Voranfrage für den Bau
eine Grenze sei überschritten: »Meiendorf ten monieren seit Längerem die »Planungs- von sechs Wohnungen plus Penthouse für
verliert sein Gesicht.« lyrik« in baurechtlichen Vorschriften. Doch ein Grundstück ein, auf dem bislang nur
Fockele hat gemeinsam mit dem An- Gemeinderäte haben wenig Interesse, für eine Villa gestanden hatte. Eine Bürgerini-
wohner Matthias Vahl im vorigen Sommer Klarheit zu sorgen. Neue Bebauungspläne tiative machte Front dagegen, auch die
die Bürgerinitiative »Meiendorf erhalten« auszuarbeiten ist aufwendig, das Prozedere Stadt stellte sich quer. Bauherr und Behörde
gegründet. Auf einer Tour durch das Vier- zieht sich oft über Jahre hin. stritten vor Gericht, der Fall ging durch die
tel zeigen sie, was sie anstößig finden: ein Noch weniger berechenbar ist der Aus- Instanzen, der Investor bekam Recht. Die
verklinkertes Ensemble zum Beispiel, lang gang von Konflikten, wenn für eine inner- Stadt musste den Bescheid erteilen.
gestreckt wie eine Scheune, mit acht Woh- städtische Fläche gar kein Bebauungsplan In Hamburg-Meiendorf war die Bürger-
nungen, die Parkfläche davor ist mit Pflas- existiert. In diesen Fällen müssen Neubau- initiative erfolgreicher. Sie erreichte, dass
tersteinen versiegelt. Die Nachbarn schau- ten nach den Vorgaben des Paragrafen sich die Bezirksversammlung mit der
en auf eine schier endlose Außenwand, 34 des Baugesetzbuches geplant werden. Novellierung des Bebauungsplans befasste
früher blickten sie ins Grüne. Von dieser Er besagt, dass im Prinzip alles zu geneh- und die Veränderungssperre verhängte.
Dimension entstünden immer mehr Exem- migen sei, was sich »in die Eigenart der Das Tempo mag damit zusammenhängen,
plare, sagt Vahl: »Das Viertel kippt.« dass im Bezirk Ende Mai Wahlen anstehen.
Im Bebauungsplan ist eigentlich klar ge- Jetzt muss die Politik entscheiden, wie
regelt, dass solche Klötze nicht erwünscht Luftige deutsche Städte sie den Plan präzisiert. Eine Option: Sie
sind. In der Begründung des Gesetzes, 1982 Einwohnerzahl pro Quadratkilometer könnte festlegen, dass auf einer Teilfläche
verabschiedet, wird ausdrücklich als Ziel in ausgewählten Großstädten, 2018 des Grundstücks, zum Beispiel auf 500
definiert, »den gewachsenen Charakter als Quadratmetern, nur eine Wohnung zuläs-
Einfamilienhausgebiet zu erhalten und auf Paris 21290 sig ist. Damit allerdings wäre der Traum
Dauer zu schützen«. Doch im Laufe der des Grundeigentümers Binner vom Mehr-
Jahre haben oberste Verwaltungsrichter in Barcelona 16200 familienhaus geplatzt.
Deutschland eine ganz andere Vorstellung London (City) 12600 Er habe ja Verständnis für Anwohner,
von einem Einzelhaus entwickelt. die sich von Neubauten gestört fühlten, sagt
Heute kann ein solches Objekt laut stän- Kopenhagen 7140 Binner. Aber sie sollten auch seine Position
diger Rechtsprechung aus mehreren ver- respektieren. Er habe ein Grundstück mit
bundenen Gebäuden bestehen. Entschei- einem geltenden Bebauungsplan erworben,
München 4670
dend ist nur, dass der Abstand zur Grenze 650 000 Euro für die 1150 Quadratmeter
des Nachbarn gewahrt bleibt. So ist es Berlin 4060 bezahlt, in der festen Erwartung, dort
nicht ungewöhnlich, dass Bauämter auch sechs Wohnungen bauen zu dürfen, sagt
Frankfurt a. M. 2960
Objekte im XXL-Format genehmigen. er. »Und jetzt bin ich der Gelackmeierte.«
Mit Verweis auf die Interpretation der Köln 2630 Alexander Jung
Quellen:
Gerichte ist auch eine Klausel auszuhebeln, TU Darmstadt/ Mail: alexander.jung@spiegel.de
die sich bundesweit in vielen Bebauungs- Hamburg 2340 Pestel-Institut

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 59


Ausland
Der globale Anspruch des heutigen China ist kein Fieber, sondern Ehrgeiz, in Beton gegossen. ‣ S. 74

STEVEN SAPHORE / REUTERS


Im Ersten Weltkrieg erlitten 8500 Soldaten des Australian and New Zealand Army Corps auf der türki-
schen Halbinsel Gallipoli eine bittere Niederlage gegen die Truppen des Osmanischen Reichs. Heute
erinnern ihre Nachfolger alljährlich, wie hier die 324. Schwadron am Coogee-Strand bei Sydney, an
den Tag der Landung und den ersten großen Kriegseinsatz an der Seite des britischen Mutterlands.

Analyse

Zwei vor zwölf


Die Trump-Regierung attackiert den Atomwaffensperrvertrag – einen Pfeiler der globalen Ordnung.

Die US-Regierung will in den nächsten zehn Jahren fast 500 Mil- waffensperrvertrags zu beraten und die versprochene Abrüstung
liarden Dollar in ihr Atomwaffenarsenal stecken. In dieser Zahl voranzutreiben. Niemand rechnet jedoch mit einem Erfolg. Statt-
spiegelt sich das Ego von Präsident Donald Trump, der mit der dessen hat die Trump-Regierung angefangen, den Pakt zu attackie-
Größe seines Atomknopfs prahlte. Zwar gibt es internationale Ver- ren. Bisher geht sie dabei diplomatisch vor. Der Abteilungsleiter
träge, um nukleare Waffen zu kontrollieren. Aber Trump bringt für internationale Sicherheit und atomare Nichtverbreitung des
einen Pfeiler der Weltordnung nach dem anderen zum Einsturz. US-Außenministeriums verkündet auf Auslandsreisen die neue
Nachdem er den Nukleardeal mit Iran und das INF-Abkommen Sichtweise: Die im Vertrag festgeschriebene Abrüstung sei eigent-
über das Verbot atomarer Mittelstreckenwaffen erledigt hat, torpe- lich gar nicht so wichtig. Es handle sich bloß um eine Sprachrege-
diert seine Regierung jetzt eine noch bedeutendere Vereinbarung: lung, auf die man sich »aus Gründen der Bequemlichkeit« geeinigt
den Atomwaffensperrvertrag. Der vor einem halben Jahrhundert habe. Der Kern des Vertrags sei die Nichtverbreitung über den
geschlossene Pakt beruht auf einer klaren Abmachung: Die Län- Kreis derer hinaus, die schon die Bombe haben.
der, die keine Atombombe haben, lassen weiterhin die Finger Das ist nah am Vertragsbruch und könnte auf manche Staaten
davon. Dafür versprechen die Atommächte, dass sie ihre nuklea- wie eine Einladung wirken, ihre eigene Atomwaffe zu bauen. Die
ren Waffen eines Tages verschrotten. sogenannte Doomsday-Uhr, mit der US-Wissenschaftler die
Nächste Woche kommen bei der Uno in New York Abgesandte Gefahr eines Atomkriegs anzeigen, steht schon jetzt auf zwei vor
aus allen Erdteilen zusammen, um über die Erfüllung des Atom- zwölf. Wie zu Beginn des Kalten Krieges. Dietmar Pieper

60 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Nordirland Saudi-Arabien

»Hart wie die Hölle« Rache mit dem Schwert

CLODAGH KILCOYNE / REUTERS


 Saudi-Arabiens Kronprinz Moham-
Am 18. April wurde die Journalistin Lyra med bin Salman präsentiert sich als
McKee in Nordirland von Paramilitärs Modernisierer. Er investiert in die
der »Neuen IRA« getötet. Was das für den Hightechindustrie und räumt Frauen
Frieden in der Unruheprovinz bedeutet, Rechte ein. Gleichzeitig geht er mit
erläutert Marisa McGlinchey, 35, Do- größter Härte gegen Oppositionelle vor.
zentin an der Universität Coventry. Von Beerdigung von McKee Am Dienstag wurden auf Erlass des
ihr stammt das Buch »Unfinished Königshauses 37 Menschen mit dem
Business: The Politics of ›Dissident‹ Irish SPIEGEL: Gibt es Rückhalt für diese Schwert hingerichtet. Mindestens 33 der
Republicanism«. Gruppen in der Bevölkerung? Männer gehörten der schiitischen
McGlinchey: Minimalen. Die Tötung von Minderheit an, die gut zehn Prozent
SPIEGEL: Kehrt die Gewalt nach Nord- Lyra McKee hat in ganz Irland für Ab- der saudi-arabischen Bevölkerung
irland zurück? scheu gesorgt, sogar innerhalb der soge- ausmacht. Viele stammten aus Katif,
McGlinchey: Sie war nie weg. Seit dem nannten Dissidentenszene. einer Stadt an der Ostküste. Dort kam
Karfreitagsabkommen von 1998 herrscht SPIEGEL: Fühlen sich die Dissidenten es mit der Arabellion 2011 zu Aufstän-
nur relativer Friede. Polizeistatistiken durch die Debatte über den Brexit und den. Die Demonstranten hatten gegen
zeigen, dass jedes Jahr erhebliche Men- harte Grenzen in Irland ermuntert? die Benachteiligung von Schiiten und
gen an Waffen beschlagnahmt werden McGlinchey: Diese Gruppen bezeichnen
und dass es weiter Bombenanschläge und den Brexit als Chance, die es zu nutzen gilt.
paramilitärische Schießereien von Der Ex-Chef der Partei Saoradh, die als
Gruppen wie der Neuen IRA gibt. politischer Arm der Neuen IRA gilt, hofft
SPIEGEL: Sind diese sogenannten Dis- nach eigenen Worten auf einen Brexit, der
sidenten schlicht Kriminelle, oder »so hart wie die Hölle« sein möge. Grup-
verfolgen sie ein politisches Ziel? pen wie die Neue IRA beteuern allerdings,
McGlinchey: Die sogenannte republikani- ihre Aktionen seien keine Antwort auf den
sche Dissidentenbewegung umfasst ein Brexit, sondern Teil der traditionellen
weites Spektrum von Gruppen. Einige pro- Kampagne für ein vereinigtes Irland.
pagieren bewaffnete Gewalt, andere sind SPIEGEL: Was würde passieren, wenn es
strikt dagegen. Gemeinsam streiten sie für wieder eine harte Grenze gäbe?
ein unabhängiges, aus 32 Regionen beste- McGlinchey: Das ist ein unwahrschein-

TASNEEM ALSULTAN / NYT / LAIF


hendes Irland. Diese traditionelle republika- liches Szenario. Aber käme es so weit,
nische Forderung haben Parteien wie Sinn würde diese Grenze ganz sicher zum An-
Féin und die Provisional IRA schon in den schlagsziel für bewaffnete republikani-
Siebziger- und Achtzigerjahren erhoben. sche Gruppen. JÖS

Chappatte Kronprinz Mohammed (M.)

die absolute Herrschaft der Sauds pro-


testiert. In einem Verfahren wurden
24 Männer bezichtigt, Mitglieder einer
»Terrorzelle« zu sein, die angeblich
mehr als 50 Angriffe gegen Sicherheits-
kräfte geführt habe. In einem zweiten
wurden den Angeklagten Hochverrat
und Spionage für Iran vorgeworfen.
Dass es sich bei den Prozessen vor allem
um eine Machtdemonstration der Re-
gierung gegen eine religiöse Minderheit
handelte, zeigen Anklagepunkte wie
etwa »die Verbreitung der schiitischen
Lehre«, was nicht explizit verboten ist.
Das Verhältnis zwischen Schiiten und
der ultrakonservativen sunnitischen
Mehrheit der Saudi-Araber ist seit Grün-
dung des Königreichs angespannt. In
der Staatsdoktrin, dem Wahhabismus,
werden Schiiten als »Ketzer« verun-
glimpft. Die meisten Geständnisse sei-
en unter Folter zustande gekommen,
sagen Menschenrechtsorganisationen,
die das Verfahren beobachtet haben.
Die Regierung in Riad bestreitet das. SUK

61
Ausland

Operation 2020
USA Fast zwei Dutzend Demokraten bringen sich für die Präsidentschaftswahl in Stellung.
Am populärsten sind zwei Politveteranen, aber auch einige bisher wenig bekannte
Bewerber machen auf sich aufmerksam. Wer von ihnen kann Donald Trump schlagen?

E
igentlich sollte Joe Biden nur mit- Kann er oder sie verhindern, dass Trump quer durchs Land. Amy Klobuchar, die
teilen, dass er für das Amt des Prä- eine zweite Amtszeit bekommt? eher konservative Senatorin aus Minne-
sidenten kandidieren möchte. Das Schon jetzt ist absehbar, wie zäh und sota, schwärmt vom Ethanolgeruch in den
Video, das er am Donnerstag ins langwierig dieser innerparteiliche Prozess Fabriken des Mittleren Westens. Kamala
Netz stellte, wirkt aber wie die Ankündi- wird, vielleicht auch hässlich. Selten hat Harris, Senatorin aus Kalifornien, feuert
gung eines Feldzugs. Donald Trump sei ein Wettstreit um die Nominierung so früh Parteifreunde in Nevada an. Der linke Se-
eine »Bedrohung« für Amerika, sagt Bi- begonnen, noch nie in der jüngeren US- nator Bernie Sanders diskutiert mit Kon-
den in dem Clip. »Wenn wir ihm acht Jah- Geschichte gab es derart viele ernst zu neh- servativen in Pennsylvania.
re im Weißen Haus gewähren, wird er das mende Bewerber, derart viele Frauen, der- Wenn John Halpin entscheiden könnte,
Wesen unserer Nation fundamental und art vielfältige Biografien. dann würden die Demokraten bis Novem-
für immer verändern.« Er erinnert in dra- Und doch stehen mit Biden und Sanders ber nächsten Jahres über exakt zwei
matischen Worten daran, wie Trump im zumindest im Moment zwei alte, weiße Themen reden: Gesundheit und Bildung,
Sommer 2017 auch unter Rassisten, die in Männer an der Spitze. Biden ist 76, San- mehr nicht. Halpin kann aber nur Ratschlä-
Charlottesville linke Demonstranten atta- ders ein Jahr älter. Würde Sanders nomi- ge geben. Er analysiert Wahltrends und
ckierten, »sehr anständige Leute« aus- niert und dann die Wahl gewinnen, könnte Meinungen für das Center for American
machte. Es klang, als wollte Biden den Not- er im Jahr seiner Amtseinführung seinen Progress, einen der einflussreichsten
stand ausrufen. 80. Geburtstag im Weißen Haus feiern. Thinktanks für die Demokraten in Wa-
Als Vizepräsident von Barack Obama Will die Partei wirklich mit Großvätern in shington. Sein Job ist es, für die Partei in
war Biden der gut gelaunte Sidekick, der die Wahl ziehen? Sind die Demokraten die Vereinigten Staaten hineinzuhören.
Typ mit den lockeren Sprüchen. Die in- nicht viel moderner geworden, jünger, Halpin trägt Pullover und Seitenscheitel,
tellektuelle Abgehobenheit Obamas glich weiblicher, quirliger, haben sie bei den hinter ihm im Büro steht ein Stoffadler,
er mit dem Grinsen des Sohns eines Ge- Kongresswahlen voriges Jahr nicht bewie- der etwas schlapp wirkt. Seit Monaten be-
brauchtwagenhändlers aus Pennsylvania sen, dass Stärke in der Vielfalt liegt? sucht Halpin Diskussionsgruppen mit
aus, der die Washingtoner Politik seit Jahr- Wählern von Michigan über Wisconsin
zehnten kennt. Die Buddy-Maske hat und Minnesota bis Ohio – in Bundesstaa-
Biden nun abgelegt. Stattdessen wirft er Die Kandidaten ringen ten aus dem sogenannten Rust-Belt, die
sich in die Rolle des Rächers, der das recht- um Spenden und um ein Großteil der politischen Klasse kaum
schaffene Amerika vertritt. »Wir befinden aus der Nähe kennt. Er hört, wie desillu-
uns im Kampf um die Seele dieser Nation«, Anhänger, sie reisen kreuz sioniert viele Leute von dem Präsidenten
sagt er. und quer durchs Land. sind, er sieht Chancen für die Partei in Vor-
Es ist eine Kampfansage ans Weiße städten und auf dem Land. Viele Wähler
Haus. Biden gibt sich erst gar keine Mühe, im Mittleren Westen der USA seien offen
seine Abscheu gegenüber Trump zu ver- Für Biden spricht, dass er seit Jahrzehn- für demokratische Kandidaten, sagt er.
bergen. Der Clip war zugleich eine Bot- ten auf der politischen Bühne steht. Er ver- »Die beste Strategie ist, nicht dauernd ge-
schaft an all jene Demokraten, die seit Mo- fügt über ein großes Netzwerk an Unter- gen Trump zu schießen.«
naten davor warnen, den Präsidenten im stützern, er und Sanders sind den Ameri- Halpin will die Demokraten dazu brin-
Vorfeld der Wahl nächstes Jahr allzu ve- kanern vertraut, das ist ihr Vorteil, aber gen, über Themen zu reden, die die Men-
hement anzugreifen, um dessen modera- auch ihr Nachteil. schen bewegen, nicht über den Präsiden-
ten Anhänger nicht zu vergraulen. Biden Der Wahlkampf ist gerade erst angelau- ten. Joe Biden, so viel lässt sich sagen, hat
sagt dagegen: Lasst uns in den Kampf zie- fen, aber bereits jetzt hat er neue Stars ge- sich daran schon mal nicht gehalten.
hen, lasst uns diesen Mann aus Washing- schaffen, die bis vor Kurzem noch nie- Es ist für die Demokraten schwer, nicht
ton vertreiben. mand kannte. Den Namen des jüngsten auf den Präsidenten zu reagieren. Vorigen
Bis zur Präsidentschaftswahl sind es Medienlieblings muss Amerika noch ler- Donnerstag veröffentlichte das US-Justiz-
noch anderthalb Jahre, die Vorwahlen be- nen: Pete Buttigieg, 37, schwul, Bürger- ministerium den Bericht von Sonderermitt-
ginnen erst im Februar 2020, aber der meister der Stadt South Bend mit 100 000 ler Robert Mueller, der die Abgründe von
Wettstreit unter Demokraten wird hitziger. Einwohnern im eher republikanischen Trumps Amtsführung detailliert schildert.
20 Bewerber haben sich gemeldet. Ganz Bundesstaat Indiana. Ein anderer Kandi- Die derzeit schärfste Trennlinie zwi-
vorn in den Umfragen steht Joe Biden, da- dat hat es gerade auf das Cover der ameri- schen den Bewerbern verläuft seither bei
hinter Bernie Sanders, Senator aus Ver- kanischen »Vanity Fair« geschafft: Beto der Frage, ob man gegen Trump ein Im-
mont. Der Rest folgt mit einigem Abstand. O’Rourke, 46, der im vergangenen Herbst peachment-Verfahren einleiten soll. Eliza-
Den Demokraten steht ein Jahrhundert- knapp die Wahl um einen Senatssitz in beth Warren, Senatorin aus Massachusetts,
wahlkampf bevor, es ist nicht übertrieben Texas verlor. argumentiert, dass jeder normale Ameri-
zu sagen, dass alles auf dem Spiel steht. Die Kandidaten ringen um Spenden kaner, der sich wie Trump verhalten wür-
Wer immer am Ende als Kandidat gewählt und um Anhänger, sie wollen früh Wähler de, längst »im Gefängnis« gelandet wäre.
wird, muss sich an der Frage messen lassen: auf ihre Seite ziehen und reisen kreuz und Bernie Sanders ist aus taktischen Gründen

62 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


JORDAN GALE / THE NEW YORK TIMES / LAIF JOSEPH PREZIOSO / AFP

Demokratische Bewerber O’Rourke, Biden, Sanders, Harris (r.): »Nicht gegen Trump schießen«

63
POLARIS / LAIF BRIDGET BENNETT / THE NEW YORK TIMES / LAIF
dagegen, da er fürchtet, Trump könnte am
Ende als moralischer Gewinner dastehen.
Am Dienstag meldete CNN: »Kandida-
ten sind sich uneinig, ob sie Trump des
Amtes entheben wollen oder nicht.« Zu-
mindest sind die Demokraten gut darin,
untereinander Streit anzufangen.
Es gibt unter denen, die sich zur Wahl
stellen, viele, die hoffen, dass sich die Sache
mit Biden und Sanders bald selbst erledigt.
Jüngere Parteianhänger halten die beiden
für Relikte aus dem 20. Jahrhundert –
Biden auch deshalb, weil er offenbar nicht
einsehen will, dass nicht mehr er bestimmt,
auf welche Art er sich seinen Mitmenschen
nähert. Der Ex-Vizepräsident ist in der Ver-
gangenheit Frauen unpassend nahe gekom-
men, was ihn für manche zu einem unmög-
lichen Kandidaten macht – auch wenn er
sich mittlerweile entschuldigt hat.
Es ist Anfang April, als die Präsident-
schaftsbewerberin Kamala Harris in eine
Schulbücherei in Carson City tritt, einem
Ort im Norden von Nevada. Sie ist hier,
um für höhere Lehrergehälter zu werben,
bis zu 15 000 Dollar mehr im Jahr, der ers-
te große Vorschlag ihrer Kampagne. Harris
will zeigen, dass ihr Bildung wichtig ist.
Die erste Frage kommt von einem Jour-
nalisten des Senders NBC. Was denkt Har-
ris über die Beschwerden mehrerer Frauen,

CHERYL SENTER / AP
die sich von Joe Biden angetatscht fühlten?
»Ich glaube den Frauen«, sagt Harris. Soll-
te ihr Parteifreund aus dem Rennen aus-
steigen? »Das muss er selbst entscheiden.«
Ihre gute Laune ist verflogen. Wahlkämpferin Warren: »Zeit für eine Frau«
Sie muss sich nun mit einem 76-Jähri-
gen befassen, den gerade jüngere Frauen
für etwas schmierig halten. Ihr Dilemma
ist, dass sie Unterstützer verprellt, wenn
sie allzu hart gegen Parteifreunde schießt, Glaubt man einer Studie, dann sehnt sich in Amerika die
gleichzeitig aber auch nicht weich wirken Mehrheit nach einem überparteilichen Konsens.
darf. Ihr hilft, dass sie ein dickes Finanz-
polster besitzt. Nach Bernie Sanders sam-
melte sie die meisten Spenden im ersten
Quartal ein, rund zwölf Millionen Dollar.
Für ihre Anhänger verkörpert sie das
perfekte Gegenmittel zu Trump: eine Ju-
ristin von scharfem Verstand mit einer
Mutter aus Indien und einem Vater aus Ja-
maika, die als Justizministerin von Kali-
fornien bewiesen hat, dass sie sich gegen
männliche Konkurrenz behaupten kann.
Sie spricht über »unangenehme Wahr-
heiten«, bleibt aber oft distanziert, wenn
es um ihre eigenen Motive geht. Bei einem
Auftritt vor Parteianhängern in einer Piz-
zeria sagt sie: »Wir müssen die Bedeutung
von Wahrheit und Gerechtigkeit endlich
wiederherstellen.« Am Ende ihrer Rede
steht eine kleine Frau mit grauen Haaren
applaudierend im Publikum, sie heißt
Chresten Wilson und ist Aktivistin der De-
POLARIS / LAIF

mokraten. Hauptberuflich fliegt sie als Pi-


lotin Passagiermaschinen für United Air-
lines. Wilson sagt: »Ich habe genug von
alten Männern. Es ist Zeit für eine Frau.« Politiker Buttigieg: Jungenhaft, schwul, verheiratet, Afghanistanveteran

64
Ausland

Wer mit Aktivisten der Demokraten die Wahlleute bei der Präsidentschafts- nem, der aussieht, wie sich alte Menschen
spricht, könnte meinen, das Land wäre zu wahl abzuschaffen. einen jungen Kerl vorstellen.
gleichen Teilen in wohlmeinende Idealis- Das Publikum besteht fast ausschließ- Sein Aufstieg zeigt, wie tolerant ein gro-
ten auf der einen Seite und Trump-Fans lich aus weißen Zuhörern. Sie unterbre- ßer Teil Amerikas geworden ist. Die Tatsa-
auf der anderen Seite gespalten. Man chen ihn immer wieder mit Applaus und che, dass Buttigieg schwul ist, spielt selbst
könnte die Geschichte eines tief verunsi- reihen sich am Ende in eine Schlange ein, bei Fox News kaum eine Rolle. Wer ihm
cherten, gespaltenen Landes spinnen, eine um ein Foto mit dem Star zu machen. Bis zuhört, merkt, dass sich eine konstante Kla-
Geschichte, die sich halb Amerika erzählt, vor wenigen Wochen kannte ihn kaum je- ge durch die Reden zieht. Er verkörpert vie-
aber so einfach ist es nicht. mand außerhalb seines Heimatstaats In- le junge Amerikaner, die viel geleistet, aber
Glaubt man einer Studie der gesell- diana. Seinen Namen spricht man übri- fast nichts erreicht haben, die ständig unter
schaftspolitischen Initiative »More in Com- gens so aus: Buudidschidsch. Inzwischen Druck stehen und lernen mussten, mit fi-
mon«, dann gibt es in Amerika wesentlich schreibt die »New York Times« über sei- nanzieller Unsicherheit zu leben. Seine Ge-
mehr Bürger, die sich nach einem überpar- nen Wahlkampf, die großen Sender schi- neration habe die meisten Soldaten im Irak
teilichen Konsens sehnen. Die Mehrheit cken Kamerateams zu seinen Auftritten. und in Afghanistan gestellt, sagt Buttigieg.
hat die Nase voll von Hass und Zynismus. Es gibt Umfragen, in denen er auf Platz Seine Kampagne ist der Versuch, jener Ge-
In einer groß angelegten Untersuchung lie- drei der Demokraten steht, gleich hinter neration die Macht zu entreißen, die Kriege
ßen die Autoren mehr als 8000 Männer Biden und Sanders. Als er seine Kandida- angezettelt hat, die Geld und Leben koste-
und Frauen überall im Land befragen und tur verkündete, sammelte er innerhalb ten und den USA wenig brachten.
teilten anschließend die Gesellschaft in von vier Stunden eine Million Dollar ein. Es ist ein Ton, der sich in milderer Form
sieben »Stämme«. Die beiden politischen Es scheint, als hungerte das Land nach ei- auch durch die Reden anderer Bewerber
Extreme sind linke Aktivisten und über-
zeugte Konservative. Das Erstaunliche:
Zusammen stellen sie nur etwa ein Drittel
der Bevölkerung, eine laute Minderheit.
Die übrigen zwei Drittel bilden dagegen
die »erschöpfte Mehrheit«. Das sind Bür-
ger verschiedenster politischer Färbungen,
denen die Polarisierung missfällt und die
bereit sind, Kompromisse zu schließen. Sie
sind nicht leidenschaftslos, aber ideolo-
gisch weniger festgefahren und halten den
Konsens für wichtiger als einen Sieg im
Kampf um die Meinungsherrschaft.
Die Studie zeigt, wie wichtig es für die
Demokraten ist, im Kampf gegen Trump
die gesellschaftliche Mitte zu suchen, wenn
sie nicht riskieren wollen, Millionen Wäh-
ler zu verprellen. Sie spiegelt eine Sehn-
sucht nach Ruhe und Beständigkeit. Und
kein Bewerber der Demokraten verkör-
pert diese Sehnsucht so sehr wie Pete But-
tigieg, der Bürgermeister von South Bend.
Es ist ein Samstagvormittag Anfang
April, als Buttigieg in eine Buchhandlung
in Concord tritt, in New Hampshire. Schon
seine Kleidung signalisiert brutalste Harm-
losigkeit: hellbraune Lederschuhe, eine
Jeans von durchschnittlichstem Blau, wei-
ßes Hemd, grauer Pullover. Er geht an den
Geschichtsbüchern vorbei, klettert vor
dem Regal mit Büchern über die darstel-
lenden Künste auf einen Holzstuhl und
sagt: »Wir erleben gerade den Beginn einer
neuen Ära.« Er meint damit sich.
Das Erfrischende an Buttigieg ist nicht
seine Botschaft, sondern er selbst. Ein jun-
genhafter Politiker, schwul, verheiratet,
Kirchgänger, mit Abschlüssen aus Harvard
und Oxford und einer Karriere bei McKin-
sey, aus dem Mittleren Westen stammend,
Afghanistanveteran ist er auch noch. »Jaja,
ich kapier das«, sagt Buttigieg, auf dem
Stuhl stehend, »diese Unverfrorenheit, mit
der einer wie ich daherkommt und sagt:
Ich will Präsident werden. Versteh ich to-
tal.« Dann redet er über Klimawandel,
Wahlrechtsreform und seinen Vorschlag,

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 65 roland-rechtsschutz.de


IN DER SPIEGEL-APP Ausland

zieht. Der sogenannte Krieg gegen den Beto O’Rourke, den die meisten in
Terror der Nullerjahre, die Militäreinsätze Amerika nur beim Vornamen nennen,
im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien tritt an einem Donnerstag im April in eine
und anderswo, haben die Vereinigten Staa- Bar in Iowa zwischen Maisfeldern, die
ten zermürbt. Das Volk ist müde gewor- nach Gülle riechen, und ruft 20 Leuten
den, das Gewicht der Welt auf den Schul- entgegen: »Danke, dass ihr euch die Zeit
tern zu tragen. Daran hat nicht Donald genommen habt, um an eurer Demokra-
Trump Schuld, auch wenn er den Mythos tie teilzunehmen.« Dann erzählt er, dass
nährt, die Verbündeten Amerikas hätten er nach dem Aufstehen in seinem Hotel,
jahrzehntelang auf Kosten der USA gelebt. dem Sleep Inn im Nachbarort, eine Runde
Es ist kein radikal neuer Staat, den die laufen war, sich verirrte und einen zwölf-
Demokraten anbieten. Die meisten von jährigen Jungen um Hilfe bat. Die Ge-
ihnen stellen eine Art Reparatur in Aus- schichte hat keine Pointe. Womöglich
sicht. Sie werben für den Ausbau der Ge- dient sie ihm dazu, die Gedanken zu sam-
sundheitsversorgung, die Erneuerung bau- meln. Im Januar filmte er sich beim Zahn-
fälliger Straßen und Brücken, den Kampf arzttermin und übertrug den Clip live im
gegen den Klimawandel und die Drogen- Netz.
epidemie und allgemein für die Rückkehr O’Rourke wirkt manchmal etwas verlo-
zu Anstand und Wahrheit. ren, was er durch ausufernde Gesten ver-
Manche klingen wie Trump, nur intel- sucht gutzumachen. Journalisten verglei-
lektueller. Bernie Sanders griff am Montag chen ihn häufig mit einem Rockstar, aber
vor Studenten in New Hampshire die un- in Iowa wirkt er eher wie ein DJ, der einen
gerechten Handelsverträge an, die die endlosen Technotrack spielt. Nach einer
USA abgeschlossen hätten. Er klang wie Stunde setzt er sich in seinen Mietwagen
ein Wirtschaftsberater des Weißen Hauses. und fährt zum nächsten Auftritt.
Im Vergleich zu seiner Kampagne gegen Lange galt der Politiker aus Texas als
Hillary Clinton 2016 hat sich bei ihm we- Geheimtipp unter den Präsidentschafts-
kandidaten, aber Pete Buttigieg hat ihn in
den Umfragen eingeholt und kommt ihm
Die größte Schwäche auch bei den Spenden näher. Das muss
des Präsidenten ist, dass nicht so bleiben, aber es zählt zur brutalen
Realität des US-Wahlkampfs, dass neue
ihn eine Mehrheit Hoffnungsträger so schnell verblassen, wie
im Land für unfähig hält. sie aufgetaucht sind.
Jüngere Kandidaten haben im Ver-
gleich zu ihren erfahrenen Kollegen wie
nig verändert. Vorige Woche war er zu Joe Biden oder Bernie Sanders dennoch
Kampf gegen Gast bei Fox News, dem Lieblingssender
des Präsidenten. Er bekam viel Applaus.
einen Vorteil. Sie tragen weniger politi-
schen Ballast mit sich herum, bilden einen
Schatten Zwölf Prozent derjenigen, die während
der Vorwahlen 2016 im Rennen gegen
markanten Gegensatz zum 72 Jahre alten
Präsidenten und können bei Themen
Im Juli 2017 besiegte ein irakisches Militär- Clinton für Sanders stimmten, wählten am wie Klimaschutz, sexueller Selbstbestim-
Ende Trump. Dafür kann sich Sanders auf mung, Immigration oder Gesundheitsre-
bündnis nach monatelangen Kämpfen
eine enthusiastische, fast ekstatische An- form glaubhafter für ihre Position werben
den IS in Mossul. Mit dem Verlust der Mil- hängerschaft stützen. Jeder fünfte seiner als Männer, die gefühlt schon immer da
lionenmetropole zerbrach das »Kalifat« Spender gab zum ersten Mal Geld an ihn, waren.
im Irak. Doch abseits der geschleiften Ter- was zeigt, dass er immer neue Fans findet. Es muss der Partei letztlich nicht scha-
rorhochburgen harrten Reste der Gruppe Und es hilft, dass er in Gegenden beliebt den, dass sie ihren Wählern eine große
in entlegenen Landstrichen aus. Es dauer- ist, die Trump den Sieg brachten: Pennsyl- Vielfalt von jungen und alten Bewerbern
te nicht lange, bis sich dort Angriffe auf vania, Michigan und Wisconsin. präsentiert, von Einwandererkindern,
Städte, Dörfer und Checkpoints häuften. Die größte Schwäche des Präsidenten Frauen, weißen Männern. Es wird die Auf-
Sicherheitskräfte durchkämmen die Ge- ist, dass die Mehrheit der Amerikaner ihn gabe desjenigen sein, der die Nominierung
gend nach Dschihadisten, die wie aus für unfähig hält. Trumps Zustimmungswer- erhält, das Land zu elektrisieren und
dem Nichts erscheinen, blitzartig zuschla- te liegen seit Monaten bei 42 Prozent, und gleichzeitig die gesamte Partei so hinter
das in einem guten wirtschaftlichen Klima. sich zu versammeln, dass auch moderate
gen und wieder verschwinden.
Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist Demokraten zur Wahl gehen. Im Moment
sehr niedrig, seit Trumps Amtsantritt wur- halten es in Washington dennoch viele für
Sehen Sie die Visual Story im digitalen den fast eine halbe Million neuer Indus- unwahrscheinlich, dass Joe Biden am Ende
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. triejobs geschaffen, ein so starker Zuwachs zum Kandidaten gekürt wird.
wie seit einem Vierteljahrhundert nicht. Sein Wahlspruch könnte lauten: Ame-
Dennoch sehnen sich viele nach einem rika muss wieder Amerika werden. Dabei
Kandidaten, der jünger ist, netter, weniger wirkt er selbst wie eine Figur aus einem
bombastisch und weniger zerstörerisch. weißen, wohlhabenden, unbeschwerten
Der frühere Kongressabgeordnete Beto Land, das längst verschwunden ist.
O’Rourke versuchte mit diesen Eigenschaf- Christoph Scheuermann
ten voriges Jahr Senator von Texas zu wer- Twitter: @chrischeuermann
JETZT DIGITAL LESEN den. Er hätte es fast geschafft.

66 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Ausland

Es wird ernst
Analyse In Kiew hat ein versöhnlicher Mann die Präsidentschaftswahl gewonnen – aber
Wladimir Putin begrüßt ihn im Konflikt um den Donbass mit einem feindseligen Akt.

