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Jahreskonferenz

Musikland Niedersachsen
2010

Eröffnungsvortrag
„Singen heute“
Referent: Klaus Georg Koch,
Geschäftsführer von Musikland
Niedersachsen

I.

Meine Damen und Herren,

im Frühjahr 1984 habe ich das erste Mal Man mochte sich vorkommen wie Goe-
Lesotho, die frühere Kolonie Britisch Bet- thes Wilhelm Meister und seine Reisege-
schuanaland, im südlichen Afrika bereist. fährten, denen auffiel, „daß je weiter sie
Es ist ein bergiges Land, und es war da- ins Land kamen, ein wohllautender Ge-
mals auch ein wildes Land, das sich dem sang ihnen immer mehr entgegentönte.“
Reisenden nur unter Mühen erschloss. In – ich bin schon im Zitat.
ganz Lesotho gab es damals eine einzige „Was die Knaben auch begannen, bei
Straße. Sie durchzog im Norden die Low- welcher Arbeit man auch sie fand, immer
lands, bog am östlichen Ende nach Sü- sangen sie, und zwar schienen es Lieder
den ab und führte ins Gebirge. Darüber jedem Geschäft besonders angemessen
hinaus gab es nur Geröllpisten und alte und in gleichen Fällen überall diesselben.
Saumpfade, auf denen sich die Einheimi- Traten mehrere Kinder zusammen, so
schen zu Fuß und auf Pferden fortbeweg- begleiteten sie sich wechselweise; gegen
ten. Abend fanden sich auch Tanzende, deren
Schritte durch Chöre belebt und geregelt
wurden.“ – Sie kennen die Passage am
Der größte Eindruck, den Lesotho damals Beginn des zweiten Buches, nur dass
auf mich machte, war, dass die Men- dem Singen in Lesotho der vornehme
schen dort sangen. Die Leute sangen in Ton des Bildungsromans nicht eigen war.
den Dörfern. Sie sangen im Bus und auf Es schien eine schlichte und fröhliche
den Ladepritschen der allradgetriebenen Welt. Einen Eindruck davon können Sie
Lastwagen, die sie im Schritttempo durch aus dem folgenden Video-Ausschnitt ge-
die Berge brachten. Kinder sangen auf winnen.
dem Weg in ihre Missionsschulen und sie
sangen in der Schule. Einen Ziegenhirten Videobeispiel 1, „Lesotho women singing,
traf ich, der alleine sang und sich dabei beautiful day out there“
mit einer Fiedel begleitete, die er aus ei-
nem Blechkanister, einem Stock und ei-
ner Schnur gebaut hatte. Am Sonntag
sangen die Leute in der Kirche, und
zwar, wie mir schien, häufig die gleichen
Gesänge, die ich während der Woche be-
reits gehört hatte.

http://www.youtube.com/watch?v=lDkK79AM7iM

Musikland Niedersachsen – Jahreskonferenz 2010 – „Singen“ – Einführungsvortrag „Singen heute“ – S. 1 / 7


16 Jahre später bin ich ein zweites Mal Das erlaubt uns, einen geschichtlichen
nach Lesotho gekommen. Und während Wendepunkt zu beobachten, der in der
ich den Fortschritt doch als etwas Gutes westlichen Welt das Datum 1877 trägt.
empfinde – der Bau eines unterirdischen In diesem Jahr hat der Franzose Charles
Bahnhofs ist das mindeste, was ich mir Cros das Patent für ein Gerät namens
erhoffe – war ich hier schockiert. Ein Teil Paléophone und der Amerikaner Thomas
des Gebirges war für ein internationales Edison das Patent für den Phonographen
Wasserprojekt erschlossen worden, man angemeldet. Vor 1877 verklang jeder
hatte Staudämme gebaut, an denen nun Laut, der einem Mund entströmte. Das
auch Strom produziert wurde, und wo Ziel Edisons war es dagegen, Stimmen
vorher Pfade in die Berge führten, da haltbar, Lautäußerungen wiederholbar zu
verlief jetzt eine Straße. Lesotho war laut machen. „Repetiermaschine“ wurde der
geworden. Sogenannte Minitaxis, oft Phonograph deshalb genannt, und auch
überfüllte Kleinbusse, brachten die Leute wenn es noch Jahrzehnte dauerte, bis
von den Bergen in die Lowlands und aus man etwa eine ganze Sinfonie aufge-
den Lowlands in die Berge. In den Dör- nommen hatte, so war es doch mit der
fern waren Märkte aufgebaut mit Waren Ruhe vorbei. Der Mensch hatte das Privi-
aus Südafrika und China. Jetzt gab es leg verloren, einzig durch die Artikulation
auch Musikanlagen, die in den Taxis und seines Körpers stimmlich präsent zu
auf den Märkten mit voller Lautstärke sein. Man kann allerdings auch sagen, er
Musik verbreiteten, die ihrerseits ohne sei von der Notwendigkeit, zu singen,
elektrischen Strom nicht hergestellt wor- befreit worden. Wie mit vielen anderen
den wäre. Fertigkeiten auch, haben die Menschen
arbeitsteilig das Singen den Spezialisten
überlassen und verwenden die frei ge-
Macht also auch hier die Zivilisation das wordene Zeit und Energie für etwas an-
Singen überflüssig? Ist das Singen ein deres.
Opfer der technischen Entwicklung? Ist
es etwas, worauf wir zurückblicken: Eine
Form von Menschlichkeit, die immer lei- Der technische Fortschritt und die Ge-
ser wird, während der Lärm des Fort- schichte des Singens stehen allerdings
schritts zunimmt? schon sehr viel länger in einem schwieri-
gen Verhältnis zueinander. Das späte 18.
Selbstverständlich fährt niemand von uns und noch mehr das 19. Jahrhundert
nach Afrika, um dort mit innerer Freude bemächtigen sich der Musik in einem
den Stand des technischen Fortschritts technischen Sinn: Im Instrumentenbau,
und den beschleunigten Wandel der Le- in den wie bei Liszt ins Transzendentale
bensverhältnisse zu besichtigen. Die reichenden Spieltechniken, in der physio-
Freude schien mir auf Seiten der Ba- logischen Untersuchung der Stimmorga-
sothos, die sich mit ungekannter Leich- ne, im Bau von musizierenden Automa-
tigkeit in ihrem Land fortbewegen, einen ten aller Art. Letztlich führt ein direkter
Arzt oder eine Apotheke aufsuchen und Weg von der Erforschung der Stimmphy-
sich abends im Licht einer elektrischen siologie zum Bau mechanischer und elek-
Lampe unterhalten konnten. Wahrschein- tromechanischer Wiedergabeapparate.
lich erschien ihnen der technisch ver-
stärkte Lärm als eine Form von Mensch- Gleichzeitig – und im Grunde gegen das
lichkeit, die immer stärker wird, als Zu- Fortschreiten der Technik – entwickelt
kunftsmusik, die ihnen auch den eigenen die Romantik Vorstellungen, nach denen
Fernseher, den eigenen Kühlschrank, das das Singen die Geschichte in Richtung
eigene Auto verhieß. Und wahrscheinlich der „Ursprünge“ aufhebt. Wird die Fort-
dachten sie noch ohne Wehmut an die schrittsgeschichte als Geschichte der
Zeiten, als man selber singen musste, Entfremdung verstanden, dann drückt
um nicht an der Stille zu ersticken. dagegen das Singen das Gemeinsam-
Ursprüngliche und das Eigentlich-
Persönlichste aus. Ja eigentlich noch
Die Geschichte der Elektrizität und die dramatischer: Das Singen stellt das Ge-
Geschichte des Singens kreuzen sich in meinsam-Ursprüngliche und das Eigent-
diesem Bergland unter unseren Augen. lich-Persönlichste her.