M
it Wolodymyr Selenskyj ist in der Ukraine ein in grenznahen Meldeämtern auf russischem Boden, die eigens
Politiker neuen Typs zum Präsidenten gewählt verstärkt wurden.
worden – ein Spaßvogel aus dem Fernsehen, ein Das Ganze erinnert an Russlands Vorgehen in den georgi-
Populist ohne politisches Programm und ohne schen Regionen Abchasien und Südossetien. Auch dort hat
politische Erfahrung. »Keine Versprechen, keine Entschul- es massenhaft russische Pässe verteilt. Als daraufhin der ge-
digungen« lautete einer seiner Slogans; die Zeile stammt aus orgische Präsident Micheil Saakaschwili 2008 seine Truppen
einer ukrainischen Schnulze und zielte auf den Rivalen, Amts- in Süd-Ossetien einmarschieren ließ, intervenierte Moskau
inhaber Petro Poroschenko, der etliche Versprechen gebro- militärisch – mit dem Argument, es müsse russische Staats-
chen hatte. bürger schützen. Später erklärte es die Gebiete zu von
Selenskyj wurde zur Projektionsfläche für viele Ukrainer, Georgien unabhängigen Zwergstaaten.
gerade weil er wenig Konkretes ankündigte. Er stand für den Moskau beruft sich abermals auf humanitäre Gründe: Kiew
Traum von der Entmachtung der korrupten Elite, den Traum blockiere die »Volksrepubliken«, erkenne die Menschen dort
vom Ende des Krieges in der Ostukraine, von einer fried- mithin nicht als eigene Bürger an. Ihre schiere Not fordere,
lichen Nachbarschaft mit Russland. dass man ihnen russische Pässe ver-
Aber was an der Urne funktionier- schaffe, wenn sie es denn wünschten.
te, das funktioniert nicht im Um- Daran stimmt, dass es eine Wirt-
gang mit Moskau. Der Kreml hat schaftsblockade tatsächlich gibt.
Selenskyj aus seinen Träumen ge- Aber Selenskyj hat in seinen Auftrit-
rissen, indem er am Mittwoch, nur ten klargestellt, dass er alle Ukrai-
drei Tage nach der Wahl, bekannt ner – auch die in Donezk und Lu-
gab, Pässe an Menschen im besetz- hansk – als gleichwertige Bürger
ten Donbass zu verteilen. Moskau sieht. Er hat den Nationalismus, den
wird, in anderen Worten, die dort Poroschenko im Wahlkampf ange-
lebenden Ukrainer fortan als seine facht hat, verurteilt. Er ist selbst ein
eigenen Bürger betrachten. Es ist russischsprachiger Ukrainer. Seine
ein Schritt, der den Friedenspro- Haltung hat ihm die Diffamierung
zess in der Ostukraine belastet und seitens der Gegner eingebracht – Po-
Russlands Position im Konflikt neu roschenko tat so, als wäre Selenskyj
definiert.  ein Mann Putins und als würde der
Bisher bestand diese Position da- Wahlkampf nicht zwischen ihm und
VALENTYN OGIRENKO / REUTERS

rin, an der Fiktion eines innerukrai- Selenskyj geführt, sondern zwischen


nischen Konflikts festzuhalten. An- ihm und dem russischen Präsidenten.
ders als im Fall der Krim bekannte Selenskyj tritt für bessere Kontakte
sich Moskau dazu, dass der Don- zu den Einwohnern der »Volksrepu-
bass ukrainisches Territorium sei. bliken« ein, also für eine Milderung
Auch die dort gebildeten »Volksre- der gegenwärtigen Blockade. Wäre
publiken«, behauptete Moskau, un- es Putin mit seinem Argument der
terstünden nicht dem Kreml, son- Politiker Selenskyj Humanität ernst, er müsste Selen-
dern örtlichen Separatisten. Putins skyj die Chance geben zu handeln.
Ziel war es, die Gebiete zurück in den ukrainischen Staats- Aber warum warten, wenn der Gegner geschwächt ist?
verband zu integrieren – aber auf eine Weise, die Russland Putin stellt Selenskyj schneller auf die Probe, als der erwarten
Einfluss auf die gesamte Ukraine geben würde. Dieses Ziel konnte. Er hat mit seinem Schritt bis nach der Präsident-
hat er zu einem Zeitpunkt, da die Ukraine militärisch am Bo- schaftswahl gewartet, um Selenskyjs Chancen nicht zu
den lag, in den Minsker Abkommen fixieren lassen. Jedenfalls schmälern. Nun aber steht die ukrainische Parlamentswahl
ist das Moskaus Interpretation der Abkommen. Nur hat Kiew im Herbst bevor – und da gibt es Kräfte, die nicht bloß
unter Selenskyjs Vorgänger Poroschenko die Fiktion unab- versöhnlich reden wie Selenskyj, sondern die prorussisch
hängiger »Volksrepubliken« nie akzeptiert. Es spricht von sind. Es gibt für Moskau keinen Grund mehr, Selenskyj zu
»besetzten Gebieten« und hat sich dem Moskauer Plan er- schonen.
folgreich widersetzt.  Der ist nun gezwungen, Farbe zu bekennen. In einer ersten
Nun hat Putin selbst die Fiktion aufgegeben. Russland er- Stellungnahme verurteilte er den Vorstoß Moskaus. Russland
hebt in einem ersten Schritt Anspruch auf die Menschen im erkenne damit seine »Verantwortung als Besatzungsmacht«
Donbass, wenn auch noch nicht auf die Gebiete. Die Bewoh- an, schrieb er. Aber er bekräftigte zugleich, dass er die Ver-
ner können ihre Anträge auf russische Staatsbürgerschaft in bindungen zwischen den Menschen in den besetzten Gebie-
den »Volksrepubliken« stellen (das geht aus Erklärungen des ten des Donbass und dem Rest der Ukraine erleichtern wolle.
russischen Innenministeriums hervor), und sie müssen dabei Jetzt muss sich der ukrainische Präsident doppelt verteidi-
nicht einmal ukrainische Dokumente vorlegen, es reichen gen – gegen den Kreml einerseits und gegen die Scharfmacher
solche der Separatisten. Bearbeitet werden die Anträge dann daheim andererseits. Christian Esch

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 67


Ausland

Terroristenschwester Madaniya in Kattankudy: »Man muss ihn einer Gehirnwäsche unterzogen haben«

Neuer Hass
Sri Lanka Nach den Attentaten vom Ostersonntag fürchten viele eine Rückkehr der Gewalt im
ehemaligen Bürgerkriegsland. Eine Reportage aus dem Osten der Insel, wo der Anführer
der Attentäter herkam und viele Christen starben. Von Fritz Schaap und Christian Werner (Fotos)

A
ls die Vergangenheit die Gegen- die blutige Vergangenheit seines Landes eine Gasflasche gehandelt. Dann kommt
wart einholt, als in der Zions- durchlebt, nun sorgt er sich um die Zu- ein Anruf aus der Hauptstadt Colombo.
kirche von Batticaloa ein Selbst- kunft. Tambimuttu erfährt von weiteren Explo-
mordattentäter mindestens 28 Die Stadt Batticaloa wirkt an diesem sionen, er fährt zur Zionskirche. Staub
Menschen in den Tod reißt, 14 davon Kin- Mittwoch nach den Anschlägen wie aus- liegt in der Luft, die Fenster sind zersplit-
der, kann Arun Tambimuttu nichts davon gestorben. Die Geschäfte sind geschlossen, tert. Er sagt, er habe sofort gewusst, dass
hören. Er hat Kopfhörer auf, sitzt im ersten kaum Autos auf den Straßen. Das Militär es keine Gasflasche war. »Wenn man hier
Stock seines Hauses in seinem fensterlosen kontrolliert am Busbahnhof jeden, der in aufwächst, bekommt man ein Gefühl für
Tonstudio und hört ein Lied, das eine bes- einen der dunkelroten, rostigen Busse stei- Bomben.«
sere Zukunft verspricht – es ist sein eigenes gen will. Still liegt die Stadt mit ihren Er sagt, in der Kirche habe er verbrannte
Wahlkampflied. So erzählt er es drei Tage knapp 100 000 Einwohnern in der Schwü- Körper gesehen, abgerissene Gliedmaßen,
später, als er durch seine Stadt fährt. le des Morgens zwischen den Lagunen. Blut an den Wänden, Gehirnmasse, Kno-
In seinem Wahlkampf, sagt er, gehe es Batticaloa ist der einzige Ort weit au- chensplitter. Da sei er wieder hinausgegan-
darum, dass die Möglichkeiten groß wären, ßerhalb der Hauptstadt, der am Ostersonn- gen. Kindheitserinnerungen seien in ihm
wenn die Menschen die alten Konflikte tag Ziel eines Anschlags wurde. Das mag aufgestiegen. Bilder von Massenexekutio-
hinter sich ließen. daran liegen, dass der Anführer der Atten- nen. Entführungen. Vom Tod seiner Eltern.
Tambimuttu ist ein großer, stämmiger täter aus der Nähe stammt. Fast genau ein Jahrzehnt lang sah es so
Mann mit kurz geschorenen Haaren und Erst durch einen Anruf erfährt Tambi- aus, als wäre das Blutvergießen in Sri Lan-
breitem Kinn, 43 Jahre alt, er lacht viel. muttu am Morgen des Anschlags von der ka nach 26 Jahren Bürgerkrieg wirklich
Er ist Christ, Tamile, Politiker, aus Batti- Explosion in der Kirche. Einer seiner Mit- beendet. Langsam schien das Trauma zu
caloa, einer Küstenstadt im Osten, er hat arbeiter erzählt ihm, es habe sich wohl um heilen, die Touristen kamen. Doch in die-

68 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Beerdigung eines Opfers in Colombo: Eine der tödlichsten Anschlagsserien, die weltweit mit dem IS in Verbindung gebracht wurden

sen Tagen wird die Insel erneut von der sionen waren gewaltig, die Ausführung er- Doch nun kommt, als eine zynische
Gewalt heimgesucht. Sieben Selbstmord- folgte koordiniert und professionell. Und Wendung der Geschichte, das Selbstmord-
attentäter, die sich in einem nachträglich die Gefahr ist offenbar noch nicht vorbei: attentat zurück in das Land, in dem es von
veröffentlichten Video zum »Islamischen Immer wieder wurden in der vergangenen den Tamil Tigers einst in ihrem Guerilla-
Staat« bekannten, sprengten sich am Woche neue Bomben gefunden. Straßen krieg gegen die Regierung etabliert wor-
Ostersonntag in drei Luxushotels, drei Kir- werden gesperrt, Ausgangssperren ver- den war.
chen und einem Gasthaus in die Luft. Sie hängt. Das Land ist im Ausnahmezustand. »Das Selbstmordattentat ist eine viel
rissen 253 Menschen in den Tod; es ist eine Nun drohen neue Unruhen, Racheakte. stärkere Waffe in den Händen der Musli-
der tödlichsten Anschlagsserien, die welt- In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch me, mit ihrem Märtyrerdenken, als in der
weit je mit dem IS in Verbindung gebracht brannten zwei Boote muslimischer Fischer Hand der Tamilen, denen kein Paradies
wurden. In Colombo, Batticaloa, Negom- in Batticaloa. Wenn es eines der Ziele der winkt«, sagt Tambimuttu. Er sitzt auf der
bo starben doppelt so viele Menschen wie Attentäter war, religiöse Spannungen zu Terrasse seines Hauses, auf dem flachen
bei den Anschlägen von Paris. verschärfen, scheint es ihnen gelungen zu Dach, über das sich ein Mangobaum beugt,
Eine unvorstellbar grausame Attacke, sein – zumindest in einigen Teilen des Lan- und schaut nachdenklich auf die Kirche
am höchsten christlichen Feiertag – in des. In Negombo, nördlich der Hauptstadt, nebenan. Er spricht mit einer Stimme, die
einem Land, das mit islamistischem Extre- gibt es seit Montag gewalttätige Ausschrei- sich Gehör verschafft. Laut und sicher.
mismus bisher keine Erfahrung hat. tungen gegen Muslime. »Die letzten drei Tage haben mir das
Die Anschläge sind das Ergebnis eines Religiöser Hass ist neu. Die Spannungen Herz gebrochen«, sagt Tambimuttu.
monumentalen Versagens der sri-lanki- verliefen in Sri Lanka immer an ethnischen Batticaloa war zur Zeit des Bürgerkriegs
schen Sicherheitskräfte. Sie hatten Anfang Linien. Es war der Konflikt zwischen Sin- oft Frontstadt. Ein Schauplatz von Massa-
April konkrete Warnungen vom indischen ghalesen und Tamilen, der das Land fast kern, eine Stadt voller Angst. Es gab Folter
Geheimdienst vor Anschlagsplänen erhal- zerriss. Bis zu diesem Ostersonntag hat es und Hinrichtungen. Tambimuttu ist hier
ten: Man habe einen Mann verhaftet, der in Sri Lanka nie nennenswerte Konflikte geboren und aufgewachsen, es war eine
die späteren Attentäter ausgebildet haben zwischen Christen und Muslimen gegeben. schöne Kindheit, sagt er, sorglos, am
soll. Erste Hinweise hatte es schon Monate Beide Religionsgruppen bilden kleine Strand, auf den Farmen der Familie. Bis
zuvor gegeben. Getan wurde nichts. Der Minderheiten: 7 Prozent der Bevölkerung 1983 der Bürgerkrieg kam. Wenn Tambi-
sri-lankische Premierminister feuerte nun des Landes sind Christen, nur jeder Zehnte muttu aus dieser Zeit erzählt, klingt es, als
den Polizeichef und den Verteidigungsmi- ist Muslim. 13 Prozent sind Hindus, mehr läse er aus einem Geschichtsbuch des
nister, weil sie Informationen nicht weiter- als zwei Drittel sind Buddhisten. Wenn es Grauens vor. Die Fakten akkurat, die Sät-
gegeben haben sollen. in Sri Lanka Gewalt gab, dann waren es ze fern vom Herzen.
Vieles bleibt vorerst rätselhaft an diesem zuletzt Übergriffe extremistischer Bud- Die Tamilen hätten damals im Krieg
österlichen Terroranschlag. Seine Dimen- dhisten auf Muslime und Hindus. ihre Werte verloren, sagt Tambimuttu.

69
Ausland

»Das Töten wurde normal.« In dem Haus, gemacht. Und: »Ohne Jobs keine Perspek- stammten aus sehr wohlhabenden Famili-
in dem er nun wohnt, haben Milizen mehr tiven, kein Geld. Die Angst kehrt zurück. en. Die soziale Herkunft der Attentäter ist
als hundert Menschen gefoltert und ermor- Und Milizen können immer zahlen.« ein weiterer rätselhafter Aspekt dieses neu-
det, erfuhr er später. Als er es kaufte, wa- Trotz seines Glaubens an den Frieden, en Terrorismus.
ren an einer Wand noch Blutspuren. sagt Tambimuttu, hätten ihn die Attentate »Ich hätte ihm das nie zugetraut«, sagt
»Es begann mit den Minen 1984«, sagt nicht überrascht. Er beobachte schon lange Zahrans Schwester Madaniya. »Man muss
er. Die Milizen der Tamil Tigers platzier- die Unterstützung der muslimischen Ge- Zahran einer Gehirnwäsche unterzogen
ten sie auf den Straßen, und jeden Don- meinde im Land durch die Golfstaaten und haben«, sagt sie. Madaniya ist eine kleine
nerstag, wenn die Armee Nachschub damit ihre Radikalisierung. »Ich hätte ge- Frau. Sie trägt ein helles, türkises Kleid
brauchte, jagten sie ein Fahrzeug in die dacht, es passiert erst in fünf Jahren«, sagt mit pinkfarbenen Blumen, einen beigen
Luft. »Die Armee verhaftete jeden in der er, »es ist ein Desaster.« Schleier hat sie lose um den Kopf ge-
Umgebung. Dann richteten sie sie hin. Rund 15 Autominuten von Tambimuttus schlungen.
Gleich dort.« Menschen wurden aufge- Haus entfernt liegt die muslimische Stadt Sie sieht müde aus, Spielzeug liegt he-
knüpft und hingen an Straßenmasten, weil Kattankudy. Sie liegt dicht gedrängt auf ei- rum, sie hält eines ihrer drei Kinder im
sie den jeweils anderen Kämpfern Wasser ner Landzunge zwischen anderen Siedlun- Arm. Ihr Mann, ein Tuk-Tuk-Händler, des-
gegeben hatten. gen. An der Einfahrt zur Stadt spannt sich sen Kricketpokale Vitrine und Schreibtisch
Schon Tambimuttus Vater war ein be- ein doppelter Torbogen, der auf steinernen zieren, mochte ihren Bruder nicht. »Was
kannter Politiker, außerdem Menschen- Palmenstämmen ruht, über die Straße, und er predigte, war nicht der Islam«, sagt der
rechtsanwalt. Er zeichnete die Kriegsver- eine der Inschriften heißt auf Arabisch stämmige junge Mann in seinem Wohnzim-
brechen der Regierungstruppen auf. 80 herzlich willkommen. mer auf einem Plastikstuhl. Ab 2017 hätten
Prozent der Tamilen sind Hindus, er stellte Auch hier, wo 1990 angeblich die Tamil Zahrans Formulierungen sehr nach denen
sich als tamilischer Christ gegen die Tamil Tigers weit mehr als hundert Muslime in des »Islamischen Staates« geklungen.
Tigers, jene Miliz, die sich über die Jahre ihren Moscheen abschlachteten, sind die »Ich hatte deswegen seit Längerem nur
zu einer Armee entwickelte und die mit Läden geschlossen. »Es ist schwierig, hier noch wenig mit ihm zu tun«, sagt Mada-
Terror und Guerillakampf versuchte, Informationen zu sammeln«, sagt ein niya und wischt sich mit dem Kopftuch
einen eigenen Staat im Norden und Osten hoher Armeeoffizier an der Straße, »wir den Schweiß aus dem Gesicht. Sie sagt, ihr
der Insel zu gründen. bekommen nur sehr schwer Zugang zu Bruder habe vor 2017 keinen Hass gepre-
Die Tigers, so erzählt es Tambimuttu, den Menschen.« digt. Später erklärt sie, dass das nur be-
schickten Todeskommandos in ihr Haus. Mehr als 40 000 Menschen leben hier deutet, dass er erst da anfing, gegen den
Einem Attentäter schlug seine Mutter mit auf engem Raum. Circa 50 Moscheen gibt Staat und andere Religionen zu hetzen.
dem Besen die Pistole aus der Hand. Als es. Viele davon wurden mit Geld aus dem Vorher habe er nur gegen andere islami-
14-Jähriger wurde Tambimuttu entführt, arabischen Ausland finanziert, heißt es. sche Strömungen gehetzt, zum Beispiel ge-
sah, wie die Tigers mehr als 60 Männer Und mit dem Geld vom Persischen Golf gen die Sufis, eine mystische Richtung.
hinrichteten, und wurde drei Tage lang kam der Wahhabismus ins Land, der sau- Aber die, so die Schwester, seien nun mal
festgehalten. Irgendwann zog seine Fami- di-arabische Steinzeitislam. Es ist die Glau- keine richtigen Muslime.
lie nach Colombo. Am 7. Mai 1990 fuhr bensrichtung, der auch Zahran Hashim an- Sie steht im Raum, knetet ihre Hände,
sein Vater mit seiner Mutter zur kanadi- hing, bevor er sich der Barbarei und dem seit dem Anschlag habe sie nicht mehr ge-
schen Vertretung, sie wollten ein Visum. IS verschrieb. schlafen. Sie hat Angst, wie viele Muslime
Bevor sie das Gebäude betreten konnten, Zahran Hashim gilt als der Kopf hinter im Land. »Ich bin jetzt allein«, sagt sie.
wurden sie von Schüssen der Tigers nie- den Anschlägen vom Ostersonntag. Er ist Denn auch ihre anderen Geschwister und
dergestreckt. der einzige der Attentäter auf dem vom ihre Eltern sind verschwunden. Das letzte
In Sri Lanka ist das keine außergewöhn- IS veröffentlichen Video, dessen Gesicht Mal sah sie die Familie am 18. April. Drei
liche Geschichte. Und das macht die An- nicht verhüllt ist. Einige der anderen At- Tage vor dem Anschlag. Seitdem fehlt von
schläge vom Ostersonntag noch schlimmer. tentäter, gab die Regierung bekannt, ihnen jede Spur. »Was soll ich denken, au-
Fast jeden Sri Lanker versetzen sie in die ßer, dass sie auch damit zu tun haben? Ich
Zeit der Gewalt zurück. Anschläge am Ostersonntag ertrage nicht, was mein Bruder getan hat.«
Tambimuttu zog damals zu einem On- INDIEN
Ihr Haus steht in einer kleinen Neben-
kel nach Großbritannien. Er kehrte erst straße, keine hundert Meter davon ent-
Batticaloa
2009 zurück, als der Krieg mit einer bru- fernt liegt die Moschee der National Thaw-
SRI
talen Offensive der Armee endete und in LANKA heedh Jamaath (NTJ), die ihr Bruder wohl
wenigen Monaten etwa 40 000 Menschen im Jahr 2012 gegründet hat. Sie trägt den
Colombo Kartenausschnitt
starben. Er ging in die Politik, versuchte, Namen der Extremistengruppe, die nun
die Versöhnung voranzutreiben. »Für vie- für die Anschläge an Ostern verantwort-
le militante Tamilen in der Diaspora bin St. Sebastian-Kirche lich gemacht wurde – und die bisher nur
ich deswegen ein Verräter.« für vereinzelte Angriffe auf buddhistische
»Es bringt nichts zu schauen, wer was 10 km Tempel bekannt war.
getan hat«, sagt er, »wir müssen nach vorn Der neue Imam der Moschee, Moho-
sehen. Versöhnung ist ein Muss. Selbst der med Thoufeek, empfängt die Besucher in
Mann, der meine Eltern umgebracht hat, seinen Räumlichkeiten, und er präsentiert
wohnt wieder hier. Ich kenne ihn, es gibt Kingsbury Hotel fleißig einen Brief, mit dem belegt werden
genug Beweise, ich könnte ihn vor Gericht soll, dass man Zahran schon am 29. De-
St. Antonius-Schrein
bringen. Aber werden meine Eltern davon Shangri-La
zember 2017 aus der Gemeinde geworfen
wieder lebendig?« Hotel Dematagoda habe. Der Grund sei eine blutige Auseinan-
Tambimuttu hatte einen wirtschaft- Colombo
dersetzung am 10. März desselben Jahres
lichen Plan, das Land voranzubringen: Er Cinnamon gewesen. Damals seien Zahran und seine
wollte den Tourismus ankurbeln. Dieser Grand-Hotel Dehiwala Männer mit Schwertern bewaffnet gegen
Plan, so scheint es, wurde nun zunichte- Sufi-Muslime losgegangen. An diesem Tag

70 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


nicht schwer, erzählt Arun Tambimuttu,
der tamilische Christ und Politiker.
Am späten Nachmittag, als das Licht be-
reits golden wird, steht er neben seinem
Jeep vor der verwüsteten Zionskirche.
»Große Mengen Heroin und Haschisch
werden über Kattankudy geschmuggelt«,

LAHIRU HARSHANA / IMAGO IMAGES / ZUMA PRESS


sagt Tambimuttu. »Da wird es nicht
schwer sein, auch Sprengstoff auf die Boo-
te zu laden.« Er sagt: »Es gibt seit acht Mo-
naten Gerüchte im Ort über IS-Rückkeh-
rer aus Syrien.«
Mitte Januar hatte Sri Lankas Kriminal-
polizei bereits vier Männer einer radikal-
islamischen Gruppe festgenommen. Bei
den Männern wurden auf einer Kokosplan-
tage 100 Kilogramm Sprengstoff, 100 Zün-
der sowie Schusswaffen gefunden.
Polizeieinsatz nach Attentat in Colombo: Ergebnis eines monumentalen Versagens Tambimuttu ist an diesem Nachmittag
auf dem Weg zu einem Ex-Tamil-Tiger. Er
fährt regelmäßig zu den einstigen Milizio-
nären. Draußen hängen weiße Fahnen an
den Häusern. Zeichen der Trauer. Einige
der früheren Milizionäre hätten ihm in den
letzten Tagen gesagt, erzählt Tambimuttu,
dass sie nun muslimische Dörfer angreifen
würden, wenn man ihnen Waffen gäbe.
»Die Tamilen«, sagt Tambimuttu, »be-
äugen die Muslime schon seit den Achtzi-
gerjahren immer kritischer. Es gibt dieses
Gefühl bei Tamilen und Singhalesen: Wir
haben uns gegenseitig bekämpft, dafür
sind die Muslime stärker geworden.« Frü-
her seien die Glaubensgemeinschaften auf
der Insel eng verbunden gewesen. »Ich er-
innere mich an bestimmt 20 islamische
Hochzeiten, auf denen ich als Kind war.
Aber seit ich 2009 zurückkehrte, war ich
auf keiner einzigen mehr eingeladen.«
Langsam bricht die Dämmerung herein.
Er fährt am Strand entlang, weißer Sand,
Christlicher Politiker Tambimuttu: »Man bekommt ein Gefühl für Bomben« Kokospalmen, ein Urlaubsparadies. »Das
hier hätte eine der schönsten Tourismus-
regionen Südasiens werden können«, sagt
wurden neun Anhänger Zahrans festge- zeigen sie gern. Sie haben ganze Mappen er. Die Chinesen haben überall im Land
nommen. voll davon. Kurz darauf gingen viele Mus- investiert, viele hofften auf den großen
Einer von ihnen sitzt in dem neu gebau- lime auf die Straße und skandierten: »Wir Aufschwung. Tambimuttus Plan war, Exil-
ten, sauber gefliesten Saal der NTJ-Mo- wollen Frieden, keinen wahhabitischen tamilen als Investoren ins Land zurückzu-
schee. Er behauptet, die Polizei habe ihm Terrorismus.« Zahran tauchte unter. holen. »Das hätte die ganze Region einen
eine Benzinbombe untergejubelt und ihn Die Sufis sagen, sie hätten die Männer großen Schritt nach vorn gebracht.« Und
deswegen festgenommen. »Ein gemeiner der NTJ seit 2011 immer wieder den Be- nun das. »Es ist ein Horror.«
Trick«, so der junge Mann mit den gegel- hörden gemeldet. Vergebens. Der Staat Er fährt vorbei an Cashewpflanzungen
ten Haaren. Gegen die Sufis seien sie nur habe nicht eingegriffen. Bereits seit den und Palmen, die Luft ist warm und feucht.
aus Notwehr vorgegangen, außerdem sei frühen Nullerjahren, sagen sie, sorgten sie Er fährt hinein in den Ort Kiran, um einen
der Imam der Sufi-Moschee ein schlechter sich um die zunehmende Radikalisierung Mann namens Vishnu zu treffen, den ehe-
Mensch. Ein Kiffer, der behaupte, Mari- in den anderen Moscheen. maligen Tamil Tiger, der nun Mitglied sei-
huanakonsum sei im Islam erlaubt. Der spätere Terrorist Zahran habe sich ner Partei ist. Er hält vor einem kleinen
Sie hätten hier in der NTJ-Moschee Gu- erst seit seinem Untertauchen radikalisiert, weißen Haus, ein schmächtiger Mann geht
tes getan, Blut gespendet und Flutopfern versichert der Imam in der NTJ-Moschee. ihm entgegen. Sie umarmen sich.
geholfen. Warum ihr einstiger Führer, ein Seit jenem 10. März habe man keinen Kon- Die Tamilen, sagt Vishnu, würden sich
übermäßig begabter Prediger, wie sie alle takt mehr zum einstigen Führer. Niemand durch den Anschlag bisher nicht angegrif-
beteuern, auf einmal vom rechten Pfad ab- in der Moschee. Von einem Tag auf den fen fühlen.
kam, sei ihnen allen ein großes Rätsel. anderen. Auch seine Schwester erzählt die Aber was passiert, wenn die Tamilen
Es gibt Fotos von jenem Tag, auf denen Geschichte in dieser Version. sich doch bedroht fühlen?
sowohl die Schwerter als auch die blut- Ob der IS mehr als nur ideologische Un- »Sie werden sich wehren«, sagt Tambi-
überströmten Opfer zu sehen sind. Die Su- terstützung für die Anschläge geliefert hat, muttu.
fis in der Badriya-Moschee in Kattankudy ist unklar. Sprengstoff zu besorgen sei hier

71
Ausland

Schulen, Universitäten und anderen staat-

Ode an die Freude lichen Institutionen zurückdrängen.


Das alles vertritt Biedroń mit großer
Energie. Er ist kein flammender Redner,
kein Volkstribun, der die Massen auf-
Polen Robert Biedroń, schwul und proeuropäisch, will rechten mit peitscht, sondern spricht fast zurückhal-
linkem Populismus bekämpfen. Seine Bewegung »Frühling« tend. Er vermeidet Angriffe, verzichtet in
wagt den Kulturkampf gegen die regierenden Nationalkonservativen. seinen Ansprachen weitgehend auf Vorwür-
fe an den politischen Gegner. Er kann einen
ganzen Abend lang vor Publikum reden,

Z uerst fällt auf – und das ist sehr un-


typisch für einen polnischen Wahl-
kampf –, dass die weiß-roten Natio-
nalflaggen fehlen. Die Bühne ist in Europa-
dort »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) und
die liberale »Bürgerplattform« gegenüber.
Dem Nationalismus der PiS setzt Biedroń
eine positive Vision von Europa entgegen.
ohne den Namen Kaczyński zu erwähnen.
Diese unprätentiöse Art macht ihn nah-
bar. Biedroń ist ein Meister darin, Kontakt
zu den Bürgern aufzunehmen. Wenn die
blau angestrahlt, Scheinwerfer streifen Ganz wie Macron tritt auch Biedroń an Rechten Empörungsgemeinschaften erzeu-
über die Menge, als würde gleich ein Pop- der Spitze einer Bewegung an, die auf ihn gen mit ihren Angriffen gegen kosmopoli-
star auftreten. »Schaltet eure Telefone zugeschnitten ist. Und wie der Franzose tische Eliten in Warschau und Brüssel oder
nicht aus, macht Bilder, macht Filme, stellt setzt er dem Populismus der Rechten eine gegen Flüchtlinge, erzeugt Biedroń dage-
sie ins Internet! Ganz Polen soll uns se- linksliberale Variante entgegen. Wenn PiS gen eine Begeisterungsgemeinschaft. Seine
hen«, heißt es auf der Leinwand. Dann: das katholische, traditionsbeseelte, in sich Botschaft: Jeder kann mitgestalten, die tra-
»In 15 Minuten beginnt ein neues Kapitel.« gekehrte Polen beschwört, möchte Bie- ditionellen Parteien haben abgewirtschaf-
Zunächst singt, die Arme abwechselnd droń für die offene, plurale, optimistische tet, jetzt kommt der Frühling. Da ist es
gen Himmel schwenkend, eine blonde Version seines Landes stehen. vorerst fast egal, ob seine Forderungen
Frau in Lederjacke und Schottenrock. In den Wahlkämpfen dieses Jahres, dem eine Chance auf Realisierung haben.
Der Text dreht sich um Hoffnung und um zum EU-Parlament im Mai und dem zum Gleichzeitig ist Biedroń kein Schaum-
einen nahenden »Frühling«, polnisch: Sejm im Herbst, wird es deshalb kaum um schläger, das Magazin »Polityka« wählte
»Wiosna«. So heißt die Partei von Robert eine Konkurrenz von Parteiprogrammen ihn, als er einst dem polnischen Parlament
Biedroń, 43, dem neuen Shootingstar der gehen, nicht um konkrete Maßnahmen zur angehörte, zu einem der zehn »besten
polnischen Politik. Wirtschafts-, Verkehrs- oder Energiepoli- Abgeordneten«: unermüdlich, sachkundig,
Der Mann hat es in seiner Zeit als Bür- tik, sondern um die Identitätsfrage: Was freundlich.
germeister der pommerschen Stadt Słupsk für ein Land wollen wir sein? Das natio- Geboren im Südosten des Landes, einer
zu hoher Popularität im ganzen Land ge- nalistische Polen des PiS-Anführers Ja- tief katholischen Gegend am Fuß der Kar-
bracht. Er lebt offen schwul, ist beken- rosław Kaczyński – oder das proeuropäi- paten, erlebte er seine Homosexualität als
nender Atheist, aber ein glühender Pro- sche, liberale Polen von Biedroń? Handicap. Er sagt: »Ich habe dort in freier
europäer. Deshalb läuft er auf seinen Wahl- Wildbahn Wisente und Luchse gesehen,
veranstaltungen auch zur »Ode an die aber niemals einen Schwulen.« Biedroń
Freude« in den Saal ein, durch die Menge, Die Rechten erzeugen wurde Punk, trug links einen Ohrring. Er
strahlend, Hände drückend. Empörungsgemeinschaft, studierte Politik in Olsztyn und schloss
Gerade mal ein paar Monate ist seine sich zunächst den gewendeten Kommunis-
Partei alt, sie besteht bisher aus kaum er schafft Begeisterungs- ten an. Die träge Parteibürokratie schreck-
mehr als ein paar Dutzend Helfern in gemeinschaft. te ihn schon damals. Er wechselte zur Be-
Wiosna-T-Shirts. Aber bis zu zehn Prozent, wegung des Millionärs Janusz Palikot.
so sagen Umfragen, könnte Biedroń bei 2014 gewann er die Wahl zum Bürger-
der Europawahl Ende Mai ergattern. Er Bevor Biedroń mit seiner Bewegung meister in der 90 000-Einwohner-Stadt
wäre damit die drittstärkste Kraft. Nach angetreten ist, hat er – wieder eine Ähn- Słupsk – als erster homosexuell lebender
der nächsten Parlamentswahl könnte er lichkeit mit Macron – den Dialog mit den Mann im ganzen Land. Er senkte die
damit zum entscheidenden Mehrheits- Bürgern gesucht. »Burza mózgów«, Schulden der Gemeinde, führte eine Frau-
beschaffer werden. Bei Umfragen zur Prä- Brainstorming, hieß seine Tour durch das enquote in den Ämtern ein. In einem Land,
sidentschaftswahl kommt Biedrón auf den ganze Land. Das Ergebnis ist ein Katalog dessen PiS-Außenminister einst vor
dritten Platz hinter Amtsinhaber Andrzej linksliberaler Forderungen, von denen »Fahrradfahrern und Vegetariern« in West-
Duda und EU-Ratspräsident Donald Tusk. viele eher unrealistisch sind. Unter dem europa warnte, fuhr er mit dem Rad zum
Ein offizielles Parteiprogramm hat Titel »Der Mensch ist das Wichtigste« Rathaus. Während es die Regierung in
Wiosna bisher nicht, die Bewegung verkör- geht es zum Beispiel darum, bis zum Jahr Warschau 2015 ablehnte, auch nur einige
pert ein Lebensgefühl. Es geht um die 2035 aus der Kohleindustrie auszustei- Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, sprach
Trennung von Kirche und Staat, um Um- gen – eine geradezu selbstmörderische sich Biedroń dafür aus.
weltschutz, kulturelle Vielfalt, Gleich- Forderung in Polen, wo mehr als 80 000 Er ist in seinem Leben schon oft von
berechtigung und um Europa – also um die Menschen in den Gruben und Flözen Schwulenhassern angespuckt oder verprü-
Themen, die querliegen zum Programm arbeiten. gelt worden, denkt aber nicht daran, sich
der regierenden Nationalkonservativen. Ähnlich riskant sind Biedrońs Forderun- zu verstellen. Er lebt offen seine Partner-
Wie fast jeder halbwegs charismatische gen, das Abtreibungsrecht zu liberalisie- schaft mit einem Juristen. »Wir könnten
und junge Politiker weltweit wird auch ren, künstliche Befruchtung zu subventio- uns in Belgien oder Dänemark trauen las-
Biedroń bereits mit Frankreichs Präsident nieren oder die gleichgeschlechtliche Ehe sen. Das machen wir aber nicht. Ich will,
Emmanuel Macron verglichen. Allerdings anzuerkennen. Dies lehnt vor allem die dass in Polen irgendwann gleiche Rechte
stimmt bei ihm der Vergleich in vieler Hin- katholische Kirche ab, der mehr als 90 Pro- für alle herrschen«, sagt Biedroń.
sicht: Robert Biedroń ist angetreten, die zent der Polen angehören – und der Und wie durch Zufall hat die PiS vor
politische Landschaft Polens umzubauen. Biedroń die Steuerprivilegien streichen der Wahl das Thema Homosexualität für
Seit bald zwei Jahrzehnten stehen sich will. Außerdem will er ihren Einfluss in sich entdeckt. Der Vorsitzende Jarosław

72
KACPER PEMPEL / REUTERS
Politstar Biedroń: Bei Umfragen zur Präsidentschaftswahl kommt er auf den dritten Platz

Kaczyński persönlich setzte den Ton für logieprofessor Maciej Gdula an, der ver- Leben – auf dem Weg zu einer Gedenk-
die kommende Wahlkampagne: Seine Par- blüffende Dinge sagt: »Wir brauchen wie- feier für die Opfer des sowjetischen Mas-
tei schütze die Polen vor einer Umerzie- der einen Führer.« sakers an Polen in Katyń. Der Zwilling
hung durch Schwule. Das zielte natürlich Gdula meint damit keine autoritäre Leit- Jarosław wurde damit zu einer Art leben-
auf Biedroń, der den Nationalkonservati- figur, sondern dass Politik in Zeiten des In- digem Märtyrer der Nation.
ven als Feindbild dient. ternets in hohem Maße personalisiert sei. Biedroń will für seine Anhänger in ähn-
Die Debatte um Gleichberechtigung »Die Zeitungen verlieren die politische licher Weise ein politisches Leitbild sein –
und Sexualerziehung in den Schulen, sagte Deutungshoheit, und ähnlich geht es auch nur eben andere Werte vertreten: ein links-
Kaczyński auf einem Parteikongress, führe den alten Parteien und Gewerkschaften«, liberaler Anti-Kaczyński, der Welt zu-
zu einer »Sexualisierung von Kindern«. sagt er. In Osteuropa hätten sich soziale gewandt, nicht zurückgezogen, in die
Seine Gegner wollten nicht etwa Schwule Lager und Milieus noch rasanter verändert Zukunft statt in die Vergangenheit blickend,
und Lesben vor Diskriminierung schützen, als im Westen. Politischer Protest werde offen statt autoritär, ein Visionär, der von
sondern deren Lebensstil fördern. Zum über die sozialen Medien mobilisiert. Die einem toleranten, ökologischen Polen
Thema gleichgeschlechtliche Ehe und Parteien gerieten dabei ins Hintertreffen. träumt, dem Rest Europas nicht hinterher-
Adoptionsrecht sagte er: PiS-Leute seien »Charismatische Führungspersonen kön- läuft, sondern sogar die Richtung vorgibt.
ja wie die meisten Polen tolerant. »Aber nen viel schneller reagieren«, sagt er. »Der Biedroń wird der regierenden PiS wohl
hier sagen wir Nein! Hände weg von un- Leader muss die Identität seiner Bewe- kaum Wähler abjagen, eher schon der li-
seren Kindern!« gung verkörpern, so wie Kaczyński.« beralen Bürgerplattform von Ex-Premier
Während PiS in den vergangenen Jah- Der Begründer der regierenden PiS Donald Tusk. Manche fürchten deshalb,
ren gegen Migranten Wahlkampf machte, steuere aus dem Hintergrund. Relativ sel- dass er es den Nationalkonservativen bei
sind auf die vorderen Plätze ihrer Feind- ten in der Öffentlichkeit zu sehen, lebe er künftigen Wahlen leichter macht. Biedrón
bilder nun Schwule und Lesben gerückt – seinen Anhängern ein patriotisches Ideal glaubt das nicht. Er setzt darauf, ein junges,
als Chiffre für einen urbanen, elitären, vor: weltabgewandt, selbstlos, streng mit städtisches Bürgertum zu mobilisieren, das
westlichen Lebensstil. sich und anderen allein dem Wohl der pol- bisher nur widerwillig zur Wahl geht. All
Biedroń hätte es sicherlich auch wegen nischen Nation zuarbeitend, ein Beschüt- jene, die genervt sind vom ewigen Zwist
seiner Sexualität schwer gehabt in den tra- zer, der dem ewig unterdrückten Volk wie- der großen Parteien. Das sind, wie sich
ditionellen Parteien. Deshalb hat er seine der zur Achtung verhilft. Vor neun Jahren gerade zeigt, nicht wenige. Jan Puhl
eigene Bewegung geschaffen. Als Berater kam sein Zwillingsbruder Lech, damals Mail: jan.puhl@spiegel.de
heuerte er den linken Warschauer Sozio- Präsident, bei einem Flugzeugabsturz ums

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 73


Ausland

Die chinesische Frage


Diplomatie China demonstriert mit dem Seidenstraßengipfel seine politische und wirtschaftliche
Macht – in dem Jahr, in dem die Volksrepublik 70 Jahre alt wird.
Die Welt muss ihr Verhältnis zu Peking überdenken. Ein Weckruf. Von Bernhard Zand

Wenn du dich und den Gegner die Beobachter in Industrie- wie Schwel- torischen Vergleich. Chinas technologische
kennst, brauchst du den Ausgang von lenländern staunen lassen. Es hat eine wirt- Fortschritte haben die vermeintliche Ge-
100 Schlachten nicht zu fürchten. schaftliche und gesellschaftliche Umwäl- wissheit erschüttert, Innovation gedeihe
Sun Tzu, »Die Kunst des Krieges« zung vollzogen, die vor 40 Jahren nie- nur in pluralistischen Systemen.
mand für möglich hielt. Die Bauten, der Doch dieser Fortschritt geht mit einem

C
Wohlstand, die Zahl der Arbeitsplätze, die Maß an Repression und digitaler Kontrol-
hinas Kaiser empfingen ihre Gäs- geschaffen wurden, übertreffen jeden his- le einher, das selbst die Zustände in Nord-
te und Vasallen in der Verbotenen
Stadt oder in ihren Sommerresi-
denzen. Das tun ihre Nachfolger
heute nur mehr ausnahmsweise, denn da-
für kommen zu viele. Für große Empfänge
hat Staatschef Xi Jinping vor Pekings To-
ren einen Konferenzpalast errichten lassen,
inmitten üppiger Gärten und Pavillons,
nicht weit von der Großen Mauer.
Diese Woche trafen dort Gesandtschaf-
ten aus 150 Ländern ein, darunter
37 Staats- und Regierungschefs, fast dop-
pelt so viele, wie jedes Jahr zum Treffen
der G20 kommen. Xi hat sie zum zweiten
Mal zum Seidenstraßen-Gipfel eingeladen,
zur Feier von Chinas weltumspannendem
Bau- und Entwicklungsprogramm.
Beim ersten Gipfel vor zwei Jahren wa-
ren nur 29 Präsidenten und Premiers ge-
kommen. Diesmal reisen neben China-
freunden aus Asien, Afrika und dem Nahen
Osten auch mehrere Europäer an, darunter
die Regierungschefs von Italien und Öster-
reich. Deutschland schickt Wirtschaftsmi-
nister Peter Altmaier. Aber nicht alle Staa-
ten wollen dabei sein. Washington hat ab-
gesagt, Neu-Delhi bereits zum zweiten Mal.
Die Gästeliste des Seidenstraßen-Gip-
fels ist eine diplomatische Antwort auf
eine große Frage: Wie soll die Welt mit
China umgehen? Wie eng soll sie mit Chi-
na kooperieren? Wie weit kann sie Peking
trauen?
China ist zu einer wirtschaftlichen, poli-
tischen und technologischen Größe heran-
gewachsen, wie sie die Welt seit dem Auf-
stieg der Vereinigten Staaten nicht mehr
gesehen hat. Für manche Länder ist die
Chinafrage entscheidender als für andere,
doch keines kann sich ihr entziehen.
Sie zu beantworten wird mit jeder neu-
en Errungenschaft, mit jeder Menschen-
rechtsverletzung Pekings schwieriger. Dass
China kompliziert und widersprüchlich ist,
ist ein Plattitüde. Es sind die Dimensionen
seiner Widersprüche, die China von ande-
ren schwierigen Ländern unterscheiden.
China hat seit dem Beginn seiner Re-
form- und Öffnungspolitik Erfolge erzielt,

74 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


korea übersteigt. Das Sicherheitsregime, Pekings Entwicklungsdiktatur ist nicht jekt. Auch wenn die politische Führung
dem Chinas Führung die Minderheit der nur eine politische, sondern auch eine in- den Eindruck dynastischer Stabilität zu
muslimischen Uiguren unterwirft, erinne- tellektuelle Herausforderung. Es ist schwie- vermitteln sucht und Xi Jinping zum
re ihn an das, was in den Dreißigerjahren rig, sich eine konsistente Meinung über Staatschef auf Lebenszeit ernannt hat –
geschehen sei, sagt ein hoher Beamter des ein Land zu bilden, das bei Größe, Bevöl- das Land verändert sich nach wie vor dy-
US-Außenministeriums. Es besteht die kerungszahl und Komplexität eher einem namisch. 2019 jähren sich drei Ereignisse,
Sorge, dass Peking die digitalen Mittel, Kontinent als einem westlichen National- welche die Widersprüche, das Bild und
die es heute in der Uiguren-Region Xin- staat gleicht. Rechtfertigen die Risiken der Selbstbild des heutigen China prägen.
jiang einsetzt, künftig auf andere Teile gesellschaftlichen Umwälzung Chinas die
Chinas ausdehnt und sie eines Tages ex- Methoden seiner Regierung? Entwerten I. Vor genau 100 Jahren, am 4. Mai 1919,
portiert. umgekehrt diese Methoden, was die Chi- machten sich in Peking 3000 Studenten
Die Widersprüche des modernen China nesen in den vergangenen 40 Jahren er- auf den Weg. Sie protestierten gegen die
sind so extrem, dass sie extreme Haltungen reicht haben? Gibt es ein richtiges China Entscheidung der Siegermächte des Ersten
hervorrufen. Sie reichen von kritikloser Be- im falschen? Welche konkreten Schlüsse Weltkriegs, das von der deutschen Kolo-
wunderung, vor allem in wirtschaftsnahen sind daraus zu ziehen? nialmacht verlorene Gebiet Kiautschou
Kreisen, bis zur grundsätzlichen Ableh- Jeder Versuch, solche Fragen zu beant- nicht an China zurückzugeben, sondern
nung des »chinesischen Modells«, vor al- worten, muss vorläufig bleiben. Das mo- dem Rivalen Japan zu überlassen. Die
lem unter Menschenrechtlern. derne China ist kein abgeschlossenes Pro- Kommunistische Partei, aber auch andere
politische Strömungen, die künftig Chinas
Geschichte formen sollten, führen ihre
Wurzeln auf diese »Bewegung des vierten
Mai« zurück. Es ist ein zentrales Datum
in der Entstehung des modernen China.
Wie wenig man außerhalb Chinas über
die Bedeutung dieses Ereignisses weiß, ist
symptomatisch für das Ungleichgewicht
im Verhältnis vieler Länder zu Peking.
»China kennt uns. Aber wir kennen China
nicht«, zitierte die Wochenzeitung »Die
Zeit« kürzlich die deutsche Sinologin
Marina Rudyak. Das führt im Westen oft
zu grob vereinfachenden, ja ahistorischen
Debatten – etwa um Chinas Weltmacht-
streben oder die Seidenstraßen-Initiative.
Dieser Missstand wird nicht dadurch
aufgehoben, dass die KP selbst die chine-
sische Zeitgeschichte schamlos umgeschrie-
ben und zu ihren eigenen Gunsten mani-
puliert hat. Viele Chinesen haben einen
eigenen Blick auf die Geschichte. Beson-
ders anschaulich wird das in Chinas aktu-
ellen Handelskonflikten und seinem Ver-
ständnis von Globalisierung.
Peking nutzt alle Mittel, die ihm die Grö-
ße seiner Wirtschaft bietet, es dominiert
mit Subventionen ganze Industriezweige
und setzt andere Staaten ökonomisch un-
ter Druck, beschränkt aber zugleich den
Zugang zu seinen eigenen Märkten.
Dass die Europäer das anstößig finden,
verwundert viele Chinesen. Als der Wes-
ten die Regeln des Welthandels bestimmte,
hielten sich Europas Großmächte nicht mit
Subventionen oder Marktbeschränkungen
auf. Sie schickten Kriegsschiffe den Perl-
BILLY H. C. KWOK / THE NEW YORK TIME / REDUX / LAIF

fluss und den Yangtze hinauf, drängten


sich in chinesische Häfen und gründeten
Kolonien, die sie wie in Kiautschou ver-
schleiernd »Pachtgebiet« nannten.
»Die Chinesen wollen uns schlagen, weil
es ein langes historisches Gedächtnis gibt«,
sagte kürzlich einer der besten China-
kenner unter Deutschlands Managern,

Poster von Präsident Xi, Staatsgründer Mao


Globaler Anspruch

75
Ausland

BASF-Chef Martin Brudermüller. Das sei die ihre Kenntnis von Xi-Jinping-Reden Druck ein Land nach dem anderen auf ihre
»der Antrieb und der Ehrgeiz der Chine- abfragt – wobei sie peinlich darauf achten, Seite ziehe. In diesem Frühjahr zog die Eu-
sen«. Man muss dieses Weltbild nicht tei- die Punktezahl des Chefs ihrer Parteizelle ropäische Union nach. Fast wortgleich er-
len, aber man sollte es kennen im Verhält- nicht zu überschreiten. Wer den Marxis- klärte sie China zu einem »systemischen
nis zu seinem größten Handelspartner. mus ernst nimmt, stört heute nur: Als sich Rivalen, der alternative Modelle des Re-
China hat nicht nur einen anderen Blick eine Gruppe linker Studenten im vergan- gierens fördert« und einem »wirtschaft-
auf die Geschichte und weiter zurückrei- genen Sommer für die Bildung einer unab- lichen Wettbewerber, der technologische
chende Erinnerungen an die Globalisie- hängigen Gewerkschaft in einer Schweiß- Führerschaft anstrebt«.
rung als die Europäer. Auf chinesischen maschinenfabrik einsetzte, drang die Poli- Ob solche Rivalitätserklärungen Peking
Weltkarten liegt Amerika weit im Osten, zei in ihre Wohnheime ein und nahm etwa beeindrucken, muss sich erst noch erwei-
Europa erscheint oft als eine kleine Halb- 50 von ihnen fest. sen. Premierminister Li Keqiang soll sich
insel im Nordwesten Russlands. Viel grö- Eines hingegen verbindet Maos und Xis in kleinem Kreis überrascht gezeigt haben
ßer wirken der Pazifik, der Subkontinent China: der globale Anspruch, der feste über die Skepsis, die ihm auf seiner letz-
und Afrika. Plan, die Welt zu verändern. Der Maois- ten Reise nach Brüssel entgegenschlug.
Geschichte, Geografie, Globalisierung – mus ging, wie die britische Sinologin Julia Grundsätzlich ist eine klare Sprache ge-
an den Problemen im Umgang mit China Lovell in einer aktuellen Monografie be- genüber China zu begrüßen, auch wenn
gemessen, könnten diese Begriffe abstrakt schreibt, wie ein Fieber um den Globus, das EU-Strategiepapier zunächst eher
erscheinen. Aber das sind sie nicht. Sie er- als eine intellektuelle Mode in vielen west- zum inneren Zusammenhalt Europas bei-
innern uns daran, wie vieles wir im Westen
über China nicht wissen. Europa, zumal
Länder wie Deutschland, die wirtschaftlich
eng mit Peking verflochten sind, muss sei-
ne Chinaexpertise vergrößern.
Mit dem Berliner Mercator Institute for
China Studies hat Deutschland eine der
wenigen auf China spezialisierten Denk-
fabriken der Welt. Aber die Zahl der China-
experten ist in Europa nach wie vor zu
gering. Europäische Medien, auch der
SPIEGEL, sind in China bislang nicht an-
nähernd so stark vertreten wie in Ameri-
ka – und amerikanische Medien in China.
China besser verstehen zu wollen be-
deutet nicht, sich die chinesische Sicht der

ZHANG YUWEI / PICTURE ALLIANCE


Welt anzueignen. Im Gegenteil. Es schärft
den Blick auf die Chancen und Risiken
von Chinas Aufstieg. Es ist eine Voraus-
setzung dafür, harte Entscheidungen tref-
fen zu können.