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Was da in der Wertschätzung des Ge-
sangs passiert, möchte ich am Beispiel
des Romans verdeutlichen. Hatte man
zuvor Sänger neben Tänzerinnen und
Schauspielern als zweifel-hafte, wenig
respektable Existenzen betrachtet, so er-
fahren Singen und Sänger – meistens
Sängerinnen – in der Literatur nun eine
Idealisierung. Menschen im Roman sollen
erkannt und verstanden werden, und
nirgends gibt sich der Mensch nach den
Vorstellungen dieser Zeit so wahrhaftig
und vollständig zu erkennen, wie da, wo
er singt. Jetzt ist die Sängerin nicht mehr Der Philosoph Hartmut Böhme hat in sei-
nur Attraktion und Objekt der Begierde, nem Aufsatz „Der sprechende Leib“ für
sondern sie wird durch die Wahrheit ih- das spätere 18. Jahrhundert beschrie-
res Singens erkannt – hat der Roman ei- ben, welche Herausforderungen der ge-
ne Liebeshandlung, dann am Ende ver- sellschaftliche und technische Fortschritt
lässlich vom „Richtigen“, ihrem vorbe- für die Menschen bedeuteten. „Denn dies
stimmten Bräutigam. strahlte die Angst des bürgerlichen Jahr-
hunderts an“, schreibt Böhme: „daß zwi-
In Deutschland hat Wilhelm Heinse 1795 schen dem, was ein Mensch darstellt,
mit seinem Roman „Hildegard von Ho- zwischen seiner Erscheinung, und dem,
henthal“ erstmals Vokal-Ästhetik und was er ist, seinem Wesen, ein Riß klafft,
Liebesroman miteinander verschmolzen. der das Gefüge des intersubjektiven
Den monumentalsten Sängerinnen- Handelns eigentümlich verunsichert.“
Roman hat dagegen vermutlich George Dagegen sieht er in der bürgerlichen Un-
Sand mit „Consuelo / La Comtesse de terscheidung von Identität und Rolle den
Rudolstadt“ in den Jahren 1843/44 ver- „Versuch, ein Authentisches – das sub-
fasst. jektive Selbst – aus den Systemen der
Körperzeichen und Verhaltenscodes aus-
Lange, bevor in diesem Roman die Part- zuschneiden.“ Dieses Selbst „ist unsicht-
nerschaft zwischen der Sängerin Consue- bar, soll sich aber im Ausdruck zeigen“.
lo und dem Grafen von Rudolstadt tat- Gegen den rationalistischen Ansatz der
sächlich besiegelt ist, spricht Consuelo Aufklärung soll dieses Selbst aus dem
bereits das Motiv des (Wieder-) Erken- Körper – aus dem Leib, wie Böhme sagt
nens aus: „Ich bin eine Freundin, die Ihr – rekonstruiert werden. Am Beispiel des
lange Zeit erwartet und in dem Moment Königsberger Philosophen Johann Georg
erkannt habt, als sie sang“. Ihr späterer Hamann (1730 – 1788) zeigt Böhme auf,
Ehegemahl definiert seinerseits das Sin- wie „Sprache übersetzter Leib“ und der
gen als Ausnahmesituation vollkomme- Leib „inkorporierte Natur“ ist, Sinne, Lei-
ner Offenheit: „Du teilst mir [im Singen] denschaften und Begehren wirken darin
Dein ganzes Wesen mit und meine Seele als „Stimmen der Natur“.
besitzt Dich in der Freude und im
Schmerz, in der Zuversicht [dans la foi] Wenn wir heute in sogenannten unter-
und in der Furcht, im Überschwang des entwickelten Ländern – und wohl auch
Enthusiasmus und in der Wehmut der bei uns – das Verschwinden des Singens
Träumerei.“ Nicht zufällig sind musikali- als Verlust eines Ursprünglich-
sche Charaktere und seelische Empfin- Menschlichen empfinden, folgen wir ei-
dung in dieser Beschreibung nicht von- nem Wahrnehmungsmuster, dessen Tra-
einander zu unterscheiden. So fiebrig dition ins späte 18. Jahrhundert zurück-
und phantastisch im Übrigen der Roman reicht. Immer steht der Betrachter dabei
in seinem Verlauf ist – gewidmet hat ihn wie Walter Benjamins Engel der Ge-
George Sand einer realen Figur, Pauline schichte mit dem Rücken zur Zukunft,
Viardot, einer der größten Sängerinnen während der Sturm des Fortschritts ihm
des 19. Jahrhunderts. die Trümmer vor die Füße schleudert. Al-
le, die die Stimme loben, sind auf dem