II. Vor 70 Jahren verkündete Mao Zedong


die Gründung der Volksrepublik China. Gipfelort bei Peking: Gesandtschaften aus 150 Ländern
Die Kommunistische Partei wird das Ereig-
nis am 1. Oktober mit einer Militärparade
feiern, Staatschef Xi Jinping in einem mo- lichen Staaten, als eine mörderische Ideo- tragen dürfte als zu einem Kurswechsel
dern stilisierten Mao-Anzug an den Trup- logie, die von Kambodscha bis Kolumbien Chinas.
pen vorbeifahren und mit den Worten militante Bewegungen in Entwicklungslän- Viel wichtiger sind konkrete Entschei-
»Tongzhimen hao!« – »Genossen, ich grü- dern inspirierte. dungen – wie etwa die von Frankreichs
ße euch!« – salutieren. Der globale Anspruch des heutigen Chi- Präsident Emmanuel Macron, die deut-
Es wird eine Maskerade sein. Denn ob- na ist kein Fieber, sondern Ehrgeiz, in Be- sche Kanzlerin und den EU-Kommissions-
wohl die Kommunistische Partei heute ton gegossen. Von Flugpisten auf Inseln präsidenten zum Staatsbesuch von Xi
rund 90 Millionen Mitglieder zählt und im Pazifik und Staudämmen am Mekong Jinping in Paris hinzuzubitten – ein ein-
alle Bereiche des öffentlichen Lebens bis zu den Kaimauern neuer Häfen am drucksvolles Novum in der Geschichte der
durchdringt, ist das China des Xi Jinping Mittelmeer erstreckt sich die Neue Seiden- europäischen Diplomatie. Der europäi-
in vieler Hinsicht das genaue Gegenteil straße, Xi Jinpings milliardenschweres Ent- sche Staatenbund wird nie mit der außen-
von Maos China. Mao war ein Utopist, der wicklungsprogramm, das Chinas geopoli- politischen Geschlossenheit des Bundes-
sein Land in permanente Revolution ver- tische Ambitionen zementieren soll. staates USA auftreten können. Aber China
setzte. Xi Jinping ist ein Bürokrat der Zuerst bemerkte die US-Regierung, gegenüber müssen die EU-Mitglieder ihre
Macht, der Ruhe und Ordnung will, Stabi- dass hier jemand an die Grundfesten der Diplomatie strikt koordinieren, ob es um
lität um jeden Preis. etablierten Weltordnung rührt. Unter Prä- die Haltung gegenüber dem umstrittenen
Noch hängt Maos anderthalb Tonnen sident Barack Obama beschloss Washing- Netzwerkausrüster Huawei geht, um Men-
schweres Porträt am Tor des Himmlischen ton einen strategischen »Schwenk nach schenrechtsfragen oder um geopolitische
Friedens, doch die Partei hat sich aus einer Asien«, unter Donald Trump nannte die Konflikte wie im Südchinesischen Meer.
ideologischen Bewegung in ein Herrschafts- Administration den Konkurrenten beim Konkret müssen auch die Projekte sein,
instrument und ein Karrierevehikel ver- Namen: China sei ein »strategischer Wett- mit denen Europa der Wirtschaftsmacht
wandelt. Millionen Mitglieder sammeln bewerber«, eine »revisionistische« Macht, China entgegentritt, in Europa selbst und
derzeit Punkte auf einer Propaganda-App, die mit Billigkrediten und politischem an seiner Peripherie. Die USA haben unter

76
dem Eindruck der Seidenstraßen-Initiative Autonomiegebiet Xinjiang zutage getreten. des Westens, ihr Verhältnis zu China zu
einen 60-Milliarden-Dollar-Fonds aufgelegt, Dort überwacht und unterdrückt die überdenken. Menschenrechtsfragen bei
mit dem sie nun am Pazifik das mühsame Staatssicherheit die etwa elf Millionen zäh- Staatsbesuchen nur hinter verschlossenen
Geschäft der Entwicklungszusammenarbeit lende, überwiegend muslimische Minder- Türen anzusprechen ist keine Option mehr.
wieder aufnehmen. Wer soll das in den heit der Uiguren. Peking rechtfertigt sein Gerade Staaten der Europäischen Union,
Schwellenländern Nordafrikas und des Na- Vorgehen mit Unruhen und Anschlägen, die die Folgen totalitärer Herrschaft so gut
hen Ostens tun, wer soll Energie- und In- an denen militante Uiguren beteiligt wa- kennen wie Deutschland, haben eine his-
frastrukturprojekte vom Balkan bis Marok- ren, und vergleicht sie mit den Maßnah- torische Verpflichtung, in dieser Frage ihr
ko unterstützen? Wenn die Bedingungen men westlicher Staaten nach dem 11. Sep- ganzes Gewicht einzusetzen.
fair und die Ausschreibungen transparent tember. Die Argumente sogenannter China-
sind, spricht nichts dagegen, mit China zu- Selbst manche Chinesen, die das Ziel realisten wie Henry Kissinger oder Helmut
sammenzuarbeiten. Aber in erster Linie ist dieser Politik unterstützen, sind davon ab- Schmidt sind damit nicht außer Kraft ge-
das die Aufgabe des von den Flüchtlings- gestoßen, wie der Staat sie durchsetzt: Alle setzt. Als Kissinger Anfang der Siebziger-
strömen herausgeforderten Europa. muslimischen Bewohner von Xinjiang wer- jahre im Auftrag Nixons nach China reiste,
den analog und digital kontrolliert – von befand sich das Land noch in der Kulturre-
III. Vor 30 Jahren, am 4. Juni 1989, rollten Kameras, die jede Gasse und jedes Taxi volution, in der unsagbare Verbrechen ge-
am Tiananmen-Platz in Peking die Panzer. ausleuchten, von »Wifi-Sniffern«, die an schahen. Niemand würde bestreiten, dass
Der Reformer Deng Xiaoping, der Chinas Checkpoints die Daten ihrer Handys aus- es trotzdem richtig war, damals Beziehun-
gen mit Peking aufzunehmen – ebenso wie
fünf Jahre nach dem Tiananmen-Massaker
wieder unter Präsident Bill Clinton.
Doch die Chinapolitiker des 20. Jahr-
hunderts hatten keinen Begriff davon, wel-
che Mittel der technologische Fortschritt
den Autokratien des 21. Jahrhunderts an
die Hand geben würde. Die Anwendung
dieser digitalen Werkzeuge der Menschen-
kontrolle muss durch Verhandlungen ein-
gehegt werden wie im Nuklearzeitalter der
Einsatz von Atomwaffen. Eine an univer-
GILLES SABRIE / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
sellen Werten orientierte Außenpolitik
muss bereit sein, die dafür zu erwartenden
politischen Kosten zu tragen.
In den USA haben sich 24 Senatoren
und 19 Abgeordnete beider Kongress-
parteien dafür ausgesprochen, Peking in
der Uiguren-Frage herauszufordern. Sie
verlangen, den Parteichef der Autonomie-
region Xinjiang unter den Magnitsky
Act zu stellen. Diese schärfste diplomati-
sche Waffe im Umgang mit ausländischen
Straßenszene, erfasst von chinesischer Erkennungssoftware: Einzigartiges Kontrollregime Politikern erlaubt der US-Regierung un-
ter anderem, die Konten Betroffener ein-
zufrieren und ihnen die Einreise zu ver-
Wirtschaftswunder angestoßen hatte, ließ lesen können, von Nachbarn, die zur De- bieten.
die größte Demokratiebewegung nieder- nunziation angehalten werden. Wer sich Die EU verfügt bislang über kein ver-
walzen, die das Land seit 1919 erlebt hatte. verdächtig macht, wird festgenommen. gleichbares diplomatisches Mittel. Im
Hunderte Menschen kamen ums Leben, Nach Schätzungen des deutschen Xinjiang- März sprach sich das Europaparlament da-
Studenten und Soldaten, die genaue Zahl Forschers Adrian Zenz sitzen etwa eine für aus, das zu ändern. Diesem Antrag soll-
ist bis heute nicht bekannt. Million Menschen in Gefängnissen und te die Kommission folgen, auch mit Blick
Niemand in China wird Anfang Juni in Umerziehungslagern. auf die Entwicklung in China.
den zensierten Medien ein kritisches Wort Die Regierung erfasst die persönlichen Noch geeigneter wäre eine breit ange-
über dieses traumatische Ereignis hören Daten aller Bewohner, darunter ihre legte, auch die USA einbindende Initiative,
oder lesen. Die Studentenführer von 1989 DNA-Profile. Eine algorithmengesteuerte globale Standards für den Einsatz digitaler
sind im Exil, renitente Bürgerrechtler wer- neue Gesichtserkennungssoftware er- Massenüberwachungstechnik zu etablie-
den bereits Wochen vor dem Jahrestag aus laubt inzwischen sogar, Uiguren anhand ren – ähnlich wie zu Beginn der interna-
den großen Städten aufs Land deportiert, äußerlicher Merkmale zu identifizieren. tionalen Abrüstungsverhandlungen in den
der Staat hat die Presse und das Internet Ähnliche, noch nicht ganz so weit entwi- Sechziger- oder des KSZE-Prozesses in
völlig im Griff. ckelte Technologien wendet China bereits den Siebzigerjahren. Als Digitalmacht mag
So sehen sie aus, die »alternativen Mo- in Provinzen außerhalb Xinjiangs an. Wie die Europäische Union den USA und Chi-
delle des Regierens«, welche die Europäi- die »New York Times« berichtet, expor- na heute unterlegen sein, doch ihre Daten-
sche Union in ihrem Strategiepapier zu tieren chinesische Unternehmen solche schutzbestimmungen sind weltweit vor-
Recht an den Pranger stellt. China hat ein Systeme auch ins Ausland, vor allem in bildlich. Europa sollte sich im Interesse sei-
Überwachungs- und Sicherheitsregime autoritär regierte, aber auch in westliche ner Bürger dafür einsetzen, dass diese
etabliert, das weltweit einzigartig ist. Staaten. Standards künftig nicht von China gesetzt
Wie weit dessen Mittel reichen, ist im Pekings Vorgehen in Xinjiang zwingt werden. Twitter: @bzand
Verlauf der vergangenen zwei Jahre im nicht nur, aber vor allem die Regierungen

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 77


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Sport
Für Fußballprofis bilden die sozialen Netzwerke eine andere Kampfzone. ‣ S. 84

6
Die Übermächtigen Zahl der Bundesliga- Wer die Meistertitel der erfolgreichste Verein (mit den meisten Meistertiteln)
mannschaften, die in den vergangenen die beiden erfolgreichsten Vereine
5 5 während der Saison* 25 Jahren** holte, die drei erfolgreichsten Vereine
wenigstens einmal in Prozent ** Saison 1993/94 bis 2017/18
Tabellenführer waren.
4 4 4 4 4 4 Beispiel aktuelle Saison:
nur Borussia Dortmund
und Bayern München
84 88 84 88
80
88
3 wechselten sich bislang 72 72
an der Tabellenspitze ab.
64 64
52 52 48 52
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2
28
1 1 1 1 1

Saison 2000/ 2010/ Saison Bundesliga Premier League Serie A La Liga Ligue 1
1993/94 01 11 * ab dem 3. Spieltag 2018/19 Deutschland England Italien Spanien Frankreich

Juventus Turin wurde soeben italienischer Meister, zum achten Saison als Erster beenden. In den europäischen Topligen reduziert
Mal in Folge. Paris Saint-Germain gewann in den vergangenen sich das Rennen um die Meisterschaft auf wenige Vereine. In
sieben Jahren sechsmal den Titel in Frankreich, in Deutschland der Bundesliga gibt es in dieser Spielzeit nach vielen Jahren wieder
könnte Bayern München zum siebten Mal hintereinander die einen Zweikampf, aber die Tabellenspitze ist auch hier verödet.

Magische Momente

»Wir spielten wie im Traum«


Tischtennisweltmeister Steffen Fetzner, 50, über die Sensation im Doppel vor 30 Jahren
SPIEGEL: Herr Fetzner, 1989 Fetzner: Wir konnten frei aufspielen, die te Rückhand getroffen. Aber damit war der
wurden Sie zusammen waren etwas verunsichert. China hatte Knoten geplatzt. Ich muss gestehen, dass
mit Jörg Roßkopf, dem den Mannschaftstitel zuvor überraschend zuvor eine gewisse Nervosität herrschte,
heutigen Bundestrainer, an Schweden verloren, und außerdem die mein Partner schneller ablegen konnte.
in Dortmund Weltmeis- wurden wir von einer unfassbaren Eupho- SPIEGEL: Letztlich konnte Roßkopf im
ter im Doppel. Zaubern rie getragen. Wir hatten in der Westfalen- dritten Satz den vierten Matchball nutzen.
Sie heute noch an der Platte? halle 10 000 Fans im Rücken und spielten Fetzner: Ich war in unserer Kombination
Fetzner: Zaubern ist zu viel gesagt, wie im Traum. der Vorbereiter – er der Vollstrecker.
aber ich konnte mit meiner Mannschaft in SPIEGEL: Sie zogen ins Endspiel ein. Dort, Beim Matchball hätte er normalerweise
Oldenburg gerade den Aufstieg in die gegen Zoran Kalinić und Leszek Kuchar- eine diagonale Topspin-Vorhand gespielt.
Oberliga feiern. ski, lief es zunächst nicht optimal für Sie. Aber er zog parallel zum 21:19 ab. Wenn
SPIEGEL: Sie sind zurzeit bei der WM in Fetzner: Das kann man wohl sagen. Ich ha- es drauf ankam, packte Jörg immer die
Budapest. Was machen Sie da? be erst bei 8:10 im zweiten Satz meine ers- besten Schläge aus.
Fetzner: Ich bin Produktmanager einer SPIEGEL: Es blieb bis heute der einzige
Firma für Tischtennisausrüstung, bei mir deutsche WM-Sieg. Welche Folgen hatte
dreht sich immer noch alles um den kleinen Ihr Erfolg für das Tischtennis?
Ball. Die WM ist wie eine große Messe. Fetzner: Es brach ein Boom aus, ähnlich
FRANZ PETER TSCHAUNER / PICTURE ALLIANCE

SPIEGEL: Vor 30 Jahren gingen Sie als wie durch Boris Becker und Steffi Graf im
Außenseiter ins Turnier, oder? Tennis. Wir bekamen TV-Zeiten, Sponso-
Fetzner: Wir hofften auf eine Medaille. ren stiegen ein, und die Mitgliederzahlen
An mehr als das Halbfinale war aber über- in den Vereinen schossen nach oben.
haupt nicht zu denken, denn wir prallten SPIEGEL: Kassierten Sie eine Weltmeister-
dort quasi auf die Chinesische Mauer. prämie?
Chen Longcan und Wei Qingguang waren Fetzner: Es gab Geld vom Verband, eine
damals Titelverteidiger und Olympia- Prämie vom Ausrüster, bessere Sponsoren-
sieger – da war eigentlich nichts zu holen. verträge und ein Fahrrad von Kettler. Leider
SPIEGEL: Wie haben Sie die Mauer einge- wurde mir dieses von mir gepflegte Erinne-
rissen? Roßkopf, Fetzner 1989 in Dortmund rungsstück bei einem Umzug geklaut. PK

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 79


Sport

»Wir wollen Spieler


behandeln
und keine Bilder«
SPIEGEL-Gespräch Der Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
und der Physiotherapeut Klaus Eder über Muskelarbeit
bei der Nationalmannschaft und die Irrtümer ihrer Branche

Müller-Wohlfahrt, 76, war von 1995 bis tungsvermögen wieder zu erreichen und
2018 Sportarzt der Fußballnationalmann- alles zu tun, um eine Wiederverletzung zu
schaft. Er arbeitet als Mediziner in Mün- vermeiden.
chen, wo er auch die Spieler des FC Bayern SPIEGEL: Bezogen auf die Psychologie der
betreut. Eder, 65, kam als Physiotherapeut Spieler: Gibt es da jemanden, der schwie-
1988 zur Nationalelf, er leitet eine Reha- rig war?
klinik in Donaustauf. Eder: Schwierig vielleicht insofern, als
das Bindegewebe eine Memoryfunktion
SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, welcher hat. Wir haben schon Spieler gehabt, bei
Patient hat Ihnen am meisten Kummer ge- denen sich der Stress auf den Körper nie-
macht? dergeschlagen hat. Ich denke gerade an
Müller-Wohlfahrt: Das Gefühl von Kum- die Ballack-Wade, die war immer hart vor
mer kenne ich nicht und würde es auch einem wichtigen Spiel.
gar nicht aufkommen lassen. Ich stehe na- SPIEGEL: Bei ängstlichen Spielern verhär-
hezu bei jedem Patienten vor einer schwie- tet sich das Gewebe?
rigen und manchmal unlösbar erscheinen- Eder: Das kann man grundsätzlich nicht
den Aufgabe. Und dabei ist die Erwar- sagen, aber Stress überträgt sich auf die
tungshaltung vonseiten der Patienten Faszien und das Bindegewebe.
enorm groß. Ich nehme jede Herausforde- SPIEGEL: Und gibt es auch das Gegenteil,
rung gern an, immer aus dem Gefühl he- also einen Spieler, der psychologisch so
raus, helfen zu können. gut drauf ist, dass er alles wegsteckt?
SPIEGEL: Herr Eder, was war die größte Eder: Man kann nie hinter die Fassade
Herausforderung? schauen, aber wer zumindest den Ein-
Eder: Fußbruch Klose, Rippenanbruch Klo- druck gemacht hat, war Lukas Podolski.
se, Rippenanbruch Frings, das war alles Müller-Wohlfahrt: Zu Michael Ballack
nicht so ohne. noch eine Ergänzung. Es handelte sich um
Müller-Wohlfahrt: Giovane Elber mit sei- ein sogenanntes funktionelles Kompart-
ner schweren Knieverletzung, die damals mentsyndrom in der rechten Wadenmus-
in zwei zeitlich versetzten operativen Ein- kulatur. Ein Spieler kann diese Verletzung
griffen versorgt werden musste. Die Schä- selbst überhaupt nicht einschätzen. Ich
den konnten nicht alle in einer Sitzung be- musste dem Bundestrainer Jürgen Klins-
handelt beziehungsweise rekonstruiert mann damals erklären, dass Michael am Müller-Wohlfahrt: (lacht) Ich erinnere
werden. Giovane hat danach wieder auf Eröffnungsspiel der WM 2006 nicht teil- mich noch, dass das Zuwerfen der Tür sehr,
einem Topniveau gespielt. nehmen könne, da er nach meiner Erfah- sehr laut war, die Wände müssten Risse
Eder: Aber ich kann mich nicht erinnern, rung voraussichtlich nach 20 bis 30 Minu- bekommen haben.
dass wir jemanden frühzeitig von der EM ten schmerzbedingt ausgewechselt werden SPIEGEL: Wie kann man sich die Zusam-
oder der WM nach Hause schicken muss- müsse. Ich vergleiche die Situation gern menarbeit zwischen Ihnen beiden, also
ten, verletzungsbedingt. Der Doc hat alle mit einem Kolbenfresser im Zylinder eines zwischen Arzt und Physiotherapeut, vor-
Herausforderungen gemeistert, und wir Motors. In unserem Fall läuft der Muskel stellen?
durften ihm dabei etwas helfen. fest – nichts geht dann mehr, beim besten Müller-Wohlfahrt: Wir arbeiten seit mehr
Müller-Wohlfahrt: Das Ziel war immer, Willen nicht. Michael aber war anderer als 30 Jahren eng zusammen, das sagt
das vor der Verletzung bestehende Leis- Meinung und äußerte, es müsse irgendwie schon alles. Im Falle einer Verletzung wäh-
schon gehen. Seine Reaktion war dement- rend eines Länderspiels habe ich einen
Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Blech und sprechend. Spieler so lange untersucht, bis ich eine
Antje Windmann in München. SPIEGEL: Wie? klare Vorstellung hatte und eine Diagnose

80
CHRISTIAN CHARISIUS / DPA
Physiotherapeut Eder, Nationalspieler Jérôme Boateng, Mediziner Müller-Wohlfahrt bei der EM 2016 in Marseille: »Zeit schenken«

stellen konnte. Danach habe ich in aller SPIEGEL: Manuel Neuer stand, drei Wo- Fuß. Herr Eder, was sagen Sie, stand Neuer
Regel Klaus um seine Einschätzung gebe- chen nachdem er eine Schraube in den zu früh wieder im Tor?
ten. Der Idealfall war natürlich, wenn wir Mittelfuß bekommen hatte, wieder auf Eder: Das war eine Entscheidung im Kol-
beide zu demselben Ergebnis kamen. dem Platz – und hat sich dann den Mittel- lektiv damals beim FC Bayern. Der Trai-
SPIEGEL: Gibt es etwas, was Sie voneinan- fuß sogar doppelt gebrochen. Wie kam ner wollte, dass Manuel spielt, Manu selbst
der gelernt haben? das? wollte auch spielen. Da haben sie sich zu
Eder: Normalerweise schulen wir Physio- Müller-Wohlfahrt: Die Verletzung von dieser Schraube entschlossen.
therapeuten ja unsere Hände. Aber das Manuel passierte, als ich vorübergehend SPIEGEL: Darf man einen Spieler mitent-
Tasten von Muskelverletzungen, das habe nicht als Mannschaftsarzt für den FC Bay- scheiden lassen?
ich eindeutig vom Doc gelernt. Er hat mei- ern tätig war und keine Verantwortung für Müller-Wohlfahrt: Solange eine Verlet-
ne Hand geführt und gesagt: Klaus, das das Wohl und Wehe der Spieler trug. zung nicht verheilt ist, darf niemand mit-
hier fühlt sich so und so an, der gesunde SPIEGEL: Sie hatten sich zuvor mit dem reden oder gar mitentscheiden. Wenn ich
Muskel aber fühlt sich so an. Dafür bin ich Trainer Pep Guardiola überworfen. Neuer die Verletzung für geheilt erkläre, über-
ihm dankbar. brach sich zu Carlo Ancelottis Zeiten den gebe ich den Spieler wieder in die Verant-

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 81


Sport

wortung des Trainers, der dann die Trai- Funktionstest und der Verlauf. Ein Sport- Müller-Wohlfahrt: Das war auf einem in-
ningsinhalte vorgibt. Der Spieler selbst arzt sollte ohne Zuhilfenahme des MRT ternational besuchten Kongress Ende der
kann die Schwere seiner Verletzung nicht eine Diagnose stellen können. Achtzigerjahre in Baden-Baden. 30 Jahre
einschätzen. SPIEGEL: Das würde ja bedeuten, dass vie- später – eine neue Generation von Chef-
SPIEGEL: Aber Guardiola hat das so ge- le Menschen falsch behandelt werden. ärzten war nachgerückt – erhielt ich zu-
halten? Müller-Wohlfahrt: Nehmen wir die Mus- sammen mit meinen Praxiskollegen an
Müller-Wohlfahrt: Diese Ära möchte ich kelverletzungen bei Fußballprofis: Infolge selber Stelle eine hoch geachtete Auszeich-
nicht kommentieren. Ich habe beim FC einer MRT-Fehldiagnose wird ein Spieler nung, den Carl-Rabl-Preis, für eine inhalt-
Bayern und der Nationalmannschaft mit oft wochenlang unnötig vom Training zu- lich etwa gleiche Arbeit.
deutlich mehr als 20 Trainern zusammen- rückgehalten und erleidet einen enormen SPIEGEL: Herr Eder, wurden Ihre Metho-
gearbeitet. Es gab niemals eine Reibung Formverlust. Das ist bitter. den auch kritisiert?
oder Spannung, wenn jeder seinen Kom- Eder: »Mulls« Philosophie war von An- Eder: Selbstverständlich. Wenn mal nach
petenzbereich eingehalten hat – und das fang an, wir wollen keine Bilder behan- einer Behandlung ein Bluterguss entstan-
war so gut wie bei allen Trainern der Fall. deln, wir wollen die Spieler behandeln. den ist, dann haben Kritiker gesagt: Das
SPIEGEL: Viele Sportler schreiben Ihnen Müller-Wohlfahrt: Ich bedaure, dass von ist ja alles viel zu viel! Heute weiß man
magische Hände zu. Aberglaube? den Sportärzten bei Muskelverletzungen natürlich, dass so ein Bluterguss auch eine
Müller-Wohlfahrt: Es gibt keine wunder- mehr und mehr Kernspinuntersuchungen sehr wichtige Maßnahme des Körpers zur
same Heilung. Ich habe mir meine Art der veranlasst werden und die Diagnosen Selbstreparatur sein kann.
Diagnostik und Therapie in einer Zeit er- mehrheitlich falsch sind. So kann es nicht SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, Sie ha-
arbeitet, als es noch keine Ultraschall- und weitergehen. Von Kollegen in London ben gesagt, es bestehe in mehr als 90 Pro-
Kernspindiagnostik im Sport gab. Ich muss- stammt in diesem Zusammenhang die zent der Fälle ein Zusammenhang zwi-
te meine Hände einsetzen und lernen, mit Aussage: »Bye-bye MRI«, sie meinen das schen der Wirbelsäule und Muskelverlet-
ihnen zu untersuchen, also zu palpieren, zungen. Können Sie uns das erklären?
zu diagnostizieren und zu therapieren. Müller-Wohlfahrt: Der Spannungszu-
SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Sie einen stand, der Tonus, der Muskulatur wird ge-
Patienten das erste Mal vor sich haben? steuert durch Impulse der motorischen
Müller-Wohlfahrt: Zuallererst möchte ich Nerven, die von der Wirbelsäule ausgehen
sein Vertrauen gewinnen. Das ist die Basis und – man könnte sagen, wie ein ständig
für alles Weitere. Ich schenke ihm Zeit und fließender Strom – die Muskulatur versor-
Aufmerksamkeit, um dann mit meiner gen. Dadurch wird die Leistungsbereit-
Untersuchung zu beginnen, eine Diagnose schaft eines Muskels überhaupt erst ge-
zu stellen und eine geeignete Therapie vor- währleistet. Aufgrund von Schäden oder
zuschlagen. Funktionsstörungen im Bereich der Wir-
SPIEGEL: Herr Eder, haben Sie ein festes belsäule, die unter Umständen eine Ner-
Schema, wenn Sie einen Patienten zum venwurzelreizung verursachen, wird der
ersten Mal vor sich haben? Stromfluss als Folge davon entsprechend
Eder: Ich frage, was wo wann wehtut, nach stärker. Die Muskelspannung steigt auf ein
ADAM PRETTY / DER SPIEGEL

dem Beruf, Alltagsbelastungen, hat es ein höheres Niveau. Die Muskulatur wird
Trauma, einen Unfall gegeben, eine be- übersteuert. Bei einer dann hohen sport-
stimmte Bewegung? Ich lasse die schmer- lichen Belastung wie dem Sprint kommt
zende Stelle bewegen und bewege sie es zu einem weiteren Spannungsanstieg,
selbst. Wenn sich die Körperregion weich der Muskel wird rigide, unelastisch – und
elastisch anfühlt, kann man davon ausge- ist rissgefährdet.
hen, dass es muskuläre Strukturen sind, Partner Müller-Wohlfahrt, Eder SPIEGEL: Sie setzen in Ihrer Behandlung
die die Bewegung einschränken. Ist die be- »Vom Doc gelernt« sehr auf die umstrittene Homöopathie.
troffene Stelle fest elastisch, ist es vielleicht Was machen Sie da?
die Gelenkkapsel. Ist sie ganz hart elas- Müller-Wohlfahrt: Seit Beginn meiner
tisch, dann ist es vielleicht der Knochen. Magnetic Resonance Imaging. Ich möchte sportärztlichen Tätigkeit behandle ich
Und ob es sich heiß oder kalt anfühlt, kann diese Entwicklung zusammen mit den ausschließlich mit homöopathischen und
verraten, ob etwas entzündet ist oder nicht Radiologen neu überdenken und dringend biologischen Medikamenten, die ich über
ausreichend durchblutet. einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch unterschiedliche Nadeln möglichst punkt-
SPIEGEL: Warum haben es etliche Ärzte zwischen Sportärzten und Radiologen an- genau an die jeweilige Ursache der Be-
verlernt, den Patienten zu berühren? streben. Beispielgebend dafür kann die Zu- schwerden heranbringe und die dort ihre
Müller-Wohlfahrt: Das Vertrauen in die sammenarbeit in unserer Praxis sein, sonst Wirkung entfalten.
Kernspinuntersuchung, das MRT, mit den driften wir in Theorie und Praxis immer SPIEGEL: Herr Eder, verwenden Sie in
manchmal beeindruckenden Schichtbil- weiter auseinander. Ihrem Rehazentrum in Donaustauf auch
dern ist größer als in die eigenen Hände. Eder: Jüngere Orthopäden bedauern selbst homöopathische Mittel?
Und man entledigt sich auf diesem Wege sehr, dass sie im Studium nur noch Appa- Eder: Ich benutze die homöopathische Sal-
der Verantwortung. Die Diagnose wird ja ratemedizin lernen. Die setzen sich des- be von Müller-Wohlfahrt. Ohne Schmarrn,
vom MRT geliefert. Meine Erfahrung in halb bei uns in den Unterricht, um etwas die ist wirklich sehr empfehlenswert. Aber
der Diagnostik zum Beispiel von Muskel- über manuelle Therapie, Osteopathie oder das, was wir machen, die Physiotherapie,
verletzungen bei Sportlern zeigt, dass die Sportphysiotherapie zu erfahren. ist ja sowieso Homöopathie.
MRT-Diagnose in mehr als 50 Prozent der SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, Ihre SPIEGEL: Aber Naturwissenschaftler und
Fälle falsch ist. Die Kernspinbilder werden Heilmethoden galten manchem Kollegen Schulmediziner sagen, dieses ganze Ge-
allzu oft überinterpretiert, das beweisen als dubios. Auf einem Kongress rief ein dankengebäude der Homöopathie sei
unter anderem das Bewegungsverhalten Arzt öffentlich dazu auf, Ihnen die Appro- Quacksalberei. Gibt es auch Spieler,
nach der Verletzung, der Tastbefund, der bation zu entziehen. die sagen: »Die homöopathischen Mittel,

82 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


die können Sie sich schen-
ken«?
Müller-Wohlfahrt: Nein. Die
Spieler gehen dorthin, wo ih-
nen geholfen wird. Nur der Er-
folg zählt.
Eder: Ich glaube, es ist eher
umgekehrt.
SPIEGEL: Was heißt das?
Eder: Spieler wollen keine
Schmerzmittel. Sie wollen
auch kein Cortison. Und sie
fragen immer gleich: Wie sieht
es aus mit Doping? Die wollen
nichts, was damit in Verbin-

JAN HUEBNER / IMAGO SPORTFOTODIENST


dung stehen könnte. Deshalb
fragen sie nach homöopathi-
schen Mitteln.
SPIEGEL: Soll das heißen, deut-
sche Nationalspieler glauben
an Homöopathie?
Müller-Wohlfahrt: Das kann
ich nicht wirklich beurteilen.
Es ist aber unter den Spielern
bekannt, wie und mit welchen Nationalelf-Arzt Müller-Wohlfahrt 2017 in Dortmund: »Niemand darf mitreden oder gar mitentscheiden«
Medikamenten ich arbeite,
und sie sagen: »Mach du, was
du für richtig hältst.« Sie wissen auch, dass nicht, sagen die, aber sie denken, dass das hört. War das eine gemeinsame Entschei-
die verabreichten Präparate auf biologisch- so ist. Dann sagt man denen natürlich: dung?
homöopathischer Basis und somit so gut Dann geh doch mal zum Internisten und Müller-Wohlfahrt: Seit der WM in Russ-
wie ohne Nebenwirkungen sind. Cortison lass dich untersuchen. land hatte ich über einen Rücktritt nach-
wird jedenfalls nicht verwendet. Müller-Wohlfahrt: Es ist geradezu ein gedacht, aber mit keinem darüber gespro-
SPIEGEL: Warum nicht? Trend, den ich aufmerksam beobachte. Al- chen. Eines Morgens habe ich dann die
Müller-Wohlfahrt: Cortison hat eine ge- lergische Reaktionen, vor allem bei jungen Entscheidung getroffen und sie Oliver Bier-
webeschädigende Wirkung und weitere Menschen, häufen sich. Es gibt zu denken, hoff und Jogi Löw mitgeteilt.
Nebenwirkungen, die ich nicht in Kauf dass es diese Reaktionslage in Entwicklungs- Eder: Ich hatte Oliver Bierhoff gesagt,
nehmen will. Mein Ziel ist es, Heilungs- ländern wie auch bei Jugendlichen und Kin- nach der Weltmeisterschaft 2018 werde
prozesse im Körper zu unterstützen und dern, die auf einem Bauernhof mit Tierhal- ich nicht mehr zur Verfügung stehen. Nach
unter Umständen anzuregen. Ich verliere tung aufwachsen, so gut wie nicht gibt. 40 Jahren hatte ich genug davon, im Hotel
die Übersicht über den Heilungsfortschritt, SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, gibt es zu leben, mein Leben im Trainingsanzug
wenn ich Schmerzen einfach nur beseitige. Doping im deutschen Fußball? auf dem Fußballplatz zu verbringen.
Der Schmerz ist – wenn man so will – ein Müller-Wohlfahrt: Ich bin überzeugt, dass SPIEGEL: Aber in Donaustauf machen Sie
Leitsymptom. es im deutschen Fußball kein Doping gibt. weiter?
SPIEGEL: Herr Eder, suchen die Spieler SPIEGEL: Welche Substanzen würden im Eder: Noch ist es meine Passion, an mei-
Sie vor jedem Anpfiff auf? Fußball leistungssteigernd wirken? nen Patienten zu arbeiten. Aber wenn ich
Eder: Es gibt schon die Spieler, die unmit- Müller-Wohlfahrt: Ich kann diese Frage mal nicht mehr mag, kann ich morgen auf-
telbar vor dem Spiel noch mal was einge- nicht qualifiziert beantworten. Doping ist hören.
renkt oder den Muskel gedehnt haben nicht mein Thema. SPIEGEL: Wie geht es Ihnen, Herr Müller-
möchten. Bei der Nationalmannschaft war SPIEGEL: Ist schon mal jemand in Ihre Wohlfahrt?
es Mesut Özil, der immer gesagt hat: Sprechstunde gekommen und hat zugege- Müller-Wohlfahrt: Ich habe gerade eine
»Klaus, du musst mir vor dem Spiel noch ben: »Ich habe da eine Substanz bekom- große Aufgabe angenommen beim FC Bay-
mal die Hüfte mobilisieren.« Zwei, drei men, von der ich mir nicht sicher bin, ob ern. Der Verein hat meinen Kollegen und
Minuten, dann war alles okay, und dann die nicht auf einer Dopingliste steht«? mir eine Praxis in der Säbener Straße ein-
konnte er spielen. Müller-Wohlfahrt: Nein, ich bin noch nie- gerichtet, die in Kürze fertig wird. Die be-
SPIEGEL: Wie wichtig ist den Spielern ihre mals bezüglich irgendwelcher Doping- treue ich im Rotationsverfahren mit mei-
Ernährung? fragen konsultiert worden. nem Team, das heißt, wochenweise ist täg-
Eder: Die Spieler wollen heute alles genau SPIEGEL: Sie haben beide vorigen Som- lich einer von uns ganztägig vor Ort.
wissen: Laktoseintoleranz, Fruktoseintole- mer bei der Nationalmannschaft aufge- SPIEGEL: Also bislang ist kein Ende in
ranz; Glutenintoleranz. Wer da groß im Sicht beim FC Bayern?
Stress ist, das sind die Köche der National- Müller-Wohlfahrt: Den FC Bayern emp-
mannschaft. Vor jedem Spiel rufen die finde ich wie eine Familie und fühle mich
Spieler an: Du, pass auf, ich mag dies nicht, »Nach 40 Jahren hatte ich dem Verein sehr verbunden, und ich hoffe,
ich mag das nicht, ich brauche das. dass es weiter anhält.
SPIEGEL: Sind das Vorlieben oder medizi- genug davon, mein Leben SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, Herr
nisch relevante Unverträglichkeiten? im Trainingsanzug auf Eder, wir danken Ihnen für dieses Ge-
Eder: Man fragt die Spieler: Ist das denn spräch.
diagnostiziert worden? Nein, eigentlich dem Platz zu verbringen.«
83
Sport

hatte. Der Mann zeigte seinerseits eine Bil-

Der digitale Furor derserie, die darstellt, wie sich der Grenz-
verlauf zwischen Israel und den palästi-
nensischen Gebieten in den vergangenen
Jahrzehnten verändert hat. Auf Özils
Stars Fußballklubs und Spieler setzen immer stärker auf die Account wurde plötzlich nicht nur über
Markenbildung in sozialen Netzwerken. Mit der Wut, die den Akteuren Erderwärmung debattiert, sondern auch
oft entgegenschlägt, können viele Kicker jedoch nicht umgehen. über die Hamas, über Waffenlieferungen
und Raketenangriffe.
Die Social-Media-Aktivitäten der Profis

D er Fußballer Franck Ribéry, 36, ge-


hört zu jenen Menschen, die andere
gern an ihrem Leben teilhaben las-
sen. Er postet Bilder und Videos bei Insta-
im Alter zwischen 10 und 16 Jahren als
Zielgruppe anspricht.
Früher waren Fußballstars für das Pu-
blikum schier unerreichbar, heute leben
und der Spitzenklubs prägen mittlerweile
das öffentliche Bild des Fußballs. Klassi-
sche Medien kommen immer seltener an
exklusive Nachrichten oder Interviews he-
gram, die ihn in Alltagssituationen zeigen: die Fans in dem Gefühl, mit ihren Idolen ran, weil sich die Vereine mehr und mehr
Franck mit seinem Sohn beim Kicken im im Netz direkt in Kontakt treten zu kön- abschotten und ihre Botschaften auf den
Garten. Franck im Ferrari. Franck im Ha- nen. Und manchmal reagieren die Helden eigenen Kanälen verbreiten. Zunehmend
senkostüm am Ostersonntag. tatsächlich auf Kommentare. Der schlag- kondensieren daher besonders die Boule-
Die Welt weiß inzwischen alle mög- fertige Bayern-Spieler Mats Hummels vardmedien ihre Geschichten aus den so-
lichen unwichtigen Dinge über Ribéry. Er tauscht sich regelmäßig persönlich mit Fol- zialen Netzwerken. Als Özil und seine Ver-
isst viel Fleisch, auf seiner Terrasse steht lowern aus, wehrt sich gegen Kritiker. lobte im März auf Twitter bei einem Tref-
ein Gasgrill, er trägt auch in seiner Freizeit fen mit dem türkischen Staatspräsidenten
oft Jogginganzug. Erdoğan zu sehen waren, thematisierten
Soziale Netzwerke werden von Fußball- Franck Ribéry praktisch alle Medien diesen Vorgang.
profis gezielt zur Markenbildung genutzt, Die Vereine tolerieren die Aktionen ih-
»sie sind für die Inszenierung der Stars rer Angestellten im Netz, weil sie von der
heute unerlässlich«, sagt Internetexperte Prominenz und Reichweite der Spieler pro-
Sascha Lobo. fitieren. Borussia Dortmund hat für seine
Die Sportler geben ihren Fans einen Spieler und Mitarbeiter allerdings Richt-
kleinen Einblick in ihr Privatleben, im Ge- linien für den Umgang mit Instagram,
genzug steigt die Zahl ihrer Follower und Twitter & Co. aufgestellt.
somit ihr Werbewert. Ribéry folgen bei Die »Social Media Guidelines« hängen
Instagram 4 Millionen Fans, Nationalspie- in der Geschäftsstelle und in Räumen des
ler Toni Kroos von Real Madrid 21 Mil- Trainingszentrums in Brackel aus. In lo-
lionen, der Social-Media-Ikone Cristiano ckerem Ton wird darauf hingewiesen, dass
Ronaldo 163 Millionen. man bitte nicht den Gegner vor einem
Ronaldo erreicht durch einen Post weit Spiel kritisieren solle, dass Schiedsrichter-
mehr Menschen als die ARD mit der Live- beleidigungen nicht der Klubetikette ent-
übertragung eines Länderspiels. Bei Ver- sprächen und Interna aus der Mannschafts-
tragsverhandlungen mit seinem Ausrüster, kabine auf keinen Fall bei Facebook lan-
mit Sponsoren kann der Stürmer von Ju- den sollten.
ventus Turin deshalb Zuschläge verlangen. »Wir stehen in einem regelmäßigen Aus-
Als Gegenleistung veröffentlicht er auf sei- Instagram-Post des Profis Ribéry tausch mit unseren Spielern über die In-
nen Seiten zu einem vereinbarten Zeit- Trolle laufen Amok halte, die sie verwenden wollen«, sagt
punkt ein Bild von sich mit dem neuesten Dortmunds Kommunikationsdirektor Sa-
Fußballschuh oder einer Luxusuhr. Leicht Viele Profis lassen sich bei der Kommu- scha Fligge. Trotzdem geht manchmal
verdientes Geld. nikation mit ihren Fans von Agenturen be- etwas schief.
Es gibt kaum noch bekannte Fußballer raten. Die Firmen achten darauf, dass auf Im Februar ließen sich Profis vor einem
und Klubs, die Facebook, Twitter und Co. den Seiten der Spieler nur Inhalte und Fo- Champions-League-Spiel bei Tottenham
nicht als Bühne nutzten, um dort eigene tos landen, die keine negativen Reaktio- Hotspur, das mit 0:3 verloren ging, einen
Botschaften zu verbreiten. Laut einer Stu- nen beim Publikum auslösen. Marco Reus Friseur ins Londoner Mannschaftshotel
die der WHU – Otto Beisheim School of mit Freundin im Garten. Toni Kroos mit kommen. Bilder der frisch gestylten Kicker
Management für die Deutsche Fußball Hunden. Süß. landeten bei Instagram. Die Aktion kam
Liga informieren sich viele junge Leute Hin und wieder versuchen Stars, sich nicht gut an. Tagelang wurde in Netz und
nicht mehr nur auf Websites oder im Fern- auf ihren Seiten zu profilieren. Mesut Özil, Boulevard über die heutige Fußballer-
sehen über aktuelle Ereignisse im Fußball, 30, der voriges Jahr eine Debatte über Ras- generation räsoniert, die jegliches Maß ver-
sondern auch über Smartphone-Apps wie sismus im Deutschen Fußball-Bund lostrat, loren habe und der ein Haarschnitt wich-
Instagram. hat den Klimawandel für sich als Thema tiger sei als der Erfolg auf dem Platz.
Der FC Bayern München operiert nach entdeckt. Auf dem Twitter-Account des Der Fußball hat dem Publikum schon
eigenen Angaben bereits mit gut zwanzig ehemaligen Nationalspielers in Diensten immer dazu gedient, auch mal Dampf
Accounts auf zwölf verschiedenen Platt- von Arsenal London erschienen zwei Fo- abzulassen. Meckern, fluchen, pfeifen,
formen und erreicht damit mehr als 80 Mil- tos, die das Abschmelzen des Polareises herumfuchteln, wenn der Stürmer am lee-
lionen Fans weltweit. Vor dem deutschen in den vergangenen zehn Jahren verdeut- ren Tor vorbeischießt, das gehört dazu,
Clásico zwischen dem Rekordmeister und lichen. Özil bekam dafür viel Zuspruch. das ist Fußballleidenschaft, ebenso wie
Borussia Dortmund launchten beide Groß- Allerdings eskalierte die Diskussion un- sich im nächsten Moment wieder einzu-
klubs eigene Kanäle auf dem neuen Video- ter seinem Post, nachdem sich ein palästi- kriegen und die eigene Mannschaft an-
portal TikTok, das vor allem Jugendliche nensischer Marathonläufer eingeschaltet zufeuern.

84 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


beschimpften den Fußballer und beleidig-
Social-Media-Könige ten seine Frau Wahiba.
Fußballspieler mit den meisten Followern*, in Millionen Das Ehepaar wehrte sich. Ribéry ver-
fasste eine mit vulgärem Vokabular ge-
*Anteil der Follower nach Plattformen: spickte Replik. Seine Gattin machte sich
Twitter Facebook
in einem Post über die »Hater« lustig und
schrieb: »Ja, wir haben Glitzer geschissen,
Instagram Stand: 24. April verdammt, das hat gut getan.« Das gab
den nächsten Shitstorm, klar.
Soziale Netzwerke »haben eine Ventil-
funktion«, sagt Medienexperte Lobo. Bei
manchen Followern der Berufsfußballer
scheint sich einiges an Frust aufgestaut zu
haben. Die Millionengehälter der Spieler,
361,6 die Maßlosigkeit mancher Stars, die vor
ihren Protzautos posieren und solche Bilder
auf ihrem Account veröffentlichen, das alles
217,0 wird auf Twitter, Facebook und Instagram
IM
AG
O
diskutiert, analysiert, interpretiert, eskaliert.
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OR Viele Fans leiten für sich inzwischen of-
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(5 204,2
);
GE Cristiano Ronaldo Neymar fenbar das moralische Recht ab, die Groß-
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Juventus Paris Saint- Lionel Messi verdiener im Trikot ihres Lieb-
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Germain FC Barcelona lingsvereins jederzeit für Fehl-
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pässe, Fehlschüsse oder Fehltritte
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zu verdammen, sie persönlich in
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AN Tweets und Posts zur Rechen-
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EU schaft zu ziehen.
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RS Als der Stürmer Davie Selke
James Rodríguez vom krisengeplagten Bundesligis-
91,6 Bayern München ten Hertha BSC neulich ein Bild
von sich bei einem Ausflug in Ber-
lin postete, schrieb ein Instagram-
Manuel Neuer Nutzer sinngemäß, der Spieler sol-
Bayern le gefälligst trainieren, nicht he-
München 23,3 85,9 rumstreunen.
die fü Der Mainzer Trainer Sandro
hrend
die en int
e
Schwarz erklärte kürzlich, der Fu-
Marco Reus 23,5 füh
r nation
alen S ror, der sich mitunter in sozialen
ren pieler
Borussia de Gareth Bale Netzwerken verbreite, beeinflusse
Dortmund 23,6 n de
ut Real Madrid inzwischen die Arbeit der Spieler,
sc
he der Fußballlehrer und der Mana-
nS
Bastian 40,6 pie
ler ger. Verletzende Attacken aus der
Schweinsteiger Anonymität heraus gingen an den Profis
Chicago Fire 74,3 Mesut Özil nicht spurlos vorbei: »Wir sind alle nur
Arsenal Menschen.«
Toni Kroos
Real Madrid Manche Topstars wie Arjen Robben
vom FC Bayern München verzichten in-
zwischen auf die Selbstdarstellung im
Netz. André Hahn, Stürmer beim FC
Augsburg, meldete sich bei Facebook ab,
er wolle nur noch auf dem Platz über-
zeugen.
»Wem der Hass schon mal mit dem
Faktor 1000 entgegengeschlagen ist, der
Profis haben gelernt, mit den Emotio- dort so viel Trash landen kann. Große Auf- weiß, wie belastend das sein kann«, sagt
nen in den Arenen und den Schlagzeilen merksamkeit erregte der Franzose im Ja- SPIEGEL-ONLINE-Kolumnist Lobo. Die
umzugehen. Die sozialen Netzwerke bil- nuar mit einem Video, auf dem zu sehen Kunst sei es zu erkennen, wann es besser
den dagegen eine andere Kampfzone. ist, wie er sich in einem Restaurant in Du- ist, das Handy oder den Computer ab-
Denn hier schlagen den Sportlern nicht bai ein in Blattgold gehülltes Steak auf- zuschalten und die Welle durchziehen zu
nur Sympathie und Heldenverehrung, son- schneiden lässt. lassen. Eva Horn, Gerhard Pfeil
dern auch Sozialneid, Hass, mitunter auch Eigentlich muss man Ribéry dankbar
Gewaltfantasien persönlich entgegen, un- sein für den Film. Das Dokument zeigt au-
geschminkt, tausendfach, zu jeder Tages- thentisch, in welchen Lebenswelten sich Video
Profi-Accounts für
und Nachtzeit. millionenschwere Fußballprofis bewegen. Fußballprofis
Franck Ribéry scheint sich um den In- Im Netz aber explodierte die Aufregung spiegel.de/sp182019social
halt auf seinen Seiten gern selbst zu küm- über die Szene. Ribéry wurde Dekadenz oder in der App DER SPIEGEL
mern. Anders ist es kaum zu erklären, wie vorgeworfen. Ein paar Trolle liefen Amok,

85
Wissenschaft+Technik
Wie tickt ein Mann, der seinen Reichtum für Dschungel, Bergseen und Korallenriffe einsetzen will? ‣ S. 88

NASA / DAVID C. BOWMAN


Ein neuer Wettlauf zum Mond ist entbrannt, und dieses Raketenmodell in einem Windtunnel der Nasa soll
helfen, dass die USA wieder triumphieren können. Die erste Frau auf dem Mond müsse Amerikanerin sein,
fordert die Trump-Administration, und zwar in spätestens fünf Jahren. Chinesische Ingenieure könnten den
USA zuvorkommen: Im Januar gelang es ihnen bereits, einen Roboter auf der Rückseite des Mondes zu landen.

Erfindungen während an der Rückseite Material ab- Fußnote

208
gebaut wurde. Ähnlich wie beim Wachs-
Bioroboter aus dem tum von Schleimpilzen bewegten sich
Molekülbaukasten die Polymere auf diese Weise gegen den
Strom voran. In einer Art Wettrennen
 Forscher der amerikanischen Cornell ließen die Forscher die Gebilde sogar
University haben die Grenze zwischen gegeneinander antreten. Von »lebensähn- Knochen hat der Körper vieler Men-
lebender und toter Materie ausgelotet. lichem« Material schwärmt Luo. Künftig schen – nicht 206, wie gemeinhin in
Das Team um den Bioingenieur Dan erhofft er sich winzige Bioroboter aus anatomischen Lehrbüchern angegeben.
Luo erschuf ein künstliches Material aus dem Molekülbaukasten, die sich selbst Fabella heißt ein Knöchelchen auf einer
DNA-Molekülen, das sich drei Eigen- antreiben und vervielfältigen können. PHB Sehne im Kniegelenk. Noch 1918 fand
schaften von Leben annähert: der Fähig- es sich nur bei 11 Prozent der Menschen,
keit zum Stoffwechsel, zur Selbstorga- heute werden die Fabellae schon bei
nisation und zum Wachstum. Zunächst 39 Prozent nachgewiesen, berichten bri-
ließen die Forscher millimetergroße tische Forscher. Als Grund vermuten
Molekülhaufen heranwachsen, die sie sie längere Knochen und mehr Muskel-
dann in einen Strom von Nährlösung leg- masse durch eine bessere Ernährung als
SHOGO HAMADA

ten. Während die Flüssigkeit die künst- noch vor 100 Jahren. Die dadurch be-
lichen Gebilde umspülte, bildeten sich an Laborgebilde aus DNA-Strängen dingte höhere Belastung der Sehne könn-
deren Vorderseite neue DNA-Stränge, te die Bildung der Fabella begünstigen.

86 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Gesundheit kommunizieren. Musik ist ein kraftvolles nen steuern. Vielen Patienten hilft es
Kommunikationsmedium. schon, Musik nur zu hören. Noch stärker
»Treibstoff für den SPIEGEL: In Ihrem Buch vergleichen Sie werden die Effekte allerdings, wenn man
Musik mit Sprache. selbst singt, ein Instrument spielt oder
Spaßmotor« Kölsch: Sprache ist die Musik des Indivi- auch nur den Takt mit dem Fuß mitklopft.
duums, Musik dagegen ist die Sprache der SPIEGEL: Welche Musik wirkt?
Der Neurowissenschaftler Gruppe. Rhythmen, Tänze und Melodien Kölsch: Diejenige, die den Patienten selbst
Stefan Kölsch, 50, von der Uni- dienen Menschen dazu, Durchhaltevermö- am besten gefällt. Allerdings ist nicht jede
versität Bergen in Norwegen gen und Gemeinschaftsgefühl zu stärken Musik heilsam. Depressive sagen mir
NIELS WESTRA

erklärt die heilsame Wirkung und einander Mut zu machen. Das scheint manchmal, dass sie traurige Lieder hören
von Liedern und Rhythmen mir auch die evolutionäre Bedeutung der möchten. Gesünder sind für sie jedoch
auf Körper und Geist. Musik zu sein. Musikhören verbessert fröhlich gestimmte Songs. Statt Musik zu
und verlängert das Leben. hören, die zur eigenen Stimmung passt, ist
SPIEGEL: Musik hält fit und macht gesund? SPIEGEL: Gute Laune durch Musik – wie es grundsätzlich hilfreicher, Stücke mit
Kölsch: Sie kann die Heilkräfte des Kör- geht das? jener Stimmung zu hören, in die man kom-
pers aktivieren, die Stimmung verbessern Kölsch: Die Hirnchemie ändert sich. Zum men möchte. Ich stelle meinen Patienten
und uns von belastenden Erfahrungen Beispiel wird beim Musikhören besonders deshalb Musikrezepte aus. Gemeinsam
ablenken. Gesunde bekommen gute Lau- viel Dopamin ausgeschüttet. Dieser suchen wir Lieder heraus, die sie hören
ne, Kranke erfahren Linderung. Positive Botenstoff ist gleichsam der Treibstoff des können, wenn es im Alltag Probleme gibt.
Effekte zeigen sich zum Beispiel nach Spaßmotors im Gehirn. Gleichzeitig wirkt SPIEGEL: Ist die heilsame Wirkung von
Schlaganfällen, bei Parkinson, Autismus Musik auf jene Hirnregionen, die Emotio- Musik für jeden nutzbar?
oder Depressionen. Patienten fangen Kölsch: Auf jeden Fall. Ich glaube
an, Dinge zu leisten, die sie eigentlich auch nicht, dass es unmusikalische
gar nicht mehr schaffen können. Menschen gibt. Ich selbst habe Geige
SPIEGEL: Zum Beispiel? studiert. Wenn ich ein Brahms-
Kölsch: Manche Parkinsonpatienten, konzert mit vier Musikern spiele,
die normalerweise nur noch schwer dann ist das auch für mich ein

ROBERTO CACCURI / CONTRASTO / LAIF


gehen, tanzen zu Musik so flüssig, großartiges, unvergleichliches Erleb-
dass man es kaum glauben kann. Der nis. Aber auf Perfektion kommt es
Rhythmus der Musik scheint ihnen gar nicht an. Der Zauber der Musik
zu helfen, ihre Bewegungsblockaden fängt schon an, wenn im Büro die
zumindest zeitweise zu lösen. Oder Kollegen gemeinsam »Happy Birth-
manche autistische Kinder, die day« singen. PHB
ansonsten emotionaler Kommunika-
tion kaum zugänglich sind: Sie fan- Stefan Kölsch: »Good Vibrations«. Ullstein;
gen auf einmal an, über die Musik zu Volkstänzer 384 Seiten; 22 Euro.

Gastkommentar

Falsche Propheten
Warnungen vor einem neuen Dürresommer sind unseriös. Von Jörg Kachelmann

Der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Offenbach ist eine gut Es könnte auch wie 2016 ein von Hochwassern geprägter Som-
funktionierende Behörde. Technisch auf der Höhe der Zeit mit ver- mer bevorstehen, falls Regenfälle über längere Zeit anhalten.
jüngtem Personal, das mit heiligem Feuer für bessere Wettervor- Oder irgendwas dazwischen.
hersagen brennt. Etwas, worauf der Bundesverkehrsminister stolz So viel Binse war selten, und leider kann die Wissenschaft
sein kann. Ausgerechnet DWD-Experten, die öffentliche Stellung- auch (noch) nicht weiterhelfen: Niemand weiß heute, wie der
nahmen gern einmal zu viel als zu wenig abwägen, wurden nun Sommer wird. Dass ein Dürresommer wahrscheinlicher ist als
zum Urheber von Fake News – ohne etwas dafür zu können. andere Szenarien, ist aus heutiger Sicht gelogen. Das scheint
Das Drama begann mit einer unschuldigen DWD-Pressemittei- aber kaum jemanden zu interessieren. Zwar gab es ein paar
lung. In dieser wurde korrekt angemerkt, dass es sehr unpraktisch schüchterne Rückzugsbemühungen wie durch den WDR: »Leider
wäre, wenn es erneut einen trockenen Sommer gäbe, weil schon haben wir die Aussage des DWD zu sehr zugespitzt.« Von sol-
der letzte Sommer zu trocken war und vor allem im Osten der chen Ausnahmen abgesehen, stürmte die Medienkarawane los
Republik auch im Winter nicht genügend Regen zur Regeneration und zeichnete ein Weltuntergangsszenario, für das es nicht den
der Bodenfeuchte gefallen sei. So weit, so richtig. Der für Deutsch- Hauch einer Basis gab. Angeführt wie immer durch »Bild« mit
land zuständigen Presseagentur war das Ganze aber zu beamtig, der Lüge, dass »Meteorologen sicher« seien, ein neuer »Sahara-
und so wurde der zurückhaltende Text zu »Meteorologen warnen: Sommer mit Mega-Dürre« stehe bevor. Dass Medien natur-
Deutschland droht weiterer Dürresommer« umgedichtet. wissenschaftliche Sachverhalte frei erfinden, weil es »gut klickt«,
Der Furor horrorverliebter Medien war nicht mehr aufzuhalten. ist eine beunruhigende Entwicklung. Regen würde helfen.
Kaum jemand nahm die Korrektur zur Kenntnis, dass der DWD
keine Vorhersage machte, sondern nur ausgemalt hat, was passieren Der Meteorologe ist Kolumnist auf SPIEGEL PLUS und Leiter des Wetterportals
könnte, »falls die Trockenheit in den nächsten Monaten anhält«. Kachelmannwetter.com.

87
Wissenschaft

Nur noch kurz die


Welt retten
Umwelt Der Schweizer Hansjörg Wyss hat angekündigt, eine Milliarde Dollar seines
Privatvermögens für den Schutz der Wildnis zu spenden. Was treibt ihn an?
Und wie lässt sich so viel Geld sinnvoll für den Naturschutz ausgeben? Ein Besuch.

M
anchmal reichen Hansjörg der »New York Times«, eine Milliarde Dol- industrien« rückten immer weiter in die
Wyss ein Dinner mit gutem lar für den Naturschutz spenden zu wollen. Wildnis vor.
Wein und der Blick auf Artenschützer waren elektrisiert. Und Ziel müsse es deshalb sein, bis 2030
zackige Berggipfel im Abend- so kühn und unglaublich klingt das Ver- weltweit 30 Prozent der Ozean- und Land-
rot, um ein paar Millionen zu ver- sprechen, dass es sofort Fragen aufwirft: fläche unter Schutz zu stellen – mehr als
schenken. Wie tickt ein Mann, der seinen mär- doppelt so viel wie bislang. »Ich glaube,
An den Holland Lake war der Schwei- chenhaften Reichtum für dichten Dschun- dass dieses ehrgeizige Ziel erreichbar ist«,
zer eingeladen worden, einen See mitten gel, glitzernde Bergseen und bunte Ko- notierte Wyss, der seit Jahrzehnten für
in der Waldwildnis der Rocky Mountains. rallenriffe einsetzen will? Und: Lässt sich Naturschutzprojekte spendet. Er habe ge-
Max Baucus, Senator des US-Bundes- so viel Geld mit Umsicht für Naturschutz sehen, »was möglich ist«.
staats Montana, war aus Washington an- ausgeben? Wer Wyss treffen will, braucht zunächst
gereist. Mit ihm kam der prominente Mo- »Wir müssen den Planeten retten«, be- Geduld. Der Milliardär verteilt seinen
derator David Letterman. Auch Montanas gründete Wyss sein Vorhaben. Pflanzen- Reichtum lieber im Stillen. Zugleich ist
Gouverneur und Vertreter der US-Natur- und Tierarten würden heute »1000-mal sein Kalender prall gefüllt. Wyss lebt mit
schutzorganisation Nature Conservancy schneller verschwinden als vor der An- seiner Partnerin, der Psychotherapeutin
saßen am Tisch. kunft des Menschen auf der Weltbühne«; und Malerin Rosamund Zander, auf einer
»Sie rollten eine Karte der Region aus«, der Klimawandel lasse überall auf der Erde Ranch im US-Bundesstaat Wyoming.
so Wyss über das Treffen 2008, »dann er- »natürliche Systeme kippen«; »Rohstoff- Meistens aber ist er unterwegs, um mit sei-
klärten sie mir den größten Na- nem Geld die Schöpfung zu be-
turschutz-Land-Deal in der Ge- wahren.
schichte Amerikas.« Heute zum Beispiel muss er
125 000 Hektar Wildnis, so sich in der Schweiz um seine Stif-
berichtete ihm die Runde, wolle tung kümmern. Gut gelaunt und
man der Plum Creek Timber braun gebrannt erscheint Wyss
Company abkaufen, um das am vereinbarten Treffpunkt in der
noch weitgehend unberührte Bahnhofshalle des Örtchens Nyon
Swan Valley vor den Holzfällern unweit von Genf. Im Audi geht
zu bewahren. Vereint mit be- es hinunter zu einer Villa direkt
nachbarten Wildnisregionen am Genfer See. Wyss kocht Kaf-
ließe sich eines der größten fee, hat Croissants mitgebracht.
Schutzgebiete der USA erschaf- Er komme gerade aus der Ka-
fen – »größer als Yellowstone«. ribik, berichtet er, ein kleiner,
500 Millionen Dollar würde unauffälliger Mann in grauer
der Landkauf kosten; 100 Mil- Steppjacke. Davor sei er in den
lionen davon müssten Privat- USA Ski gelaufen. Am nächsten
leute geben. Tag wolle er eine der ältesten
Ob Wyss Interesse habe? Whiskybrennereien der Welt
»Ich bat mir Bedenkzeit aus kaufen – »eine Idee, die beim
bis zum nächsten Morgen; als Bier mit einem Freund entstan-
ich zum Frühstück herunterkam, den ist«, sagt er.
sahen mich alle erwartungsvoll Wenn ihm etwas gefällt, dann
an«, so Wyss. Die Summe, die entscheidet Wyss schnell, viel-
er schließlich für das Montana leicht eines der Geheimnisse
SEBASTIEN AGNETTI / DER SPIEGEL

Legacy Project bereitstellte: seines Erfolgs.


40 Millionen Dollar. geplante Am 19. September
Spenden der
Willkommen in der Welt von Wyss Foundation 1935 wird Hansjörg
Hansjörg Wyss, 83, Milliardär, Wyss in Bern geboren.
Mäzen, Philanthrop.
Im Herbst vergangenen Jah- Philanthrop Wyss
100 Mio. $ Der Vater ist Rechen-
maschinenverkäufer,
jährlich
res verkündete der Schweizer in bis 2030 die Mutter organisiert

88
Beispiele
bisheriger Spenden

7 Mio. $ für die


Erweiterung des National-
parks Los Glaciares,
Patagonien

BLICKWINKEL / IMAGO
den Haushalt. Die Familie lebt zur Miete Gleichzeitig jagt er auf Skiern die Berge kanische Vertreiber der Medizinaltechnik.
in einem Haus mit sechs Parteien. Viel hinab, spielt Fußball. Nach dem Schulab- In kurzer Zeit gelingt es Wyss, den Umsatz
Geld ist nicht da, dafür ein großes Interesse schluss geht Wyss an die ETH Zürich und der Firma zu vervielfachen. Schließlich
an Natur und Politik. wird Bauingenieur. Dann zieht es ihn in verschuldet er sich mit rund 50 Millionen
»Nach dem Essen setzte sich meine Mut- die USA. 1965 schließt er die Harvard Busi- Dollar und kauft Synthes USA. Immer wei-
ter in den Lehnstuhl, zündete sich eine Zi- ness School ab. Eine normale Karriere in ter vergrößert er sein Medizintechnik-Im-
garette an und las Zeitung«, erzählt Wyss. der Wirtschaft beginnt, Wyss arbeitet bei perium. 2012 schließlich verkauft er Syn-
Dann wurde »die Weltlage« diskutiert. So Chrysler, beim Textilhersteller Burlington, thes an die US-Firma Johnson & Johnson –
erinnert er sich an die Landung der Alli- schließlich in der Textilfaserherstellung ein Milliardendeal.
ierten in der Normandie, an die Bombar- von Monsanto. »Forbes« schätzt sein Vermögen auf
dierung von Schaffhausen 1944 oder an Dann kommt es zu einer Zufallsbekannt- 5,9 Milliarden Dollar, und Wyss wider-
die »Rationierungen« – und wie er mit der schaft, die sein Leben verändern wird. spricht nicht. Ein bisschen scheint er selbst
Mutter in abgeerntete Weizenfelder ging, Wyss ist begeisterter Pilot. In seiner Frei- überrascht über seinen Reichtum.
um die letzten Ähren aufzulesen. »Die zeit verkauft er amerikanische Privatflug- »Wenn ich jetzt mit dir hier bin, fühle
brachten wir in die Mühle und bekamen zeuge, die er persönlich über den Atlantik ich mich nicht reich«, sagt Wyss, der ähn-
etwas Mehl dafür.« zu den neuen Besitzern fliegt. Einer der Kun- lich schnell zwischen dem Du und dem Sie
Und immer wieder Naturerlebnisse. den ist der Basler Chirurg Martin Allgöwer. hin- und herspringt wie zwischen Schwei-
»Anstatt Karriere zu machen, ging mein Mit anderen schweizerischen Medizi- zerdeutsch und Englisch. »Mein Monats-
Vater lieber mit uns ins Grüne, jedes nern hat Allgöwer eine neue Methode budget ist nicht höher als vor 30 Jahren.«
Wochenende waren wir zu Fuß oder mit entwickelt, Knochenbrüche zu behandeln. Oder: »Ich sage zu meiner Lebensgefähr-
dem Rad unterwegs«, sagt Wyss. Schon Die Ärzte fügen die Knochen direkt im tin, you know that’s too expensive, wenn
damals erkennt der junge Hansjörg, wie OP-Saal wieder zusammen. »Sie benutz- etwas 45 Dollar kostet!«
die Bauern »noch jeden Quadratmeter ten nur eine Platte und vier Schrauben«, Das klingt wie Koketterie und wirkt
bebauen wollten«, wie Sträucher und sagt Wyss, »aber den US-Chirurgen waren doch gleichzeitig authentisch. Wyss ist ge-
Bäume abgeholzt und alte Bäche »gerade sie damit zehn Jahre voraus.« lebtes Understatement. In den USA fährt
gemacht« wurden, »eine furchtbare Er lässt sich überreden, das US-Geschäft er den Hybridwagen Prius von Toyota
Dummheit«. zu übernehmen. Synthes heißt der ameri- (»das Auto nutzt die kinetische Energie

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 89


aus, besser geht es gar nicht«), in der
Schweiz nimmt er gern den Zug, zweite
Klasse: »Da können Sie wenigstens mit
den Leuten sprechen – oder alten Frauen
beim Koffertragen helfen.«
Wyss tritt hinaus in den Garten des An-
wesens. Die Bise peitscht an diesem Tag
den Genfer See auf, ein kalter, ortstypi-
scher Wind aus Nordost, der Schaumkro-
nen auf das Wasser zaubert. Im Dunst in
der Ferne ist der Gipfel des Mont Blanc
zu sehen. »Dreimal habe ich versucht, den
zu besteigen«, sagt Wyss. Schlechtes Wet-
ter stoppte ihn, jedes Mal. Dieses Aben-
teuer hat er nun aufgegeben.
40 Mio. $
für das Montana
Am Ufer zeigt er eine mobile Plattform, Legacy Project,
mit der ein Skiff zu Wasser gelassen wer- USA
den kann. »Ich rudere immer noch«, sagt
Wyss. Oft kommt er allerdings nicht mehr
hierher. »Es gibt zu viele gute Alternati-
ven.« Seine Lebensgefährtin hat ein Haus
in Maine. Wyss selbst hat Anwesen in Ka-
lifornien, auf der US-Reicheninsel Mar-
tha’s Vineyard an der US-Ostküste und an
vielen anderen Orten der Welt.

Wyss’ Leben ist Jetset, auch wenn er es


selbst nicht so beschreiben würde. Er könnte
die Hände in den Schoß legen. Warum tut
er es nicht? Will er der Gesellschaft etwas
zurückgeben? »Nein, nicht zurückgeben, an
wen sollte man zurückgeben?«, widerspricht
er, »das Geld wurde ja ehrlich verdient.«
»Nach dem Verkauf meiner Firma habe
ich den Wohnsitz gewechselt, von Penn-
GETTY IMAGES

sylvania nach Wyoming; dort wohnt mei-


ne Tochter«, sagt Wyss, »und ich konnte
300 Millionen Dollar Kapitalertragsteuer
sparen.« Auch dieses Geld floss direkt in
seine Stiftung. »Ich brauchte es ja nicht,
verstehen Sie?«, sagt Wyss, »und wenn es turschutz setzen. Der Zeitpunkt ist gut ge- Erste Projekte laufen bereits. An der Pazi-
in der Stiftung ist, dann wird’s einfacher, wählt. Im kommenden Jahr treffen sich fikküste Costa Ricas hilft die Wyss-Stif-
es auch auszugeben.« die Vertragsstaaten der Biodiversitätskon- tung, ein 7000 Quadratkilometer großes
So tickt der Milliardär. vention (CBD) im chinesischen Kunming. Meeresschutzgebiet um die wilde Osa-
Wyss ist Kunstmäzen, gibt Geld für die Auf der Konferenz wird es darum gehen, Halbinsel einzurichten. Marine Zaubergär-
Biotech-Forschung, spendete der Harvard die 2010 als sogenannte Aichi-Biodiversi- ten wachsen dort auf zackigen Unterwas-
University einen dreistelligen Millionen- tätsziele festgeschriebenen Pflichten zum serbergen. Sie sind das Jagdgebiet gefähr-
betrag für ein erfolgreiches »Institute for Schutz von Ökosystemen und Arten zu deter Hammerhaie.
Biologically Inspired Engineering«. Rund überprüfen und weiterzuschreiben. In Südamerika arbeitet er mit Kristine
100 gemeinnützige Institutionen unter- Zusammen mit Naturschutzorganisatio- McDivitt Tompkins zusammen, Witwe des
stützt der Philanthrop, er setzt sich für nen hofft Wyss, dass sich die CBD-Ver- 2015 bei einem Kajak-Unfall ums Leben
Frauenrechte ein und für den Erhalt des tragsstaaten auf das sogenannte 30-30-Ziel gekommenen US-Multimillionärs Douglas
Weltfriedens. Wie die Milliardäre Bill verpflichten werden: Bis zum Jahr 2030 Tompkins, Mitgründer der Textilmarke
Gates und Warren Buffett will er mehr als sollen 30 Prozent der Land- und Ozean- The North Face. Das Paar engagierte sich
die Hälfte seines Vermögens wohltätigen fläche der Erde unter Schutz stehen. Bis- in Chile für den Erhalt der Wildnis Patago-
Zwecken zukommen lassen. lang sind es nur rund 15 Prozent der Land- niens und kaufte dort seit Anfang der Neun-
Sein Einsatz als Naturretter begann mit und 7 Prozent der Ozeanfläche. zigerjahre Hunderttausende Hektar Land,
einer 5000-Dollar-Spende an die Wilder- Mit seiner Milliarde will Wyss direkt um es vor der Zerstörung zu bewahren.
ness Society in den USA. Seit 1998 hat die zum Erreichen des Großziels beitragen. Wyss traf Tompkins zum ersten Mal
Wyss-Stiftung mehr als 450 Millionen Dol- 2005. Kurz vor dem Unfalltod des Freun-
lar für Naturschutzprojekte ausgegeben. des entschloss er sich, das Patagonien-
Weltweit 16 Millionen Hektar Land und projekt auf argentinischer Seite weiter aus-
Meeresgebiete konnten dadurch unter »Aus der Karibik bin ich zubauen. Los Glaciares heißt dort ein
Schutz gestellt werden. im Privatflugzeug hier- Nationalpark, den Wyss nach Norden hin
Mit seiner aktuellen Initiative, die er erweitern will.
»Campaign for Nature« nennt, will Wyss
hergeflogen. Ich mache Oder Rumänien: 37 Millionen Dollar
erneut ein kräftiges Zeichen für den Na- nicht, was ich predige.« hat seine Naturschutzstiftung bereitge-

90
auch in Ländern wie den USA kann Wyss

37 Mio. $
für Projekte
mit seinem Reichtum Politik machen.
Offiziell mag er sich dort als schweize-
rischer Staatsbürger nicht einmischen.
in den Karpaten Doch in den Rocky Mountains beispiels-
weise hat die Wyss-Stiftung zwei Öl- und
Gasförderfirmen die Nutzungsrechte ab-
gekauft, um die dortige Wildnis zu schüt-
zen – ein Affront gegen die Politik von
US-Präsident Donald Trump, der manche
Nationalmonumente des Landes um über

WIM HOEK / SHUTTERSTOCK


80 Prozent beschneiden will und lieber
Bohrrechte an die Industrie verteilt, als
Naturschutz zu betreiben.
»Das Problem mit Trump ist nicht
Trump selbst, sondern seine Administra-
tion und das, was hinter den Kulissen pas-
siert«, sagt Wyss. Dann schimpft er über
die Koch-Brüder, jene superreiche US-Fa-
milie, die mit ihrem Geld versucht, massi-
ven Einfluss auf die US-Politik zu nehmen.
»Die wollen, dass die Reichen die totale
Kontrolle über das Land bekommen«, sagt
Wyss – und scheint dabei zu vergessen,
dass er selbst zu diesem Kreis gehört.
Wyss hat jetzt Hunger. Im Auto geht es
zwei Kilometer weiter zum mondänen

STEFFEN BINKE / ALAMY / ALL MAURITIUS IMAGES


Golf Club du Domaine Impérial, ebenfalls
malerisch am Seeufer gelegen. Der Milliar-
där ist hier Mitglied.
»Golf spiele ich allerdings nur, wenn ich
den gesunden Menschenverstand verloren
habe«, scherzt er. Dann geht das Gespräch
100 000 $ bei Risotto au Safran und Mineralwasser
im Restaurant des Klubhauses weiter.
für das Corcovado-
Meeresschutzgebiet, Denn ein Widerspruch muss noch dis-
Costa Rica kutiert werden. Herr Wyss, Sie fliegen
mehr als die meisten, Sie unterhalten Häu-
ser überall auf der Welt. Die Menschheit
wäre verloren, wenn jeder so viele Res-
stellt, um Land in den Karpaten zu erwer- gebiete auch wirklich auf alle Zeit unge- sourcen verbrauchte wie Sie!
ben. Dort gibt es noch ausgedehnte Wäl- nutzt bleiben. »Ich weiß, dass ich einen himmeltrauri-
der, durch die Bären, Wölfe und Luchse »Wildnis ist am besten geschützt, wenn gen ökologischen Fußabdruck hinterlasse«,
streichen. Mit Gleichgesinnten hofft Wyss sie nicht in privaten Händen bleibt, ver- gibt Wyss zu. »Aus der Karibik bin ich im
auf einen »Europäischen Yellowstone«, ei- schlossen hinter Gattern, sondern als Na- Privatflugzeug hierhergeflogen.«
nen 200 000 Hektar großen Nationalpark, tionalpark offen für jeden ist«, sagt Wyss. Und weiter: »Auch meine Schwester
der Ökotouristen anlocken soll. Vorbildlich findet er die amerikanische Na- fragt mich immer, wie ich das verantwor-
tionalparkidee. »Genau wie der Grand-Can- ten kann. Die Antwort ist: Ich weiß es
»Viele Stiftungen müssen auf das nächste yon- oder der Grand-Teton-Nationalpark nicht. Ich bin da ganz offen, ich mache
Boardmeeting warten«, sagt Wyss, »ich wirtschaftliche Motoren geworden sind, nicht, was ich predige.«
dagegen kann frei entscheiden.« sollen die neuen Schutzgebiete Jobs schaf- Wenn es um die Bewahrung der Natur
Nur wenige Regeln beachtet der Milliar- fen, Besucher anziehen und nachhaltige geht, hat Wyss sich eine sympathisch ehr-
där bei der Auswahl seiner Projekte: Wyss wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen.« liche Nonchalance bewahrt. Nur noch
engagiert sich nie allein. Stets müssen an- Ist das alles zu gut, um wahr zu sein? kurz die Welt retten, aber bitte bei einem
dere Geldgeber dabei sein. Und es müssen »Ob Umweltschutz oder Anti-Trump, ob guten Glas Wein.
auch staatliche Mittel in die Projekte Völkerrecht oder Feminismus«, Hansjörg »Ich glaube, dass wir in den letzten ein-
fließen. Vor allem aber pocht er auf die Wyss sei ein Milliardär, »den die Linken hundert Jahren einen Lebensstil kreiert
Beteiligung lokaler Initiativen. Denn wer lieben. Denn er trägt immer eine blüten- haben, den niemand mehr aufgeben will«,
wie er Land im großen Stil kauft, gerät reine Moralweste«, schrieb die schweize- sagt der Milliardär, »es gibt kein Zurück.«
zwangsläufig in Konflikt mit den Men- rische »Weltwoche« bissig. Eine Frage Ist die Rettung der Natur also nur eine
schen vor Ort. drängt sich tatsächlich auf: Ist so viel romantische Illusion?
Naturschutz kann auch zur Folge haben, Spendenbereitschaft eigentlich noch demo- »Ein wenig schon, aber man muss auch
Einheimischen den Zugang zu ihrem Land kratisch? Ziele verfolgen, die vielleicht nicht erreich-
zu erschweren. Wyss versucht deshalb, ge- Immer, wenn viel Geld bewegt wird, bar sind«, sagt er. »Wenigstens hat man es
kauftes Land möglichst bald an die öffent- geht es auch um Macht, Kontrolle, Ein- versucht.« Philip Bethge
liche Hand zu übertragen. Auflagen sollen fluss. Das Problem ist besonders groß in Mail: philip.bethge@spiegel.de
allerdings sicherstellen, dass die Wildnis- Ländern mit korrupten Regimen. Aber