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Rückweg in die Vergangenheit, ob nun phonie des Hochmittelalters, durch den
Hamann „die ausgestorbene Sprache der Bezug auf die „avancierteste, intellektu-
Natur von den Todten wieder erwecken ellste, elitärste“ und eben in Noten ge-
möchte“ oder wenig später Johann Gott- setzte Kompositionstechnik“ jener Zeit.
fried Herder die „Töne der Natur“, also Dagegen begründen etwa Rousseau und
die in der Stimme sich ausdrückende Herder die Vorstellung der Musik als
kreatürliche Regung, der „künstlichen „vollkommene Sprache des Herzens“,
Sprache der Gesellschaft“ entgegenstellt. und zwar auf der Grundlage des melodi-
schen Konzepts der Stimme. Ich zitiere
Betrachtet man den öffentlichen Streit hier für diese Strömung Daniel Gottlob
um Fortschritt und Herkommen als etwas Türk, bzw. seine einflussreiche Klavier-
Politisches, dann ist auch das Lob der schule von 1789, in der er schreibt:
Stimme politisch gemeint, und oft findet „Denn was sind alle bunten [also virtuo-
es sich mit einer gesellschaftlichen Phan- sen und chromatischen] Passagen, wenn
tasie verbunden. Der Kulturwissenschaft- es auf wahre Musik ankommt, gegen ei-
ler Hans Georg Nicklaus hat darauf hin- nen schmelzenden, herzerhebenden äch-
gewiesen, dass bereits Jean-Jacques ten Gesang.“ 50 Jahre später heißt es in
Rousseau mit seinem Ideal der „unité de Balzacs Sängerinnen-Novelle „Massimilla
mélodie“, der Einheit der Melodie, ein Doni“ noch immer und fast gleichlautend
„politisches Votum“ abgebe, eine „musi- mit Rousseau: Nicht die Harmonie, son-
kalische Metapher für ein gesellschaftli- dern die Melodie hat die Macht, den ge-
ches Projekt“, nämlich die Rückgewin- schichtlichen Abstand aufzuheben“ [C’est
nung einer ursprünglichen gesellschaftli- la mélodie et non la harmonie qui a le
chen Einstimmigkeit. Einstimmig heißt pouvoir de traverser les âges].
hier: „Die eine Sprache sprechen, die
nicht gedeutet, verstanden, vermittelt
werden muß, aus der vielmehr alle II
schöpfen, wie aus einem Brunnen, um
sich zu ernähren, um ein Körper zu wer- Meine Damen und Herren, mag der
den. (...) Und die Stimme ist das Organ Sturm des Fortschritts dem Engel des
dieser Einheit.“ Singens auch ins Gesicht blasen – es
wird auch bei uns noch immer gesungen,
So stehen Stimme und Singen gegen und manches deutet darauf hin, dass
Buchdruck und Buchstaben, die mit der heute wieder mehr gesungen wird als,
rationalistischen Aufklärung verbunden sagen wir, noch vor zehn Jahren. Dafür
werden, gegen die Vielstimmigkeit der sorgen nicht zuletzt Ihre Aktivitäten als
nachrevolutionären Gesellschaften, ge- Musikveranstalter, ChorleiterInnen, Mu-
gen die industrielle Produktion, gegen die sikpädagogInnen, Politiker und Förderer.
in Tonkonserven gepackte Musik, kurz: Viele Ihrer beispielhaften Sing-
Gegen den Lärm des Fortschritts. Bewegungen und Sing-Projekte werden
im Lauf dieser Konferenz zu besichtigen
Diese Positionierung der Stimme verän- sein.
derte am Ende selbst das Ideal, das man
sich von der Musik insgesamt machte. Es wird sogar so viel gesungen in unse-
Der Musikwissenschaftler Wolfgang rer Gesellschaft, dass man sich fragen
Fuhrmann hat in seinem Buch „Herz und kann, ob das Gefühl des Verlustes oder
Stimme – Innerlichkeit, Affekt und Ge- des Absterbens nicht das Ergebnis einer
sang im Mittelalter“ einen Grund dafür habituell eingeschränkten Wahrnehmung
vorgeschlagen, warum der Musik teilwei- sei. Zu den am Markt erfolgreichsten Mu-
se bis heute die Vorstellung von etwas sik-Publikationen der letzten Zeit gehö-
Kompliziertem oder Elitärem anhaftet: ren Sammlungen von „Wiegen-„ und
Der Begriff der „Musik“ und des „Musi- „Volksliedern“, die gleich in mehreren
kers“ bedeuteten in spätantiker Tradition Aggregatszuständen – zum Lesen, Spie-
zunächst so etwas wie Musiktheorie und len und Hören – angeboten werden. Pro-
die die professionelle Kundigkeit dieser jekte wie das heute vorgestellte „Lörrach
Theorie. Seine spätere universale prakti- singt!“ und „SING! – Day of Song“ bei
sche Bedeutung erlangte der Begriff der Ruhr 2010 bringen ganze Gemeinwesen
Musik über die Anwendung auf die Poly- zum Singen. Und auch diesseits solcher