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 91


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Technik

Kranker
Vor allem aber muss sich der Flugzeug- ne wirkliche Aufsicht auf Flugzeugherstel-
bauer des Verdachts erwehren, mit der ler ausübt. Zu großen Teilen zertifizierten
737 Max aus Profitgier eine lebensgefähr- diese sich selbst – was bei Boeing mög-

Vogel
liche Fehlkonstruktion fahrlässig auf den licherweise zu einem langsamen Zerfall
Markt gebracht zu haben. In bestimmten, der Sicherheitskultur geführt hat.
seltenen Fluglagen neigt die 737 Max dazu, Darauf deuten zumindest weitere Pro-
die Nase gefährlich steil nach oben zu zie- bleme hin, unter denen der Konzern der-
Luftfahrt Boeing will die weltweit hen. Um das zu verhindern, hat Boeing zeit leidet. Die US-Luftwaffe hat kürzlich
stillgelegte 737 Max mit einem ein technisches Flickwerk ersonnen, eine die Annahme weiterer Tankflugzeuge
geisterhafte Software namens MCAS vom Typ KC-46A verweigert. Boeing hat-
Software-Update wieder an den (»Maneuvering Characteristics Augmenta- te sie zu schlampig gebaut. Bei Inspektio-
Start bringen. Aber wird die tion System«). Permanent prüft ein Rech- nen in Hohlräumen fanden sich vergessene
Maschine dadurch wirklich sicher? ner den Anstellwinkel der Maschine. Soll- Werkzeuge, Schrauben oder Müll.
te dieser riskante Werte annehmen, senkt Von ähnlichen Missständen beim
der Computer die Nase ab, das Flugzeug »Dreamliner« berichtet die »New York

S eit Mitte März ist das neueste und


kommerziell wichtigste Flugzeug
des US-Herstellers Boeing ein Steh-
zeug. Keine einzige der 387 bisher ausge-
entkommt der Gefahrenzone – ohne Zu-
tun der Piloten.
Ob ein riskanter Anstellwinkel vorliegt,
erfährt der Rechner an Bord der 737 Max
Times«. In einem Werk in South Carolina
seien im Innern neuer 787 regelmäßig
Fremdkörper wie Metallspäne, Tuben
oder Verpackungsmaterial liegen geblie-
lieferten Maschinen vom Typ 737 Max jedoch von nur einer einzigen Datenquelle: ben – selbst in sicherheitsrelevanten Be-
darf noch zahlende Fluggäste transportie- einem Sensor auf der Außenhaut der Ma- reichen. Wichtiger als Qualität, so resü-
ren; nach zwei ähnlichen Abstürzen in In- schine. Wenn dieser defekt sein sollte, miert die Zeitung, sei Boeing wohl die
donesien und Äthiopien mit 346 Toten hal- dann aktiviert sich das System fälschlich. zügige Produktion gewesen.
ten die wichtigsten Luftaufsichtsbehörden Genau dies ist offenbar in Indonesien und Unter Hochdruck arbeitet Boeing noch
der Welt den Flieger nicht mehr für sicher. Äthiopien geschehen: Falsch informierte immer an einem Software-Update für die
737 Max, das eigentlich schon im Januar
fertig sein sollte. Die neue Software
kommt dem Eingeständnis gleich, wie un-
zureichend die alte war.
Da die 737 Max ohnehin über zwei Sen-
soren für die Messung des Anstellwinkels
verfügt, sollen künftig beide Messwerte von
MCAS berücksichtigt werden. Ein womög-
lich defekter Sensor fällt dem System in Zu-
kunft auf. Wenn sich MCAS aktiviert, soll
es die Flugzeugnase weniger stark als bisher
absenken. Vor allem aber: Nach dem Up-
date sollen die Piloten allzeit in der Lage
sein, sich gegen den Rechner durchzusetzen.
Ob dieses Software-Update aus der 737
Max einen sicheren Flieger macht, werden
die Luftfahrtbehörden der Welt demnächst
aufgrund eigener Untersuchungen beurtei-
len wollen. Seit Jahrzehnten übernahmen
sie bei Flugzeugen aus US-Produktion
POLARIS / LAIF

meist ungeprüft das Votum der FAA, doch


das Vertrauen in diese ehemalige Bastion
der Flugsicherheit ist nun dahin.
Stillgelegte 737 Max in Seattle: Fehlkonstruktion aus Profitgier? Die Beratungen über die Wiederzulas-
sung der 737 Max sollen Ende Mai begin-
nen. Schon jetzt ist absehbar, dass die Flug-
Boeing steckt seither in der tiefsten Kri- Rechner lenkten beide Flugzeuge kopf- aufsichtsbehörden bei dem Problemflieger
se seiner über hundertjährigen Firmen- über ins Meer oder zu Boden; aller Wider- schwerlich einen Konsens finden werden.
geschichte. stand der Piloten war vergebens. Kanada besteht darauf, 737-Max-Piloten
Mehr als 4500 Exemplare der 737 Max Branchenexperten sind fassungslos da- im Simulator zu schulen, wie sie mit einem
haben die Airlines bestellt, was einem rüber, dass Boeing die automatisierte Flug- fälschlich aktivierten MCAS umzugehen
Rekordauftragsvolumen von mehr als zeugsteuerung von lediglich einem Sensor haben. Boeing und ein FAA-Experten-
400 Milliarden Dollar entspricht. Aber abhängig gemacht hat. Der bewusste Ver- gremium halten das für unnötig und wahr-
noch immer ist offen, wann und sogar ob zicht auf Redundanz ist der schärfste Vor- scheinlich auch für zu teuer.
die Maschine wieder starten darf. wurf gegen den Flugzeugbauer und gegen American Airlines will seine Piloten
Zudem werden nun immer neue Pannen die Flugaufsichtsbehörde FAA, die diesen ebenfalls im Simulator extra für die Tücken
beim Bau anderer Flugzeugtypen bekannt: kranken Vogel durchgewinkt hat. der 737 Max ausbilden. Southwest und
So vergaßen Boeing-Arbeiter Fremdkörper Wie das passieren konnte, wird vom US- United verzichten darauf. US-Passagiere
an Bord neuer Langstreckenflieger vom Senat, von mehreren Institutionen und haben die Wahl, bei welcher Fluggesell-
Typ 787 »Dreamliner«. Schlimme Schlam- auch von Strafverfolgungsbehörden unter- schaft sie künftig lieber ein Ticket kaufen.
pereien gab es auch beim Bau militärischer sucht. Es rächt sich, dass die FAA schon Marco Evers
Tankflugzeuge. seit Jahren mangels Personal und Geld kei-

94 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Gezügelte
Walküren
Akustik Macht Hochkultur
krank? Viele Orchestermusiker

STEVEN SIEWERT / FAIRFAX MEDIA / GETTY IMAGES


leiden unter Hörschäden.
Mit Schallschutz-Tricks soll
ihnen geholfen werden.

V orsicht, dieses Instrument kann Ihrer


Gesundheit schaden! Dieser Warn-
hinweis müsste eigentlich auf jeder
Pauke und Trompete kleben. Denn aus
medizinischer Sicht ist das Musizieren in
einem Orchester eine Art Risikoberuf. Der Blechbläser im Orchestergraben: Antischall aus Kopfhörern
Anteil der professionellen Musiker, die
unter Tinnitus oder Geräuschüberempfind-
lichkeit leiden, ist höher als in der Rest- Langsam aber ändert sich etwas. Auf weiterhin selbst schützen. Einige halten
bevölkerung. dem vergangenen Deutschen Orchester- sich vor lauten Passagen die Ohren zu –
Eine Wagneroper beispielsweise erzeugt tag haben sich Musiker und Arbeitgeber allerdings funktioniert das nur, wenn sie
mit teilweise mehr als 135 Dezibel einen gemeinsam ausführlich mit dem Thema die Hände nicht für ihr eigenes Instrument
so hohen Schalldruckpegel wie ein Düsen- Gesundheit befasst. »Ein absolutes No- brauchen.
triebwerk in 30 Meter Entfernung. Der Ar- vum«, freut sich Sieglinde Fritzsche von Besser geeignet sind speziell angefertigte
beitsschutz dagegen erlaubt ein Maximum der DOV. Ohrstöpsel, sogenannte Otoplastiken, wel-
von durchschnittlich 87 Dezibel. Kann Wodurch das Problem verschärft wird: che den Schallpegel verringern können.
Hochkultur also krank machen? Mit diesem Über die Jahrzehnte sind die Orchester Doch was, wenn auf laute Passagen leise
Tenor sorgte ein SPIEGEL-Bericht im vori- zugunsten eines dynamischeren Hörein- folgen und umgekehrt? Dann bedarf der ra-
gen Jahr für Dissonanzen (30/2018). drucks immer größer geworden, während sche Ohrstöpselwechsel fast so großer Vir-
Nun soll alles anders werden in den Kon- Bühnen und Orchestergräben nicht in tuosität wie das Bedienen des Instruments.
zertsälen. Die Deutsche Orchestervereini- demselben Maße mitgewachsen sind. Am Dieses Problem will der Kölner Lärm-
gung (DOV) kann sich kaum vor Nachfra- lautesten sind Posaune, Trompete und schutzspezialist Hearsafe nun mit High-
gen der mehr als 120 deutschen Klangkörper Querflöte, gefolgt von Tuba, Horn und techmethoden in den Griff bekommen. Auf
retten, die, aber presto, etwa neue transpa- Klarinette, das bestätigt eine Broschüre der Messe Prolight + Sound, die Anfang
rente Schallschutzwände erproben wollen. der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und April in Frankfurt am Main stattfand, stell-
Sie könnten Cellisten vor hubschrauber- Arbeitsmedizin. Der Lärmpegel im Or- te er einen neuartigen Luxusohrstöpsel vor,
lauten Trompeteneinsätzen abschirmen. chestergraben liegt manchmal über der der sich je nach Musikstück ad libitum mit
Auch andere Schallschutz- Schmerzgrenze, die bei einem Handgriff umschalten lässt von 0
Tricks sollen Abhilfe schaf- rund 120 Dezibel beginnt. bis 29 Dezibel Dämpfung – geeignet für
fen (siehe Grafik). Lärmschutz im Orchester Einige Orchester su- einen flüsterleisen John Cage bis hin zum
Posaune oder Pressluft- chen jetzt nach ungewöhn- ohrenbetäubenden Ritt der Walküren.
hammer? Die feinen Sin- Durchsichtige Schall- lichen Mitteln. In Osna- Markus Kallinger, Professor für Hör-
schutzwände im Rücken
neszellen im menschlichen der Musiker brück zum Beispiel steht akustik an der Technischen Hochschule
Ohr unterscheiden nicht eine umfassende Sanie- Lübeck, entwickelt gemeinsam mit Stu-
Unschön, benötigen viel Platz
zwischen Musikgenuss und rung des Theaters an; Ge- denten und Musikern derweil Kopfhörer,
Fabriklärm, für sie zählt neralmusikdirektor An- die Musikzumutungen mit Antischall be-
allein der physikalische Otoplastiken: individuell dreas Hotz, ausgezeichnet kämpfen sollen, um sie aufzuheben. Derlei
Schalldruck. Das Vertrack- angepasste Ohrstöpsel mit mehreren Dirigenten- »Noise Cancelling« könnte sogar beim Pro-
te dabei: Oft treten die Für den Musiker stark ver- preisen, möchte diese Ge- ben daheim funktionieren und selbst gna-
Schäden erst mit Verzöge- änderter Gesamtklang legenheit nutzen, um den denloses Pauken in bezauberndes Pianis-
rung ein, wenn es längst engen Orchestergraben an simo verwandeln.
zu spät ist. Noise-Cancelling- den Seiten zu öffnen. Das Noch ist manches davon Zukunftsmusik.
All das ist durch medi- Kopfhörer soll die Musiker entlasten. Wahrscheinlich wird am Ende eine Kom-
zinische Studien inzwi- Modelle für Orchestermusiker Es wäre auch für das bination verschiedener Maßnahmen not-
schen hinlänglich belegt, sind noch in der Entwicklung. Publikum besser, so Hotz. wendig sein, vom Umbau der Probenräu-
doch in vielen Orchestern »Das klangliche Gesamt- me über das Aufstellen von Schallschutz-
war das Thema bisher Umbau der Orchester- bild würde davon enorm wänden bis hin zu Hightechohrschützern.
ein Tabu. Viele Musiker bühne für verringerte profitieren.« Bis dahin heißt es für Berufsmusiker
schwiegen lieber zu der Schallreflexion zu den Die Sanierung dürfte al- weiter: Ohren zu und durch.
eigenen Schwerhörigkeit, Musikern lerdings noch Jahre auf Hilmar Schmundt
auch aus Angst, ihren ge- Teuer, oft ist am Aufführungsort sich warten lassen. Bis da- Twitter: @hilmarschmundt
liebten Beruf zu verlieren. nicht genug Platz vorhanden. hin müssen Musiker sich

95
Wissenschaft

Bevor es knallt
nen (Bagso) in Bonn warnt davor, dass die-
se Überforderung in Gewalt umschlagen
könne. In psychische, wenn man einander
anschreit, wenn man droht, wegsperrt.
Aber auch in körperliche, wenn Betroffene
Psychologie Viele ältere Menschen, die zu Hause ihren Partner, ihre geschüttelt, getreten oder fixiert werden.
Mutter, ihren Vater pflegen, geraten ans Ende ihrer Kräfte. Dann Doch niemand spreche gern darüber,
kann es passieren, dass sie um sich schlagen, nicht nur verbal. Was hilft? dass auch die Helfer manchmal nicht mehr
können – und welche Folgen dies für die
Menschen in ihrer Obhut hat. Wie aber

W enn ihr Mann nicht bekommt, was


er will, dann wird er laut. »Richtig
laut«, sagt Angelika Schürmann.
So sei er früher nicht gewesen, vor seinem
kurz oder lang als körperliche Anstren-
gung empfinden dürften.
Bei einer Umfrage der Krankenkasse
Barmer gaben 2018 rund sieben Prozent
geht man mit einem Thema um, das eigent-
lich tabu ist?
Gabriele Tammen-Parr ist Sozialpäda-
gogin bei der Berliner Initiative »Pflege in
Schlaganfall. der pflegenden Angehörigen an, nur dann Not«. Als sie vor mehr als 20 Jahren in
Schürmann, 68, steht im Flur ihrer Alt- weiterpflegen zu wollen, wenn sie Hilfe Kreuzberg ihre erste Selbsthilfegruppe für
bauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Sie ist erhielten. 185 000 Menschen stehen kurz pflegende Angehörige anbot, konnte sie
eine hübsche, schmale Frau mit kurzem, davor, die Pflege aufzugeben. Sie haben kaum glauben, dass all das Schreien, Dro-
graublondem Haar. Um sie herum Regale die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. hen und auch Schlimmeres, was da zur
voller Bücher. Früher war sie Buchhänd- Oft vergehen Monate oder Jahre, in Sprache kam, tatsächlich zum Pflegealltag
lerin, ihr Mann hat in einem Verlag gear- denen sich die Pflegenden alleingelassen gehören sollte. Zunächst dachte Tammen-
beitet. Klaus Schürmann, 72, sitzt in sei- fühlen und die Beziehung zu dem Ange- Parr, ihre Gruppe sei irgendwie besonders.
nem alten Arbeitszimmer, in eine karierte hörigen, um den sie sich kümmern, immer Doch Gespräche mit Kollegen bestätigten,
Decke gewickelt. Vor 14 Jahren erlitt er schwieriger wird. Die Bundesarbeits- was sie jeden Monat hörte. Heute sagt
den Hirnschlag, seitdem kümmert seine gemeinschaft der Senioren-Organisatio- sie: »Ob körperliche oder psychische Ge-
Frau sich zu Hause um ihn. Sein rechter
Arm ist gelähmt, sie wäscht ihn, hilft beim
Anziehen, Essen. Dafür bekommt sie rund
300 Euro Pflegegeld im Monat.
Schwerer als die Lähmung aber wiege,
dass sie sich mit ihrem Mann kaum mehr
unterhalten könne, sagt Schürmann. Sein
Sprachzentrum hat Schäden davongetra-
gen, nie ist klar, ob er den Sinn der Worte
auch versteht. Dutzende Male am Tag muss
Schürmann erraten, was ihr Mann will. Ein
Buch? Das Salz? Wenn ihm etwas dringend
erscheint, sie aber nicht gleich darauf
kommt, wird er laut, fängt in seiner Ver-
zweiflung an herumzuschreien. Manchmal
so laut, dass Schürmann Angst hat, dass
die Nachbarn die Polizei rufen.
Wenn sie dann so im Gebrüll steht, fühlt
sie sich bisweilen vollkommen hilflos. Und
wenn es besonders schlimm ist, denkt sie
schon mal: »Ich kann nicht mehr. Gleich
bring ich ihn um.«
Aber sie tut es natürlich nicht. Stattdes-
sen läuft sie auf die Straße hinunter und um
den Block, bis sie sich beruhigt hat. Danach,
sagt sie, gehe es wieder eine Weile. Eigent-
lich, erzählt Schürmann, pflege sie ihren
Mann gern. Er sei im Grunde immer lie-
benswürdig und ihr zugewandt.
In Deutschland leben rund 3,4 Millio-
nen Menschen, die auf Pflege angewiesen
sind. Von denen werden 2,6 Millionen zu
Hause versorgt, mehr als zwei Drittel da-
von ausschließlich durch Angehörige. Und
die Zahl dieser Pflegearrangements steigt,
LISA WASSMANN / DER SPIEGEL

im Zeitraum zwischen 2015 und 2017 al-


lein um 27,5 Prozent. Von den Pflegenden
wiederum sind zwei Drittel Frauen, fast
40 Prozent sind älter als 70. Man kann sa-
gen: Die häusliche Pflege in Deutschland
ist zu einem großen Teil weiblich und wird
von Menschen übernommen, die das über

96
»EINES DER
walt – wer zu Hause allein pflegt, ist ir-
gendwann davon betroffen.«
Im Januar erst suchte eine Frau Hilfe
fenes Ohr für diese Art von Problemen
hat. Wer allzu forsch kontrolliere, riskiere
einen schlechten Ruf und damit bares
BESTEN
bei ihr, die erzählte, sie habe ihrer Mutter,
die im Rollstuhl sitzt, zu Weihnachten
Geld.
Als häufigste Art von Gewalt erlebt sie,
WIRTSCHAFTS-
unter großen Mühen ein Festmahl zu- dass Pflegende ihre Angehörigen im Zim-
bereitet. Doch die Mutter weigerte sich, mer einsperren oder in Betten, an Stühlen BÜCHER DER
davon zu essen. Die Nerven lagen blank.
Schließlich habe die Tochter geschrien
und den Rollstuhl mit Gewalt an den Ess-
fixieren. Ihnen Essen oder Getränke mit
Gewalt verabreichen. Oft geschehe all das
nicht einmal aus bösem Willen, sondern
JÜNGEREN ZEIT. «
tisch gedrückt. »Die Frau hat sich furcht- aus Sorge und im Bemühen, den Alltag ir- MANAGER MAGA ZIN
bar geschämt und geweint«, sagt Tam- gendwie zu bewältigen. »Da ist eine Mi-
men-Parr. Wem da die Schuld geben? schung aus Unwissen und Überforderung
Sie weiß, dass die Pflegenden sich oft im Spiel«, sagt Herder.
mit viel Elan und Hilfsbereitschaft in ihre Wissenschaftliche Studien in Deutsch-
neue Aufgabe stürzen. »Aber so eine Pfle- land zur Gewalt in der häuslichen Pflege
ge kann sechs, acht, zehn Jahre oder länger gibt es kaum. Die Stiftung »Zentrum für
dauern«, sagt Tammen-Parr. »Das sind Qualität in der Pflege« in Berlin befragte
Zeiträume, die kann man nicht realistisch 2018 mehr als tausend Pflegende. Über
überblicken.« Tammen-Parr beriet schon ein Viertel gab an, häufig wütend oder ver-
eine 72-Jährige, die ihre 95-jährige Mutter ärgert zu sein. Mehr als die Hälfte der pfle-
pflegte. »Natürlich fragt die sich irgend- genden Angehörigen hatte den Eindruck,
wann: Warum stirbt sie denn nicht?« dass der Mensch, um den man sich küm-
»Auch wenn alle Beteiligten in guter mere, die Hilfe nicht zu schätzen wisse.
Absicht handeln, kann es zu Gewalt kom- Und ein Viertel gab an, die zu pflegende
men«, sagt Lena Dorin. Sie Person gelegentlich oder oft
vertritt bei der Bagso die In- »vor Wut schütteln« zu
teressen von Pflegebedürf-
Am Limit wollen. Zwölf Prozent be-
tigen und deren Angehöri- Umfrage unter zu Hause richten von körperlicher Ge-
pflegenden Angehörigen
gen. Sich selbst immer im walt, und fast ein Drittel der
Griff zu haben könne eine Befragten gesteht ein, psy-
Weile gut gehen. Doch bei
vielen Pflegenden staue sich
48,7% chische Gewalt angewendet
zu haben.
mit der Zeit Stress und Frus- der pflegenden Angehörigen Dass man hin und wieder
tration auf. waren Ende 2017 von laut werde, findet Tammen-
psychischen Leiden
Wenn Dorin von Gewalt betroffen. Parr verständlich. »Aber
spricht, meint sie nicht nur wer als Pflegender morgens
die körperliche. Die blauen
Flecken am Arm, die Pfle- 6,6% schon mit Wut im Bauch
aufwacht, bei wem sich das
400 Seiten · Deutsch von Karlheinz Dürr
Gebunden mit SU · € 24,00 (D)
gedienste oder Hausärzte der Angehörigen durch den ganzen Tag zieht, Auch als E-Book erhältlich
immer mal wieder feststel- wollten 2018 diese Aufgabe und wer nicht weiß, wohin
len. Die vom Schütteln oder nur mit zusätzlicher Hilfe damit, der muss dringend
Anpacken stammen. »Uns fortsetzen. mal mit jemandem spre- Sie galt als der weibliche Steve Jobs.
geht es auch ums Ignorie- chen«, sagt sie. In Berlin bie-
ren, ums Türzumachen und
Quelle: Barmer Pflegereport 2018,
179 134 Befragte tet die Sozialpädagogin eine Mit ihrem milliardenschweren
Alleinlassen in schwierigen Selbsthilfegruppe und Tele- Start-up Theranos wollte Elizabeth
Situationen.« fonberatung an. Doch nicht
Manchmal finde die Pflege wie abge- in allen Städten und Kommunen sind sol-
Holmes die Medizinindustrie
schottet von der Außenwelt statt. »Wir che Angebote selbstverständlich. revolutionieren: Ein einziger Tropfen
können nicht wissen, ob noch ein Ver- Wer ausschließlich Pflegegeld erhält, sollte reichen, um Blutbilder zu
wandter, Freund oder Nachbar sieht, wie dem wird zwar mindestens zweimal im
es dem Betroffenen geht«, erzählt Dorin. Jahr ein Beratungsbesuch von einem Pfle- erstellen. Doch die Technologie
Sie schätzt, dass die wenigsten Fälle von gedienst abgestattet. »Aber wer traut sich hinter den schicken Apparaturen hat
Gewalt ans Licht kommen, das meiste ge- schon, seine Sorgen und Nöte zu schildern,
schehe im Verborgenen. Aus ihrer Sicht wenn von dem Besuch auch abhängt, ob nie funktioniert. Pulitzer-Preisträger
werde oft zu spät Hilfe geholt oder ein einem das Pflegegeld gekürzt wird?«, fragt John Carreyrou kam diesem giganti-
Pflegedienst hinzugezogen. Lena Dorin von der Bagso.
Karoline Herder, deren Namen auf Sie fordert eine deutschlandweite Bera-
schen Betrug auf die Spur und erzählt
ihren Wunsch geändert ist, arbeitet seit tung, die nicht an Kontrollen gebunden ist. in seinem mehrfach ausgezeichneten
2002 als Pflegefachkraft in Hamburg. Sie Dorin weiß, dass das helfen könnte. So Bestseller die packende Geschichte
hat über die Jahre vom Anschreien übers werden in den Niederlanden Betroffenen,
Drohen und Handgreiflichwerden bis die mit einer Pflege beginnen, von der seiner Enthüllung.
hin zum Einsperren alles erlebt. Herder Kommune so schnell wie möglich Helfer
sagt: »Solange man niemanden in fla- zur Seite gestellt. »Man kann dann von
granti ertappt, ist es schwer, strafrechtlich Anfang an alles in die richtigen Bahnen
zu intervenieren.« Herder weiß aber lenken«, sagt Dorin. Kerstin Kullmann
auch, dass nicht jeder Pflegedienst ein of-

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 97 www.dva.de


Kultur
»Unsere Kinder haben nicht darum gebeten, geboren zu werden.« ‣ S. 118

SCHWEIZERISCHES LITERATURARCHIV

SCHWEIZERISCHES LITERATURARCHIV
Klaus und Erika Mann im französischen Le Lavandou 1933

Literatur haben. »Vielen Dank, ich nehme den kleinen Ledergürtel zu


750 fr. gern von Ihnen zum Geschenk.« Zwei Jahre später
Sonne am Abgrund werden an der Côte d’Azur die Emigranten, die Deutschland ver-
lassen mussten, Zuflucht suchen. Es ist, als wären die Mann-
Geschwister die Vorhut all derer, die sich hier einfinden werden.
 Als hätten die beiden noch einmal in rasender Hast durch Cap d’Antibes, Sanary-sur-Mer, Marseille. Nur die Freiheit wird
diesen Glanz reisen wollen, mit dem Automobil von Strand zu dann fehlen. Schon 1931 schreiben die Manns, die Fahrt nach
Strand, bevor das alles untergeht. Erika und Klaus Mann, die Marseille trage einen »leicht katastrophalen Charakter«. In den
ältesten Kinder von Katia und Thomas Mann, waren von Anbe- Kinos nur Kriegsfilme, in den Buchläden nur Kriegsbücher. »Das
ginn ihres Lebens Künstler: Schauspielerin, Tänzer, Reporterin, Interesse der Menschheit für diesen schauerlichen und stumpf-
Romancier und Dichter. Es ist das Jahr 1931, die beiden sind sinnigen Gegenstand hat etwas Besorgniserregendes.« 18 Jahre
Mitte zwanzig, sie verbringen einige Zeit an der Riviera, geben später wird Klaus Mann seinem Leben hier an der Riviera,
viel Geld aus und schreiben einen Reiseführer. Dieses Buch in Cannes, ein Ende setzen. Müde, ernüchtert, verzweifelt. VW
erscheint nun noch einmal neu im Kindler-Verlag, mit Bildern
aus den Dreißigerjahren. »Wir sind reich«, schreiben sie, Erika Mann, Klaus Mann: »Das Buch von der Riviera«. Kindler; 176 Seiten;
nachdem sie den Leser in den Hermès-Laden in Cannes gezerrt 16 Euro.

Kino und Liv und davon, wie Gewalt nachwirkt, mitten in die inneren Konflikte des Paares
Wohin mit dem Schmerz? welche zerstörerische Kraft sie entfalten hinein. Was wollen sie? Gerechtigkeit?
kann. Als Malte (Maximilian Brückner) Rache? Alles vergessen? Die Beziehung
 Eigentlich haben sie diesen Abend auf in Deutschland in einem Imbiss zufällig der beiden, die durch die Gewalttat nur
Mallorca, an dem sie von drei Jugendli- den Täter erkennt, der ihn auf Mallorca scheinbar gestärkt wurde, droht zu zerbre-
chen überfallen wurden, hinter sich gelas- zusammengeschlagen und seine Ehefrau chen. Regisseur Sven Taddicken zeigt eine
sen, dachten sie. Doch plötzlich kehrt die Liv (Luise Heyer) vor seinen Augen verge- Welt, in der alles sortiert anmutet, Miets-
Erinnerung mit ungeahnter Wucht zurück. waltigt hat, sind Angst, Ohnmacht und häuser, Spielplätze, Schulen. Und er zeigt
Das Ehe- und Rachedrama »Das schönste Wut wieder da. Die beiden großartigen sehr genau, wie diese Ordnung durch
Paar« (Start: 2. Mai) erzählt von Malte Hauptdarsteller ziehen den Zuschauer archaische Gefühle erschüttert wird. LOB

98 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Deutscher Filmpreis hung dagegen häufig abgestraft. In die- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Frische Luft sem Jahr könnte das erfreulicherweise
anders werden: Vier der sechs nominier- Wut und Stein
 Am 3. Mai werden in Berlin die Deut- ten Spielfilme waren auch an der Kino-
schen Filmpreise verliehen, der Höhe- kasse erfolgreich, vor allem Caroline Nach dem Brand von Notre-
punkt des Jahres für Schauspieler, Regis- Links Hape-Kerkeling-Adaption Dame entflammte, zunächst
seure und Produzenten in Deutschland – »Der Junge muss an die frische überraschend, eine besonde-
zumindest in finanzieller Hinsicht. Luft« (3,5 Millionen Zuschauer). re Empörung, nämlich über
Denn anders als bei den undotierten Aber auch das Roadmovie »25 die gute Tat: Dass innerhalb
Oscars sind die Filmpreise bares Geld km/h« (963 000 Zuschauer), die Lie- kürzester Zeit 600 Millionen
wert: Schon für die Nomi- beskomödie »Das Euro Spendengelder von den
nierung in der Kategorie schönste Mädchen der reichsten Familien und Erben Frank-
»Bester Spielfilm« gibt es Welt« (517 000) und das reichs – Champagner, Mode, Kosmetik –
250 000 Euro. Der Film- DDR-Musikerporträt zusammenkamen, erregte nicht nur
preis ist die höchstdotierte »Gundermann« (351 000) Atheisten. Für alte Steine ist Geld da,
Kulturauszeichnung beweisen, dass man mit für arme Leute jedoch nicht, da stimm-
Deutschlands, insgesamt originellen, anspruchsvol- te sogar der Bamberger Erzbischof ein.

M.NASS FOR HUBERT BURDA MEDIA / BRAUERPHOTOS


spendiert Kulturstaatsmi- len Geschichten ein gro- Natürlich ist Privatsache, wovon das
nisterin Monika Grütters ßes Publikum erreichen Herz sich rühren lässt. Stein zu Stein,
fast drei Millionen Euro. kann. Sollte einer dieser auch das hätte seine Logik. Hier flamm-
In der Vergangenheit war Filme gewinnen – An- te aber wohl Zorn auf, der schon Jahr-
er oft ein Trostpreis, eine dreas Dresens »Gunder- zehnte glost. Die Verteilung von Reich-
weitere Subvention, um mann« gilt als Favorit –, tum und Armut geht seit den Neunzi-
die planwirtschaftlich orga- wäre das auch ein Signal: gerjahren in dieselbe Richtung: hin zu
nisierte deutsche Filmbran- Mit dem Filmpreis privaten Vermögen einiger weniger und
che vor dem bösen Markt ausgezeichnet zu werden weg vom Staat. So ist es auch im ver-
zu schützen. Populäre Fil- ist eine Ehre – und kein gleichsweise reichen Deutschland, wo
me wie »Fack ju Göhte« Trost für schwache die Konzentration der Einkommen
wurden bei der Preisverlei- Link Zuschauerzahlen. MWO heute so aussieht wie im Kaiserreich.
Die Gründe dafür sind nicht kompli-
ziert: Geld heckt Geld. Von 100 Euro,
die derzeit um die Welt wandern, sind
Dokumentarfilme weisen konnte. Und schließlich leben mehr als 90 reines Spekulationskapital.
Ans politische Herz drei von ihnen in der vergessenen oder
auch verachteten Provinz. »Von uns hier
Und das Versprechen der sozialen
Marktwirtschaft, dem Unvermögenden
 Es kann nicht schaden, ein paar in West Virginia denken die Leute, wir realistische Aufstiegschancen zu geben,
Taschentücher in Reichweite zu haben: haben keine Zähne, keine Schuhe und lässt sich mit einem schwachen Staat
Die Dokumentation »Frischer Wind für nichts im Kopf« – so die Umweltaktivis- eben nicht mehr erfüllen. Arbeit, Fleiß
den Kongress« (Netflix, ab 1. Mai) über tin Paula Jean Swearengin, ein Arbeiter- und Bildung führen allenfalls in den
vier Kandidatinnen der Demokraten in kind aus den Kohleminen, die gegen Mittelstand, und auch da sind die Ver-
den USA geht ans politische Herz. Alle einen Senator ins Rennen ging. Doch hältnisse nicht selten prekär.
vier Frauen kämpften im vergangenen wenn aus der Erfahrung von Armut und Bei Martin Winterkorn, Ex-Chef von
Jahr auf verlorenem Posten, eine kam Diskriminierung politische Praxis wird, Volkswagen und nun wegen schweren
durch: Alexandria Ocasio-Cortez, die auch das zeigt Regisseurin Rachel Lears Betrugs und Untreue angeklagt, hat
29-jährige Kellnerin aus der Bronx, ist das in dieser preisgekrönten Dokumentation dieser Aufstieg im Sozialstaat noch ge-
temperamentvolle Gesicht dieser neuen (die sich passenderweise überwiegend klappt. Der Sohn eines Arbeiters war
Graswurzelbewegung, die sich vor allem durch Crowdfunding finanzierte), kann mit etwa 17 Millionen Euro Jahres-
durch Kleinspenden finanziert, für eine sie Erstaunliches bewegen. ES einkommen einmal der bestbezahlte
allgemeine Gesundheits- Manager der Republik. Jenseits seiner
versorgung und einen Begeisterung für Fußball und für japa-
Mindestlohn kämpft. Und nische Fische im beheizten Teich ist
die das politische Estab- von Winterkorn nichts Menschliches
lishment herausfordert – bekannt. Natürlich wäre der Brand von
jenseits der Fixierung auf Notre-Dame eine Chance gewesen,
Donald Trump und dies- sich als so feinsinnig wie großzügig zu
seits des prekären Alltags. erweisen; die hat er nun gerade ver-
Zwei der Kandidatinnen passt. Wenn er allerdings, in einem
sind alleinerziehende Moment der autobiografischen Besin-
Mütter, und sie alle haben nung, Attac aushelfen würde, einer
die Armut nicht erst Organisation, die nach einem Urteil
durch die Finanzkrise des Bundesfinanzhofs bis auf Weiteres
kennengelernt. Eine ver- keine Spendenquittungen ausstellen
lor ihre Tochter, weil die kann – das wäre eine überraschende
junge Frau in der Not- und herzerwärmende Volte.
NETFLIX

aufnahme unzureichend
behandelt wurde, da sie An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
keine Versicherung nach- Ocasio-Cortez Nils Minkmar und im Wechsel.

99
Gemälde
»Salvator Mundi«,
wahrscheinlich
zu Teilen von
Leonardo,
wohl nach 1510
AKG-IMAGES

100 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


TITEL

UNHEIMLICH
MODERN
G e n i e s Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci,
Maler, Anatom, Erfinder. Er vereinte alle
Eigenschaften in sich, die einen heutigen
Menschen ausmachen. Er war innovativ,
ökologisch, individualistisch – und doch viel
mutiger und freier, als wir es sind.
Von Ulrike Knöfel

101
TITEL

I
n den Uffizien von Florenz, in die- celli, Michelangelo. Doch Leonardo, der
sem prächtigen Museum, und dort hier zum Maler wurde, ist wahrscheinlich
im Vorzimmer des Direktors war- DER GEGENDENKER der wichtigste von allen, mit der »Mona
tet an einem Morgen im Januar Lisa« jedenfalls hat er das berühmteste Ge-
2019 ein Mann auf die Polizei. Er Leonardo da Vinci hielt sich nicht mälde der Welt geschaffen. Mit dem, was
trägt Seitenscheitel, Schal, Adidas-Turn- an die Autorität des Überlieferten, er tat, bringt er heute noch viele um den
schuhe, einen Rucksack mit Kittel, Einweg- nicht an die Glaubenssätze der Verstand. Es gibt Kunsthistoriker, die auf
handschuhen und Mundschutz darin, in Bibel, er beschwor die Bedeutung alten Blättern und Tafeln sogar nach Fin-
der Hand hält er einen speziell gesicherten der eigenen Anschauung. gerabdrücken und DNA-Spuren fahnden
Koffer aus Aluminium. Darin verschlossen lassen.
ist ein einziges Blatt, das die Inventarnum- Da Vinci starb am 2. Mai 1519, also vor
mer »8P« trägt, eine Federzeichnung von 500 Jahren. Die Welt hat das Jahr 2019
Leonardo da Vinci. zum »Leonardo-Jahr« ausgerufen, es wird

BOLTIN PICTURE LIBRARY / BRIDGEMAN IMAGES


Es ist die älteste erhaltene Zeichnung kaum möglich sein, dem Künstler zu ent-
Leonardos, dazu die erste reine Land- kommen und, was sonst, ihn zu bewun-
schaftsdarstellung der italienischen Kunst, dern. Eigentümlich an der Beschäftigung
entstanden vor 546 Jahren. Ein papierdün- mit ihm ist allerdings das: Je mehr man
ner, aber doch tiefer Eintrag in das Kultur- über ihn erfährt, desto größer werden die
erbe der Menschheit, eine ungeheure Kost- Ungewissheiten. Das ist nicht ohne Ironie,
barkeit. Was das Werk auf dem Kunst- denn es gehörte ja zum Kern dieses Man-
markt wert wäre? Viele Millionen Euro, nes, Ungewissheiten und Unwissenheit
aber wie viele? Schwer zu sagen, es wird überwinden zu wollen. Ganz sicher war
nie angeboten werden. er kein Universalgelehrter, wie er oft ge-
Der Turnschuhträger mit dem Alumi- nannt wird, sondern ein Universallernen-
niumkoffer ist ein Restaurator der Uffizien, Studie zum Mondlicht, um 1506 der. Und das ist viel mehr, erst das macht
zwei Polizisten in Zivil sind gekom- ihn zu jemandem, für den der Be-
men und geleiten ihn hinaus, sie griff der »Jahrtausendfigur« gerade
steigen in ein unauffälliges Auto, so reicht.
ohne Aufschrift, ohne Blaulicht. Wenn man eintaucht in das Le-
Eines, das bei der Fahrt durch Flo- ben Leonardos, seine Werke, Ide-
renz keine Aufmerksamkeit er- en, Erfindungen, Zweifel, Irrtümer,
weckt. Der Wagen hält vor einer schält sich nach und nach eine Fi-
Festung am Rande des historischen gur heraus, der gelungen ist, wo-
Stadtkerns, wo ein Institut für die nach wir alle nur streben: über sich
Analyse und Restaurierung alter selbst hinauszuwachsen.
TIZIANA FABI / GETTY IMAGES
Kunstwerke untergebracht ist, All die Adjektive, die sich zur
eines der besten seiner Art. Beschreibung von Fortschrittlich-
Die Zeichnung wirft noch im- keit im 21. Jahrhundert finden,
mer Fragen auf, die das Museum innovativ, ökologisch, kreativ, auch
endlich beantworten lassen möch- eine Spur größenwahnsinnig, bün-
te. Das Papier, die Tinte, die Feder- delten sich schon vor mehr als
striche und Buchstaben auf Vorder- 500 Jahren in diesem einen Re-
und Rückseite. Nun sollen For- Vergrößerte Fossiliendarstellungen in naissancemenschen.
scher mithilfe der neuesten Durchleuch- Leonardo-Ausstellung in Florenz Der gab sich nie zufrieden, er wollte im-
tungstechniken jedes chemische Element, mer und jederzeit alles neu denken, er
jedes Molekül sichtbar machen. beobachtete die Bäume und Vögel und
Im Innern der Festung wird der Restau- Wassertropfen, er wollte Flüsse umleiten,
rator aus dem Museum von Forscherkol- fliegen, er stieg in die Leichenkeller der
legen empfangen, er schließt den Koffer Hospitäler, schnitt die Verstorbenen auf,
auf, die Frauen und Männer fangen an zu um mehr über den menschlichen Körper
ALINARI / BRIDGEMAN IMAGES

reden, sie wirken wie Forensiker im Ge- zu erfahren. Und er erkannte, dass die
spräch über einen außergewöhnlichen Welt mit jeder Entdeckung eine andere zu
Fall. Dahinter die beiden Carabinieri, die, werden scheint.
bevor sie sich dann verabschieden, ihre Der Mann habe einen »geradezu phä-
Polizeiwesten anziehen. Sie möchten ein nomenalen Mut zum Gegendenken«
Foto von sich und diesem Stück Papier. gehabt, sagt der Historiker Volker Rein-
Sie sehen ernsthaft aus und stolz. hardt. Für ihn, der eine Biografie über den
MUSEI REALI DI TORINO / BRIDGEMAN IMAGES

Wenn die Arbeit hier getan ist, wenn je- Studie für eine Luftschraube, Künstler verfasst hat, gibt es »wohl kaum
des Molekül aus seinem Versteck heraus- 1487 bis 1490 einen zweiten Menschen in der Geschich-
geholt wurde, soll das Blatt auf eine Reise te, der sich so weit vom herrschenden
gehen, nach Vinci, in die Gegend, in der Leo- Weltbild entfernt hat«. Allein das macht
nardo aufwuchs. Es wird dort ausgestellt ihn zu einem Orientierungspunkt, auch
werden. Und im besten Falle ergibt die Un- für unsere Gegenwart, in der vielen nichts
RECHTS
tersuchung vorab neue Antworten auf die so nahe ist wie das »thinking outside of
Mögliches Selbstporträt Leonardos,
Frage: Wer war Leonardo da Vinci? the box«.
Rötelzeichnung, etwa 1510 bis 1515
Florenz hat viele bedeutende Künstler »Disruption« ist der zugehörige Begriff,
hervorgebracht, Giotto, Donatello, Botti- und er meint heute: mit neuen Ideen die

102 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


TITEL

Welt umschmeißen. Leonardo hat Ideen merhin verdankt dieses Museum seine Be-
entwickelt, die vor ihm keiner entwickelt sucherrekorde nicht zuletzt der Anzie-
hatte, er hat gedacht, was undenkbar ge- DER NATURALIST hungskraft der »Mona Lisa«. 2018 kamen
wesen war. Dieser Leonardo, der Renais- erstmals mehr als zehn Millionen Besu-
sancekünstler, hat also mit Disruption be- Der Maler sah die Natur, wie cher, viele von ihnen junge Menschen. Im
gonnen, Jahrhunderte bevor es das Silicon sie vor ihm keiner wahrgenommen nächtlichen Louvre ist das aufsehenerre-
Valley gab. Er war, wenn man so will, hatte, als Wunder, als eine gendste Musikvideo des Jahres gedreht
Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Elon Musk Ansammlung wichtiger Rätsel, worden, es gab darin zwei Nebendarsteller,
und Larry Page in einer Person – nein, die es zu lösen galt. die amerikanischen Popikone Beyoncé so-
falsch, sie wären gern so, wie er es war. Al- wie ihren Mann Jay-Z, und eine Haupt-
lerdings war er als Unternehmer unbegabt darstellerin, »Mona Lisa«.
und blieb sein ganzes Leben lang auf rei- Das Porträt dieser geheimnisvollen Flo-
che Förderer angewiesen. rentinerin mag auch ein Fluch sein, weil
Da ist aber der Künstler, über die Ma- alles, was sonst noch zu Leonardos Schaf-

DE AGOSTINI / GETTY IMAGES


ßen talentiert, der den Zauber einer fen gehört, hinter ihrem Lächeln zu ver-
Wasseroberfläche und die Echtheit eines schwinden scheint. Wie schnell Kunst auf
Gefühls wiedergeben konnte. Was bei an- Oberflächlichkeiten reduziert werden
deren Malern seiner Zeit oft hölzern und kann, hat sich vor Kurzem erst an der Ge-
künstlich wirkt, erscheint bei ihm anmutig schichte eines anderen Gemäldes ablesen
und doch auch glaubwürdig. lassen. 2017 wurde in New York ein Chris-
Da ist der Wissenschaftler Leonardo, tusbild zur Versteigerung aufgerufen, das
der mit seinen Erkenntnissen etwa in der Detail der »Felsgrottenmadonna«, den Titel »Salvator Mundi« trägt und als
Physik, in der Anatomie seine Zeitgenos- um 1495 bis 1508 eines von Leonardo ausgegeben wurde.
sen um Jahrhunderte überholte, Wie viele oder wie wenige Pinsel-
niemand wusste mehr über Herz- striche ihm zuzuschreiben sind,
klappen als er, den Schichtenauf- war unter Fachleuten umstritten
bau der Hand. (und ist es bis heute). Dennoch
Und da sind seine technischen wurde das Gemälde für 450 Mil-
Zeichnungen, er erfand, zumindest lionen Dollar versteigert und da-
auf dem Papier, seine heute legen- mit zum teuersten Werk der Ge-
dären Flugmaschinen oder ein selbst- schichte – gesehen hat es danach
tätiges Gefährt. Ebenso Oliven- niemand mehr.
pressen, Bohrmaschinen, Wasserge- Das Kultur- und Tourismus-
schwindigkeitsmesser, Waffen und ministerium von Abu Dhabi be-
vieles mehr. hauptete zwischenzeitlich, der
ROBERTO PALERMO

Vor allem aber entwickelte er – neue Eigentümer zu sein, doch


und insbesondere in dieser Hinsicht Fachleute vermuten, es könnte
ist er immer noch ein Unterschätz- sich ebenso im Besitz des Kron-
ter – eine innere Unabhängigkeit, prinzen von Saudi-Arabien befin-
die so in der damaligen Gesellschaft den (siehe Interview auf Seite 115).
nicht vorgesehen war. Landschaftszeichnung,
Es ist unmöglich, einen einzigen Begriff entstanden am 5. August 1473 Die übersichtbare »Mona Lisa« und der
zu finden, mit dem man dem Gesamt- derzeit unsichtbare »Salvator Mundi«
kunstwerk Leonardo da Vinci gerecht wer- können für einen Moment in Ruhe gelas-
den könnte. sen werden. Aufschlussreicher ist jenes
In jedem Fall war er: ein cooler Typ. Blatt »8P« aus den Uffizien. Es verrät viel
über Leonardo als denjenigen, der viel-
Verstorben ist Leonardo in der Fremde, leicht als Erster den Wert der Natur ver-
in Frankreich, am 2. Mai 1519. Er war standen hat.
67 Jahre alt. Der  junge und doch mächtige Diese Darstellung ist in fast allen
französische König Franz I., der ihn drei wichtigen Büchern über den Künstler ab-
Jahre zuvor in sein Land geholt hatte, war gebildet, doch im Original wirkt sie kon-
angeblich betrübt. Denn er hatte einen Ma- trastreicher,  dramatischer, geradezu ge-
BPK / SCALA - COURTESY OF THE MINISTERO BENI E ATT. CULTURALI

ler, Ingenieur und Architekten verloren und laden. Offenbar erschien dem jungen Leo-
ebenso, wie er meinte, einen Philosophen. nardo eine ihm vertraute Natur plötzlich
BPK / SCALA

Der Leichnam sollte in einer Schlosskapel- wie ein Rätsel, irgendetwas hat seine
le begraben werden, in drei Kirchen waren Wahrnehmung geschärft – und so fing al-
Hochämter zu feiern und Messen zu lesen. les an.
Leonardo, der mit seinem Wissensfuror Blütenstudien, um 1481 bis 1483 Diese Skizze wurde von seiner toska-
vielleicht ein Ketzer geworden war, hatte nischen Heimat inspiriert, von dem Tal,
es überraschenderweise selbst so gewollt. durch das der Arno fließt. Zu sehen sind
Dass sich sein Todestag im Mai dieses Hügel, Felsen, Felder, ein Fluss, ein Was-
Jahres zum 500. Mal jährt, ist für viele LI NKS serfall, eine Befestigung, der Künstler
Verlage und Museen in halb Europa ein Ausschnitt aus »Verkündigung an Ma- nutzte eine Feder und bräunliche Tinte.
Anlass, ihn mit Büchern und Ausstellun- ria«, wohl mit einem Lehrer Leonardos Am oberen Rand notierte er ein Datum,
gen zu würdigen. Der Louvre in Paris rich- zusammen gemalt, etwa 1473 bis 1475 den 5. August 1473, er war 21 Jahre alt.
tet im Herbst die größte Schau aus. Im- Diese eigenhändige Datierung ist unge-

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 105


TITEL

wöhnlich, das Blatt muss ihm wichtig ge- die er anfertigte, außerdem seine Notizen,
wesen sein. seine Manuskripte. Der Maler, ein Links-
Landschaften zählten nicht viel unter DER ANATOM händer, beschriftete Blatt um Blatt in der
den Malern des 15. Jahrhunderts, die Ab- für ihn typischen Spiegelschrift, ergänzte
bildung der Natur war bestenfalls etwas Es sei Furcht einflößend, schrieb sie mit Skizzen, ein paar Tausend Seiten
für den Hintergrund der eigentlichen, Leonardo, die Nächte in sind der Wissenschaft bekannt. Manchmal
meist biblischen Motive. Leonardo aber Gesellschaft von Gevierteilten zu klingt es so, als stellte er sich selbst Aufga-
sprach von der »natürlichen Schönheit der verbringen – aber er erhielt ben, »beschreibe, wie sich die Wolken zu-
Welt« und wollte sie ergründen. Eike so Einblicke in die Anatomie. sammensetzen und wie sie sich auflösen«,
Schmidt, der deutsche Direktor der Uffi- »beschreibe den Kiefer des Krokodils«
zien, betont, der Maler sei »wirklich dem oder »definiere als Erstes die Bewegung
Ruf der Natur gefolgt«. Er habe ein fast des Windes«.

ROYAL COLLECTION TRUST / BRIDGEMAN IMAGES


ökologisches Verständnis von der Welt ge- Fledermäuse und Vögel waren für ihn
habt. Und dass es nicht falsch wäre, ihn so nicht nur Tiere – sie waren Prototypen, an
zu sehen, ihn überhaupt neu zu sehen. denen er sich orientierte. Leonardo wollte
Diese Skizze ist auch ein Manifest. Sie be- die Welt verbessern und suchte sich seine
schwört den Glauben daran, dass die Wahr- Modelle in der Natur. Er war nicht der Ers-
heit über die Natur und ihre Schöpfungen te, der davon träumte, Menschen fliegen
nur in ihr selbst zu finden ist. Wer die Zeich- zu sehen, und der entsprechende Apparate
nung betrachtet, sieht eine Zeitenwende. entwarf. Aber ihn brachte der Traum am
weitesten, er tüftelte im Geist, skizzierte
Leonardo wollte selbst alles neu sehen, immer weitere Ideen, darunter eine Luft-
und er wollte alles mit den eigenen Augen schraube, die einen Helikopter vorwegzu-
wahrnehmen. Er beschrieb, wie er bei Studie zum Fötus, um 1510 nehmen scheint, einen Fallschirm, eine Art
einer Wanderung zwischen düste- Flugdrachen, eben auch ein »Mo-
ren Felsen in eine Höhle gelangte, dell einer Flügelgliederung mit Ge-
wie er dort »Angst und Verlangen« lenken«, die der Anatomie eines
spürte: die Angst vor der bedroh- Tieres nachempfunden zu sein
lichen Höhle, ihrer Dunkelheit – und scheint.
das Verlangen nachzusehen, »ob Womöglich war er der erste
sie Wundersames enthält«. Nerd, auf jeden Fall war er in sei-
Immer wieder betont er die Be- ner Obsession ein Vorbild. Denn
deutung der eigenen Anschauung. immer trieb ihn der Wunsch nach
Zuerst wollte er wohl nur wissen, Erkenntnis, nicht danach, recht zu
wie er etwas naturnah malen könn- behalten. Im Laufe der Jahrzehnte
SCIENCE PHOTO LIBRARY / AKG
te. Die Farbe der Luft, die Form änderte er manche Ansicht, wenn
der Pflanzen, der Gebirge. Immer er meinte, sich geirrt zu haben, er
wieder verselbstständigte sich sein hatte kein Problem damit, sich
Forscherdrang, ihm kamen ständig selbst zu korrigieren. Und natürlich
neue Fragen in den Sinn, etwa wie irrte er, irrte sogar oft, aber er such-
sich nachts die Pupillen der Tiere te einfach immer weiter nach der
verhalten und »ob die Bewegung Wahrheit, das vor allem macht ihn
des Windes entsprechend der Bie- Zeichnung eines Schädels, zur epochalen Gestalt. 
gung der Sphäre des Wassers gekrümmt um 1489 Alles, was er erreichte, erreichte er in
ist oder ob sie gerade ist«. einer Zeit, die zwar als eine des Umbruchs
Der ewig Wissenshungrige scheute sich in die Geschichte einging. Das Ende des
nicht, in die Hospitäler von Florenz, Mai- Mittelalters, der Beginn der Neuzeit. Doch
land und Rom zu gehen, um dort Leichen der Umbruch, den Leonardo zumindest
aufzuschneiden. Er untersuchte die toten in seinen Notizen vollzog, ging darüber
Körper von Greisen, Schwangeren, Föten. hinaus.
Mehr als 30 Autopsien nahm er vor, so hat Immer wieder finden sich in seinen so
er es gesagt. Dazu verwendete er eine Kno- wegweisenden Schriften auch – kleine –
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chensäge mit feinen Zähnen, außerdem Hinweise auf seinen Alltag. Da ließ diese
Zangen und Meißel. Und er erwähnte, wie Jahrtausendfigur die »kurzen Stiefel be-
Furcht einflößend es auch sein könne, sohlen«, notierte, welche Speisen zu be-
»Nächte in Gesellschaft von gevierteilten sorgen waren, an welchen Plätzen er seine
und zerschnittenen Toten zu verbringen, Münzen versteckte, 17 Doppeldukaten
die schrecklich anzuschauen sind«. Gehirn- Darstellung eines Geschlechtsakts, etwa »in weißem Papier in der entgegen-
ventrikel goss er mit Wachs aus, er wollte etwa 1490 bis 1493 gesetzten Ecke über den Eisenringen«.
ihre Formung sehen, verstehen. Diesen Alltag begleitete seit 1490 sein
All das erschien ihm notwendig, weil er Lehrjunge und späterer Diener Salai, von
für die komplexen Theorien, die er ent- dem die Forschung annimmt, er sei eine
wickelte, Belege finden wollte. RECHTS Lebensliebe für den Maler gewesen – wo-
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Er betrachtete sich als Schüler und wur- Anatomische Studien der bei Leonardo durchaus auch vermerkte,
de sein eigener Lehrer, produzierte sein Schulter- und Armmuskulatur, dass Salai ihm Geld stahl.
Lehrmaterial. Davon zeugen die wissen- etwa 1509 bis 1510 Jeder Biograf deutet solche privaten
schaftlichen und technischen Zeichnungen, Schnipsel anders, jeder erkennt einen an-

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deren Charakter dahinter. Fast scheint es vermerkt wurde: Ausgerechnet eine ano-
in der Geschichtsschreibung mehr Leonar- nym erfolgte Anzeige ist eines der wenigen
dos gegeben zu haben als Gemälde von DER DETAILFREAK erhaltenen Dokumente, die sein privates
ihm. Die Experten streiten sich, ob man Leben berühren. Sie war ins »Loch« gewor-
ihm 15, 18 oder 19 zuschreiben darf. Mit Das bewundern viele Kunstkenner an fen worden, einen Briefkasten, den jeder
Sicherheit lässt sich feststellen, dass ihn diesem Renaissancemaler: seine für Bezichtigungen nutzen konnte. Leonar-
seine Leidenschaft höher trug, als es ein Fähigkeit, vermeintliche Kleinigkeiten do und drei weiteren Männern wurde vor-
Fluggerät vermocht hätte. ernst zu nehmen, ein Lächeln, geworfen, für die Liebesdienste, »Schänd-
eine Gewandfalte, eine Haarlocke. lichkeiten«, eines Jacopo bezahlt zu haben.
Ein Morgen in Vinci, der kleine Ort im Leonardo scheint deshalb keine größe-
hügeligen Umland von Florenz scheint vor ren Nachteile gehabt zu haben, schließlich
allem aus Ausblicken zu bestehen. Die Ber- verhalf ihm sein Vater zu größeren Aufträ-
ge in der Ferne verlieren sich in einem gen. Doch der Sohn nahm die Arbeit da-
Blaugrau, wie es Leonardo auf Gemälden ran gar nicht erst auf oder ließ die Bilder
wiederzugeben wusste.  unvollendet. Man hielt ihn bald für unzu-
In der Nähe Vincis kam er am 15. April verlässig.
1452 zur Welt, unehelich, er wuchs dort Für das heutige Publikum ist es viel-
wohl bei den Eltern seines Vaters auf. Viel leicht ein Glücksfall, dass er eine Szene
weiß man nicht über seine ersten Jahre. mit der Anbetung des Christuskindes

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Unklar ist etwa, ob sein Vater Piero, ein durch die Könige aus dem Morgenland
erfolgreicher Notar in Florenz, ihn wegen nicht fertig malte, mit der ihn die Augusti-
des Makels der unehelichen Geburt nicht nermönche 1481 in Florenz beauftragt hat-
auf die Universität schickte und nur ein ten. Wer die Tafel in den Uffizien vor sich
Handwerk erlernen ließ, denn als ein hat, darf sich einbilden, ihm bei der Arbeit
solches galt die Malerei seinerzeit. Leo- Kopfstudie zum Gemälde der »Leda«, zuzusehen, jeder Strich wirkt frisch, wie
nardo bezeichnete sich später selbst als um 1505 gerade übers grundierte Holz gezogen. Al-
Mann ohne Bildung, ohne »lateini- lein mit dieser Unterzeichnung ließ
sche Gelehrsamkeit«. er eine atmende Welt entstehen.

ROYAL COLLECTION TRUST / BRIDGEMAN IMAGES


Irgendwann als Kind oder Ju- Doch brach er die Arbeit daran
gendlicher verließ er die Gegend ab. Einige Maler der Stadt, unter
von Vinci. Für ihn, den angehenden ihnen Botticelli, wurden vom Papst
Maler in Florenz, galt es zu begrei- nach Rom berufen, Leonardo nicht,
fen, wie man Farben mischt, Leim er ging auf eigene Faust Anfang der
herstellt, zum Beispiel aus Tier- 1480er-Jahre nach Mailand, ins
knochen und Fischgräten – und wie Reich des Gewaltherrschers Ludo-
man sich durchschlägt. vico Sforza. Viel ist nicht bekannt
Florenz war eine ehrgeizige Re- über seine ersten Jahre in Mailand,
publik, voller Eleganz, voller Bru- auch nicht, wovon er eigentlich leb-
talität, eine der Hauptstädte der da- te, schließlich drang er in den Um-
maligen Welt. 1479 skizzierte Leo- kreis Sforzas vor – und dort, in der
Gewandstudie, etwa 1501 bis 1510
nardo einen am Strick baumelnden Mann, Nähe des Schurken, wurde er offenbar end-
der im Jahr zuvor an einer mörderischen gültig er selbst. Nach etlichen Jahren hieß
Verschwörung gegen die mächtige Familie es über den Mann aus der Toskana, er sei
Medici teilgenommen hatte. Er war bis »mit allen Fähigkeiten ausgestattet«.
nach Konstantinopel geflüchtet und doch Seine Zeichnungen von Waffen und sei-
aufgespürt worden. ne Kenntnisse über Pferde dürften gut
In diesem changierenden Florenz schuf angekommen sein, er erteilte architekto-
der Maler Sandro Botticelli bald Frauen- nische Ratschläge, doch wussten ihn die
figuren, die an alte Statuen erinnern, so Sforzas vielleicht vor allem als Ausstatter
etwas elektrisierte die Elite der Renais- großer Feiern zu schätzen. Das war eine
CAMERAPHOTO / AKG-IMAGES

sance, die ja eine neue Antike heraufbe- für damalige Künstler nicht unübliche Tä-
schwören wollte. Denn das war die Renais- tigkeit, er aber war besonders einfallsreich,
sance: der Versuch, sich über den Bezug konstruierte Apparate zur Unterhaltung,
zur Antike neu zu erfinden. Man wollte, darunter einen Blechritter, der mit Fla-
auch intellektuell, auf der Höhe der alten schenzügen bewegt wurde.
OPERA LABORATORI FIORENTINI / GALLERIA DEGLI UFFIZI

Zeit sein. Vor allem Botticellis »Venus«, Wie nebenbei wurde er zum Gelehrten,
die nackt auf einer Muschel steht, ist ein der von anderen Gelehrten respektiert wur-
Sinnbild für das geistige Klima – und wie Figurenstudie zum Wandgemälde de. Leonardo legte Manuskripte an, über
es sich erotisch aufbereiten ließ. »Das Abendmahl«, um 1495 die Malerei, über Gewichte, über die Ana-
Überhaupt war die Konkurrenz enorm. tomie. Er setzte sich mit den Angaben des
Dennoch scheint es der junge Leonardo antiken Architekten Vitruv zum »wohlge-
nicht eilig gehabt zu haben, seinen Weg formten Menschen« auseinander, vermaß
zu finden. verschiedene Männer aber lieber selbst
LI NKS
Lange wohnte er im Haushalt seines und schuf seine – heute so berühmte – Dar-
»Anbetung der Heiligen
einstigen Lehrmeisters Andrea del Ver- stellung des »vitruvianischen Menschen«.
Drei Könige«, etwa 1481 bis 1482
rocchio, jedenfalls tat er das mit knapp Nur Kunst im klassischen Sinn, die
24 Jahren, als sein Name in Gerichtsakten machte er wenig. Ein Reiterdenkmal konn-

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te nicht vollendet werden, weil der Fürst Aber als Stars galten in Rom ohnehin
das Metall zum Bau von Kanonen ab- andere. Michelangelo, 23 Jahre jünger, hat-
zweigte. Leonardo da Vinci begann weni- DER KRIEGSFANTAST te im Vorjahr die Bemalung der Decke in
ge Bilder, aber was er hinterließ, war he- der Sixtinischen Kapelle fertiggestellt. Er
rausragend. Einer Geliebten Ludovico Der Realist Leonardo wurde zum und der noch jüngere Raffael erhielten grö-
Sforzas beispielsweise gestand er auf Surrealisten, wenn es um ßere Aufträge, bessere Honorare.
einem Porträt eine ungeheure Präsenz zu Waffen ging. Manche Zeichnung 1516 starb Leonardos Förderer, der Bru-
und, noch auffallender, eine große Natür- diente wohl auch der der des Medici-Papstes Leo X., und es wird
lichkeit. Auf ihrem Arm ein Hermelin, so Unterhaltung seiner Dienstherren. Leonardo wie eine Rettung erschienen
lebensnah auch dieses Tier. sein, dass der französische König ihn in
In einem Dominikanerkloster malte er sein Land holte. Ideen für hydraulische
an die Wand eines Speisesaals seine Ver- Maschinen skizzierte er fortan auf franzö-
sion des »Letzten Abendmahls«. Er ent- sisches Papier, er stattete wieder höfische
schied sich ausgerechnet für den Moment, Feste aus, ließ Tücher spannen, Hunderte
in dem Jesus den Verrat durch einen seiner Fackeln leuchten – doch vor allem sollte
Jünger ankündigte. Judas platzierte er nicht er intellektuellen Glanz mitbringen.
wie üblich außerhalb der Gruppe der Apos-

BRIDGEMAN IMAGES
tel, auf der anderen Seite des Tisches, son- In unserer Gegenwart, sagt der Hambur-
dern reihte ihn – ein Novum – unter die ger Kunsthistoriker Frank Fehrenbach, las-
anderen Jünger ein. Als würde er unterstel- se sich ein »Nice to know«-Wissen feststel-
len, jeder von ihnen sei zum Verrat fähig. len, eine »frei flottierende Neugier«, jeder
Eigentlich hätte das Bild schockieren interessiere sich für alles und für nichts
müssen, Ludovico Sforza ärgerte sich aber Entwurf für eine Riesenarmbrust, um 1485 wirklich. Bei Leonardo hingegen sei die
nur über Gerüchte, sein Künstler Neugier eine Urgewalt gewesen.
lasse sich kaum im Kloster blicken. Dazu habe gehört, dass er Prioritä-
Der ungeduldige Herrscher forder- ten gesetzt habe, dass er einige Ge-
te, dass der Florentiner schneller biete gepflegt, anderes aber igno-
male, man solle ihn »antreiben«. riert habe. Niemand wisse zum Bei-

ROYAL COLLECTION TRUST / BRIDGEMAN IMAGES


Im Jahr 1500 war Ludovicos spiel, was er über die Entdeckung
eigene Zeit vorbei, die Franzosen Amerikas gedacht habe.
hatten Mailand eingenommen. Leonardo dagegen wollte heraus-
Leonardo wurde zum Hand- finden, was auf technischem Gebiet
lungsreisenden, im Angebot seine menschenmöglich und – noch –
Talente. Als Ingenieur und Karto- menschenunmöglich war. Auf seine
graf diente er dem nächsten Ty- Papierbögen zeichnete er immer
rannen, dem Feldherrn und Papst- neue Maschinen und vollbrachte,
sohn Cesare Borgia, bewarb sich quasi unbemerkt, eine technische
dann vergebens beim Sultan von Revolution.
Konstantinopel, dem er Wind- Er habe »ein Alphabet der tech-
mühlen und dazu eine Brücke Zeichnung von Steine schleudernden nischen Elemente« entwickelt, sagt
über den Bosporus bauen wollte. Statt- Geschützen, um 1503 Fehrenbach. Er sei der Erste gewesen, der
dessen engagierte ihn die florentinische nicht vom fertigen Gerät ausgegangen sei,
Regierung. Leonardo sollte den Arno um- sondern dieses in seine Bestandteile ato-
leiten und die Stadt Pisa austrocknen. Vie- misiert habe: Hebel, Schrauben, Scharnier-
le Dukaten flossen in das Projekt, bevor teile, Wälzlager, das war zielführender. So
es abgebrochen wurde. änderte er das Denken.
Einige Jahre blieb er in Florenz, malte Mit seinen Abbildungen dokumentierte
ein wenig, studierte viel – übte lateinische er Geräte, die es bereits gab, zeichnete
Vokabeln. Immer wieder schuf er sich etwa mehrmals einen Sichelwagen aus
solche Freiräume. Seinen Zeitgenossen einem militärischen Traktat ab, aber er
ART IMAGES / GETTY IMAGES

fiel das auf, und sie hielten es für wun- ersann auch Neues. Vorrichtungen zum
dersam, wie wichtig ihm seine Studien, Atmen unter Wasser finden sich oder Ni-
seine Experimente waren. Dann ging er velliergeräte, einzusetzen beim Bohren
wieder nach Mailand, zog später, 1513, von Tunneln durch Gestein, auch Maschi-
nach Rom, wo er, nun 61 Jahre alt, in nen, die Nadeln herstellen oder Blech bie-
einem Appartement im Vatikan wohnen gen können, beinahe Unzähliges mehr.
durfte. Er war angekommen im Zentrum Und es wäre kleinlich, nur zu prüfen, wel-
der Macht, an einem Hof, an dem das Ver- Zeitgenössisches Holzmodell nach che eine Realitätsprüfung bestanden hät-
halten allzu irdisch und nur die Pracht einem Panzerentwurf von Leonardo ten. Manche hätten es.
himmlisch war. Alles, auch seine Körperdarstellungen,
Heimisch wurde er nicht. stellt zudem einen Quantensprung im
Ein deutscher Gehilfe, ein Spiegelma- Vergleich zum Bestehenden dar. Für da-
cher, schwärzte ihn bei der Kurie wegen RECHTS malige Ärzte war der menschliche Körper
seiner angeblich gotteslästerlichen Lei- Studie einer Hebevorrichtung ein Mysterium, und keiner von ihnen woll-
BPK / SCALA

chensektionen an. Leonardo war wütend für eine Kanone in einer te es so genau wissen. Leonardo aber er-
über die »Niedertracht dieses deutschen Geschützgießerei, um 1487 forschte das blutige Innere, analysierte
Betrügers«. auch den Menschen wie eine in Einzelteile

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zerlegte Maschine, sah Haut, Muskeln, sere Forschungen« – denn das ist das wich-
Sehnen, Adern, Knochen, Organe. Was er tigste Vermächtnis des Genies.
dann skizzierte, wirkte, als wäre es noch DER POPSTAR
warm. Als glaubwürdig in seiner Zeit galt, was
Selbst seine Fehler zeigen, wie viel wei- Der Louvre in Paris verdankt seine in der Bibel stand. Oder zumindest das,
ter er war als seine Zeitgenossen. Warum Beliebtheit auch Leonardos »Mona was ihr nicht widersprach. Manch antike
zeichnete er einen menschlichen Fötus in Lisa«, seine Bilder sind zeitlos Quelle wurde entsprechend umgedeutet,
der Plazenta eines Tieres? Jedenfalls war und rätselhaft genug, um die theologisch passend gemacht (etwa von
der Fötus von einem frappierenden Rea- Menschen bis heute zu bannen. den angesagtesten Intellektuellen der Zeit,
lismus. Und es vergingen tatsächlich Jahr- den Humanisten). An den Universitäten
hunderte, bis andere Wissenschaftler so ging es darum, das Überlieferte, Tradierte

TIMOTHY A. CLARY / AFP/ GETTY IMAGES


viel über das Herz oder das Wachstum der glänzen zu lassen. Nie durfte der Interpre-
Bäume wussten wie er. tationsrahmen gesprengt werden, und den
Leonardo sprach vom »Körper der gaben die Theologen vor.
Erde«, er verglich ihn mit dem Körper der Leonardo aber stellte Fragen, die die
Lebewesen, seine Epoche tendierte zu Bibel doch längst beantwortet hatte.
Analogien, irgendwann erkannte er, dass So überlegte er, woher die Meeresfossi-
viele davon nicht passten. Wie nebenbei lien in den Bergen stammen, die einge-
jedoch hatte er viele zutreffende Beobach- schlossenen Muscheln, Korallen und See-
tungen gemacht, etwa zur Existenz unter- schnecken etwa. Sie alle waren, wie er
irdischer »Wasseradern«. Den Mond wie- Plakat in New York, 2017, entworfen schrieb, »geboren in Salzwasser«, aber
derum hielt er für einen Zwilling der Erde, von Jeff Koons für Louis Vuitton dann weit weg von den Meeren gefunden
glaubte, es gebe dort Meere. Das worden, »in tausend Fuß Höhe« –
war viel weniger abwegig als der und er wollte nicht glauben, dass
verbreitete Glaube, es handle sich eine Sintflut sie dort hingetragen
um einen ätherischen Planeten von habe.
undefinierbarer Essenz. Vielmehr verachtete er jene
Ausgehend von der Beobach- »Ignoranten«, die vermuteten, die
tung, vom Experiment, habe er zu in den Bergen gefundenen Verstei-
neuen Prinzipien gelangen wollen, nerungen der Meerestiere seien
induktiv also und nicht aus alten dort oben durch sphärische, also
Texten abgeleitet, wie es die Tra- göttliche Einflüsse entstanden. Ein
dition vorsah, weniger metaphy- solches Denken, fand er, spreche

PLANET PHOTOS / DDP IMAGES


sisch auch, sagt Paolo Galluzzi. Er für »Dummheit und Einfältigkeit«.
ist der Direktor des Florentiner War er eine Provokation für sei-
Museo Galileo, vor Kurzem kura- ne gläubigen Mitmenschen? Die
tierte er in den benachbarten Uffi- Experten sind sich da nicht einig.
zien eine Ausstellung über den for- Der Uffizien-Direktor Schmidt
schenden, schreibenden Leonardo. sagt, viele Erkenntnisse seien unor-
Ja, in gewisser Weise habe er eine thodox gewesen und hätten den da-
Entwicklung begonnen, die später Szene aus Musikvideo der maligen Interpretationen der Bibel
zur wissenschaftlichen Revolution geführt US-Sänger Beyoncé und Jay-Z, 2018 widersprochen, deshalb habe sich Leonar-
habe. Dennoch sei es wichtig, Leonardo do »gegen 1500 Jahre Theologie gestellt«.
als Person seiner Zeit zu sehen. Aber er sei mit seinen Überzeugungen
Die Vielzahl seiner Darstellungen von nicht auf die Straße gegangen.
Geschützen, Panzern, mobilen Brücken Viele Gedanken hielt er in seinen
lässt sich besser begreifen, wenn man Notizbüchern fest, teilte sie nicht mit ei-
berücksichtigt, dass ein waffenvernarrter nem großen Publikum. Doch die Unein-
Dienstherr wie Ludovico Sforza mit deutigkeiten seiner Malerei lassen die
solchen Zeichnungen leicht zu unterhalten Kunsthistoriker bis heute rätseln. Sein
war. Viele wissenschaftliche Fehlleis- feminin schöner »Johannes der Täufer«
tungen Leonardos haben mit den begrenz- hat eine starke erotische Ausstrahlung,
ten Mitteln seiner Epoche zu tun – viele sprach das für seinen Glauben oder sei-
seiner Errungenschaften sind angesichts nen Unglauben?
dieser Einschränkungen umso sensatio- Seine »Mona Lisa« ist das Gegenteil:
neller. eine profane Frau, die fast wie eine Hei-
BPK / INSTITUTE OF CHICAGO / ART RESSOURCE NY

Ähnlich sieht es Eike Schmidt, der lige erscheint. Ebenso rätselhaft sind die
Direktor der Uffizien: Ständig zu wie- Cover für Dan Browns Bestseller Gebirge und Gewässer im Hintergrund,
derholen, dieser Künstler sei seiner Zeit »The Da Vinci Code«, 2003 mit ihnen wollte er laut dem britischen
um 500 Jahre voraus gewesen, reiche Kunsthistoriker Martin Kemp wohl eine
nicht – es werde ihm einfach nicht gerecht. »dynamische Vision vom Körper der alten
»Die Beschäftigung mit ihm sollte eher um Erde« veranschaulichen. Demnach war die-
die Frage gehen, was jemanden in seiner LI NKS ses Gemälde eine Forschungsmitteilung:
Epoche dazu brachte, so weit über jedwe- Siebdruck »Four Mona Lisas« Die Theologen vermuteten damals ein Er-
den Tellerrand hinauszudenken. Und es von Andy Warhol, 1978 dalter von weniger als 6000 Jahren, Leo-
geht darum zu überlegen, was wir heute nardo eines von 200 000 Jahren, vieles sei
davon übernehmen können, auch für un- »sehr viel älter als die Buchstaben«, schrieb

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 113


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er. Das kam einer Idee von Geschichtlich- Schau. Seit Jahren wird sie vorbereitet,
keit näher – und war noch so ein Wider- der Louvre ist bekannt für seine erstklas-
spruch zu dem, was in der Bibel steht. IN KÜRZE sigen Ausstellungen, mit dem kommenden
Der Historiker Bernd Roeck Ereignis will sich das Museum
schreibt in seiner neuen Leo - selbst übertreffen.
nardo-Biografie, das Weltbild des Von den wenigen Gemälden des
Malers habe  »quer zu katho - Künstlers besitzt es die meisten,
lischen Lehren« gestanden. Und allen voran die »Mona Lisa«, aber
sein Kollege Volker Reinhardt es wird sich weitere ausleihen,
spricht sogar von einer nie ge - gern hätte man sogar den umstrit-
bührend erforschten Nichtreli - tenen »Salvator Mundi«. Die Holz-
giosität des Künstlers, von einer tafeln aus den Uffizien erhält man
regelrechten »Frontstellung ge- trotz diplomatischer Anstrengun-

BPK / SCALA
gen die Frömmigkeit«. Belege fin- gen nicht, das Risiko, dass die alten
det er viele. Der Mensch sei in Werke unter dem Transport litten,
Leonardos Schriften beispielswei- sei zu groß, heißt es dort. Doch
se keineswegs die Krone der Fresko »Das Abendmahl«, 1494 bis 1498 gleichgültig, was am Ende in der
Schöpfung gewesen, die Seele nicht un- Schau präsentiert wird: Delieuvin, der Ku-
sterblich. rator, will mit ihr ein Missverständnis kor-
Schon zu Lebzeiten habe der Künstler 15. April 1452 rigieren, das, wie er sagt, die Sicht auf die-
Befremden ausgelöst, betont Reinhardt, Leonardo wird unweit von Vinci (Republik sen Künstler bereits zu dessen Lebzeiten
und auch sein früher Biograf habe 1550 ja Florenz) als unehelicher Sohn eines begleitet habe.
»ketzerische Vorstellungen« erwähnt. angesehenen Notars geboren. Stets seien die Liebhaber und Kenner
Hätte Leonardo zwei Generationen spä- seiner Kunst der Meinung gewesen, er hät-
ter gelebt, wäre es für ihn, mit solchen öf-
1470 bis 1477 te mehr gemalt, wäre er nicht so abgelenkt
Lehre in der Künstlerwerkstatt von
fentlich vorgetragenen Gedanken, schnell gewesen von seinen anderen zeitrauben-
Andrea del Verrocchio in Florenz
ungemütlich geworden. Im Laufe des den Interessen. Doch diese Forschungen
16. Jahrhunderts radikalisierte Rom seinen 1476 seien nun einmal Teil des Schaffensprozes-
Umgang mit Abweichlern, gründete 1542 Anonyme Anzeige wegen sexueller ses gewesen. Auf dem Weg dahin, die
eine Sondereinheit, die »Römische Inqui- »Schändlichkeiten« »bestmögliche Malerei zu erschaffen«, sei
sition«, insbesondere das Konzil von Leonardo der beste Anatom geworden,
Trient führte bald darauf in eine unbarm- ca. 1482 bis 1499 der beste Botaniker, vieles mehr.
herzige Gegenreformation. Noch 1633 ent- Aufenthalt in Mailand, wo er von So wird dem Publikum in der Schau je-
ging der Philosoph und Naturwissenschaft- Ludovico Sforza gefördert wird ner Leonardo begegnen, der stets ein hö-
ler Galileo Galilei nur knapp dem Schei- heres Ziel anstrebte – und es nicht immer
terhaufen, weil er erkannt hatte, dass sich um 1490 erreichte.
die Erde um die Sonne dreht. Proportionsstudie »Vituvianischer Mensch« In jedem Fall erlangte er eine hohe Stu-
Leonardo hat seine Notizen, seine Ma- 1495 bis 1498 fe der Lebenskunst: Andere Maler hätten
nuskripte, seine Fabeln nie veröffentlicht. Arbeit am großen »Abendmahl«-Fresko für ihren Lebensunterhalt Werke produ-
Erst Jahre nach seinem Tod stellte ein im Dominikanerkloster Santa Maria zieren müssen, sagt Delieuvin, Leonardo
Schüler und Erbe aus seinen Schriften ein delle Grazie sei bezahlt worden, obwohl er so wenig
unanstößiges »Traktat über die Malerei« hervorgebracht habe, er sei als Individu-
zusammen, anderes blieb der größeren Öf- 1500 um bewundert worden. Er sei einer der
fentlichkeit lange verborgen. Rückkehr nach Florenz Ersten gewesen, »die die Leute dazu
Die Texte verstreuten sich in alle Welt, brachten, etwas wie Individualität zu
manches ist verschollen. Der legendäre ab 1502 akzeptieren«.
»Codex Leicester« mit seinen Überlegun- Auftragsarbeiten für Cesare Borgia, dessen
gen zum Wasser, zu den Fossilien, zum Vater in Rom als Papst Alexander VI. regiert Fast drei Monate lang ist das Blatt mit
Kosmos befindet sich in Privatbesitz. In zwischen 1503 und 1506 der Inventarnummer »8P« hinter altem
den Neunzigerjahren ersteigerte ihn der Das Bildnis der »Mona Lisa« entsteht. Florentiner Gemäuer untersucht worden,
Softwaremilliardär Bill Gates und machte dann reiste es nach Vinci, diesen Ort
die Blättersammlung für etliche Jahre zur 1513 bis 1516 in der Toskana, in dessen Nähe Leo-
teuersten aller Zeiten.  Aufenthalt in Rom nardo einst geboren wurde. Es hat nun
Am Himmel der Kunstgeschichte aber ein Geheimnis weniger. Die Forscher ha-
leuchtet die »Mona Lisa« nun einmal hel- 1516 ben herausgefunden, dass Leonardo da
ler als alles andere. Bewundert wurde das Übersiedlung nach Amboise (Loire), auf Vinci nicht nur Links-, sondern auch
Bildnis früh, seine Ausnahmestellung ver- Einladung des französischen Königs Franz I. Rechtshänder war. Er hatte also nicht
dankt es aber einem Raubzug. 1911 wurde eine, sondern zwei verschiedene Hand-
2. Mai 1519
es in Paris gestohlen, zwei Jahre später schriften, beide finden sich auf diesem
Leonardo stirbt im Alter von 67 Jahren.
tauchte es in Florenz auf. einen Blatt.
Ein Mensch, zwei Handschriften.
Im Louvre in Paris, hinter der Löwenpfor- Für die Kunsthistoriker mag es bedeu-
te, erstreckt sich ein langer, schmaler Flur, Video ten, dass manches Schriftstück, manche
Leonardo da Vincis
viele Türen, hinter einer befindet sich das Einfluss auf die Moderne
Skizze, manches Gemälde neu beurteilt
Büro von Vincent Delieuvin, er ist Experte spiegel.de/sp182019davinci
werden muss. Es heißt aber vor allem, dass
für Malerei und einer der zwei Kuratoren oder in der App DER SPIEGEL Leonardo da Vinci wieder ein Stück größer
der für diesen Herbst geplanten Leonardo- geworden ist. I

114
Gemälde Der Kunsthistoriker Frank Zöllner über Zöllner: Kann sein, dass sich der neue Be-
sitzer ärgert. Aber es könnte ebenso sein,
das rekordteure Gemälde »Salvator Mundi« und die Frage, dass es ihn nicht so kümmert, ob das Bild
wie viel Leonardo darin steckt ein 100-prozentiger oder nur ein 50-pro-
zentiger Leonardo ist. Denn es handelt
sich trotzdem um die bedeutendste Kunst-
»Wette auf die Zukunft« entdeckung der vergangenen Jahre.
SPIEGEL: Und doch, wie groß ist der An-
teil Leonardos Ihrer Meinung nach?
Zöllner: Bildidee und Bildentwurf stam-
Zöllner, 62, lehrt Kunstgeschichte an der Art von Entertainment, bauen Formel-1- men zweifellos von ihm. Es gibt auch kei-
Universität Leipzig, er ist weltweit aner- Rennstrecken, kaufen den europäischen nen Zweifel daran, dass dieses Gemälde
kannt als Leonardo-Spezialist. Am 2. Mai Fußball und nun eben eine Spitzentro- zwischen 1510 und etwa 1520 entstanden
erscheint die Jubiläumsausgabe des von phäe des Kunstmarktes, sozusagen als ist. Mit Sicherheit war es als Andachtsbild
ihm herausgegebenen Werkverzeichnisses. Wette auf die Zukunft nach dem Öl. konzipiert worden. All das kann dem Bild
SPIEGEL: Längst sollte es ausgestellt wor- niemand nehmen. Und warum muss ein
SPIEGEL: Herr Zöllner, entwickelt sich der den sein, und zwar im Louvre Abu Dhabi. Gemälde unbedingt zu 100 Prozent eigen-
»Salvator Mundi« statt der »Mona Lisa« Nur wurde die Präsentation auf unbe- händig sein? Wir huldigen da einem Fe-
zum berühmtesten Bild der Welt – und stimmte Zeit verschoben. Ließe sich das tisch alleiniger Urheberschaft.
zwar vor allem deshalb, weil man SPIEGEL: Die Museen, die Kunst-
die Christusdarstellung nicht zu se- historiker haben ihren Anteil da-
hen bekommt? ran. Warum sind die Menschen
Zöllner: Zumindest im Moment denn fasziniert von diesem Bild?
wird die »Mona Lisa« klar vom Weil es, halbwegs, von Leonardo
»Salvator« verdrängt. Vielleicht ist stammt? Wegen seiner Ausstrah-
das Versteckspiel um dieses Ge- lung? Weil es einen Rekordpreis
mälde sogar Teil einer PR-Insze- wert war?
nierung, denn natürlich ist es nicht Zöllner: Das hängt mit dem über
wirklich verschwunden, sondern Jahrhunderte akkumulierten Ge-
wird absichtlich zurückgehalten. samtruhm Leonardos zusammen.
SPIEGEL: Von wem? Je mehr Zeit Ein Picasso hatte bisher nicht die
vergeht, desto unklarer scheint zu Zeit, so viel Nachruhm anzusam-
sein, wer das Werk 2017 beim Auk- meln. Der hohe Preis befeuert das
tionshaus Christie’s für die Rekord- Interesse noch, und er kam auch
summe von 450 Millionen Dollar nicht von ungefähr. Schon die
ersteigert hat. ursprünglichen Entdecker, zwei
Zöllner: Mir scheint die Infor- durchaus seriöse Kunsthändler,
mation glaubwürdig, dass es sich haben viele Millionen Dollar in
bei dem Besitzer um den saudi- die PR-Arbeit für dieses Gemälde
schen Kronprinzen Mohammed gesteckt, es wurde verkauft …
bin Salman handelt. SPIEGEL: … an einen russischen
SPIEGEL: Nur hatte sich das Emi- Oligarchen, der es bald wieder
rat Abu Dhabi in einer Pressemit- loswerden wollte.
teilung als Eigentümer vorgestellt. Zöllner: So kam es zu den Auk-
Zöllner: Weder die Herrschafts- tionatoren von Christie’s, die es
häuser von Saudi-Arabien noch mit einer ebenfalls perfekten
von Abu Dhabi betreiben eine In- Werbekampagne noch attraktiver
formationspolitik, wie wir sie uns machten.
DPA / PA

wünschen würden. SPIEGEL: Sie schreiben im Werk-


SPIEGEL: Das Bild zeigt Christus verzeichnis, dieses Bild sei aufwen-
als Erlöser, ein christlicheres Mo- dig restauriert worden, 2011 erst-
tiv ist kaum denkbar. Warum sollte einer nicht auch mit der Bilderfeindlichkeit der mals ausgestellt und danach weiter restau-
der genannten Golfstaaten überhaupt islamischen Welt erklären? riert worden. Ist das nicht ungewöhnlich?
Interesse aufbringen und so viel Geld aus- Zöllner: Es kann durchaus sein, dass die- Zöllner: Sehr sogar, es ist so, als würde
geben? ses Gemälde für religiöse Hardliner in den man während eines Spiels die Spielregeln
Zöllner: Es ist ja nicht viel Geld für diese Emiraten ein Problem darstellt, denn der ändern. Wenn man ein Altmeistergemäl-
Leute. Manche Menschen wissen nicht, Islam sieht Christus nicht als Erlöser, son- de in einen Zustand versetzt, den man als
wohin mit ihren Einkünften. Ich spreche dern als einen unter vielen Propheten. authentisch ausgibt, darf man nicht noch
dann von verzweifeltem Geld. Immerhin Aber Religion ist immer ein Vorwand. Am nachbessern. Schon gar nicht, wenn dieser
wird es in eine interessante geopolitische Ende wird es darum gehen, dass ein paar Zustand durch die Ausstellung in einem
Strategie investiert. Männer ihre Macht behalten wollen. öffentlichen Museum quasi zertifiziert
SPIEGEL: In welche? SPIEGEL: Dürfte sich der Käufer außer- wurde. Vielleicht hat sich die Restaurato-
Zöllner: Irgendwann sind die Ölvorräte dem betrogen fühlen? Die Vorwürfe, das rin von ihrer Euphorie davontragen las-
erschöpft. Darauf bereiten sich die Staa- Bild sei nur zum Teil von Leonardo, es sei sen. Oder sie hat auf Kritik am Bild reagie-
ten auf verschiedene Arten vor: Sie rüsten zu stark restauriert, fast schon retuschiert, ren wollen. Sie hat auf jeden Fall zu viel
militärisch auf, sie setzen auf eine gewisse wurden nach der Auktion immer lauter. gemacht. Interview: Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 115


Kultur

Tarnkappenfeminismus
Serien »The Bold Type« erzählt von Millennial-Journalistinnen in New York, von deren Nöten
und Sorgen und ihrem Hypermoralismus. Und Überraschung: Es macht Spaß.