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veranstalteter Bewegungen sind – nicht Kindern etwas Sinnvolles anfangen soll-
anders als in vormodernen Zeiten – exi- te, liegt ja auf der Hand. Und wie die ge-
stenzielle Fragen des Volkes ohne Ge- genwärtige Islam-Debatte vom Zweifel
sang gar nicht vorstellbar: Dazu folgen- am rechten Unglauben der eigenen Ge-
des kurze Video aus der Zeit der Fußball- sellschaft begleitet wird wie von einem
Weltmeisterschaft in Südafrika, das uns Schatten, so folgt die Unruhe über die
von der Dritten zurück in die Erste Welt Erziehung der eigenen Kinder der Debat-
führt te über die so genannte Integration von
Kindern nicht-deutscher Herkunft. Abge-
Videobeispiel 2, „Uwu Lena - Schland o sehen davon, dass Singen Spaß macht,
Schland“ wie der Titelsong von Klasse! Wir singen
erklärt, bietet es sich auch zur Milderung
gesellschaftlicher Probleme an. Natürlich
ist das Singen ein Beitrag zur Integration
und zum Spracherwerb – für alle Kinder,
egal woher die Eltern kommen. So wie es
für Kinder Bewegungsmangel, Vitamin-
mangel oder Zuwendungsmangel geben
kann, so gibt es auch den Singmangel,
das legt die positive Reaktion der Kinder
auf Sing-Anregungen nahe.

http://www.youtube.com/watch?v=Vscg_QeKdpI Nicht zuletzt reagiert die gegenwärtige


Singbewegung auch auf die Lage, in der
sich vor allem die Institutionen der so
Hatte bei Rousseau, Herder und den genannten ernsten, klassischen oder
Volksliedsammlern des 19. Jahrhunderts Kunstmusik befinden. Es muss hier ge-
das Glück in der Früh- und Vorgeschichte nügen, nur die Stichworte Überalterung
gelegen, so lautet die Devise unserer ge- des Publikums und Rückgang der Nach-
genwärtigen Sing-Bewegung „zurück zu frage zu nennen. Das sind die Themen,
den Anfängern“. Die Figur des Rück- an denen wir im Musikland arbeiten. Eine
gangs auf etwas Grundlegendes finden Reihe von teilweise repräsentativen Stu-
wir hier allerdings auch. Immer mehr dien zeigt, dass das Durchschnittsalter
gibt es auch politische Unterstützung für des Konzertpublikums derzeit zwischen
den Versuch, das Singen wieder als 55 und 60 Jahren liegt und dass sich das
menschliche Universalie einzuführen, als Verhältnis zwischen dem Angebot an Mu-
konstitutives Element der Ichwerdung, sikveranstaltungen und den Besucher-
als Grundform individueller Artikulation zahlen scherenartig auseinander entwic-
und sozialer Kommunikation. kelt, wobei das Interesse an klassischer
Projekte wie KiSINGa und Primacanta, Musik umso geringer ausfällt, je jünger
wie die Chorklassen Niedersachsen, Klas- die Altersgruppe ist.
se! Wir singen und das umfassende An-
gebot des englischen Musikzentrums The In dieser Lage erscheint es als außeror-
Sage Gateshead und der National Sin- dentlicher Glücksfall, dass sich Kinder
ging Campaign stehen für diesen Ver- geradezu naturhaft für das Singen begei-
such, das Singen als Element der Erzie- stern können. Denn nichts kann das spä-
hung wieder verbindlich zu verankern. tere Interesse an Musik so gut begrün-
Darüber hinaus schlagen Projekte wie den, wie möglichst frühe praktische und
Canto Elementar und „Singepaten“ eine als erfreulich erinnerte Erfahrungen:
Brücke zwischen der Generation der Klasse wir singen – singen macht Spaß.
Großeltern, die häufig noch mit dem Sin- Werden diese Erfahrungen überdies in
gen aufgewachsen ist, und den Kindern. Gesellschaft gemacht – im Kindergarten,
in der Schule, in der Familie –, steigt die
An dieser Stelle ist die Versuchung groß, Wahrscheinlichkeit noch einmal, dass
die historischen Implikationen oder ein- sich das Kind auch später im Leben für
fach den historischen Ballast des Singens Musik interessiert und einsetzt.
abzuwerfen. Wahrscheinlich ist es sogar
legitim. Dass die Gesellschaft mit ihren

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III.

So ist das Singen aus Sicht der Musik-


land-Idee, eine besonders glückliche mu-
sikalische Sozialform, die es erlaubt, vie-
len Menschen musikalische Angebote zu
machen, die sie erreichen und die er-
reichbar für sie sind. Damit ist es auch
eine Chance für unsere Musikkultur, sich
neu zu gründen. „Neustart durch Sin-
gen“, könnte man sagen, und diese
Chance wollen wir nutzen.