AMAZON PRIME
»The Bold Type«-Darstellerinnen Dee, Stevens, Fahy: Fantastische Mode, aber was ist mit der Heteronormativität?

W
ahrscheinlich waren es Zeiten Männern. Vier Frauen, allerbeste Freundin- wachsene Frauen Mitte zwanzig geworden
der Unschuld, als das vergan- nen, erfolgreich und selbstständig. »Sex and sind, die inzwischen für eine Frauenzeit-
gene Jahrhundert seine letz- the City« wurde ein Welterfolg, die Dialoge schrift in New York arbeiten. Auch sie sind
ten Jahre runterzählte. Die waren lustig, und es gab ernsthaft Kritike- Freundinnen, auch sie sehen toll aus und
Demokratie hatte gesiegt, das Ende der rinnen, die die Serie feierten, weil sie von tragen fantastische Mode. Die Farben der
Geschichte war längst ausgerufen, der Kli- der sexuellen Selbstermächtigung der mo- Serie sind so frisch und sauber wie damals,
mawandel nur eine ferne Drohung. In den dernen Großstadtfrau im Zeitalter des Post- es gibt ziemlich viel Sex, aber jemand muss
Zentren der Macht saßen, das jedenfalls feminismus erzähle. die Drehbücher ausgetauscht haben. Die
war die weitverbreitete Annahme, einiger- 94 Folgen wurden produziert, die letzte Kinder der postfeministischen Shopping-
maßen vernunftbegabte Politiker wie Bill in den USA im Februar 2004 ausgestrahlt. Girls der Neunzigerjahre haben sich zu fe-
Clinton, Tony Blair oder Gerhard Schrö- Es gab noch zwei Kinofilme mit demsel- ministischen Millennial-Amazonen entwi-
der. Und im US-Fernsehen lief »Sex and ben Personal, aber der Zauber war verflo- ckelt. Irgendwie ist auf dem Weg das »post«
the City«. gen. Postfeminismus? Ende der Geschich- aus »postfeministisch« verloren gegangen.
Eine Serie, ungestreamt und analog, die te? Sieg der Demokratie? Zeiten der Un- Da ist zum Beispiel Kat (Aisha Dee). Kat
von vier Frauen in ihren Dreißigern und schuld, Tage des Irrtums. kommt aus einer New Yorker Psychologen-
Vierzigern erzählte. Frauen, die mittags Wie groß der Irrtum war, davon erzählt familie, der Vater schwarz, die Mutter weiß.
shoppen gingen und sich abends in schicken die Serie »The Bold Type«, und es ist, als Kat ist eine gewisse Verstrahltheit zu eigen,
Restaurants zum Mädelsabend trafen, um ob Carrie Bradshaw und ihre »Sex and the ihre Dramabegabung kann ziemlich an-
über High Heels von Manolo Blahnik zu City«-Freundinnen damals Kinder bekom- strengend sein. Sie weiß nie genau, was sie
diskutieren oder über das Geschiss mit den men hätten. Kinder, aus denen junge, er- will, wen sie will und wie sie es will.

116 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Zu ihrem Job als Social-Media-Redak- Anfang April ist die dritte Staffel ange-
teurin gehört eine gewisse ideologische laufen, in Deutschland auf Amazon Prime
Grundausrüstung: Sie spricht von Inter- zu sehen. Trotz großer Zustimmung der
sektionalität, von Heteronormativität, eher weiblichen Kritiker hat »The Bold
vom Kampf gegen das Patriarchat, von Type« bislang kein breites Publikum gefun-
Queerness und Gender, von weißen Privi- den. Was am Absender liegen kann, dem
legien. Sie fühlt sich auf der sicheren guten Disney-Kabelkanal Freeform. Vielleicht
Seite dieser Welt, auch wenn der Alltag auch, weil Fernsehserien inzwischen auf im-
der gemeinen Millennials nicht immer mer kleinere, speziellere Zielgruppen aus-
ganz einfach ist. Bald schon verliebt sich gerichtet werden. Wer da nicht direkt dazu-
Kat in eine lesbische Künstlerin aus Iran, gehört, kann sich schwertun mit dem Hy-

CINELIZ / ALLPIX / LAIF


die das Kopftuch trägt als Symbol ihrer permoralismus der Figuren, mit der Selbst-
kulturellen Diversität, zwischenzeitlich gerechtigkeit und dem Weltverbesserungs-
Opfer des trumpschen Travel-Ban wird ethos der Millennials, der Obsession mit
und bei der Einreise in ihr Heimatland Identitäten, der Beschäftigung damit, was
festgenommen wird, weil man in ihrem richtig oder falsch ist, und dem Verzicht auf
Gepäck Vibratoren findet. Was Kat wiede- »Sex and the City«-Darstellerinnen* jeglichen Zynismus. Aber was genau ist
rum zum Anlass nehmen will, eine Social- Früher nannte man das Postfeminismus »The Bold Type«? Eine romantische Komö-
Media-Kampagne für ihre Freundin zu ini- die? Eine Satire auf die Wirklichkeit junger
tiieren, wovon man sie zum Glück noch das Gewehr eine sentimentale Erinnerung Großstadtbewohner? Oder die Wirklichkeit
abhalten kann. Das Regime in Teheran ver- ist, lässt Jane nicht gelten. Schließlich habe selbst, die zur Satire verkommen ist?
steht keinen Spaß. sie, als junge Männer in Littleton zwölf Gute Fernsehserien sind wie Expedi-
Und da ist Sutton (Meghann Fahy). Sut- Mitschüler umbrachten, nur ein paar Mei- tionen in fremde Welten, Feldforschungen
ton hat die Rolle der Schönheit vom Lan- len entfernt gewohnt. Das habe sie trau- bei Vorstadtmafiosi in New Jersey, Meth-
de. Sie ist klug und fröhlich, verlässlich matisiert. Früher einmal hätte man gesagt, Kochern in New Mexico oder eben in Re-
und gewissenhaft. Sie hat als Assistentin dass Jane eine allzu ernsthafte, moralin- daktionen, in denen junge Frauen längst
angefangen, sie hätte in die Anzeigenab- saure Streberin ist. die Macht übernommen haben. Man lernt
teilung wechseln und viel Geld verdienen »The Bold Type«, der Titel der Serie, ist eine Menge neue Dinge kennen und viel-
können, stattdessen arbeitet sie nun im eigentlich ein Begriff aus der Schriftsetze- leicht auch neue Freunde.
Moderessort, weil sie, wie es so heißt, rei und meint »Fettgedrucktes«. Bold heißt Kat zum Beispiel, die Nervensäge, die
ihren Traum leben will. Mit einem 15 Jahre aber auch frech und mutig. Inspiriert wur- nicht genau weiß, ob sie hetero ist oder les-
älteren Mann, der im Vorstand des Ver- de die Serie von der früheren »Cosmo- bisch oder queer und wie das eigentlich
lagshauses sitzt, hat sie eine Beziehung, politan«-Chefredakteurin Joanna Coles, ganz genau geht, lesbischer Sex. Kat, die
die aber geheim bleiben muss. 59, die das Magazin von 2012 bis 2016 damit hadert, ob sie nun schwarz ist oder
Dass zwei Menschen im Büro zueinan- leitete. Schon »Sex and the City« spielte weiß, was auch damit zu tun hat, dass sie
derfinden, ist in der New Yorker Unter- in der Lebenswelt der »Cosmo«-Leserin- als Kind gemischter Eltern den schwarzen
nehmenskultur nach #MeToo nicht mehr nen. Mode und Sextipps, Beziehungspfle- Vater oder die weiße Mutter verraten würde,
gewünscht, aber kaum zu verhindern. Der ge und Karriereberatung, so war das Ma- wenn sie sich für etwas entscheiden würde.
Verlag hat, um das Büro zu einem Safe gazin in den Sechzigerjahren neu erfunden Und die Männer in »The Bold Type«?
Space zu machen, die aus liberaler Sicht worden, und so blieb es jahrzehntelang Gibt es auch irgendwie. Sitzen zum Bei-
eher übergriffige Idee geboren, dass die ein Medium mit großen Profiten und un- spiel im obersten Stock des Verlagshauses,
Betroffenen sich offenbaren und eine Art angetasteter Relevanz. Coles mixte zuneh- an einem großen Tisch, in grauen Anzügen
Konsenserklärung unterzeichen, um ihre mend politische Themen ins Heft. »Stealth und mit weißen Haaren. Und haben keine
Beziehung quasi zu legalisieren. feminism« nannte sie das, Tarnkappen- Ahnung.
Und da ist schließlich Jane (Katie Ste- feminismus. Es gibt ein Video von Coles Bis schließlich Patrick auftaucht. Patrick,
vens). Jane träumt von einer Karriere als auf Twitter, in dem sie ihren Abschied aus der ein bisschen so ausschaut wie der junge
Reporterin. Ihr Vorbild ist Joan Didion, die dem Verlag verkündet. Man sieht sie auf Richard David Precht. Die langen Haare,
legendäre amerikanische Journalistin, aber einem Laufband, vor ihr auf einem erhöh- der empathische Blick, diese Zugewandt-
möglicherweise hat sie da etwas falsch ten Schreibtisch, der Computer. Sie trägt heit. Ein passiv-aggressiver Allesversteher,
verstanden. Dass einer ihrer ersten Texte hohe Schuhe. Am Fenster, der Blick hinaus so dufte und süß und manipulativ zugleich.
für »Scarlet« ihre Orgasmusprobleme be- auf Manhattan, ein Plakat: I’m not a boss Er trägt Stan-Smith-Turnschuhe und die
schreibt, okay, jede fängt mal an, aber im bitch. I’m a boss. Bitch. Jeans wie zufällig hochgekrempelt. Er be-
Prinzip erzählt sie in fast all ihren Geschich- Coles ist auch Produzentin von »The nutzt Wörter wie »Dude«, »cool« oder
ten eher von sich selbst als von anderen. Bold Type«. Am Anfang jeder Folge ist es »brillant«. Es ist sein erster Arbeitstag als
Jane ist eine dieser jungen Journalistinnen, ihre Stimme, die berichtet, was bisher ge- neuer Onlinechef, und, nun ja, es sind
die daran glauben, dass es sinnvoll ist, sich schah. Jacqueline, die Chefredakteurin nicht alle glücklich, dass ein Mann den Job
selbst und den eigenen Empfindungen eine von »Scarlet«, hat ebenfalls ein Laufband bekommen hat.
Stimme zu geben, um die Welt damit zu in ihrem verglasten Büro, sie trägt auch In seiner Ansprache sagt er, dass sie alle
einem besseren Ort zu machen. High Heels, zählt die Schritte, die sie täg- die Augen öffnen sollten, die Seelen, die
Als Jane von einem Date zurückkommt, lich macht, und ist so etwas wie die strenge, Herzen. Keine Grenzen, keine Hierarchien,
berichtet sie ihren Freundinnen, dass der aber liebende Mutter von Kat, Sutton und und vor allem: Ehrlichkeit. Am Ende faltet
junge Mann ein gläubiger Christ sei, was Jane. Eine ziemlich großartige Figur, tüch- er die Hände und sagt »Namaste«, den
gar nicht gehe. Als sie in der Wohnung, tig und fordernd, verständnisvoll und Yogagruß, der Verbundenheit ausdrücken
die sie mit Sutton teilt, eine Schrotflinte schlau, gebührend eitel und verrückt. will: Ihr und ich, wir sind eins. Meine Seele
findet, mit der die Freundin früher in der grüßt eure Seele.
Schule auf Tontauben schoss, verlangt sie, * Kim Catrall, Cynthia Nixon, Kristin Davis, Sarah Glaubt ihm kein Wort. Lothar Gorris
dass die Waffe aus dem Haus kommt. Dass Jessica Parker um 2000.

117
Kultur

»Wahnsinn, es wächst
ein Penis in mir«
SPIEGEL-Gespräch Was ist heute eine gute Mutter, was ein guter Vater? Die Philosophin Svenja
Flaßpöhler und der Autor Florian Werner über Elternschaft und Emanzipation.

E
ine Altbauküche im Berliner Stadt- verfügt. Kinder sind das Unverfügbare ments, die etwas hinzufügt, wo vorher
teil Prenzlauer Berg. Am Kopf schlechthin. nichts war.
des Tisches ein Kinderhochstuhl. Werner: In der scheinbaren Widersinnig- SPIEGEL: Ein gemeinsames Kind, so ein
»Dort, wo früher der Platz des Pa- keit liegt der Sinn. Ein Kind zu bekommen verbreiteter Glaube, macht eine Liebes-
triarchen war, thront bei uns ein Vierjähri- mag nicht nachhaltig sein. Andererseits beziehung erst perfekt. Andererseits gibt
ger«, sagt Svenja Flaßpöhler und lacht. Ihr stellt es eine denkbar starke Motivation es wohl nichts, was eine Liebesbeziehung
Sohn ist in der Kita, ihre elfjährige Tochter dar, die Welt zu bewahren und sich nach- so belastet und gefährdet.
in der Schule. Flaßpöhler, 43, Chefredak- haltig zu verhalten. Und rein ökonomisch Flaßpöhler: Das ist genau die Herausfor-
teurin des »Philosophie Magazins«, ist durchbricht es die Logik von Gabe und derung, die ein Paar auf sich nimmt. Denn
bekannt geworden durch das Buch »Die Gegengabe, die unsere Gesellschaft sonst ein Kind zieht auch viel ab – Energie, Auf-
potente Frau«, eine feministische Kritik der so sehr prägt: die Erwartung des Homo merksamkeit, körperliche Zuwendung.
#MeToo-Bewegung. Gemeinsam mit ihrem oeconomicus, dass wir für alles, was wir SPIEGEL: Das Ideal der romantischen Lie-
Mann, dem Schriftsteller Florian Werner, tun, auch etwas zurückbekommen. be sieht vor, dass der andere für mich die
47, hat sie nun ein neues Buch veröffent- SPIEGEL: Emotional erwarten Eltern aber Nummer eins ist. In dem Moment, in dem
licht: »Zur Welt kommen. Elternschaft als durchaus eine Gegengabe: die Anerken- ich mit ihm ein Kind bekomme, überholt
philosophisches Abenteuer«*. Als während nung und Bewunderung und Liebe des ihn jemand.
des Interviews die Tochter nach Hause Kindes. Werner: Die neue Nummer eins ist das
kommt, steht Werner auf und nimmt sie in Werner: Na ja, für 260 000 Euro könnte gemeinsame Kind. Die Liebe zu ihm ist
Empfang. Flaßpöhler redet weiter. man sich andernorts auch viel Zuneigung gewaltig, wahrscheinlich zeitweise wichti-
kaufen. Im Ernst, Kinderkriegen ist auch ger und stärker als die Liebe zur Partnerin.
SPIEGEL: Frau Flaßpöhler, Herr Werner, emotional ein riskantes Investment. Es SPIEGEL: Was ist für Sie die wesentliche
was spricht heute dafür, ein Kind zu be- kann sein, dass das Kind ein Flegel wird. Erfahrung am Elternsein?
kommen? Und den erhofften emotionalen Einnah- Flaßpöhler: Es ist erst mal ein Schock. Da
Werner: Zunächst einmal: gar nichts. Öko- men stehen Ausgaben gegenüber, Schmer- ist plötzlich ein Wesen, das mit jeder Faser
logisch betrachtet, ist es ein Unding. Es zen bei der Geburt, Übermüdung in den seines Leibes von mir als Mutter abhängig
gibt schon über sieben Milliarden Men- ersten Lebensjahren, Gereiztheit. ist. Das hat etwas wahnsinnig Beglücken-
schen auf der Welt. Auch ökonomisch Flaßpöhler: Unsere Kinder haben nicht des. Aber es ist auch ein Einbruch – gerade
spricht wenig dafür. In Deutschland kostet darum gebeten, geboren zu werden. Ich in eine Existenz als moderne Frau. Es ist
ein Kind bis zur Volljährigkeit im Schnitt lehne es daher ab, etwas von ihnen zu eine Erfahrung, auf die man gar nicht vor-
knapp 130 000 Euro. Das sind die reinen erwarten. Man kennt diesen Opfergestus bereitet sein kann.
Lebenshaltungskosten, ohne Klavierunter- ja gerade von Müttern: »Ihr müsst mich Werner: Als unsere Tochter geboren wur-
richt und Meerschweinchen. oft besuchen, ich habe so viel für euch auf- de, war mein erster Gedanke: Das ist jetzt
SPIEGEL: Das Kind ein Kostenfaktor, eine gegeben!« Hier zeigt sich die ganze mora- für immer. Dabei haben wir uns heute
Ökosünde sogar: Das erinnert an die lische Macht der Frau. So will ich nicht doch daran gewöhnt, dass alles noch mal
schlichten Thesen, mit denen die Lehrerin werden. verhandelbar ist. Wir können unseren Job
Verena Brunschweiger gerade provoziert. SPIEGEL: Wie verändert ein Kind eine kündigen, uns scheiden lassen, sogar unser
Flaßpöhler: Eine Menschheit, die nicht Partnerschaft? Geschlecht ändern.
fortexistieren will, ist das deprimierendste, Werner: Der französische Philosoph SPIEGEL: »Liebe, lebenslänglich« heißt ein
was ich mir vorstellen kann. In einer sol- Jacques Derrida spricht vom Supplement, Buch der Publizistin Ursula von Arx.
chen Welt will selbst Frau Brunschweiger das eine Lücke auffüllt. Das Kind ersetzt Werner: Das bringt es auf den Punkt.
nicht leben. Dennoch sind Kinder mit den fehlende Liebe in der Partnerschaft oder Selbst wenn ein Kind die Beziehung zu
höchsten Werten der Moderne nur schwer einen fehlenden Sinn. Aber es gibt bei Der- den Eltern für immer aufkündigt, bleibt
vereinbar. Wir wollen uns heute selbst ver- rida auch eine zweite Form des Supple- es doch anwesend: als schmerzliche Leer-
wirklichen, selbstbestimmt leben, gerade stelle. Ich fand den Gedanken damals im
als emanzipierte Frauen. Dieser Wille wird Krankenhaus erschreckend, aber auch sehr
von Kindern durchkreuzt. Aber dabei schön. Alles kann einem entgleiten, die El-
lernt man: Die Momente höchsten Glücks »Es ist unheimlich, ternschaft aber bleibt.
sind genau die, über die man gerade nicht Flaßpöhler: In der Erfahrung, ein Kind zu
was da in der bekommen, liegen das Schreckliche und
das Schöne nah beieinander. Der Leib der
* Svenja Flaßpöhler, Florian Werner: »Zur Welt kom- Schwangerschaft mit Frau verselbstständigt sich, sie bekommt
men. Elternschaft als philosophisches Abenteuer«.
Blessing; 224 Seiten; 18 Euro. einer Frau geschieht.« riesige Brüste, die Milch schießt ein.

118
Werner: Weil die Perspektive, die
ich als Vater habe, radikal anders
ist als die meiner Frau. Und das,
obwohl wir versuchen, eine
gleichberechtigte Partnerschaft
zu führen. Ich habe bei beiden
Kindern sieben Monate Eltern-
zeit genommen, genauso viel wie
meine Frau, ich habe mich genau-
so viel an der Erziehungsarbeit
beteiligt, am Wickeln, am Baby-
schwimmen. Und trotzdem fehlt
mir ein wesentlicher Teil – die
leibliche Erfahrung.
SPIEGEL: Birgt das Vatersein für
Sie deshalb einen Mangel?
Werner: Wir kommen jetzt auf ver-
mintes Gelände. Bestimmte Aspek-
te kann man als Vater nicht abde-
cken. Meine Frau hat nach der Ge-
burt sehr schnell wieder Vorträge
gehalten, Veranstaltungen mode-
riert. Solange sie gestillt hat, musste
ich mich als Vater wie ein Satellit
um sie herumbewegen: mit dem
Kinderwagen stets in der Nähe des
Saals, in dem sie gerade auftrat.
SPIEGEL: Das erinnert an die neu-
seeländische Premierministerin
Jacinda Ardern, die vergangenes
Jahr zur Uno-Vollversammlung
nach New York reiste, im Schlepp-
tau ihren Mann mit dem damals
drei Monate alten Baby. Die Bil-
der wurden zur Weltsensation.
Konnten Sie sich mit der Rolle
des Assistenten abfinden?
Werner: Eigentlich schon. Außer
beim allerersten Mal, das war
eine Katastrophe: ein Vortrag in
Dresden am Hygiene-Museum,
unsere Tochter war gerade sechs
Wochen alt. Kann ich das erzäh-
len, Svenja?
Flaßpöhler: Auf jeden Fall.
Werner: Wir hatten alles genau
MADLEN KRIPPENDORF / DER SPIEGEL

geplant: Meine Frau stillt, flitzt


zum Vortragsort, das Kind hält
Verdauungsschlaf, bis die Mutter
wieder zurück ist … Aber kaum
war unsere Tochter mit mir allein,
hat sie die ganze Milch erbrochen
und geschrien. Und ich konnte
nichts tun, als irgendwie die Zeit
Ehepaar Flaßpöhler, Werner: »Wir kommen jetzt auf vermintes Gelände« zu überbrücken.
SPIEGEL: Hatte das etwas Krän-
kendes?
Werner: Sie bekommt einen grotesken geschieht. Dass ein fremdes Wesen in Werner: Da bekommt man als Vater
Leib, würde der russische Literaturtheo- einem wächst, wie ein Alien. Gleichzeitig seine Unzulänglichkeit als nicht säugendes
retiker Michail Bachtin sagen ... ist es das größte Glück. Ich zumindest Säugetier schon sehr stark vorgeführt.
Flaßpöhler: ... und sie guckt diesem habe mich wie der Kugelmensch aus Pla- Aber von solchen Mikrotraumata ab-
Leib dabei zu, was er mit ihr macht. tons »Symposion« gefühlt: göttlich gera- gesehen, ist Vaterschaft eine wahnsinnig
Er hat einen eigenen Willen. Der Philo- dezu. bereichernde Erfahrung. Väter, die keine
soph Friedrich Nietzsche spricht von SPIEGEL: Ihr Buch ist ein gemeinsames Elternzeit nehmen, verpassen enorm
der großen Vernunft des Leibes. Man Projekt, aber Sie haben es getrennt von- viel.
kann sagen: Es ist unheimlich, was da einander geschrieben: mit zwei Autoren- SPIEGEL: Sehr viel Erziehungsarbeit, wie
in der Schwangerschaft mit einer Frau stimmen, Frau und Mann. Warum? Sie das vorhin genannt haben.

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 119


Kultur

Werner: Ich habe den Begriff leicht- mein erster Impuls: Jetzt sind wir
fertig verwendet. Der Philosoph Frauen damit dran, unsere Namen
Dieter Thomä hat zu Recht dagegen weiterzugeben. Aber als unsere
polemisiert. Statt von Erziehungs- Tochter ein Jahr alt war, wurde mir
arbeit sollten wir lieber von Erzie- klar, dass eine Unwucht entstanden
hungsfreude sprechen. Man kann ist: Mutterschaft ist im Gegensatz

MADLEN KRIPPENDORF / DER SPIEGEL


sein Kind auch im Tragetuch wie zur Vaterschaft unbezweifelbar.
eine stolzgeschwellte Brust vor sich Und jetzt habe ich mir zusätzlich
hertragen und sagen: Guckt mal, noch den Nachnamen unter den
was für ein schönes Baby ich habe. Nagel gerissen. Warum kann ich die
Flaßpöhler: Aber der Konflikt geht symbolische Verbindung nicht dem
darüber hinaus. Wenn ich auf der Vater überlassen?
Bühne sitze, während mein Mann SPIEGEL: Warum haben Sie damit
mit dem Kinderwagen draußen vor ein Problem, Herr Werner?
der Scheibe hin und her läuft, schu- Werner, Flaßpöhler beim SPIEGEL-Gespräch* Werner: Das ist doch eine leere
ckel, schuckel, schuckel, dann ist das »Natürlich spielt der Körper beim Elternsein eine Rolle« Geste. Ich rede meine Kinder ja
eine doppelte Überschreitung histo- nicht als Herr oder Frau Werner an,
risch gewachsener Normen. Ich als sondern nenne sie beim Vornamen.
Frau bleibe nicht bei meinem Baby, son- deckt viele männliche Seiten ab, sie geht Und für mich war die Idee immer bürger-
dern gehe in die Öffentlichkeit. Und mein mit unserem Sohn auf den Bolzplatz. licher Quatsch: dass der Vater seinen Nach-
Mann kümmert sich um die reproduktive SPIEGEL: Würden Sie so weit gehen zu namen an die Kinder weitergibt und damit
Arbeit, obwohl er dafür gar nicht komplett sagen: Die Vater- und die Mutterrolle sind eine Linie fortführt.
ausgestattet ist. Rückblickend haben wir nicht mehr ans Geschlecht gekoppelt? SPIEGEL: Vielleicht sind Sie im Herzen
uns schon gefragt, warum wir unsere Toch- Flaßpöhler: Ich war eine Zeit lang sehr be- konservativ, Frau Flaßpöhler.
ter nicht rechtzeitig an die Flasche gewöhnt geistert von der postfeministischen Idee, Flaßpöhler: Traditionen können in einer
haben. Ich hätte ja auch Milch abpumpen dass das Geschlecht konstruiert ist und neuen Zeit neuen Sinn gewinnen. Außer-
können. Wollte ich mich unabkömmlich jeder biologischen Grundlage entbehrt. dem ist das Symbolische doch nicht nur
machen? Frauen haben aufgrund der leib- Doch seit ich Kinder habe, kann ich sagen: Schall und Rauch, sondern gerade im Fall
lichen Dominanz tatsächlich einige Mög- Das stimmt nicht. Mir liegt es fern, Frau- des Nachnamens identitätsstiftend.
lichkeiten, ihre Macht auszuspielen. en und Männern stereotype Eigenschaften SPIEGEL: Sie wohnen im Prenzlauer Berg,
SPIEGEL: Was macht einen guten Vater zuzuschreiben. Aber der Postfeminismus einem kinderreichen Viertel in Berlin. Un-
aus, was eine gute Mutter? unterschlägt die leibliche Dimension: die ser Eindruck ist, dass Mutterschaft zurzeit
Flaßpöhler: Die Frage zieht sich als Kon- Schwangerschaft, das Gebären, das Stillen. wieder stärker idealisiert wird als noch vor
flikt durch unser Buch: Was unterscheidet Ich hatte in den ersten Monaten nach der einigen Jahren. Warum?
Vater und Mutter noch voneinander, wenn Geburt ein extremes Sicherheitsbedürfnis. Flaßpöhler: Eine Erklärung: Meine Eltern
beide arbeiten und sich zu Hause gleich- Florian wäre am liebsten direkt mit dem gehörten zur Achtundsechziger-Genera-
berechtigt die Erziehungsarbeit teilen? Ich Baby in die Rocky Mountains zum Zelten tion, die man mit Sloterdijk als die »schreck-
glaube, dass es die Väter auf eine Weise gefahren. Der feministische Kampf sollte lichen Kinder der Neuzeit« bezeichnen
schwerer haben als die Mütter. sich nicht darauf richten, Differenzen zu kann. Sie wollten mit Traditionen brechen,
SPIEGEL: Die Mainzer Entwicklungspsy- negieren. Sondern darauf, sie ohne beruf- sie setzten sehr stark auf Selbstbestimmung.
chologin Inge Seiffge-Krenke hat mal ge- liche Nachteile leben zu dürfen. Nicht ohne Preis. Unsere Generation be-
sagt, in vielen Köpfen sei der gute Vater Werner: Natürlich spielt der Körper beim sinnt sich wieder stärker auf Kontinuitäten,
heute eine zweite Mutter. Das Problem: Elternsein eine Rolle. Wenn unser Sohn auf Stabilität, denkt sich in Beziehungen.
Er ist dann immer nur die zweitbeste Mut- aufwacht, geht er erst mal zu ihr, um kör- SPIEGEL: Der Prenzlauer Berg ist der In-
ter. Ein Mängelexemplar. perliche Nähe zu finden. Aber wenn man begriff einer Blase: sehr viele Menschen
Flaßpöhler: Diese Gefahr sehe ich auch. die ganze Kinder- und Jugendzeit betrach- mit ähnlicher Weltanschauung unter sich.
Mütter haben die leibliche Potenz, die ihnen tet, sind das nicht die entscheidenden Werner: So eindeutig ist das nur, wenn Sie
niemand nehmen kann, und zusätzlich ha- Anteile an der Elternschaft. Ihre Kinder auf eine Privatschule schicken,
ben sie heute oft auch eine berufliche Potenz. SPIEGEL: Es gibt da einen interessanten was wir bewusst nicht getan haben. In
Werner: Zum Glück. Dissens in Ihrem Buch: Sie konnten sich öffentlichen Einrichtungen wirkt eine Art
Flaßpöhler: Natürlich! Die Väter gewin- eine Zeit lang nicht auf einen Nachnamen sozialer Osmose auf sie ein, die manches
nen ja auch etwas, wenn sie stärker am Le- für Ihre Kinder einigen. Als Mutter, Frau ausgleicht. Wir haben zum Beispiel Wert
ben ihrer Kinder teilnehmen. Trotzdem Flaßpöhler, wollten Sie gern, dass Ihre Kin- darauf gelegt, dass unsere Tochter als Baby
ist ein Ungleichgewicht entstanden. Früher der so heißen wie der Vater. Sie waren da- keine rosa Bodys trägt.
war die Rolle des Mannes dadurch defi- gegen, Herr Werner. Ist das nicht ziemlich Flaßpöhler: Wir haben versucht, Rosa
niert, dass er die Familie ernährte und dass verdreht? komplett zu vermeiden.
er da saß, wo jetzt unser Sohn sitzt: an der Flaßpöhler: Ich habe zweifelsohne einen Werner: Aber eines Tages hatte sie dann
Spitze des Tisches. Niemand, der bei Ver- feministischen Anspruch, deshalb lautete doch eine Prinzessin-Lillifee-Phase. Und
stand ist, wünscht sich in diese Zeit zurück. bis heute ist sie extrem pferdebegeistert,
Die Frage bleibt aber, wie man die Macht- fast schon klischeehaft, während unser vier-
verhältnisse wieder austariert. jähriger Sohn sich beim Kindersport Rau-
SPIEGEL: Gibt es denn genuine Vaterauf- fereien leistet, mit Autos spielt, Stöcke als
gaben?
»Mein Gott, der Arme Schießgewehr benutzt. Da frage ich mich
Werner: Väter übernehmen heute Aufga- muss später denselben schon, ist das nur der Einfluss von außen?
ben, die noch vor wenigen Jahren exklusiv
von den Müttern erfüllt wurden, Stichwort
Jungmännerquatsch
* Mit den Redakteuren Claudia Voigt und Tobias
Babyschwimmen. Meine Frau wiederum durchmachen wie ich.« Becker in Berlin.