Neben der Vielzahl privater, vom persön-


lichen Engagement angefeuerter Initiati- wenden.
ven, stellt auch das Land Niedersachsen Heißt das, es gibt so etwas wie eine zeit-
zunehmend mehr Angebote in Kindergär- lose Wahrheit über das Singen? Oder
ten und Schulen bereit. Der Koalitions- laufen wir mit unserer Singbewegung ei-
vertrag aus dem Jahr 2008 definiert das nem historischen, vielleicht veralteten
„Musikland Niedersachsen“ zu einer Menschenbild hinterher? Das Land Nie-
Hälfte aus seinen Angeboten zur musika- dersachsen hat mit einer umfassenden
lischen Bildung. Wenn das weiter so „Musikalisierung“ der Kindergarten- und
geht, dann wird in nicht zu ferner Zu- Grundschulkinder im Land begonnen.
kunft „bei uns der Gesang die erste Stufe „Musikalisierung“ klingt dabei nicht nur
der Bildung, alles andere schließt sich wie „Christianisierung“ und vielleicht
daran und wird dadurch vermittelt. „(...) nach Mission, es ist tatsächlich der Ver-
denn indem wir die Kinder üben, Töne, such, „in der Fläche“, wie es im politi-
welche sie hervorbringen, mit Zeichen schen Jargon heißt, Menschen, ganz jun-
auf die Tafel schreiben zu lernen und gen Menschen, Angebote zu machen, ihr
nach Anlaß dieser Zeichen sodann in ih- Leben sinnvoll zu gestalten.
rer Kehle wiederzufinden, ferner den
Text darunterzufügen, so üben sie zu- Aber auch hier entkommen wir den ge-
gleich Hand, Ohr und Auge und gelangen schichtlichen Streitfragen nicht: Gehört
schneller zum Recht- und Schönschrei- es zum Menschsein in unserer Zeit,
ben, als man denkt, und da dieses alles durch das Singen Erfahrungen und Idea-
zuletzt nach reinen Maßen, nach genau le vergangener Zeiten zu aktualisieren
bestimmten Zahlen ausgeübt und nach- wie in einem lebendigen Symbol, oder
gebildet werden muß, so fassen sie den überzustreifen wie ein klangliches Ko-
hohen Wert der Meß- und Rechenkunst stüm – die Fremdheitserfahrungen der
viel geschwinder als auf jede andere „Winterreise“, die Partnerschaftsideale
Weise. Deshalb haben wir denn unter al- von „Frauenliebe und -Leben“, die Glau-
lem Denkbaren die Musik zum Element bensgewissheit einer Bach-Motette, die
unserer Erziehung gewählt, denn von ihr Todesschauer eines Berlioz-Requiems,
aus laufen gleichgebahnte Wege nach al- die Naturverbundenheit eines Volkslieds?
len Seiten.“ Ist es noch zeitgemäß oder ist es hoff-
nungslos romantisch, dass Menschen so
Meine Damen und Herren, Sie haben es genannte Gefühle kultivieren und diese
bemerkt, ich bin noch einmal auf Goe- „ausdrücken“ wollen? Einen Grund wird
thes „Wilhelm Meister“ zurückgekom- es doch haben, dass das Kunstlied immer
men. Mich hat frappiert, wie nahe Goe- weniger Publikum findet und junge
thes 200 Jahre alte Pädagogik der ge- Opernregisseure zunehmend Revuen in-
genwärtigen Debatte steht. Auch Rous- szenieren, wo sie die singenden Figuren
seaus Phantasie von der „unité de mélo- doch auch hätten ernst nehmen können.
die“, der Einheit der Melodie oder freier Wir Alten mögen ja träumen, aber wie
formuliert, der Einheit durch Singen ge- vielen Generationen von Kindern soll
gen die Vielstimmigkeit einer modernen noch über das Singen das alte Dur-Moll-
Gesellschaft, ließe sich umstandslos auf tonale System eingepflanzt werden? Wie
die Diskussion um die Chorklassen an lange wollen wir noch so genannte Volks-

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lieder singen lassen, deren romantische
Gegenstände mit den Aufgaben unserer
Kinder nichts zu tun haben? Bewahren
wir mit diesem Singen unsere Kinder vor
der Verwilderung? Bewahren wir sie vor
der Vereinnahmung durch die Leistungs-
anforderungen der Moderne? Oder sind
wir einfach nur reaktionär?

Meine Damen und Herren, wer will das


beantworten? Aber vielleicht ist am Ende
das Verantwortungsvolle und das Reak-
tionäre zumindest in der Erziehung das
gleiche, und jede Generation muss ihren
Kindern etwas gut Gemeintes antun, wo-
gegen diese sich anschließend recht-
schaffen auflehnen können.

In diesem Sinn wünsche ich uns zwei an-


regende Tage hier in Wolfenbüttel. Ich
danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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