120 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


SPIEGEL: Und haben Sie eine Antwort?
Werner: Ich tendiere dazu, alles immer
kulturellen Einflüssen zuzuschreiben. Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
Aber manche Unterschiede haben offen- nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
sichtlich auch tiefere Wurzeln. Unsere
Tochter hat sich nie für Autos interessiert, Belletristik Sachbuch
unser Sohn kennt nichts Tolleres.
Flaßpöhler: Und das ging schon vor der 1 (1) Ferdinand von Schirach 1 (2) Marcel Eris / Dennis Sand
Kita los. Kaffee und Zigaretten Luchterhand; 20 Euro MontanaBlack
Werner: Der französische Philosoph Paul Riva; 19,99 Euro
Virilio hat geschrieben, die Frau sei 2 (3) Simon Beckett
»das erste Transportmittel der Gattung« Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro Er kommt aus Buxtehude
bei Hamburg, ein 31-Jäh-
Mensch. Und tatsächlich ist unser Ver- riger, der kriminell war,
3 (2) Walter Moers
ständnis der Geburt ja von Metaphern des Drogen nahm. Nun hat
Der Bücherdrache Penguin; 20 Euro er als YouTuber Erfolg.
Personentransports geprägt: Die Frau Seine Lebensgeschichte
»bringt das Kind zur Welt«. Vielleicht lässt 4 (5) Saša Stanišić
sich die Autobegeisterung vieler Männer Herkunft Luchterhand; 22 Euro
2 (1) Bas Kast
als eine Art Kompensationsstrategie ver- Der Ernährungskompass
stehen: Sie können immer nur mit Fahr- 5 (4) Dörte Hansen C. Bertelsmann; 20 Euro
zeugen spielen, aber nie Fahrzeug sein. Mittagsstunde Penguin; 22 Euro

SPIEGEL: Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? 3 (4) Michelle Obama
6 (7) Joël Dicker Das Verschwinden Becoming
Werner: Je länger ich darüber nachdenke: der Stephanie Mailer Piper; 25 Euro
Goldmann; 26 Euro

doch. Es ist schon auffällig, wie häufig 4 (5) Sebastian Fitzek Fische, die auf
Frauen und Fahrzeuge miteinander in Ver- 7 (8) Daniela Krien Bäume klettern Droemer; 18 Euro
bindung gebracht werden. Sebastian Vettel Die Liebe im Ernstfall
gab seinen Rennwagen sexistische Frauen- Diogenes; 22 Euro 5 (6) Stephen Hawking Kurze Antworten
namen wie Randy Mandy. Und der Rap- auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro
Fünf Frauen, deren Ge-
per RAF Camora besingt einen 500-PS- schichten lose miteinander 6 (12) Meike Winnemuth
Maserati. Ich glaube, dass die Metaphorik verbunden sind, müssen Bin im Garten Penguin; 22 Euro
da mehr über uns weiß als wir selbst. lernen, ihre Hoffnungen und
Wünsche mit der Lebens-
SPIEGEL: Bedeutete es für Sie einen Un- realität zu vereinbaren
7 (7) Jürgen Todenhöfer
terschied, einen Sohn oder eine Tochter Die große Heuchelei Propyläen; 19,99 Euro
zu bekommen? 8 Sibylle Berg
(9) 8 (9) Andrea Wulf Die Abenteuer
Werner: Als ich erfahren habe, dass unser GRM Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro des Alexander von Humboldt
zweites Kind ein Junge wird, hat mir das C. Bertelsmann; 28 Euro
Angst gemacht. Zuvor war ich der Hahn 9 (10) Marc Elsberg Gier! Wie weit
im Korb, eine komfortable Situation. Vor würdest du gehen? Blanvalet; 24 Euro 9 (3) Anne Fleck
allem aber dachte ich: Mein Gott, der Ran an das Fett Wunderlich; 24,99 Euro

Arme muss später denselben Jungmänner- 10 (6) Anke Stelling Schäfchen


im Trockenen Verbrecher; 22 Euro 10 (8) Ian Kershaw
quatsch durchmachen wie ich. Da kommt Achterbahn DVA; 38 Euro
jemand, der mich wiederholt. 11 (–) Martin Walker
SPIEGEL: Ein kleiner Klon. Das könnte Menu surprise Diogenes; 24 Euro 11 (11) Andreas Michalsen
einen auch narzisstisch befriedigen. Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro
Werner: Dafür habe ich zu schlechte Erin- 12 (13) Sebastian Fitzek
Der Insasse 12 (–) Theo Waigel Ehrlichkeit ist
nerungen an meine Pubertät. Die Sorge Droemer; 22,99 Euro
eine Währung Econ; 24 Euro
war, dass mein Sohn ein Macker wird, ein
13 (–) Nele Neuhaus
Macho. Vor der Geburt hatte ich einen 13 (10) Harald Jähner
Muttertag Ullstein; 22 Euro
lehrbuchhaften Albtraum: Mein Sohn er- Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro
stach mich – mit einem Phallus! 14 (14) John Ironmonger Der Wal und
SPIEGEL: Kann man wirklich so freudia- 14 (14) Yuval Noah Harari
das Ende der Welt S. Fischer; 22 Euro
21 Lektionen für das 21. Jahrhundert
nisch träumen? C. H. Beck; 24,95 Euro
Werner: Ja, womöglich hatte ich zu viel 15 (11) Julian Barnes
Freud gelesen. Die einzige Geschichte 15 (13) Dieter Nuhr
SPIEGEL: Hatten Sie ähnliche Sorgen, Frau Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Gut für dich! Lübbe; 15 Euro
Flaßpöhler? 16 (12) Jilliane Hoffman
Flaßpöhler: Nein, eher umgekehrt. Als 16 (–) Stefan Kölsch
Nemesis Wunderlich; 22,95 Euro Good Vibrations Ullstein; 22 Euro
Mädchen wollte ich unbedingt ein Junge
sein. Insofern knüpft unser Sohn an einen 17 (–) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist nur 17 (15) Harald Welzer Alles könnte
ganz alten Wunsch an. Noch präsenter war eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro anders sein S. Fischer; 22 Euro
während der Schwangerschaft aber die
Vorstellung, dass ich als Frau einen Mann 18 (–) Carmen Korn 18 (–) Bernd Lucke
hervorbringen kann. Mein erster Gedanke Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Systemausfall FBV; 22,99 Euro

nach der Feindiagnostik war: Wahnsinn, 19 (17) Bela B Felsenheimer 19 (18) Jan Haft
es wächst ein Penis in mir. Scharnow Heyne; 20 Euro Die Wiese Penguin; 20 Euro
SPIEGEL: Frau Flaßpöhler, Herr Werner,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 20 (20) John Grisham 20 (16) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
Das Bekenntnis Heyne; 24 Euro Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro

121
Kultur

Das Phantom
geschichte darüber lernen können. Wann es das schon einmal
gab und vor allem: wie wir da wieder herauskommen.
Als das Buch vorigen Sommer in den Vereinigten Staaten
erschien, hat sie ihrer alten Zeitung gleich ein ganzes Ich-
Schock-Interview gegeben, fast schon exhibitionistisch für
Literaturkritik Michiko Kakutani war eine die Verhältnisse eines mächtigen Phantoms. Über die Freuden
der wichtigsten und geheimnisvollsten des Nicht-mehr-Rezensierens zum Beispiel sagte sie, es be-
Buchkritikerinnen der USA. Jetzt hat sie deute für sie »die Unschuld des Lesens zurückzugewinnen,
Lesen um der reinen Freude willen«.
selbst eins geschrieben. So wie damals, ganz früh im Leben der Michiko Kakutani,
die in New Haven, Connecticut, als Tochter eines japanisch-

W enige Tage vor dem Ende der Präsidentschaft Barack


Obamas hatte Michiko Kakutani die Möglichkeit,
für die »New York Times« mit ihm über Bücher zu
sprechen. Obama war in Bestform, redete inspirierend, kennt-
amerikanischen Mathematikers und dessen Frau aufwuchs.
Der »New York Times« berichtete sie ihre ersten Leseerleb-
nisse, als das Lesen für sie eine Zuflucht war, ein magisches
Transportmittel in andere Welten. »Als meine Eltern einen
nisreich und dankbar über Literatur und über seine Teen- neuen Kühlschrank bekamen, schnitt mein Vater ein Fenster
agerzeit, als Lesen nicht so wichtig war und er »Zeug getrun- und eine Tür in den Karton, in dem er gekommen war, um
ken« habe, »das nicht wirklich gesund war«. Darauf die In- mir ein Spielhaus zu machen – oder besser: einen privaten
terviewerin: »Das haben wir wohl alle gemacht.« Leseraum, wo ich mich verstecken konnte, mit einem Stapel
Wer bitte? Das war ja der viel größere Schock dieses In- Bücher und einer Taschenlampe.«
terviews. Dass Obama klug und begeistert über Literatur Irgendwie hat sie sich in ihrem späteren Berufsleben
reden kann, das ahnte man, aber dass Michiko Kakutani einen virtuellen geschützten Lesekarton bewahrt. Und blieb
»wir« sagt? Dass sie in der Zei- mit den Büchern, die sie las,
tung schreibt, was sie in ihrer unter Ausschluss der Öffent-
Jugend getrunken hat? Kaku- lichkeit allein. Jetzt aber schaut
tani, 64, war 34 Jahre lang sie ein wenig aus diesem Kar-
Literaturkritikerin der »New ton heraus. Und da ihr Buch
York Times«, berühmt für ihre nun auf Deutsch erscheint,
scharfen Verrisse, ihre hym- wurde sie wohl von ihrer Agen-
nischen Empfehlungen, ihre tur und ihrem deutschen Ver-
Klarheit, ihre furchtlosen Ur- lag sanft gezwungen, ein ein-
teile. »Kakutanisiert« zu wer- ziges Interview der deutschen
den war viele Jahre lang Furcht Presse zu geben.
und Hoffnung amerikanischer Der SPIEGEL sollte es füh-
Autoren. Ihre Urteile bedeute- ren, die Bezeichnung »Inter-
ten: Kopf ab oder ewiges view« führt aber in die Irre.
Leben. Man durfte Fragen an den deut-
Sie liebte große Gegner. schen Verlag schicken, der sie
Über Jonathan Franzens »Un- an ihre Agentur weiterreichte,
PETR HLINOMAZ

ruhezone« schrieb sie: »Herrn die sie an die Frau im Karton


Franzen gelingt es, ein abscheu- weiterreichte. Die prüfte die
liches Selbstporträt des Künst- Fragen, erkannte gleich, dass
lers als junger Dummkopf zwei Fragen mehr als verein-
vorzulegen«, David Foster Wal- Autorin Kakutani bart eingesandt worden waren,
lace’ Universalroman »Unend- Aufatmen unter ihren Opfern, Entsetzen bei ihren Helden teilte der Agentur mit, die es
licher Spaß« nannte sie ein dem Verlag mitteilte, der es uns
»schlabbriges, unzusammenhängendes Ungetüm von einem mitteilte, dass das nicht korrekt sei und sie nicht die Zeit
Buch«. habe, zwei Fragen zu streichen. Wir schickten auf dem be-
Und so wurde sie selbst schon bald Teil der amerikanischen kannten Wege zwei Fragen weniger, drei Wochen später ka-
Literatur- und Populärkulturgeschichte. Philip Roth ließ sie men die Antworten – die zum großen Teil wörtlich so im
als Kimiko Kakizaki in seinem Roman »Sabbaths Theater« Buch stehen.
auftreten, in den Serien »Girls« und »Sex and the City« Das hätte man sich also sparen können. Aber es ist gleich
kommt sie vor. Michiko Kakutani ist der Marcel Reich-Rani- doppelt konsequent von Michiko Kakutani, sich hinter vor-
cki Amerikas – mit dem großen Unterschied, dass sie öffent- gefertigten Formeln zu verbergen. Denn die Kernthese ihres
lich quasi unsichtbar war. Sie trat nicht auf, nicht auf Partys, Buches »Der Tod der Wahrheit«, in dem sie den Urgründen
Literaturveranstaltungen, Lesungen, und das unwahrschein- des politischen Unglücks namens Donald Trump nachgeht,
lichste Wort ihrer Rezensionen war »ich«. ist, dass genau diese verdammte Ich-Sagerei, der neue Sub-
Im Juli 2017 verkündete sie plötzlich ihren Rücktritt als Li- jektivismus in Wissenschaft und Journalismus seit den Sech-
teraturkritikerin, sie wolle sich in Zukunft auf »längere Stücke zigerjahren, für unsere Misere verantwortlich sei. Postmo-
aus Politik und Kultur« konzentrieren. Aufatmen und Entsetzen derne, Relativität, der New Journalism eines Tom Wolfe. Je-
wird da vermutlich unter ihren Opfern und Helden geherrscht dem seine eigene Wahrheit. Das habe uns den Boden der
haben. Sie selbst hat nun ein Buch über die Lügen des Donald Fakten unter den Füßen entzogen und der Lüge zum Sieg
Trump geschrieben, die Erosion des demokratischen Systems, verholfen. Kakutani führt fleißig zitierend Hannah Arendt,
wie es dazu kam und was wir zum Beispiel aus der Literatur- George Orwell, Stefan Zweig und Victor Klemperer auf. Am
Ende ist das Buch in all seiner Emsigkeit rührend hilflos. Eine
Michiko Kakutani: »Der Tod der Wahrheit«. Aus dem Amerikanischen von ganze Bibliothek gegen Trump. Phantomwaffen. Tapfer in
Sebastian Vogel. Klett-Cotta; 200 Seiten; 20 Euro. Stellung gebracht. Der Feind lacht. Volker Weidermann

122 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


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Dr. Johannes Saltzwedel, Sandra Schulz. ISTANBUL Tatarbeyl Sokak No 11, Galata- Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu
Autorin: Marianne Wellershoff Beyoğlu-Istanbul GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass
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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Martin Böttcher, 91 Die Wiederbegegnung mit
»Ich musste nicht lange der jubelnden Bevölkerung
überlegen, bis mir die beschrieb er als eines der
passenden Noten einfielen, prägendsten Ereignisse
die Musik kam aus dem seines Lebens. Flucht, Exil,
Bauch« – so erinnerte sich Widerstand und Heimkehr
der Komponist Martin Bött- begründeten sein Ansehen
cher an die Entstehung sei- und seine Beliebtheit. 1964
ner bekanntesten Werke: folgte er seiner Mutter
der Filmmusiken zu »Der Charlotte auf den Thron,
Schatz im Silbersee« (1962) im Jahr 2000 verzichtete er
und anderen Karl-May- zugunsten seines ältesten
Adaptionen. Böttchers Sohns Henri auf die Krone.
Melodien mit ihren elegi- Fünf Kinder, mehr als
schen Streicherarrange- 20 Enkel und zahlreiche
ments passten perfekt zu Urenkel sichern den Fortbe-
den deutschen Western der stand der tiefkatholischen
Sechzigerjahre, sie klangen Dynastie aus dem Fürsten-
nach großer weiter Welt haus Nassau-Weilburg, die
und sämiger Heimeligkeit in dem Land mit 614 000
zugleich. Seine wahre Liebe Einwohnern, einem Aus-

TIM WEGNER / LAIF


war der Jazz, den er als länderanteil von 48 Prozent
Gitarrist im Tanzorchester und dem höchsten Pro-
des Nordwestdeutschen Kopf-Einkommen der EU
das emotionale Symbol
der Unabhängigkeit ist.
Hannelore Elsner, 76 Jean von Luxemburg starb
Sie war gerade mal 20 Jahre alt, da verwandelte sie den Bo- am 23. April. LCK
den unter sich in einen Laufsteg, der nur für sie gebaut zu sein
Carl Jakob Haupt, 34

KÖHN / IMAGO IMAGES


schien. In Will Trempers Film »Die endlose Nacht« (1963)
verkörperte die Schauspielerin ein Starlet, das etwas verloren, Er war Modeblogger, Autor,
trotzdem voller Selbstbewusstsein, durch die Halle des Flug- Partyveranstalter, Imbiss-
hafens Tempelhof stöckelt und es sichtbar genießt, die Blicke betreiber, Konzeptkünstler
der Männer auf sich zu ziehen. Schon als junge Frau besaß und einer jener hochbegab-
Hannelore Elsner eine mondäne Eleganz, in jedem Blick und ten Taugenichtse, die Berlin
jeder Geste gingen Instinkt und Intellekt eine Liaison ein. Rundfunks kennengelernt in den vergangenen Jahren
Als die ostdeutsche Defa für die Verfilmung der Novelle hatte. So wirken viele seiner zu einer der aufregendsten
»Aus dem Leben eines Taugenichts« (1973) die Rolle einer Kompositionen bis heute Städte Europas gemacht
Gräfin zu besetzen hatte, verpflichtete sie die im oberbayeri- moderner als die Filme und haben. Aufgewachsen in
schen Burghausen geborene Elsner – sie war damit die erste Fernsehserien, für die sie Kassel, zog Carl Jakob
westdeutsche Schauspielerin, die nach dem Bau der Mauer ursprünglich geschrieben Haupt 2012 in die Haupt-
in der DDR drehte. Und dann spielte sie gleich eine Adelige, wurden. Martin Böttcher stadt und betrieb mit einem
absolutes Feindbild im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Doch starb am 20. April. MWO Partner den Blog »Dandy
wenn sie den Titelhelden auf eine Kutschfahrt einlädt, spürt Diary«, eine überdrehte
man die Souveränität einer Frau, die sich nimmt, was sie Jean von Luxemburg, 98 Fashion-Kommentar-Seite.
haben will, und nicht darauf wartet, dass man es ihr gibt. Els- Er stand 36 Jahre lang an Er drehte einen Fashion-
ners Kindheit war kompliziert. Nach zahlreichen Schulwech- der Spitze Luxemburgs, des Porno-Film, schleuste einen
seln schickte ihre Mutter sie auf ein Klosterinternat, wo sie einzigen Großherzogtums Flitzer auf eine Mailänder
gegen die Autoritäten rebellierte. In einem Interview erzähl- der Welt – diskret, freund- Modenschau ein und war
te sie, dass sie die Mutterrolle in ihrer Familie als 15-Jährige lich, unauffällig, ein immer wieder das Zentrum
übernommen habe. Später, in einer Zeit, in der sich die Rol- Monarch ohne Allüren und
lenbilder rasant wandelten, war Elsner so etwas wie die Ver- Skandale. Als 19-jähriger
körperung der modernen Frau – in aller Zerrissenheit. Sie Erbgroßherzog war Prinz
GETTY IMAGES/ EASY ACCESS

stellte auch neurotische Figuren dar, wie die Schriftstellerin »Jang«, wie er in der Lan-
Hanna Flanders in Oskar Roehlers Psychodrama »Die Un- dessprache genannt wurde,
berührbare« (2000). Wenn sie in diesem Film wieder mal im Mai 1940 unmittelbar
durch den Raum stöckelt, nervös an ihrer Zigarette ziehend, vor dem deutschen Ein-
ist sie trotz ihrer manchmal nervigen Gespreiztheit so betö- marsch mit seiner Familie
rend wie fast 40 Jahre zuvor in »Die endlose Nacht«. nach Großbritannien geflo-
Elsner konnte auch sich selbst perfekt in Szene setzen. hen, wo er in das Regiment
In einem Interview, das sie 1995 SPIEGEL TV gab, spielt sie der Irish Guards eintrat. rauschender Feste. Klug-
mit dem Blatt eines Baumes, während sie von ihrer Kind- Mit den Streitkräften der heit und Hedonismus gehör-
heit erzählt. Sie wirkt dabei unschuldig und lasziv zugleich. Alliierten kämpfte er und ten für ihn zusammen.
Sie vermittelte den Eindruck, jeder Tag sei für sie ein kam im September 1944 in Carl Jakob Haupt starb am
24-stündiger Flirt mit dem Leben. Hannelore Elsner starb britischer Uniform in das 19. April in Bad Saarow,
am 21. April in München. LOB befreite Luxemburg zurück. Brandenburg, an Krebs. RAP

DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019 125


Personalien

AAP / IMAGO IMAGES


Pferd mit Hüfte vergangenen Jahrzehnten im Prinzip nicht geändert: enge
Hose und knappe Jacke, die bald zu Boden fliegt. Die Rezen-
sionen in der Presse sind geradezu hymnisch, voller Lob für sei-
G Wenige berühmte Männer dürften sich so häufig und ne Stimme, voller Anerkennung für seinen Elan, nicht ohne
so freudig oben ohne in der Öffentlichkeit gezeigt haben wie Erstaunen, dass der Sänger überhaupt noch lebt. Sein Drogen-
Iggy Pop. Und auch an seinem 72. Geburtstag vergangenen konsum brachte ihn mehrmals an den Rand des Todes, wie er
Sonntag ließ er es mal wieder krachen: auf der Bühne der Festi- selbst sagt. Der Kritiker des »Guardian« findet, Iggy Pop sehe
val Hall im australischen Melbourne. In der Woche zuvor war »so gesund wie ein Pferd« aus. Dass er sich nicht mehr ganz so
Iggy Pop bereits zweimal in der Oper von Sydney aufgetreten, geschmeidig bewegt wie früher, nimmt ihm niemand übel. Er
natürlich vor ausverkauftem Haus. Sein Outfit hat sich in den hat Hüftprobleme. Aber er ist und bleibt Iggy Pop. KS

Perücken für Schauspielerin unterwegs,


geht ohne. Dabei hat sie sich
fernen ließ … Ich habe mich
getäuscht … Darf ich vorstel-
alle Fälle für eine Methode mit lang len: Achselhaar-Perücken.«
anhaltendem Ergebnis ent- Das Accessoire ist aber nicht
G Achselhaar oder kein Ach- schieden: die Lasertechnik. die Folge einer spontanen
selhaar, das ist heutzutage Das verriet die Britin jetzt auf Mode-Idee, sondern gehört
immer seltener eine Frage: Instagram – und postete ein zu Delevingnes Ausstattung
Laut einer Studie der Univer- Bild, das sie mit behaarten in dem Film »Her Smell«
sität Leipzig entfernen es sich Achselhöhlen zeigt. In ihrem über eine weibliche Punkrock-
QUELLE: INSTAGRAM

über 60 Prozent aller Frauen Text dazu heißt es: »Ich hätte band in den Neunzigerjahren.
im Alter von 14 bis 94. Auch nie gedacht, dass ich noch mal Schon damals galt das Zeigen
das Model Cara Delevingne, Achselhaare brauchen würde, von Haar unterm Arm als
26, immer mal wieder als nachdem ich sie mit Laser ent- unangepasst. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Antwort: »Das Rathaus.«
Schwacher Dabei gehört der historische
Heimatkundler Bremer Regierungssitz zum
Weltkulturerbe. Erst durch
G Der AfD-Spitzenkandidat wiederholte Nachfragen der
für die Bremer Bürgerschafts- entgeisterten Interviewer
wahl, Frank Magnitz, 66, stellte sich heraus, dass er
will am 26. Mai gewählt wer- das nebenan stehende
den, weiß aber nicht so recht, moderne Parlamentsgebäu-
wie das Gebäude heißt, in de meinte. »Ja, die Bürger-
dem das Parlament sitzt. Bei schaft, das ist für mich das

RALPH SONDERMANN / DER SPIEGEL


einem Radio-Bremen-Kandi- zweite Rathaus.« Ein SPD-
datencheck wurde der Bun- Stadtteilpolitiker lästerte
destagsabgeordnete gefragt, sogleich: »Offensichtlich in
welche Bausünde er am der Schule nicht aufgepasst,
liebsten wegzaubern würde. als ›Gewaltenteilung in
Bremen‹ drangekommen
ist.« Die Parlaments-
verwaltung bewies Sinn für
Humor und richtete kurz-
fristig die Internetadresse Die Augenzeugin
www.das-zweite-rathaus.de

»Vergebens gewartet«
BENJAMIN PRITZKULEIT

ein – mit Informationen


über das Bauwerk von 1966.
Vor einem halben Jahrhun-
dert galt es tatsächlich vielen Der Onlinehandel boomt, aber nicht alle Pakete
Bremern als Bausünde. STG kommen reibungslos beim Kunden an. Besonders zu
Feiertagen wie Ostern gibt es Beschwerden. Iwona
Husemann vom Portal Post-Ärger der Verbraucher-
Sie habe in der Schule stän- zentrale NRW glaubt nicht, dass es besser wird.
Die vernünftige dig das Bedürfnis gehabt
Deutsche zu rufen: »Seht her, ich bin G »Seit vier Jahren sammeln wir die Klagen unzufriedener
wie ihr. Ich bin auch Franzö- Paketkunden. Vor zwei Jahren haben wir außerdem damit
G »Was geschieht, wenn in sin.« Die Deutschen hinge- begonnen, Vorfälle mit nicht oder zu spät zugestellten Brie-
Frankreich einmal die Rechts- gen hätten eine rationalere fen systematisch zu erfassen. Seitdem sind mehr als 40 000
extremen an die Regierung Einstellung zu ihrer Nationa- Beschwerden bei uns eingegangen, was schon eine ver-
kommen?«, fragte sich die lität, glaubt Diallo. Sollte sie dammt hohe Zahl ist. Die meisten Verbraucher ärgern sich
Französin Elisa Diallo, 42, sich in Frankreich einmal darüber, dass Sendungen nicht zugestellt wurden, obwohl sie
und beschloss, im Februar nicht mehr willkommen füh- selbst zu Hause waren.
2017 Deutsche zu werden. len, dann bleibe ihr künftig Auf unserer Pinnwand kann man den Fall eines Amazon-
Sie führte ein Tagebuch über die deutsche Staatsbürger- Kunden nachlesen, der eine Same-Day-Lieferung bestellt
ihre Behördengänge und die schaft als »identitärer Back- und den ganzen Tag vergebens zu Hause darauf gewartet
Reaktionen der Beamten in up«. Natürlich fühle sie sich hatte. Andere Verbraucher fanden trotz Anwesenheit am
ihrem Wahlwohnort Mann- auch in Deutschland gele- nächsten Tag eine Abholkarte im Briefkasten vor, weil die
heim. Daraus ist ein Buch gentlich fremd: »Aber es ist Lieferung in der nahe gelegenen Postfiliale lag. Noch schlim-
entstanden, das jetzt in viel leichter, sich im Ausland mer war ein Verbraucher dran, dessen Bestellung in seiner
Frankreich unter dem Titel fremd zu fühlen, als im eige- angeblichen Abwesenheit an einen Teeladen geliefert wurde,
»Fille de France« (»Tochter nen Land.« PE der dann tagelang wegen Urlaubs geschlossen war.
Frankreichs«) erschienen ist. Momentan testen die Paketdienstleister viele neue Zustell-
Sie habe ein wenig Angst vor optionen, zum Beispiel die Lieferung in den Kofferraum des
den Reaktionen, erzählt sie eigenen Autos, der vom Boten mit einem digitalen Schlüssel
in einem Radiointerview. geöffnet wird. Laut einer Umfrage auf unserem Portal halten
Denn sie stelle eine Frage, das aber nur sieben Prozent der Befragten für praktikabel.
die in ihrem Geburtsland Was viel besser angenommen würde, wären automatische
niemand gern hören wolle: Abholstationen, die alle Paketdienstleister nutzen könnten.
Gibt es Franzosen afrika- Zum Beispiel in Bahnhofsnähe. Ein Einkaufszentrum in
nischen Ursprungs, die ohne Hamburg-Bergedorf hat gute Erfahrungen mit einem ›Ein-
Zögern sagen können: »Ich Treff-Punkt‹ gemacht. Das ist ein Paketshop, an den man
bin Franzose«? Als Tochter seine Onlinebestellungen liefern lassen kann; von dort
eines Vaters aus Guinea und aus lassen sich auch Pakete verschiedener Anbieter
BRUNO CHAROY / PASCO

einer bretonischen Mutter versenden.


habe sie sich aufgrund Ich selbst kann allen nur raten: Pakete rechtzeitig
ihrer Hautfarbe oft wie eine losschicken. Und nie als Päckchen aufgeben. Dann ist
»ungeliebte Tochter« in die Ware nämlich nicht versichert.«
ihrem Geburtsland gefühlt. Aufgezeichnet von Anna Clauß

127
»Sollte der Gottesglaube irgendwann tatsächlich aus Deutschland
verschwunden sein, werde ich dies daran erkennen, dass der SPIEGEL zu
Weihnachten und Ostern kein religiöses Thema mehr auf den Titel hebt.«
Frank Seitz, Rellingen (Schleswig-Holstein)

Der Himmel in uns was ist, durchströmt – Pflanzen, Tiere, Kulturen, die ihren Ursprung nicht pflegen,
Menschen – und ihnen Leben verleiht. Da- verlieren ihre Identifikation und gehen un-
Nr. 17/2019 Wer glaubt denn sowas?
her finde ich als bewusst lebender Mensch ter. Wir in Mitteleuropa leben in einem
Warum selbst Christen keinen Gott mehr
brauchen diese Kraft, die wir Gott nennen, immer christlich geprägten Raum. Wenn die Wer-
in seiner Schöpfung. Und das heißt, ich te der Ethik und Moral zugunsten von Ego-
»Man kann die Bibel ernst nehmen – oder finde Gott immer auch in mir selbst, als ismus, unbegrenzter Freiheit und Materia-
wortwörtlich« (Heinz Zahrnt). Wer sich Gefühl, aber auch als innere Kraft, die lismus aufgegeben werden, gehen wir,
die Mühe macht, sie ernst zu nehmen, fin- mich bis jetzt noch nie im Stich gelassen langfristig gesehen, unter wie viele andere
det einen Schatz an Lebens- und Glaubens- hat. Es ist völlig egal, wie man diese Ener- Imperien auch.
erfahrungen. Wer sie wörtlich nimmt, ge- gie nennt, ob Gott, Allah oder Krishna, sie Bertold Hieber, Uslar (Nieders.)
rät in Dauerkonflikt mit seinem Intellekt. ist für jeden Menschen, der sein Bewusst-
Paul Kluge, Leer (Nieders.) sein dafür öffnet, unmittelbar erlebbar. Vielen Dank für die Titelgeschichte, die
Lothar Pelz, Baden-Baden Sie uns auf den Ostertisch gelegt haben.
Ihr Titelbild ist eine Provokation. Über an- Immerhin: Wir können uns über die Hin-
dere Weltreligionen würden Sie so nicht terlassenschaften dieses jahrhundertealten
urteilen. Zum höchsten Fest der Christen Irrglaubens – in Architektur, Malerei,
erwarte ich von Ihrem Magazin mehr Res- Musik, Literatur – freuen. Doch worüber
pekt und Toleranz. werden sich nachkommende Generationen
Barbara Steinmüller, Oberaudorf (Bayern) unserer aufgeklärten Zeit wohl freuen?

JOERG GLAESCHER / LAIF


Elisabeth Maurer, Pfäffikon (Schweiz)
Gott sei Dank ist auch der Unglaube nur
ein Glaube. Ebenso wie die reine Geistes- Am Ende
welt der Mathematik auch ohne Mathe-
Nr. 16/2019 Ein Zahnarztehepaar soll seine
matiker existiert, »braucht« auch Gott
Kinder getötet haben – ein Gericht sucht
offensichtlich immer weniger Gläubige. Teilnehmer eines Kirchenfestivals nach Erklärungen für die unfassbare Tat
Helmut Hoos, Neunkirchen (Saarl.)
Eine Titelstory, die gute Denkanstöße lie- Fassungslos, zutiefst erschüttert und un-
Der Untertitel »Warum selbst Christen kei- fert und vertieftes Weiterdenken verdient. endlich traurig über den grausamen Tod
nen Gott mehr brauchen« ist irreführend. Die ersten Christen wurden Atheisten ge- von Anton und Emilia verfolge ich seit je-
Das Bedürfnis nach einer höheren Macht nannt, weil sie bestehende Gottesbilder nem Tag im August 2018 die Geschehnisse
ist dem Wesen des Menschen immanent, auf den Kopf stellten: Sie räumten auf mit in diesem Fall und bin dankbar, dass Sie
egal wie man diese Macht oder Mächte dem antiken Götterhimmel, denn sie glaub- ihn aufgreifen. Ich finde, dass er eine ge-
jetzt bezeichnen mag. Wie sonst wäre der ten nicht an »die da oben«, sondern an samtgesellschaftliche Relevanz hat. Die
Hang moderner westlicher Menschen zu einen ohnmächtigen, gekreuzigten Gott. Frage, die mich umtreibt, ist, wie es über-
Esoterik, zu Seinserweiterung dank Medi- Das empfand man als Skandal, wie bei haupt so weit kommen konnte. Wie kann
tation oder zum Buddhismus zu erklären? Paulus nachzulesen. Neben dem Skandal es sein, dass der zuständige Amtsrichter,
Marion Oechsner-Hieke, Schönbrunn (Bad.-Württ.) des Kreuzes gibt es ein weiteres Ärgernis: der sich seit drei Jahren mit dem Fall be-
Man glaubte nicht nur an einen Verlierer fasst, erst drei Tage vor der Tragödie erst-
So wie es einen primitiven Glauben an und Gemordeten, sondern erzählte sich mals persönlichen Kontakt zur Familie
Götter und Götzen gibt, so gibt es auch auch Geschichten von einem Auferstande- hat? Wie kann es sein, dass dieser Insol-
einen fundamentalistisch-unaufgeklärten nen. Das muss man als Christ nicht zwin- venzverwalter bei all den teils gewaltsamen
Atheismus, der »schwarze Löcher« und gend glauben: Schon von den elf verblie- Erfahrungen, die er mit dem Vater der Fa-
»Zufälle« an deren Stelle zu setzen ver- benen männlichen Gefährten zweifelten milie schon machen musste, keinen Alarm
sucht. Immerhin ging selbst Albert Ein- »etliche« daran, wie man im Neuen Testa- schlägt? Wie kann es letztendlich sein, dass
stein davon aus, dass sich im »unbegreif- ment lesen kann. Trotzdem setzen die die Behörden maximalen Druck mit einer
lichen Weltall« eine »grenzenlos über- Überzeugten wie die Zweifler etwas in Be- Zwangsräumung ausüben, obwohl sie wis-
legene Vernunft« offenbare. wegung. Sie praktizieren bis heute in ihren sen, dass Kinder in diesem Haus leben und
Norbert Fabian, Duisburg Meetings und Gottesdiensten eine Geste, die Eltern überfordert und psychisch völlig
die einzuüben Jesus empfahl: mit anderen am Ende sind? Müssen solche aus den
Der Himmel ist überhaupt nicht leer. Ers- das Brot brechen und mit ihnen den Wein Fugen geratenen finanziellen Verhältnisse
tens ist der Himmel über uns, das Univer- teilen. Wo immer man in Kirchen solche und die damit verbundenen auffälligen Ver-
sum, voll mit Energie, Milliarden von Son- Gastfreundschaft findet, man also bei Speis haltensweisen der Eltern nicht im gesamten
nen und Galaxien. Zweitens ist der Him- und Trank auch Freud und Leid teilt, da Umfeld aufhorchen lassen? War es nicht
mel in uns voll mit Gedanken, Gefühlen, »passiert« Gott, da ereignet sich Gott, ohne offensichtlich, dass diese Familie Hilfe
unerschöpflicher Kreativität. Niemand dass man das begreifen könnte. brauchte und nicht mehr selbst in der Lage
wird bezweifeln, dass es in unserem Uni- Christoph Störmer, ehemaliger Hauptpastor an der war, dies zu erkennen?
versum eine lebendige Kraft gibt, die alles, Hauptkirche St. Petri in Hamburg Marco Jochum, Gütersloh

128 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


Briefe

Endlich mehr bauen dem Mehrerlös ließe sich Eigenkapital für Bauordnungen der Länder mit ihren völlig
junge Familien finanzieren. überzogenen Forderungen hinsichtlich der
Nr. 16/2019 Wohnen ist zur neuen
Volker Ollesch, Ahaus (NRW) Wärmedämmung und des Brandschutzes?
sozialen Frage geworden, die Politik findet
aber kaum Antworten Die Investoren werden weiter investieren,
In Schleswig-Holstein beträgt die Grund- denn im Vergleich zu den Nullzinsen ver-
erwerbsteuer 6,5 Prozent. Könnte man dienen sie immer noch genug. In einer
diese für Erstwohnraumkäufer nicht deut- Stadt, in der nur noch die Gutverdiener
lich reduzieren und für börsennotierte leben, möchte ich nicht wohnen.

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL


oder Dritt- und Zehntwohnungskäufer Regine Ulbrich, Buchholz (Nieders.)
deutlich erhöhen? Die Regierung muss
ihre Aufgabe, Rahmenbedingungen zu Zweiklassen-Sterbekultur
setzen, einfach besser nutzen.
Nr. 16/2019 Das Bundesverfassungsgericht
Kathrin Huesmann, Hohwacht (Schl.-Holst.)
entscheidet über das Verbot der geschäfts-
mäßigen Beihilfe zum Suizid – der Verein
Und wieder einmal werden pauschal die von Roger Kusch umgeht es längst
Mieterproteste in Berlin bösen Vermieter verdammt, ohne Unter-
schiede zwischen den großen Firmen und Man muss bei der gesamten Diskussion
Auch durch das Enteignen von Wohn- kleinen Privatvermietern zu machen. Bei doch berücksichtigen, dass sich jährlich rund
immobilien als populistische Ultima Ratio den von mir verwalteten Wohnungen in 10 000 Menschen in Deutschland selbst tö-
würde sich die prekäre Situation auf dem Privatbesitz werden zu 80 Prozent nur die ten – und zwar teilweise auf dramatische
Wohnungsmarkt kaum entspannen. Bei Mittelsätze des Mietspiegels verlangt. Das Weise und mit heftigsten, teils lebenslangen
steigender Nachfrage würde damit nicht aus dem Ausland hereindrängende Geld psychischen Folgen für Familienmitglieder
mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen. wird angelegt und treibt die Preise – auch und Dritte (Feuerwehr, THW-Helfer, Lok-
Eine solche Politik nützte den Wohnungs- verursacht durch die Nullzinspolitik der führer und viele andere). Sie tun dies aus
suchenden eigentlich überhaupt nicht. Europäischen Zentralbank. Anscheinend reiner Verzweiflung, weil ihnen eine ange-
Auch potenzielle Investoren in »Betongold« haben die deutschen Mieten im inter- messene Art der Selbsttötung nicht ermög-
würden verprellt. Nötig wäre vielmehr, im nationalen Vergleich aber auch Nachhol- licht wird. Natürlich muss diese unter
Interesse privater Investitionen durch steu- bedarf, sonst würden nicht so viele Auslän- strengster ärztlicher Begleitung erfolgen,
erpolitische Maßnahmen das derzeit wenig der investieren. Im Vergleich der Haupt- nur die Ärzte dürfen dazu ermächtigt sein.
attraktive Verhältnis von Kaufpreis oder stadtmieten liegt Berlin sicherlich immer Gerd Nieschalk, Heidelberg
Baukosten zu Finanzierungskosten und noch deutlich unter Paris oder London.
Nettomieteinnahmen deutlich zu verbes- Josef Wenzl, Nürnberg
sern, damit endlich mehr gebaut wird.
Dr. Hans Christian Hummel, Hannover Da berichten Sie sehr sachlich über die
Wohnungsnot. Etwas bleibt jedoch außen

JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL


Ich versteh’s nicht: Warum nutzen Miete- vor: Seit etwa 2014 haben wir in Deutsch-
rinnen und Mieter nicht die seit Jahren his- land mehr als eine Million Flüchtlinge auf-
torisch niedrigen Zinsen, um Eigentümer genommen. Manche wohnen nicht mehr
zu werden und sich damit ein für alle Mal in Containern, sondern in städtischen
aus dem Mietdilemma zu verabschieden? Wohnungen und in Wohnungen der Woh-
Das Dilemma der Vermögensbildung bei nungsgesellschaften. Die Stadtverwaltun-
Niedrigzinsen ist mit dem Kauf gelöst. gen haben sie dort untergebracht. Ich ver- Hinterbliebene Lebensgefährtin
Zinsfreie Eigenkapitalhilfen für Käufer mute, nach dem Motto: Koste es, was es
statt Milliarden für populistische Enteig- wolle, wir zahlen die Mieten. Preistreiber Es darf keine Zweiklassen-Sterbekultur ge-
nungen durch den Staat machten das Paket bei den Mieten sind also die Kommunen ben: Während einige Ärzte oder Apothe-
schließlich auch für Schwächere perfekt. selbst! Und haben wir in Deutschland ker sich schon mal ein Mittelchen für den
Andreas Hanitsch, Hamburg nicht rund 235 000 Ausreisepflichtige? Fall der Fälle zurücklegen oder betuchte
Auch sie belegen Wohnungen. Warum Bürger im Ausland nach einer Sterbehilfe
»Investieren« ist problematisch, wenn bei können sie nicht ausgewiesen werden? Ausschau halten, muss der Nichtprivile-
einer der niedrigsten Eigentumsquoten Johannes Schröer, Bonn gierte »sein« Sterben in anderer Leute
Europas in Deutschland ein Teil der Bür- Hände geben.
ger niemals das nötige Eigenkapital zu- Warum unterbindet der Gesetzgeber nicht Hans Scholz, Bad Neuenahr-Ahrweiler (Rhld.-Pf.)
sammenbekommt und vom Immobilien- die Spekulation mit Bauland? Warum gibt
erwerb de facto ausgeschlossen ist. Warum er nicht Obergrenzen für den Quadrat- Ein paar gesunde Politiker dürfen doch
nicht eine stark progressive Grunderwerb- meterpreis von Grundstücken vor, die den nicht Millionen von todkranken Menschen
steuer einführen? Kostenfrei für den selbst Bau von Wohnungen mit einer Quadrat- vorschreiben, dass sie am Leben zu blei-
nutzenden Ersterwerber, bis zu 50 Prozent metermiete von acht bis zehn Euro ermög- ben hätten, und uns, die das nicht wollen,
für den ausländischen Großinvestor. Aus lichen? Warum entschlackt man nicht die zwingen, uns zu ertränken, vom Dach zu
springen oder sonst eine sehr unerfreu-
liche Todesart zu suchen.
Korrekturen Katja Mackens-Hassler, Hamburg

zu Heft 14/2019, Seite 126: »Herzensdinge«


Die Schauspielerin Lupita Nyong’o ist Tochter kenianischer, nicht nigerianischer Eltern. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
zu Heft 17/2019, Seite 87, Grafik zu Tiger Woods sowie digital zu veröffentlichen und unter
Augusta, der Austragungsort des Masters, des bedeutenden Golfturniers, liegt nicht in www.spiegel.de zu archivieren.
Texas, sondern im US-Bundesstaat Georgia.

129
Hohlspiegel JETZT IM HANDEL: Rückspiegel

WARUM Zitate

FEEDBACK Die »Süddeutsche Zeitung« über Reak-


tionen auf ein SPIEGEL-Gespräch

SCHEITERT
mit SPD-Bundesumweltministerin Svenja
Schulze (»Als Politikerin kann
Schild an einem Bürogebäude in Wien ich mir Panik nicht leisten«, Nr. 17/2019):

In der Debatte um wirksamen Klimaschutz


Aus dem »Kölner Stadt-Anzeiger«: haben sich führende Politiker von CDU
»Statt einer Kommission aus drei Perso- und FDP am Dienstag dagegen ausge-
nen war nur noch ein einzelner Ent- sprochen, den Ausstoß des schädlichen
scheider zuständig. Das Asylverfahren Kohlendioxids mit einem festen Preis zu
sollte beschleunigt, die geflüchteten belegen … Er sei dagegen, »eine zusätz-
Menschen durchgepeitscht werden.« liche CO²-Steuer mit ungewisser Wirkung«
in Deutschland einzuführen, sagte Carsten
Linnemann, Vize-Chef der Unionsfraktion
im Bundestag … Damit stellt sich Linne-
mann gegen den Koalitionspartner SPD.
Dessen Umweltministerin Svenja Schulze
hatte sich am Wochenende in einem Inter-
Aus der »Rheinischen Post« view im SPIEGEL dafür ausgesprochen,
den Ausstoß von Kohlendioxid mit einer
Steuer zu belegen: »Die Idee ist, dass CO²
Aus der »Süddeutschen Zeitung«: einen Preis bekommt, also dass man auf
»20 Minuten vorher an einem grauen Treibhausgase eine Steuer erhebt.«
Nach-Wintertag. Der Reporter
sitzt schon am Stehtisch des Cafés.« Weitere Themen:
Die Zeitschrift »Brigitte« greift in einem
CHANGE-MANAGEMENT Porträt über Nancy Pelosi, Sprecherin des
amerikanischen Repräsentantenhauses,
So verwandeln Sie ein SPIEGEL-Bonmot über die Politikerin
Widerstand in Engagement auf (»Nicht mit ihr«, Nr. 5/2019):

PEOPLE ANALYTICS
»Manchmal wirken ihre Auftritte wie aus
einem Splatterfilm von Quentin Taran-
Mit Daten die wahren tino«, schrieb der SPIEGEL. Dazu passt
die Antwort, die Nancy Pelosis jüngste
Talente entdecken Tochter Alexandra auf CNN gab, als sie
gebeten wurde, die Verhandlungstaktik

Aufschrift auf einem Sack Spielsand in


E-COMMERCE ihrer Mutter zu beschreiben: »Sie hackt
dir den Kopf ab, und du wirst nicht einmal
einem Baumarkt Lieber direkt verkaufen oder merken, dass du blutest.«
über Amazon?
Aus der »Lippischen Landes-Zeitung«: Die »Hamburger Morgenpost« über
»Der Tod ist etwas, das die die Empörung einer arabischen
wenigsten von uns vergessen können.« Journalistin darüber, dass die Witwe des
IS-Terroristen Denis Cuspert (»Deso
Dogg«) heute ein ganz normales Leben
führt (»Von Hamburg zum IS und
wieder zurück«, SPIEGEL ONLINE
am 15. April):
Aus der »Siegener Zeitung«
Dass Omaima A. seit ihrer Rückkehr aus
Syrien unbehelligt in Hamburg leben
Aus der »Rhein-Lahn-Zeitung«: »Der
Diplom-Psychologe und Krankenpfleger
! kann – angeblich arbeitet sie als Überset-
zerin und Eventmanagerin – macht die
arbeitet seit August 2015 als psycholo- Auch als digitale Ausgabe erhältlich: arabische Journalistin Jenan Moussa fas-
gischer Leiter im Pflegeheim Haus Bille- harvardbusinessmanager.de sungslos. »Im Irak und in Syrien hat der
tal. Sein Hund Nora, eine zweijährige IS Zehntausende auf dem Gewissen, und
Flat-Coated Retriever-Hündin, begleitet diese Frau kann sich mitten in Hamburg
ihn seit fast zwei Jahren bei der Arbeit ein neues Leben aufbauen«, so Moussa
mit vorwiegend demenziell erkrankten gegenüber SPIEGEL ONLINE. Das wirke
Menschen. Beide befinden sich in der so, als ob der Bundesrepublik die vielen
Ausbildung zum Therapiebegleithund.« IS-Opfer egal wären.

130 DER SPIEGEL Nr. 18 / 27. 4. 2019


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